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Mit jedem Herzschlag

hier erhältlich:

Es war wirklich keine gute Idee, sie in den Kofferraum zu sperren. Das ist Felipe Salazar absolut klar, als er Carrie Brooks im Nobelrestaurant wiedertrifft. Letzten Sommer hatte der Undercover-Polizist die blonde Schönheit bei einem Einsatz kennengelernt und zu ihrem eigenen Schutz eingesperrt. Jetzt ist Felipe wieder undercover, und in ihrer Wut lässt Carrie, ohne es zu wissen, seine Tarnung auffliegen! Auch mit heißen Küssen kann Felipe sie nicht zum Schweigen bringen. Deshalb packt er sie kurzerhand und flieht mit ihr. Doch schon sausen ihnen die Kugeln um die Ohren, und Felipe hat nur einen Gedanken: Er muss Carrie lebend aus dieser Sache rausbringen, denn nur seinetwegen ist sie jetzt in Gefahr.


  • Erscheinungstag: 10.03.2013
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783862787593
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Suzanne Brockmann

Mit jedem Herzschlag

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH


MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2013 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

A Man To Die For

Copyright © 1995 by Suzanne Brockmann

erschienen bei: Silhouette Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II. B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Daniela Peter

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln; iStock

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

Satz: GGP Media GmbH, Pößneck


ISBN 978-3-86278-759-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

1. KAPITEL

Juli

Eine Viertelstunde nach Mitternacht fuhr Carrie Brooks ihren Computer im Büro des Sea Circus herunter. Fünf Minuten später schaltete sie das Licht aus.

Den Ausdruck ihres Umweltberichts für die Küste von Florida hatte sie in ihrem Rucksack verstaut. Jetzt brauchte sie sich nur noch das Betäubungsgewehr zu holen, das sie am nächsten Tag für ihre Exkursion in die Everglades benötigte: für eine ihrer sehr beliebten Führungen durchs Naturschutzgebiet, die eine Gruppe Collegeprofessoren aus Ohio gebucht hatte. Eigentlich brauchte sie das Gewehr dafür nicht. Jedenfalls hatte sie nicht vor, es zu benutzen. Aber es machte Eindruck. Und so ein Ding zur Hand zu haben war tatsächlich ganz beruhigend, falls ein Alligator auf dumme Gedanken kam. Oder falls ein Professor leichtsinnig wurde.

Nachdem sie die Bürotür hinter sich abgeschlossen hatte, eilte sie die wacklige Holztreppe hinunter. Als sie in die heiße feuchte Sommernacht hinaustrat, stellte sie fest: Einer der Doppelläufe war noch geladen. Vermutlich hatte wieder einmal ihr Kollege Simon die Waffe nicht entladen, als er sie ins Büro zurückgebracht hatte – und er hatte sie obendrein nicht einmal gesichert. Ob ihm gar nicht klar war, dass es sich um eine Waffe handelte? Nur weil man damit Betäubungspfeile auf Haie oder Alligatoren abschoss, war sie noch lange nicht ungefährlich für Menschen.

Carrie legte den Sicherungshebel um und machte sich auf den Weg über das Gelände des Sea Circus. Gleich musste sie ins Auto steigen, zum Tor fahren, den Sicherheitscode eingeben, rausfahren, das Tor schließen und die Alarmanlage wieder einschalten. Und wenn sie dann erst einmal den ganzen Weg zu ihrer kleinen Wohnung am anderen Ende der Stadt zurückgelegt hatte, blieben ihr wahrscheinlich noch etwa vier Stunden Zeit zum Schlafen.

Nicht mal schlecht, dachte sie und nahm die Abkürzung über den Rasen neben dem Hauptaquarium. Sie konnte morgen Nachmittag ein wenig Schlaf nachholen. Vielleicht mit dem Boot rausfahren und es einfach treiben lassen. Die Augen schließen, die sanfte Sonnenwärme auf der Haut genießen und sich bräunen lassen …

Carrie erstarrte. Hatte sie gerade jemanden lachen gehört? Oder war das nur der Schrei eines einsamen Wasservogels oder die Brandung gewesen?

Sie lauschte angestrengt. Da war es wieder. Lachen. Lachen, gefolgt von einem Stakkato spanischer Sätze. Dann eine klagende Stimme, die sich klar verständlich beschwerte: „He, Mann, sprich so, dass ich’s auch verstehe, ja?“

Teenager am Strand, dachte sie. Niemand konnte das Gelände des Sea Circus betreten haben, ohne den Alarm auszulösen. Und selbst wenn es irgendwer irgendwie geschafft hätte, hier einzudringen, ohne all die Glocken, Sirenen und blitzenden Lichter auszulösen: In dem Fall würde der absolut ausfallsichere stumme Alarm in der Polizeiwache ausgelöst werden. In wenigen Minuten wäre ein Streifenwagen hier.

Carrie bog hinter dem Hauptaquarium um die Ecke, um zum Parkplatz und zu ihrem Auto zu gelangen.

Und sah sich plötzlich einer Gruppe Männer gegenüber.

Großer Gott! Wie zum Teufel waren die hier reingekommen?

Die Wissenschaftlerin in ihr wertete blitzschnell die Fakten aus.

Vier Männer – jedenfalls konnte sie vier Männer sehen –, definitiv keine Teenager mehr. Erwachsene Männer, alle etwa Mitte zwanzig. Oder etwas älter.

Carrie war auf einer Ranch in Montana aufgewachsen und hatte dort ihre ersten achtzehn Lebensjahre verbracht. Sie beschloss, den Stier bei den Hörnern zu packen. Mit leicht gespreizten Beinen blieb sie stehen und hielt das Gewehr so, dass die Männer es nicht übersehen konnten.

„Ich glaube, die Herren sind hier widerrechtlich eingedrungen“, sagte sie kühl. „Ich schlage vor, ich geleite Sie vom Gelände des Sea Circus, bevor die Polizei hier eintrifft.“

Einer der Männer trug ein rotes Bandana, das er sich um den Kopf gebunden hatte. Bei näherer Betrachtung war er wohl doch schon Ende dreißig. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und sein Gesicht wirkte hager, ja ausgemergelt. Er reagierte mit einem Lächeln auf ihre Worte.

„Wir wollen aber noch nicht gehen“, erklärte er mit starkem kubanischen Akzent.

Einer der anderen trug einen Nasenring. Er war groß, gut fünfzehn Zentimeter größer als die anderen – und damit sehr viel größer als Carrie. Seine fettigen blonden Haare hatte er unordentlich im Nacken zusammengebunden. Die Augen versteckte er hinter einer verspiegelten Sonnenbrille, obwohl es mitten in der Nacht war.

Ein dritter Mann stand leicht links von Bandana. Militärisch kurzes rotes Haar, ein mit Aknenarben übersätes Gesicht, magere Beine. Er trug ein ausgeblichenes Nirvana-T-Shirt und kurze Jeans. „Baby“, sagte er und grinste sie anzüglich an. „Iceman möchte sich die Fischis anschauen.“

„Dann sollte er morgen wiederkommen“, gab Carrie knapp zurück, „wenn der Sea Circus fürs allgemeine Publikum geöffnet hat.“

„Wir sind aber nicht das allgemeine Publikum“, entgegnete Nasenring höhnisch.

Scheinbar unbeeindruckt von der Waffe in ihren Händen bewegten sich die Männer langsam auf Carrie zu und verteilten sich dabei. Ihr wurde bewusst, dass sie in wenigen Sekunden von ihnen eingekreist sein würde. Sie entsicherte das Betäubungsgewehr und wich ein paar Schritte zurück, bis sie mit den Schultern an die Betonwand des Hauptaquariums stieß. Mit der Wand im Rücken fühlte sie sich wohler, denn so konnte keiner dieser Typen sie von hinten überraschen.

In einer raschen Bewegung hob sie das Gewehr und zog den Abzug bis zum Druckpunkt durch. Sie kniff ein Auge zu und zielte direkt auf Bandana. Der Mann war eindeutig der Anführer. Auf diese Entfernung wäre es vermutlich tödlich für ihn, wenn sie den Betäubungspfeil direkt auf seine Stirn abfeuerte. Der Pfeil würde den Schädelknochen durchschlagen und ins Gehirn eindringen. Dann wäre der Kerl betäubt – allerdings für immer.

Offensichtlich war dem Mann dieser Umstand klar. Er gab einen kurzen Befehl auf Spanisch.

„Zurück“, übersetzte nun ein anderer. Der Mann hatte im Schatten hinter Bandana gestanden, und Carrie hatte ihn bisher nicht richtig erkennen können.

Sie warf einen Blick in seine Richtung.

Als Einziger der vier sah er nicht so aus, als hätte er sich seit Wochen nicht gewaschen. Überdurchschnittlich groß – und damit fast zwanzig Zentimeter größer als Carrie –, gekleidet wie ein amerikanischer Städter. Trotz der Hitze trug er eine schwarze Leder-Motorradjacke über einem weißen T-Shirt und ausgeblichene, hauteng sitzende Jeans. Cowboystiefel aus Leder mit Schlangenprägung und silbernen Kettenbeschlägen vervollständigten sein Outfit.

Langes dichtes Haar fiel ihm in ungebändigten Locken über die Schultern. Seine breiten ausgeprägten Wangenknochen und sein weicher spanischer Akzent ließen keinen Zweifel daran, dass er ein Latino war.

Er sah gut aus. Quatsch, nein. Nicht gut. Er sieht umwerfend aus, dachte Carrie bei sich, als er ins Licht trat. Und das lag nicht an seinen Wangenknochen, seinen glänzenden Haaren und seinem perfekt proportionierten, durchtrainierten Körper.

Es lag an seinen Augen.

Einfach unglaublich. Sie waren weich und dunkel, hatten die Farbe des Nachthimmels und waren umrahmt von dichten, dunklen, beinah feminin langen Wimpern. In diesen Augen lagen die sanfte Abgeklärtheit und das gelassene Selbstvertrauen eines Priesters oder Pfarrers. Sie standen in totalem Gegensatz zu seiner äußeren Aufmachung. Und dann veränderte sich ihr Ausdruck, und etwas anderes blitzte darin auf: ein Hauch von Erregung, innerem Feuer, Macht, eine Ahnung von echter Gefahr. Vielleicht hatte er tatsächlich Züge eines Priesters, ganz sicher aber auch Züge des Teufels.

Mit diesem Mann legte man sich besser nicht an.

Er schaute Carrie direkt in die Augen, als er vor Bandana trat und damit den Älteren gegen ihre Waffe abschirmte. Aber er blieb nicht etwa stehen. Er ging weiter, kam ihr langsam immer näher.

„Wir haben nur eine Abkürzung genommen“, meinte er. „Wir verschwinden, versprochen. Aber vorher müssen Sie mir Ihre Waffe geben.“ Er lächelte sie mit strahlend weißen Zähnen an und fügte hinzu: „Bitte?“

„Oh, bitte, Süße“, schaltete sich der Typ mit dem Bürstenhaarschnitt ein und lachte hämisch auf. „Menschenskind, Carlos, du hast vergessen zu fragen: Darf ich, Mom?“

Carlos. Der Mann mit den Mitternachtsaugen hieß also Carlos.

„Keine Bewegung, Carlos“, befahl Carrie ihm und zielte genau auf seine Stirn.

Trotzdem näherte er sich ihr unbeirrt. „Geben Sie mir das Gewehr, Miss“, forderte er sie erneut auf, „damit niemand zu Schaden kommt.“

„Sie wollen nicht, dass jemand zu Schaden kommt?“, fragte sie. Ihre Wut ließ sie atemlos und verängstigt klingen. „Dann drehen Sie auf der Stelle um und verschwinden Sie.“

Bandana sagte etwas auf Spanisch.

„Iceman sagt, das werden wir tun“, übersetzte Carlos. „Aber erst, wenn wir so weit sind.“ Entdeckte sie da etwa ehrliches Bedauern in seinen Augen? Oder Belustigung?

Kaum mehr als eine Armeslänge trennte ihn noch von ihrer Waffe. Carrie ließ den Lauf sinken, sodass sie auf seinen Bauch zielte. Als er sie nun anlächelte, wurde ihr eins klar: Er hatte begriffen, dass sie ihn nicht töten konnte. Doch wenn er näher kam, würde sie auf jeden Fall abdrücken. Gott allein wusste, wie der menschliche Körper auf das schnell wirkende Betäubungsmittel reagierte, das für einen zweihundert Kilo schweren Meeressäuger dosiert war.

„Noch ein Schritt, und ich drücke ab“, warnte sie ihn.

Er blieb stehen. Und lachte. „Das würden Sie tatsächlich tun, hmm?“

„Selbstverständlich.“

„Und dann?“ Seine Augen glitzerten im schwachen Licht der Laternen, die das Gelände beleuchteten. „Ich falle um.“ Er zuckte die Achseln. „Da sind aber noch drei Männer. Und ich bezweifle, dass meine Freunde geduldig abwarten werden, bis Sie Ihre Waffe neu geladen haben. Nein, wenn Sie auf mich schießen, bekommen Sie gewaltige Schwierigkeiten. Ich rate Ihnen dringend davon ab.“

„Schenken wir uns einfach die Schwierigkeiten“, erwiderte sie. „Ihr Jungs klettert über den Zaun zurück und verschwindet, und wir vergessen das Ganze.“

„Du klingst wie aus einem Western“, mischte Bürstenhaarschnitt sich ein. „Wie ein süßes kleines Cowgirl.“ Er lächelte und zeigte dabei eine Reihe schiefer und abgebrochener Zähne. „Komm schon, Baby, zeig uns deine Sporen und deine Peitschen.“

Carrie warf dem Mann nur ganz kurz einen Blick zu, aber das reichte Carlos. Er bewegte sich flinker, als sie das einem Mann von seiner Größe je zugetraut hätte. Blitzschnell überwand er den Abstand zwischen seinen Händen und ihrer Waffe.

Sie drückte ab, aber es war zu spät. Er schlug den Lauf der Waffe nach oben, und der Betäubungspfeil schoss wirkungslos gen Himmel.

Der Rückstoß traf sie unvorbereitet, und Carrie landete im Sand. Rasch rappelte sie sich wieder auf und lauschte nach Polizeisirenen, aber nichts war zu hören.

Bandana, Bürstenhaarschnitt und Nasenring standen im Halbkreis um sie herum und betrachteten sie bloß. Carlos untersuchte ihre Waffe. Er ließ die Hülse des abgefeuerten Betäubungspfeils zu Boden fallen und überprüfte, ob der andere Lauf leer war.

„Sie hätte dich glatt erschossen, Mann“, meinte Bürstenhaarschnitt zu Carlos.

Carlos lächelte nur gleichmütig.

Was jetzt? Carrie atmete immer noch schwer und versuchte, ihren rasenden Puls zu beruhigen. Die Sache sah gar nicht gut für sie aus. Sie war unbewaffnet und allein mitten in der Nacht vier Furcht einflößenden Kerlen ausgeliefert. Konnte es noch schlimmer kommen?

Bandana sagte etwas auf Spanisch.

Carlos antwortete in gelassenem Ton.

Bandana sprach erneut und zeigte dabei auf Carrie.

Carlos lächelte zuerst Bandana an, dann Carrie und nickte. „Sí“, sagte er. Das verstand sogar sie. hieß ja. Aber wozu hatte er Ja gesagt?

In der Ferne heulte eine Polizeisirene auf, und Carrie hielt den Atem an. Nein, der Ton entfernte sich. Er wurde immer leiser, bis sie schließlich nichts mehr hörte. Verdammt noch mal, wo blieb die Polizei?

Die auf Spanisch geführte Unterhaltung lief weiter.

Schließlich platzte Bürstenhaarschnitt der Kragen. Er gab seinem Frust mit einem Strom wilder Flüche Ausdruck. „Ich fühle mich hier ausgeschlossen“, fügte er hinzu. „Wenn ihr beiden euch nicht gerade über das tolle Wetter unterhaltet, dann übersetzt es verdammt noch mal. Ich will auch verstehen, worum es geht.“

„Iceman sagt, er will jetzt die Delfine anschauen“, antwortete Carlos spöttisch.

Nasenring verzog das Gesicht. „Red kein Blech, Carlos.“

„Zeit zu verschwinden“, meinte Carlos trocken.

„Was wird mit ihr?“, fragte Bürstenhaarschnitt und deutete mit dem Kinn auf Carrie. „Wir können sie nicht einfach hier stehen lassen.“

„Natürlich könnt ihr das“, schwindelte sie. „Ihr verschwindet. Ich vergesse, dass ich euch je gesehen habe. Alles in Butter, richtig?“

Carlos lachte amüsiert.

„Was gibt es da zu lachen?“, fragte sie. Sie sah ihm jedoch an, dass er Bescheid wusste: Wenn sie sie zurückließen, würde sie sofort ins Büro laufen und die Polizei alarmieren.

„Ich kümmere mich um sie“, sagte er zu Bürstenhaarschnitt. „Ihr geht mit Iceman. Ich komme nach.“

Bandana und Nasenring setzten sich in Bewegung und gingen zum anderen Ende des Parks.

„Kommt nicht infrage, Mann“, gab Bürstenhaarschnitt zurück. „Warum sollte ich vorgehen und dir den ganzen Spaß allein überlassen?“

Carlos zuckte die Achseln. „Ganz, wie du willst.“ Er wandte sich an Carrie. „Hast du ein Auto?“

Trotz der Hitze war ihr eiskalt geworden. Ich kümmere mich um sie. Wie wollte Carlos sich um sie kümmern? Dennoch reckte sie trotzig das Kinn vor. „Vielleicht.“

„Gib mir bitte die Autoschlüssel.“

„Ich habe sie nicht bei mir.“

Er lehnte das Gewehr an die Wand des Aquariums und trat vor sie. „Gib mir bitte die Schlüssel“, wiederholte er. „Oder ich muss sie dir abnehmen.“

„Und ich helfe dabei“, ergänzte Bürstenhaarschnitt mit einem fiesen Lächeln.

Carrie verschränkte die Arme vor der Brust. „Wollt ihr jetzt auch noch meinen Wagen klauen? Reicht es nicht, dass ihr hier eingebrochen seid?“

Carlos brauchte nur einen Arm, um sie festzuhalten. Er hatte ihre Handgelenke fest im Griff. Während er ihre Taschen rasch nach den Wagenschlüsseln durchsuchte, drückte das süßlich riechende Leder seiner Jacke gegen ihr Gesicht. Wenn er nicht diese Jacke tragen würde, hätte sie ihn gebissen. Aber so verzichtete sie auf den Versuch: Er würde es sowieso nicht merken. Sie zog ein Bein an, um ihm einen Tritt zu verpassen. Doch er hatte die Schlüssel in der Vordertasche ihrer Shorts gefunden und sie längst losgelassen, bevor sie ihm vors Schienbein treten konnte.

Carrie schnappte empört nach Luft, aber Carlos blieb vollkommen ruhig.

„Danke“, meinte er so höflich, als hätte sie ihm die Schlüssel bereitwillig gegeben. Er steckte sie ein.

Eine Strähne ihres langen blonden Haares hatte sich aus Carries Pferdeschwanz gelöst. Sie strich sie sich aus dem Gesicht und hinters Ohr. „Ich habe den Wagen noch nicht ganz abbezahlt. Drei Monatsraten fehlen noch“, fauchte sie. „Wenn ihr glaubt, ich sehe einfach zu, wie ihr ihn klaut …“

„Niemand will deinen Wagen klauen“, fiel Carlos ihr ins Wort.

„He, Moment mal.“ Bürstenhaarschnitt sah Carrie an. „Was für’n Wagen isses denn?“

Jetzt reagierte sogar Carlos verärgert. „Hau ab, Mann“, sagte er. „Du gehst mir auf den Geist, weißt du das?“

Aber Bürstenhaarschnitt blieb stur. „Wenn bloß du deinen Spaß hast“, beharrte er, „dann will ich wenigstens zusehen.“

Zusehen? Zusehen wobei? Die Angst war wieder da, die Angst um ihre Sicherheit, um ihr Leben. Aber die Angst brachte auch eine neue Welle des Zorns mit sich. Zorn darüber, dass ihr Vater und ihre Brüder recht behalten würden. Carrie kam also tatsächlich nicht allein zurecht. Sie hätte niemals die Sicherheit ihrer abgelegenen Ranch in Montana verlassen dürfen und in eine Stadt in Florida ziehen, in der das Verbrechen blühte. Verdammt, sie sah sie vor sich, wie sie sich missmutig im Leichenschauhaus von St. Simone drängten, um sie zu identifizieren. Und dabei flüsterten sie sich gegenseitig zu: „Wir haben’s ihr ja gesagt.“

Jetzt nahm Carlos sie sanft am Arm.

Carrie riss sich los und funkelte ihn an. „Wohin bringt ihr mich?“

Ohne darauf einzugehen, fragte er: „Wo steht dein Wagen?“

Sie schwieg.

„Wenn er auf dem Parkplatz vorm Tor stehen würde“, beantwortete Carlos seine eigene Frage, „hätte ich ihn sehen müssen. Also hast du ihn irgendwo hier auf dem Gelände abgestellt, richtig?“

Sie starrte ihn wortlos an. Wenn er sie anrührte, würde sie ihn vollkotzen. Das wurde jedenfalls jeder Frau empfohlen, die sexuell belästigt wurde. Und es würde ihr wahrlich leichtfallen, denn ihr war sowieso schon übel.

„Willst du selbst gehen“, fragte Carlos geduldig weiter, „oder soll ich dich tragen?“

„Gute Idee, Carlos, ich trage sie“, warf Bürstenhaarschnitt eifrig ein.

„Ich gehe selbst“, widersprach Carrie hastig.

„Oh Mann!“, jammerte Bürstenhaarschnitt. „Ich glaube, sie mag mich nicht.“ Er tat so, als schmollte er. „Aber, weißt du, Baby, ich mag dich …“

Sie wich aus, als er die Hand nach ihr ausstreckte. „Kommt mir ja nicht näher“, warnte sie die beiden Männer und funkelte sie an.

Aber was konnte sie überhaupt tun? Sie konnte passiv bleiben. Einfach dastehen und abwarten, was die beiden mit ihr anstellen würden. Oder sie konnte abhauen. Sie konnte versuchen, in den Schatten zu flüchten und sich dort zu verstecken. Sie konnte in das Becken mit den Seehunden springen und in den kleinen Pferch hineintauchen, der nur einen Unterwassereingang hatte.

Sie warf einen Blick hinüber zum Seehundbecken. Bis dorthin waren es rund hundert Meter. Am klügsten wäre es, zuerst in eine andere Richtung zu rennen. In den Schatten unter der Tribüne des Hauptaquariums könnte sie diese Kerle abschütteln, um danach zum Seehundbecken zurückzulaufen. Wenn sie erst einmal unter Wasser war, würden die beiden sie nicht mehr finden. Niemals.

„Denk nicht mal dran“, murmelte Carlos, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

„An was soll ich nicht denken?“, fragte sie scheinheilig – und rannte los in Richtung Tribüne.

Sieben Schritte. Sie kam nur sieben Schritte weit. Dann hatte Carlos sie eingeholt und stürzte sich auf sie. Beide landeten unsanft im festgetretenen Sand. Er drückte sie mit seinem ganzen Körpergewicht zu Boden, hielt ihre Handgelenke über ihrem Kopf fest in seinem Griff.

Carrie wehrte sich, wollte sich befreien, wollte ihn treten, aber sie konnte sich nicht rühren. Vor Panik schlug ihr das Herz bis zum Hals.

„Madre de Dios“, sagte Carlos. „Du bist aber auch ein schwieriger Fall.“ Er beugte sich über sie und flüsterte ihr leise ins Ohr: „Hör zu, ich tu dir nichts. Ich bin ein …“

Carrie biss zu. Sie erwischte ihn an einer Stelle zwischen Schulter und Hals und bohrte die Zähne durch sein weißes T-Shirt.

Er stieß einen heftigen Fluch aus und zuckte zurück. Eilig setzte sie sich auf und versuchte, von ihm abzurücken, doch er packte sie am Fußgelenk. Mit der anderen Hand rieb er sich den Hals.

„Die Kleine beißt, hmm?“, meinte Bürstenhaarschnitt und ging neben ihnen in die Hocke. „Oh, Baby, mich darfst du beißen. Jederzeit.“

Carrie zitterte am ganzen Körper. Gleich würde sie anfangen zu weinen, und sie konnte nichts dagegen tun. Schnell wischte sie eine Träne fort, die ihr über die Wange lief. Kam gar nicht infrage, dass sie diesen Mistkerlen das Vergnügen bereitete, vor ihnen zu weinen.

Carlos murmelte etwas auf Spanisch und strich sich die Haare aus dem Gesicht. Eine lange dunkle Locke verfing sich in seinen Wimpern, aber er schien das nicht zu merken. Der Priester in ihm war zurück, und in seinen Augen leuchteten Wärme, Mitgefühl und echtes Bedauern. Würde er sie immer noch so anschauen, wenn der Teufel wieder die Herrschaft übernommen hatte? Nachdem er sie vergewaltigt hatte?

Carrie spuckte ihn an. Er schloss die Augen, als die Spucke ihn im Gesicht traf.

„Igitt, wie eklig!“, rief Bürstenhaarschnitt. „Lang ihr eine, Mann. Lass dieser Schlampe so etwas nicht durchgehen. Verdammt noch mal, ich mach das für dich. Ich hau ihr eine runter.“

„Nein danke.“

„Ach, komm schon.“

„Ich sagte Nein.“ Erst nachdem Carlos sich das Gesicht abgewischt hatte, öffnete er die Augen wieder. In seinem Blick lag kein Zorn, nur Geduld. Er lächelte Carrie entschuldigend an. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte dir keine Angst einjagen.“

„Wie bitte? Du entschuldigst dich bei ihr?“ Bürstenhaarschnitt war entgeistert. „Sie müsste sich bei dir entschuldigen.“

Carlos ließ Carries Bein los, ergriff ihren Arm und stand auf. Als er sie ebenfalls hochzog, wollte sie sich losreißen. Keine Chance.

„Wenn ich dich loslasse, versuchst du nur wieder wegzulaufen“, erklärte er. „Also lasse ich bestimmt nicht los.“

„Du tust mir weh.“

„Hör auf, dich zu wehren. Dann muss ich nicht so fest zupacken.“

Er führte sie um das Hauptaquarium herum, und schon standen sie vor ihrem kleinen roten, blitzblank geputzten Sportwagen.

Bürstenhaarschnitt pfiff anerkennend durch die Zähne. „Hübsche Karre.“

Der Kofferraum stand offen. Sie hatte ihn geöffnet, als sie am Abend zur Arbeit gekommen war. Dadurch sollte der Wagen auslüften, damit der leicht fischige Geruch verschwand, der ihm anhaftete.

„Sieht so aus, als bräuchte ich die Schlüssel gar nicht“, meinte Carlos und zog sie zur Heckklappe des Wagens. Während er sie weiterhin festhielt, deutete er mit der freien Hand auf den offenen Kofferraum. „Rein da.“

Verständnislos starrte Carrie ihn an. Was wollte er von ihr?

„Das ist alles?“, beschwerte Bürstenhaarschnitt sich. Er war sichtlich enttäuscht. „Du willst sie einfach nur im Kofferraum einschließen? Mann, wenn es nach mir ginge, würde ich sie nehmen. Gleich hier, auf dem Vordersitz ihres Autos.“

Carlos wollte sie einsperren. Er wollte sie nicht vergewaltigen, sondern bloß dafür sorgen, dass sie nicht die Polizei alarmierte. Er wollte ihr nicht wehtun. Ihr würde nichts passieren. Wenn man davon absah, dass der Kofferraum winzig war. Bei geschlossener Klappe wäre es allerdings stockdunkel. Sicherlich würde es darin außerdem unglaublich heiß werden und …

Bürstenhaarschnitt strich Carrie mit einem schmuddeligen Finger über die Wange. Sie zuckte zurück und schlug nach seiner Hand. Seine Berührung ließ Ekel in ihr aufsteigen. Bei näherer Betrachtung war es vielleicht doch keine so schlechte Idee, sich im Kofferraum einsperren zu lassen.

Bürstenhaarschnitt holte aus, um sie zu schlagen.

Carlos packte ihn rechtzeitig am Handgelenk. „Man sagt“, meinte er trocken, „dass Sex viel schöner ist, wenn die Frau bereitwillig mitmacht.“

„Pff … Das mag ja sein. Aber wenn sie nicht will, ist unfreiwillig immer noch besser als nichts.“ Achselzuckend riss Bürstenhaarschnitt sich von ihm los.

„Nein“, widersprach Carlos fest. „In so einem Fall ist nichts das Allerbeste.“

„Ach, komm schon, Mann. Die Puppe gefällt mir. Sie ist so eine Süße. Klein, niedlich, hübsch. Schau dir nur die blonde Mähne an.“

Carries Haare hatten sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst und umrahmten ihr Gesicht wie ein weicher blonder Schleier. Als Bürstenhaarschnitt danach griff, wich Carrie heftig zurück. Beinah wäre sie gestürzt, wenn Carlos sie nicht gehalten hätte. Überrascht wurde ihr klar, dass sie dankbar für seine Anwesenheit war. Dankbar für die Wärme seines Körpers in ihrem Rücken. Vor Bürstenhaarschnitt hatte sie Angst. Carlos hingegen wollte ihr nicht wehtun. Jedenfalls hoffte sie, dass das stimmte.

„Komm schon“, drängelte Bürstenhaarschnitt weiter. „Ich brauche nur fünf Minuten, höchstens zehn. Wetten, dass sie schreien wird?“ Er grinste Carrie anzüglich an. „Bestimmt würdest du gern deine scharfen kleinen Zähne an mir erproben, was, Baby?“

„Wenn du mich anrührst“, zischte Carrie, „trete ich dir so in deine Familienjuwelen, dass sie dir zu den Ohren rauskommen.“

„Und zwar, nachdem ich dir in die Familienjuwelen getreten habe“, warf Carlos freundlich ein. „Zisch ab, T. J.“

„Warum? Du willst sie doch gar nicht …“

„Das habe ich nicht gesagt“, berichtigte Carlos ihn. „Im Gegenteil. Du hast recht. Sie ist sehr hübsch. Und mir gefällt ihr Temperament. Sehr sogar. Nein, ich habe nicht gesagt, dass ich sie nicht will.“

Erschrocken betrachtete Carrie ihn. Ihr Herz hämmerte so laut, dass es alle anderen Geräusche übertönte. Sie schaute ihm prüfend in die Augen. Meinte er das ernst? Oder machte er nur Witze? Oder hatte er die ganze Zeit nur Witze gemacht – wollte er sich in Wirklichkeit an ihr vergreifen und danach seinen widerlichen Freund ranlassen?

„Pssst“, meinte er sanft, als hätte er ihr den plötzlichen Anflug von Panik angesehen. „Dir wird nichts geschehen.“

Sie konnte seine Miene nicht deuten, aber entdeckte darin eine seltsame Mischung aus Hitze, Erregung und … Freundlichkeit? Carrie war verwirrt und wieder schrecklich verängstigt. Wenn Carlos hier irgendwelche Psychospielchen mit ihr trieb, dann hatte er längst gewonnen – und zwar mit links.

„Nimm sie doch einfach, Mann“, beschwor Bürstenhaarschnitt ihn. „Du willst es doch.“

„Schon, aber die entscheidende Frage lautet: Will sie es auch?“

„Wenn du es versuchst, bring ich dich um“, flüsterte Carrie.

„Im Gegensatz zu dir“, meinte Carlos zu Bürstenhaarschnitt, „erkenne ich ein Nein, wenn ich ein Nein höre. Und das klang mir ganz entschieden nach einem Nein.“ Er wandte sich an Carrie: „Steig jetzt bitte in den Kofferraum.“

Aber das konnte sie nicht. Sie konnte sich nicht rühren. Sosehr sie sich auch wünschte, Bürstenhaarschnitt und Carlos endlich loszuwerden: Carrie konnte sich nicht dazu überwinden, in diesen winzigen, dunklen, stickigen Kofferraum zu steigen. Schuld daran war noch nicht einmal in erster Linie ihre Klaustrophobie. Seit Kindertagen hatte sie Angst davor, in einem Schrank oder in der winzigen Toilette des Campingwagens ihrer Eltern eingesperrt zu sein. Himmel noch mal, in ein paar Stunden ging die Sonne auf – und spätestens dann wurde dieser Kofferraum zu einem Backofen. Sie würde darin gegart werden. Dehydrieren. Ihre Körpertemperatur würde in die Höhe schnellen, und in wenigen Stunden wäre sie tot.

Carlos hob sie hoch – ein Arm befand sich unter ihren Schultern, der andere in ihren Kniekehlen. Mit spielerischer Leichtigkeit verfrachtete er sie in den Kofferraum.

„Nein!“ Verzweifelt klammerte sie sich an seinen Hals. Sie hatte Angst, ihn loszulassen. Angst davor, dass sein Gesicht das Letzte sein würde, das sie in ihrem Leben erblickte. Angst, dass der Kofferraumdeckel sich über ihr schließen und sie in der Falle sitzen würde. Wie lebendig begraben.

„Du bist hier drin am sichersten aufgehoben, querida“, murmelte Carlos und löste ihre Finger von seinem Hals. „Vertrau mir.“ Seine dunkelbraunen Augen wirkten so sanft, so freundlich. „Du musst mir vertrauen.“

Dann wurde der Kofferraumdeckel mit erschreckender Endgültigkeit zugeschlagen, und sie war allein. Allein im Dunkeln. „Nun komm endlich, Mann. Wir sind spät dran“, meinte T. J., strich sich unruhig über das kurz geschorene Haar und blickte sich nervös im dunklen Meerespark um. „Iceman fängt die Besprechung sonst ohne uns an.“

„Ich bin noch nicht so weit“, gab der Mann, der Carlos genannt wurde, ruhig zurück. Er blieb vor einem der öffentlichen Telefone stehen, die neben dem geschlossenen und verriegelten Imbiss standen.

„Jetzt ist nicht der richtige Moment, deine Freundin anzurufen“, nörgelte T. J. und beobachtete, wie Carlos eine Nummer wählte. „Sag mal, spinnst du? Der Notruf …?“

„Irgendwer muss die Kleine aus dem Kofferraum holen, bevor die Sonne aufgeht“, erläuterte Carlos.

„Stimmt. Das können wir auf dem Rückweg erledigen.“ T. J. grinste. „Ich werde mich darum kümmern und …“

„Ja“, sagte Carlos in den Hörer. „Ich möchte eine Meldung machen. Eine Frau ist im Kofferraum eines roten Mazda MX-5 eingeschlossen, der auf dem Gelände des Sea Circus geparkt ist. Ja, genau, der Sea Circus – an der Ecke Ocean und Florida Street. Nein, der Wagen steht auf dem Gelände, nicht draußen auf dem Parkplatz.“

T. J. schüttelte den Kopf. „Du Hornochse …“

„Nein, ich möchte meinen Namen nicht nennen“, fuhr Carlos fort.

„Wir müssen weiter!“, knurrte T. J.

Carlos hielt sich das freie Ohr zu, um das störende Genörgel auszublenden. „Woher ich weiß, dass eine Frau im Kofferraum eines roten Mazda MX-5 liegt?“ Er lachte. „Weil ich sie darin eingesperrt habe. Schicken Sie einfach einen Streifenwagen vorbei und holen Sie sie da raus. Okay?“ Kurzes Schweigen. „Gut.“ Nachdem er aufgelegt hatte, lächelte er T. J. an. „Jetzt können wir meinetwegen losgehen.“

2. KAPITEL

Januar – ein halbes Jahr später

Felipe Salazar stand vor dem Spiegel seiner möblierten Wohnung im noblen Apartmentkomplex Harbor’s Gate. Er rückte seine Fliege zurecht und schnippte ein unsichtbares Staubkörnchen von der Schulter seines Smokings.

Es war ein sehr schöner Smoking. Maßgeschneidert und so perfekt, dass das Schulterholster und die Waffe unter dem Jackett kein bisschen auffielen.

Auch sein Penthouse war sehr schön. Es war viermal so groß wie seine winzige, schlecht belüftete Einzimmerwohnung am anderen Ende der Stadt. Natürlich war die monatliche Miete auch viermal so hoch. Aber zum Glück war nicht er derjenige, der dafür zahlen musste.

Tatsächlich bezahlte er zurzeit überhaupt nichts. Für alles – die Wohnung, die teuren Kleidungsstücke, seine Mahlzeiten, die zweitausend Dollar Taschengeld, die er in Fünfzigern und Hundertern mit sich herumtrug – kam die Polizei in St. Simone auf.

Das war einer der Vorteile eines gefährlichen Vierundzwanzig-Stunden-Jobs. Und wenn man die Leute auf der Straße gefragt hätte, würden sie dies vermutlich als einzigen Vorteil seines Jobs betrachten. Die meisten würden kaum die Gefahr, das Risiko, den Nervenkitzel bei der Arbeit als verdeckter Ermittler als Vorteil sehen.

Aber Felipe Salazar war nicht die meisten.

Und heute Abend war er nicht einmal Felipe Salazar.

Heute war er wie schon in den letzten fünf Monaten Raoul Tomás García Vasquez. Und Raoul Tomás García Vasquez kleidete sich äußerst geschmackvoll. Er trug teure Anzüge, italienische Schuhe und Unterwäsche, die mehr kostete, als ein Polizeibeamter am Tag verdiente.

Felipe musterte sich noch einmal im Spiegel. Ja, der Smoking saß hervorragend. Kein Vergleich zu der Lederjacke und den ausgeblichenen Jeans, die er bei seinem letzten Einsatz getragen hatte. Dafür hatte er den Namen Carlos angenommen und sich in eine brüchige Allianz von Anführern verschiedener Straßengangs eingeschlichen, die ein Vermögen mit illegalen Drogen verdienten. Als Carlos war er im Sea Circus Caroline Brooks begegnet, einer äußerst faszinierenden Blondine, und …

A. D. Er schüttelte den Kopf. Jetzt war nicht der geeignete Moment, an Blondinen zu denken. Und schon gar nicht an diese Blondine. Leider kam der geeignete Moment nie. Er hatte übergangslos die Identität gewechselt: heute noch Carlos, am nächsten Tag schon Raoul Vasquez. Wann hatte jemand ihn zum letzten Mal Felipe genannt? Er konnte sich nicht erinnern. Aber so war das nun mal in seinem Job. Felipe warf einen letzten Blick in den Spiegel, und Raoul Vasquez schaute ihn daraus an.

Raoul war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, bereit für einen Neuanfang. Der offiziellen Version nach war er nach St. Simone gekommen, nachdem er ein paar Freunde besucht hatte, die ihm den einen oder anderen Gefallen geschuldet hatten. Sehr große Gefallen. Sein ehemaliger Boss Joseph Halstead, das Oberhaupt eines kleineren Verbrechersyndikats in Washington, D. C., hatte ihm seinen alten Job angeboten. Aber Raoul hatte komplett neu anfangen wollen – und zwar irgendwo, wo ihn die Polizisten nicht sofort erkennen würden.

Also hatte Halstead bei Lawrence Richter angerufen, der Nummer eins im organisierten Verbrechen von Westflorida. Richter war wiederum Halstead einen Gefallen schuldig gewesen.

Natürlich hatte Richter eins nicht gewusst: Halsteads Anruf hatte auf einem Deal mit dem Washingtoner Staatsanwalt beruht, der ihn wegen diverser Straftaten am Haken hatte.

Und Richter würde das auch nicht erfahren. Jedenfalls nicht, bevor Felipe alle nötigen Beweise beisammenhatte, um seine Ermittlungen abzuschließen und Richter mitsamt seinen Komplizen für sehr lange Zeit hinter Gitter zu bringen.

Nach fünf Monaten war Felipe tief genug in Richters Organisation eingedrungen, um ihn und viele seiner Genossen aus dem Verkehr zu ziehen. Überraschenderweise würden dem Verbrecherboss weder Drogen- und Waffengeschäfte noch Prostitution, Glücksspiel oder andere Straftaten das Genick brechen, die typisch für organisierte Kriminalität waren – obwohl er natürlich in solche Geschäfte verwickelt war. Nein, womit sie ihn kriegen würden, war das Einschleusen illegaler Einwanderer.

Oberflächlich betrachtet wirkte das Ganze recht unschuldig, ja sogar wohltätig. Der Menschenfreund Lawrence Richter half Armen und Benachteiligten dabei, in die Vereinigten Staaten zu kommen. Er half ihnen beim Neuanfang, half ihnen bei der Verwirklichung des amerikanischen Traums.

Felipe wusste alles über den amerikanischen Traum. Seine eigenen Eltern waren auf der Suche nach einem besseren Leben für sich und ihre Kinder von Puerto Rico nach Miami gekommen. Aber Miami hatte sich als heiß und feindselig erwiesen, und deshalb waren sie weitergezogen, in das Städtchen St. Simone an der Westküste von Florida.

Toller amerikanischer Traum.

Felipes Vater hatte sich bei dem Versuch totgearbeitet, seine kränkelnde Autowerkstatt am Laufen zu halten. Felipes älterer Bruder Raphael war in schlechte Gesellschaft geraten, fast an einer Überdosis gestorben und schließlich im Hochsicherheitstrakt eines Staatsgefängnisses gelandet. Seine älteste Schwester Catalina hatte geheiratet. Ihr Mann war bei einem Autounfall gestorben, den ein Betrunkener verursacht hatte. Seitdem war sie mit den zwei kleinen Kindern allein. Seine zweite Schwester Marisela hatte ihren Traum von einem Collegeabschluss aufgegeben und die Autowerkstatt ihres Vaters übernommen. Ihr jüngster Bruder Roberto half dort aus, wann immer er konnte. Er ging noch zur Highschool.

Und Felipe? Felipe war Polizist geworden.

Er schenkte seinem Spiegelbild ein schiefes Lächeln. Sein Vater, der Träumer, war von Felipes Berufswahl enttäuscht gewesen. Und doch war Felipe seinem alten Herrn am ähnlichsten. Er war als Einziger der Geschwister ein Idealist. Ausgerechnet Felipe glaubte noch an Gut und Böse, an Richtig und Falsch. Ausgerechnet Felipe glaubte noch an das Rechtssystem und die Macht der Gesetze. Ausgerechnet Felipe hielt am amerikanischen Traum fest.

Und deshalb musste er Lawrence Richter ausschalten, der ganze Familien illegaler Einwanderer ins Land schaffte und zu seinen Sklaven machte. Als Vergütung für die sichere Einreise in das Land der unbegrenzten Möglichkeiten dienten ihm diese Leute in jahrelanger Schuldknechtschaft. Er verlieh sie an Fabriken und Ausbeuterbetriebe zu Löhnen, die weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn lagen. Dann behielt er noch einen Großteil ihres Geldes ein und ließ ihnen nur gerade genug zum Überleben. Wer sich beschwerte, wurde der Einwanderungsbehörde ausgeliefert. Da diese Menschen nur die falschen Namen der Männer kannten, die sie ins Land gebracht hatten, ging Richter damit kein Risiko ein.

Felipe hatte viele dieser Leute gesehen. Sie saßen in der Falle, arbeiteten sechzig Stunden in der Woche für einen Lohn, den sie nie in die Finger bekamen. Für Geld, das in Richters Taschen floss. Felipe hatte ihnen in die Augen gesehen und darin Verzweiflung und Verzagtheit entdeckt – und völlige Hoffnungslosigkeit.

Für sie war der amerikanische Traum zum Albtraum geworden.

Viele von ihnen würden abgeschoben werden, wenn Richters Geschäfte aufflogen. Aber einigen würde es gelingen, sich rechtzeitig abzusetzen. Dann waren sie frei, dem trügerischen amerikanischen Traum nachzujagen.

Obwohl Felipe bereits nah dran war, Richter festzunageln, musste er zunächst warten. Denn in der letzten Woche war aus einem schon lange gehegten Verdacht Gewissheit geworden: Richter hatte einen Partner, genannt Captain Ratte.

Dieser Partner saß irgendwo ziemlich weit oben in der Verwaltung von St. Simone. Wer immer es war, er besaß Macht und Einfluss. Er konnte nötigenfalls dafür sorgen, dass sämtliche Polizeikräfte die Augen abwendeten und in eine andere Richtung schauten.

Felipe Salazar stand nach wie vor treu auf der Seite des Rechts und verteidigte stur den amerikanischen Traum seines Vaters. Bevor er sich Richter schnappte, wollte er deshalb sicherstellen, dass dessen Partner ebenfalls überführt wurde. Dazu musste er jedoch zuerst herausfinden, wer Captain Ratte war.

Bobby Penfield III. war der langweiligste Mann, der Carrie Brooks je über den Weg gelaufen war.

Trotzdem saß sie mit ihm an einem Tisch im elegantesten Restaurant von St. Simone, dem im Erdgeschoss des noblen Reef Hotel gelegenen Schroedinger. Bemüht lächelte sie ihn an. Jetzt wusste sie wieder, warum sie sich normalerweise nicht auf solche Verabredungen einließ. Beim nächsten Mal würde sie sich eine Ausrede einfallen lassen und absagen, wenn sie von einem verhältnismäßig nett wirkenden Mann eingeladen wurde, den sie nicht kannte.

Wahrscheinlich gab es Frauen, die sowohl Bobby Penfield III. als auch seine endlosen Geschichten über Ränkespiele und Machtkämpfe in seiner Werbeagentur aufregend fanden. Aber um es offen zu sagen: Carrie konnte sich einfach nicht vorstellen, dass es sich spürbar auf die Verkaufszahlen irgendwelcher Papierhandtücher auswirkte, wenn das Produkt im Fernsehen von einem Mann statt von einer Frau beworben wurde. Und die Frage war es definitiv nicht wert, das Tischgespräch eine geschlagene Stunde lang zu beherrschen. Außerdem war sie eine engagierte Umweltschützerin. Ihrer Meinung nach hätten Papierhandtücher nie auf den Markt kommen dürfen. Stoffhandtücher waren definitiv die bessere Wahl.

Carrie wünschte sich, dass der Mann endlich das Thema wechseln würde. Verdammt noch mal, sie würde zum Beispiel viel lieber über die sogenannten Spielplatzmorde reden. Die Medien hatten groß über die in der Woche zuvor verübten Morde im Dunstkreis des organisierten Verbrechens berichtet. Alle sprachen darüber – nicht nur in Florida, sondern in den gesamten Vereinigten Staaten. Zwei Mafiosi, Tony Mareidas und Steve Dupree, waren auf einem unbebauten Grundstück in der Innenstadt hingerichtet worden. Das Grundstück grenzte zufällig unmittelbar an den Pausenhof einer Grundschule an. Kinder hatten die Leichen entdeckt, und die Stadt war seitdem in Aufruhr. Fieberhaft wurde nach den Männern gesucht, die dieses blutige Verbrechen verübt hatten.

Aber Bobby Penfield III. laberte weiter über seine Papierprodukte, und Carrie war gezwungen, ihn höflich anzulächeln. Sie war hier, weil Bobbys Werbeagentur an einer Reihe von TV- und Printanzeigen über den Sea Circus arbeitete. Und die Agentur hatte sich auf einen stark reduzierten Preis eingelassen. So hatte es ihr jedenfalls Hal Tompkins erzählt, der Geschäftsführer des Aquariums. Als Hal mit Bobby bei Carries Nachmittagstraining mit den Delfinen aufgekreuzt war, hatte Bobby sie gleich zum Essen eingeladen. Mit flehenden Blicken hatte Hal sie gebeten, Ja zu sagen. Und Carrie war dumm genug gewesen, die Einladung anzunehmen.

Jetzt saß sie hier in ihrer ganz privaten kleinen Hölle, in einem viel zu feinen Restaurant und bei Weitem nicht schick genug angezogen – das schlichte blau geblümte, ärmellose Kleid mit dem kurzen weiten Rock war allerdings das Eleganteste, was sie besaß. Und ihr gegenüber befand sich ein Mann, mit dem sie nichts, aber auch gar nichts gemein hatte. Vielleicht davon abgesehen, dass ihnen offenbar beiden der neue Tankini gefiel, den Carrie beim Nachmittagstraining getragen hatte.

Carrie ließ den Blick durchs Restaurant schweifen. Am anderen Ende des Speisesaals war ein langer Tisch für eine größere Gesellschaft gedeckt. Daran saßen Männer im Smoking mit ihren schönen Frauen. Oder Geliebten. Ganz sicher Geliebte, entschied Carrie zynisch. Die Ehefrauen hockten vermutlich alle mit ihren Kindern zu Hause.

Ein Mann mit silbergrauem Haar lächelte seine Gäste vom Kopfende des Tisches aus wohlwollend an. Ja, das hier ist seine Party, dachte Carrie bei sich. Silberhaar war mit Sicherheit der Mann, der heute Abend für die Rechnung aufkam.

Bobby Penfield redete und redete. Inzwischen war er bei Wegwerfwindeln angelangt und bemerkte nicht einmal, dass Carrie ihm längst nicht mehr zuhörte. Stattdessen beobachtete sie, wie Silberhaar aufstand und einen Toast ausbrachte. Ein anderer Mann, der mit dem Rücken zu ihr gesessen hatte, erhob sich daraufhin ebenfalls und verneigte sich dankend zu höflichem Applaus.

Carrie beugte sich vor, um genauer hinzuschauen. Irgendetwas kam ihr an dem Mann seltsam bekannt vor. Vielleicht waren es seine Schultern – oder die Art, wie wunderbar der Smoking diese breiten Schultern betonte. Sie musterte seinen Hinterkopf und wünschte sich schweigend, er würde sich umdrehen.

Er tat ihr den Gefallen nicht. Stattdessen setzte er sich wieder, ohne ihr Gelegenheit zu geben, sein Gesicht zu sehen. Wer immer er auch war, er trug sein langes dunkles Haar im Nacken zusammengebunden. Aber keiner der Männer, die sie kannte, hatte je einen Smoking getragen. Geschweige denn einen maßgeschneiderten Smoking, der so sündhaft gut saß.

Überrascht sah Carrie auf, als ihr plötzlich bewusst wurde, dass Bobby nichts mehr sagte. Er schaute sie fragend an und schien auf eine Antwort zu warten.

Sie tat das Einzige, was sie tun konnte. Sie lächelte. Und fragte ihn, welches College er besucht hatte.

Bobby nahm dankbar die Gelegenheit wahr, weiter über sich zu reden. Er merkte gar nicht, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte. Carrie war sich nicht sicher, ob er überhaupt irgendetwas von dem gehört hatte, was sie im Laufe des Abends gesagt hatte – abgesehen von den Fragen zu seiner Person.

Himmelherrgott noch mal, irgendwo auf der Welt musste es doch einen Mann geben, der anderen tatsächlich zuhörte! Aber wo immer dieser Jemand war und wer er auch sein mochte, er hieß keinesfalls Bobby Penfield III.

Natürlich hörte sie ihm auch nicht unbedingt zu. Sie seufzte. Schon als sie in seinen Wagen gestiegen war, hatte sie gewusst, dass der Abend eine einzige Katastrophe werden würde. Ihr war bereits von Anfang an klar gewesen, dass sie überhaupt nicht zueinanderpassten. Jetzt wünschte sie sich im Stillen, sie hätte den Mumm besessen, sich der Einladung elegant zu entziehen.

Bobby hingegen schien immer noch die Hoffnung zu hegen, dass Carrie ihn nach dem Essen nach Hause begleitete. Sie sah es in seinen Augen und in der Art, wie er auf ihre Brüste und auf ihren Mund schaute.

Sie seufzte erneut. Was für ein scheußlicher Abend.

Obwohl es zumindest nicht so schlimm war wie jene Nacht im Juli, in der sie zwei endlose albtraumhafte Stunden im Kofferraum ihres Wagens eingesperrt gewesen war.

Selbst nach so vielen Monaten verfolgte die Erinnerung daran sie immer noch.

Diese zwei Stunden waren ihr eher wie zwei Jahre vorgekommen.

Zuerst war sie regelrecht durchgedreht. Im Geiste hatte sie sich in ihre Kindheit zurückversetzt gefühlt: Mit neun Jahren war sie einmal im winzigen Waschraum des Wohnwagens ihrer Eltern eingeschlossen gewesen. Genau wie damals hatte sie geweint, als ob die Welt untergehen würde. Sie hatte geweint und geweint, bis sie sich irgendwann etwas beruhigt hatte. Dann hatte sie nach der alten Signallampe getastet, die sie für Notfälle im Kofferraum mit sich führte. Die weiße Birne für Dauerlicht war durchgebrannt gewesen, aber das rote Notfall-Blinklicht hatte noch funktioniert.

Im roten Blinklicht der Signallampe wirkte der Kofferraum absurd winzig und erschreckend eng. Aber wenigstens umfing sie nicht mehr totale Dunkelheit und nahm ihr den Atem. Frische Luft gab es auch – jedenfalls, nachdem sie das Dichtungsgummi von der Heckklappe abgezogen hatte. Ihr Kofferraum würde vermutlich nie wieder regendicht sein, aber frische Luft zu bekommen war ihr wesentlich wichtiger.

Und dann sang sie, während sie auf dem Rücken dalag, die Beine angezogen und das Gesicht nur Zentimeter vom Kofferraumdeckel entfernt. Sie sang, um nicht den Verstand zu verlieren. Sie sang jedes Lied, das sie jemals gelernt hatte – und dazu noch ein paar andere, die sie nicht auswendig kannte. Sie sang sämtliche Titel, die in den Top Forty gewesen waren, als sie die achte Klasse besucht hatte. Sie hatte sämtliche der nervigen Musicalstücke gesungen, die ihre Mutter so sehr geliebt hatte. Sie hatte jeden einzelnen Titel der beiden neuesten CDs von Patty Loveless gesungen. Sie hatte gesungen, bis sie völlig heiser gewesen war.

Das war wirklich die Hölle gewesen: dort zu liegen, zu schwitzen, gegen die aufkommende Panik anzukämpfen, zu spüren, wie die Kofferraumwände immer näher kamen …

Carlos.

Sogar nach so langer Zeit musste sie immer wieder an diesen Mann denken. In den ersten paar Wochen, nachdem er sie im Kofferraum ihres Autos eingesperrt hatte, war er ihr nicht aus dem Kopf gegangen.

Und seltsamerweise tauchte er nach wie vor gelegentlich in ihren Träumen auf. Noch seltsamer war jedoch, dass es sich um schwüle, erotische Träume handelte. Um Träume von miteinander verschlungenen Beinen, von kühler glatter Haut auf festen Muskeln. Von langem dunklen Haar, das ihm ins Gesicht hing, während er sich langsam über sie beugte und sie küsste. Während er sich in einem sinnlichen, trägen, unglaublich erregenden Rhythmus in ihr bewegte …

Aus diesen Träumen schreckte sie jedes Mal hoch, überrascht und manchmal ein wenig enttäuscht, dass es nur ein Traum gewesen war.

Vor sechs Monaten war sie zur Polizei gegangen und hatte Anzeige erstattet, aber der Mann namens Carlos und seine drei Komplizen waren nie gefasst worden.

Zu ihrem Glück, dachte sie. Denn wenn sie auch nur einen dieser Mistkerle je wieder zu sehen bekommen würde …

Am anderen Ende des Restaurants standen Silberhaars Gäste auf. Die Frauen eilten beinah geschlossen zur Damentoilette. Die Männer schüttelten einander die Hände und …

Nein.

Das konnte nicht sein.

Oder doch?

Carrie hatte nur einen ganz kurzen Blick auf das Gesicht des Mannes erhascht. Aber diese exotischen Wangenknochen waren unverwechselbar.

Trotzdem konnte sie sich nicht sicher sein, bevor sie seine Augen sah. Entweder wurde sie allmählich verrückt – oder der Mann mit dem langen Pferdeschwanz, der Mann in dem maßgeschneiderten Smoking war tatsächlich Carlos.

Natürlich war es durchaus möglich, dass sie allmählich verrückt wurde.

Das Ganze war jetzt ein halbes Jahr her, und Carrie sah Carlos immer noch an jeder Ecke: in der Einkaufspassage, im Lebensmittelladen, im Kino, sogar in der Besuchermenge im Sea Circus. Wann immer sie einen hochgewachsenen Mann mit langem, dunklem Haar entdeckte, schaute sie ganz genau hin. Doch wann immer der Mann den Kopf drehte, musste sie es erkennen: Nein, das war nicht Carlos. Der Typ ähnelte ihm nur ein kleines bisschen.

Dieser Mann jedoch drehte sich nicht um und gab ihr keine zweite Gelegenheit, ihm ins Gesicht zu blicken. Er schaute hinüber zur Lobby und wandte ihr den Rücken zu.

„Entschuldige mich bitte“, sagte Carrie zu Bobby Penfield, als er einen Moment seinen Redefluss unterbrach und Luft holte. Sie faltete ihre Serviette zusammen und legte sie neben ihren Salatteller. „Es dauert nur eine Minute. Ich bin gleich wieder da.“ Damit schob sie ihren Stuhl zurück und eilte den Männern im Smoking hinterher, die das Restaurant verließen.

Die Lobby des Schroedinger war eine Pracht: Hier standen jede Menge Grünpflanzen, von den hohen Decken hingen Kronleuchter. Die verspiegelten Wände ließen den Raum viel größer erscheinen, als er war. Der Mann, der eventuell Carlos sein mochte, stand an der Garderobe und war in ein Gespräch mit Silberhaar vertieft. Etliche der anderen Gäste standen in der Nähe.

Carrie blieb abrupt stehen, als sie das Gesicht des Langhaarigen in einem der Spiegel sehen konnte.

Es war Carlos. Herr im Himmel, er war es wirklich.

Silberhaar sagte etwas zu ihm, und er lächelte. Zeigte jenes sanfte, priesterhafte Lächeln, das Carrie kannte. Als Silberhaar etwas hinzufügte, wurde aus dem Lächeln ein teuflisches Lachen, und vollkommene weiße Zähne blitzten auf.

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