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Melancholie in unsicheren Zeiten

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»Gibt es heute weniger Raum für ambivalente Gefühle, weil wir uns permanent glücklich fühlen wollen?«


Wir leben in unsicheren Zeiten. Viele von uns fühlen sich überfordert, bedroht und machtlos; Gefühle von Angst und Unsicherheit prägen unsere Wahrnehmung und unser Miteinander. Kann die Melancholie uns helfen?

Die renommierte niederländische Philosophin Joke J. Hermsen sagt Ja: Denn melancholisch zu sein bezeichnet einen Zustand, dem – trotz Verzweiflung und Traurigkeit – immer auch etwas Schöpferisches und Hoffnungsvolles innewohnt. Warum fällt es uns heute so schwer, Vertrauen in bessere Zeiten zu haben?

Anhand der Werke von Hannah Arendt, Ernst Bloch, Lou Andreas-Salomé und vielen anderen beschreibt Hermsen eindrücklich den Wendepunkt, an dem der Mensch noch genug Kraft und Hoffnung hat, seine Ängste und Zweifel zu überwinden und eine neue Beziehung zu sich selbst und der Welt aufzubauen.


Ein Plädoyer für die Melancholie als hoffnungsvolle Kraft


»Die Angst vor zukünftigen Verlusten wird unter anderem von wachsenden wirtschaftlichen Unsicherheiten und der Bedrohung durch die Klimakrise, Migration und Terroranschläge ausgelöst, aber auch von einem viel unbestimmteren Gefühl, das mit Entfremdung, Entwurzelung und einer allgemeinen Fatigue einhergeht. Die kapitalistische Gesellschaft, in der das Individuum für seinen Wohlstand und sein Glück selbst verantwortlich ist, fördert diese Unzufriedenheit, garantiert diese doch den besten Absatzmarkt. Andere Werte, die für Engagement, Solidarität oder Gemeinsinn sorgen könnten, verfallen, weil sie für den Markt irrelevant sind.

Was wir brauchen ist eine freie, offene und pluralistische kulturelle Gesellschaft, die dafür sorgt, dass Menschen nicht in ihrer Melancholie versinken, sondern Kraft und Kreativität aus ihr schöpfen, indem sie ihre Gefühle zum Ausdruck bringen und sie mit anderen teilen.«


  • Erscheinungstag: 26.10.2021
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749902378

Leseprobe

1

DER BEDROHTE SCHWAN

Depression is melancholy minus its charms.

– SUSAN SONTAG

© Peter Horree Alamy Stock Foto

Jan Asselijn, Der bedrohte Schwan (1650)

Ruhig und ehrwürdig paddelt er durch das Wasser, die Beine im Schlamm badend, den langen weißen Hals zu den Wolken erhoben. Von allen Vögeln hat vor allem der Schwan unsere melancholische Vorstellungskraft beflügelt. Er fasziniert durch seine stattliche Haltung und seine anmutigen Schwimmbewegungen, er flößt aber auch Respekt ein, wenn er sich mit seinen großen Flügeln schlagend aus dem Wasser erhebt und seine gefiederte Gestalt durch die Lüfte bewegt. Wie die Melancholie vereint auch der Schwan Extreme in sich: Schwere und Leichtigkeit, Ruhe und Bedrohung, Schönheit und Angst. Italo Calvino beschrieb die Melancholie als »leicht gewordene Traurigkeit« 1 , Victor Hugo bezeichnete sie als »das Glück, traurig zu sein« 2 . Dem Schwan wären solche widersprüchlichen Gefühle wohl nicht fremd. Schließlich singt er einem alten Aberglauben zufolge wehmütig seinem Tod entgegen. Daher rührt die Redeweise, mit der wir das letzte Werk eines Dichters oder Komponisten als »Schwanengesang« bezeichnen.

Dieser Aberglaube geht auf die Antike zurück. In Platons Phaidon behauptet der sterbende Sokrates, dass die Schwäne in der Stunde ihres Todes nicht aus Traurigkeit so wunderbar sängen, sondern weil sie bald bei ihrem Gott Apollon sein würden. Außer in der griechischen Mythologie, wo er als Begleiter von Aphrodite oder als Gestalt von Zeus und Kyknos erscheint, spielt der Schwan auch in der finnischen, irischen und nordischen Sagenwelt eine Rolle. Er gilt hier vor allem als Symbol der Weisheit, Schönheit und Wehmut. Auch in der Musik, der Literatur und der bildenden Kunst hat der Schwan seine Spuren hinterlassen. In zahlreichen Werken, von »Der Karneval der Tiere« von Camille Saint-Saëns über »Der Schwan« von Charles Baudelaire bis hin zu »Zwanen in Vincennes« (Schwäne in Vincennes) von Stefan Hertmans, steht der weiße Schwimmvogel als Symbol für unsere Melancholie.

Eines der berühmtesten niederländischen Gemälde eines Schwans ist das von Jan Asselijn geschaffene Bild Der bedrohte Schwan aus dem Jahr 1650. Von ruhiger Ergebenheit oder wehmütigem Gesang kann bei diesem Schwan keine Rede mehr sein. Der Vogel, unter dem DE RAAD-PENSIONARIS (Der Ratspensionär) geschrieben steht, erhebt sich wütend aus seinem Nest, stößt seinen Kopf angriffslustig nach vorne und schlägt mit den Flügeln nach seinem Angreifer, einem schwarzen Hund am gegenüberliegenden Ufer. Es ist eines der letzten Gemälde von Asselijn, einem Zeitgenossen Rembrandts, und gilt, auch aufgrund der später hinzugefügten Texte, als eine der berühmtesten allegorischen Darstellungen der Gefahren, von denen sich Holland im 17. Jahrhundert bedroht sah.

»Der Schwan von Asselijn, der lebensgroß / die ganze Leinwand diagonal durchmisst«, schrieb Ida Gerhardt, ist ein »Erzschwan, streitbar auf das Nest bedacht«. Er muss sein Nest mit Eiern, worauf HOLLAND geschrieben steht, gegen die Angriffe seines Bedrängers verteidigen, und er tut dies überzeugend und mit Verve. Über der Szene hängt die Zukunft wie eine eigentümlich drohende Wolke am Himmel, der Horizont färbt sich im Licht der untergehenden Sonne schon in Blassorange. Der Schwan ist imponierend in seinem heißblütigen Bemühen, sein Nest vor dem Hund zu schützen, der als DE VIJAND VAN DE STAAT, als Staatsfeind, bezeichnet wird – gemeint ist Wilhelm III. von Oranien.

Der Schwan verweist auf Johan de Witt, der während des Goldenen Zeitalters fast zwanzig Jahre lang Ratspensionär der Provinz Holland und damit einer der bedeutendsten Politiker des Landes war. Zusammen mit seinem Bruder Cornelis sorgte er dafür, dass die Städte in der Hand der staatstreuen Führer blieben und nicht in die Hände der Orangisten fielen. Seine politischen Qualitäten hielten die Republik zusammen und führten zu einer Periode ungekannten Wohlstands. Doch im Katastrophenjahr 1672 wurde die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen sowohl von Frankreich als auch von England angegriffen; sie unterlagen schließlich Frankreich. Nach dieser Niederlage wurde Johan de Witt des Landesverrats beschuldigt, er verlor seine Macht an Wilhelm III. von Oranien. Kurz darauf wurden er und sein Bruder Cornelis von einem wütenden Mob brutal ermordet. Das große Vertrauen, das die Bevölkerung zuvor in Johan de Witt als Wächter des »Nestes« gesetzt hatte, schlug schnell in eine nostalgische Sehnsucht nach einem König und in irrationale Angst und Hass um, was zu den berühmtesten politischen Morden der niederländischen Geschichte führte.

Jan Asselijns Gemälde des aufbrausenden Schwans scheint auch den heutigen Zeitgeist widerzuspiegeln. Wie der Schwan fühlen sich heute viele Menschen in ihrer Existenz bedroht und reagieren wütend, wenn jemand ihre Meinung nicht teilt oder ihrem Haus und Heim, ihrem Land oder ihren Traditionen zu nahekommt oder sie infrage stellt. Das Gemälde zeigt, wie Melancholie in Angst und Aggression umschlagen kann, wenn die Zeiten härter werden und reale oder eingebildete Gefahren drohen. Mittlerweile ist der Hund, der die Niederlande bedroht, längst nicht mehr ein Nachkomme des Hauses Oranien. Niemand käme zum gegenwärtigen Zeitpunkt in der Geschichte noch auf die Idee, ihm den Namen Willem-Alexander zu geben.

Was uns heute bedroht, verbirgt sich nach Ansicht einer zunehmenden Zahl europäischer Politiker hinter verschiedenen Bezeichnungen wie »Illegaler«, »Moslem«, »Immigrant«, »Flüchtling« oder »Glückssucher«. Vor einigen Jahren hat der italienische Philosoph Giorgio Agamben solche Bezeichnungen unter dem Begriff homo sacer zusammengefasst. Zur Zeit des Römischen Reiches war der homo sacer der vogelfreie Geächtete oder Ausgestoßene, der aus der gemeinsamen Welt der Polis verbannt wurde, keine Rechte hatte und zu einem Leben in der Illegalität verurteilt war. Dieses Verbannen oder Ausschließen aus der Gesellschaft tun wir noch immer, meint Agamben. Abgelehnte Asylbewerber schieben wir ab, oder wir zwingen sie, in die Illegalität unterzutauchen, wir wehren Flüchtlinge an den Grenzen Europas ab oder internieren sie in Zeltlager. Der Hund, der die Niederlande bedroht, gleicht heutzutage immer häufiger Agambens homo sacer. Allem Anschein nach wird den aus der Gesellschaft Verbannten die Schuld für Probleme zugewiesen, mit denen sie nichts zu tun haben. Durch sie soll offenbar die Angst gebannt werden – nicht nur vor dem Klimawandel, vor einer neuerlichen Finanzkrise, vor Terror und Anschlägen, sondern auch vor dem Verlust der eigenen Identität und den eigenen vertrauten Traditionen.

Gefühle der Angst und Bedrohung gab es zu allen Zeiten, aber seit einigen Jahren scheinen sie sich zu einem »neuen Unbehagen in der Kultur« zu entwickeln, wie Bas Heijne 2016 in seinem Essay Onbehagen (Unbehagen) schreibt. Einem Unbehagen, das populistische Parteien geschickt ausnutzen, wodurch die Angst noch mehr um sich greift. Die Gesellschaft scheint mittlerweile sogar von einer tiefen Melancholie durchdrungen zu sein, was sich auch in der hohen Zahl an Menschen widerspiegelt, die unter Depressionen leiden. Wie unterschiedlich sich die Melancholie durch die Jahrhunderte hindurch auch manifestiert hat – von der Acedia im Mittelalter über den Weltschmerz und den Spleen im 19. Jahrhundert bis hin zur Depression in unserer eigenen Zeit –, immer wird sie von Gefühlen der Angst, des Mangels oder des Verlustes ausgelöst. Der melancholische Mensch trauert um etwas, das vergangen ist, er erfährt eine allgemeine Sinnlosigkeit des Daseins und wird von einer Furcht vor dem Unbestimmten und von Gefühlen der Ohnmacht und Unsicherheit geplagt. Melancholie kann sich in bewussten Erinnerungen an etwas, das einmal war, oder in einer unbewussten Sehnsucht nach dem, was niemals gewesen ist, äußern. Etwas fehlt, aber was das genau ist, lässt sich nicht recht benennen. Gerade dieser Mangel kann auch die Sehnsucht nähren, sich auf die Suche nach dem zu begeben, was verloren gegangen ist; in diesem Fall wirkt die Melancholie als Triebfeder der Kreativität.

Das Empfinden oder Ahnen eines Verlustes kann aber auch eine nostalgische Sehnsucht nach früheren Zeiten heraufbeschwören, auch wenn wir sehr wohl wissen, dass damals nicht alles besser war. Diese Nostalgie greift noch mehr um sich, wenn wir den Glauben an den Fortschritt verlieren, dann misstrauen wir der Gegenwart und hegen Angst vor der Zukunft. Wir schöpfen wenig Hoffnung aus Studien, die belegen, dass es weltweit gerade weniger Armut, Hunger und Analphabetismus gibt, und vermuten in aller Regel, dass es immer schlimmer wird. Wir wissen weder recht, wohin uns unser Weg führt, noch wissen wir, in welche Richtung er uns führen sollte; daher sehnen wir uns nach den guten alten Zeiten zurück. »Make America great again« war nicht umsonst die nostalgische politische Losung, mit der Trump die Wahl gewann. »Wir wollen unser Land zurück« lautet die europäische Variante davon, oder »Die Niederlande sollen wieder uns gehören« – der Wahlkampfslogan der niederländischen rechtspopulistischen PVV (Partij voor de Vrijheid / Partei für die Freiheit).

Das aus dem Griechischen abgeleitete Wort Nostalgie geht auf nostos zurück, was Rückkehr bedeutet, und auf algos, was mit Schmerz, Traurigkeit und Leiden übersetzt werden kann. Wir haben Heimweh nach der Vergangenheit und leiden darunter. In der Zukunft scheinen uns nur Verluste zu erwarten, was uns unruhig, ängstlich und unsicher macht. Die Melancholie, die im Lauf der Jahrhunderte und über alle Kulturen hinweg ein wesentlicher Bestandteil der Conditio humana gewesen ist, scheint hierdurch aus dem Gleichgewicht zu geraten. Der ambivalente Charakter der Melancholie – Traurigkeit, die mit Trost oder Hoffnung einhergeht, Schmerz, der von Schönheit oder Freude begleitet wird – gerät zunehmend aus dem Blickfeld. Wir geben uns zwar immer noch gerne der Musik hin, die eine Welle der Wehmut über uns ergießt, oder einem Film, dem es gerade noch gelingt, einen Lichtstreif zwischen die dunklen Schatten zu werfen, doch wir scheinen uns weniger dazu inspiriert zu fühlen, diese melancholischen Klänge und Bilder in Kreativität oder Hoffnung auf Neues umzusetzen.

Die Ausstellung Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst zog 2006 sowohl in Paris als auch in Berlin sehr viele Besucher an, ebenso wie die Ausstellung Donkere kamers. Over melancholie en depressie (Dunkle Räume. Über Melancholie und Depression) im Museum Dr. Guislain in Gent im Jahr 2014. Wir suchen unser Heil in Ausstellungen, Musik und Filmen, die der »Tränenflut, die die Blumen knickt, aber auch nährt« 3 , wie es John Keats in seiner Ode auf die Melancholie formulierte, reichlich Raum geben, scheinen aber vor allem die schwarze Seite der Melancholie willkommen zu heißen und deren »nährende« Seite zu vergessen. Wir lesen gerne Romane, die Gefühle von Melancholie oder Depression zum Ausdruck bringen, wie Unendlicher Spaß von David Foster Wallace, Physik der Schwermut von Georgi Gospodinov oder Un quinze août à Paris (Ein fünfzehnter August in Paris) von Céline Curiol, um nur einige zu nennen, aber wir tun das nur noch selten mit einem Lächeln im Gesicht. Auch in der Musik erklingen tief wehmütige Töne. Blackstar und You Want It Darker waren in dieser Hinsicht vielleicht die passendsten Titel und zugleich die letzten Alben, die David Bowie und Leonard Cohen im Jahr 2016 herausbrachten; in der Tat ihre beider »Schwanengesänge«.

Melancholie ist eine Stimmung, die uns über Zeit- und Ländergrenzen hinweg verbindet; es hat kaum eine Zeit oder Kultur gegeben, in der Melancholie nicht präsent war. In den letzten Jahren sind mehrere Studien erschienen, die sowohl die Übereinstimmungen als auch Unterschiede zwischen dem klassischen Begriff der Melancholie und der modernen Depression untersuchen, beispielsweise Melancholiska rum (Die Räume der Melancholie) von Karin Johannisson, Mad, Bad and Sad von Lisa Appignanesi, The New Black von Darian Leader und De depressie-epidemie (Die Depressions-Epidemie) von Trudy Dehue, Professorin für Psychologie und Wissenschaftsphilosophie an der Universität Groningen.

Im Laufe der Geschichte hat unser Denken über Melancholie immer wieder Veränderungen erfahren. Nicht nur die Form, die Melancholie annimmt, auch ihre Wertschätzung und Behandlung hängen von den gesellschaftspolitischen Umständen und der Art unseres Umgangs mit Krankheit und Gesundheit ab. Im 20. Jahrhundert haben wir dem melancholischen Komplex von Stimmungen, Gefühlen und Gemütszuständen etwas einseitig den Namen »Depression« gegeben, wodurch der ambivalente Charakter aus dem Blick geraten ist und die Melancholie zudem stark medikalisiert wurde.

Weltweit leiden etwa 400 Millionen Menschen an dieser Angst- und Stimmungsstörung, die mit einer ebenso großen Menge von Antidepressiva behandelt wird. Obwohl die Wirkung dieser Medikamente bei milderen Formen der Depression noch immer unsicher ist, hat sich ihr Einsatz in den letzten 25 Jahren vervierfacht. Allein in den Niederlanden wurden sie im Jahr 2014 gut einer Million Menschen verschrieben. Die Pharmaindustrie profitiert gut davon, aber der Anteil an »Genesungen« hat sich Lisa Appignanesi zufolge in den letzten 100 Jahren kaum erhöht. Nach Ansicht des Psychiaters Witte Hoogendijk, der seit dreißig Jahren zu Depressionen forscht, »haben Antidepressiva bei leichten bis mittelschweren Depressionen überhaupt keine Wirkung«. In einem Interview mit dem NRC Handelsblad vom 11. Februar 2017 berichtete er, »dass die Pharmaindustrie viel Geld in Werbung und die Einflussnahme auf Ärzte investiert habe«, wodurch die Ärzte schneller dazu greifen, Medikamente zu verschreiben. Nun aber, da die Ergebnisse enttäuschend ausfielen, tut die pharmazeutische Industrie, als ginge sie das nichts an. »Da sitzt man dann da, mit einer Bevölkerung, die Pillen schluckt, während sich die Pharmafirmen einen schlanken Fuß macht.«

Depression ist in vielen Ländern die gravierendste Ursache für psychisches Leiden, soziale Einsamkeit und Arbeitsunfähigkeit, doch nach weitverbreiteter Auffassung ist die Grenze der medizinischen Intervention mit Medikamenten mittlerweile erreicht. Depression wird im DSM-5, dem Diagnosehandbuch für psychiatrische Störungen, als »eine düstere Stimmung« beschrieben, »die sich in einem Gefühl der Niedergeschlagenheit, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung äußert«. Diese weitgefasste Definition hat dazu beigetragen, dass immer häufiger Medikamente verschrieben werden. Autorinnen wie Trudy Dehue und Karin Johannisson führen den zunehmenden Einsatz von Antidepressiva nicht nur auf die Macht der Pharmaindustrie zurück, sondern auch auf den Einfluss des neoliberalen Marktdenkens, mit seinem hohen Leistungsdruck und der »Bann der Bedachtsamkeit«, wie Dehue es nennt; schnelles und wettbewerbsorientiertes Handeln wird mehr geschätzt als ruhiges und wohldurchdachtes Auftreten.

Wir werden lernen müssen, die derzeitige Form der Melancholie aus einem breiteren kulturhistorischen Kontext heraus zu verstehen, wenn wir nicht machtlos zusehen wollen, wie ihr immer mehr Menschen zum Opfer fallen. Neben einer sozialhistorischen Reflexion ist meines Erachtens auch eine philosophische Besinnung auf die klassische Melancholie und die moderne Depression notwendig. Melancholie kann entweder in ein wehmütiges Bewusstsein unserer Vergänglichkeit münden, das unsere Kreativität und Solidarität gerade fördern kann, oder in die pathologische Variante der Depression, bei der Niedergeschlagenheit, Angst und Ohnmacht die Vorherrschaft übernehmen. Seit Menschengedenken mussten wir lernen, mit Verlusten, Enttäuschungen und Rückschlägen umzugehen, doch in letzter Zeit scheinen wir dazu weniger gut imstande zu sein.

In diesem Essay will ich der Frage nachgehen, wie das kommt und welche politischen und kulturellen Ursachen und Konsequenzen damit verbunden sind. Offensichtlich ist etwas verloren gegangen, ein gewisser Zusammenhang, ein Ziel oder eine Richtung; dieses Gefühl des Verlustes hat sich unserer so sehr bemächtigt, dass wir begonnen haben, uns damit zu identifizieren. Wir haben nicht nur etwas verloren, in gewisser Weise scheinen wir uns auch von uns selbst entfremden. Wir wissen nicht mehr recht, wer wir sind, und klammern uns zunehmend an das, was der britisch-ghanaische Philosoph Kwame Appiah »Identitätslabels« nennt: Merkmale wie Religion, Klasse und ethnische Zugehörigkeit, die andere »Labels« ausschließen und die Welt in Gruppen einteilen, die sich gegenseitig verfolgen oder bekämpfen.

Seit der Antike wird Melancholie aber auch mit Kreativität und sogar Genialität in Verbindung gebracht, sofern sie von Hoffnung, Lebenslust, Tatkraft und Realitätssinn im Zaum gehalten wird. Nur dann kann sie eine wichtige Triebfeder für unsere einzigartige menschliche Fähigkeit sein, Neues zu schaffen. Darüber hinaus kann Melancholie ein Anstoß zu kritischer Reflexion und ethischem Handeln bilden. Ein Beispiel dafür ist der Film Melancholia von Lars von Trier, in dem die Erde von einem Planeten bedroht und zerstört wird, der verdächtig dem Saturn gleicht – also dem Planeten in der Astrologie, der Melancholie verursacht. Depressivität droht uns zu zerstören, scheint die Botschaft des Films zu sein. Der Regisseur, der während der Dreharbeiten selbst an einer schweren Depression litt, erzählte, er habe mit diesem Film nur in den »tiefen Abgrund der deutschen Romantik« geschaut.

Der für seine kontroversen Meinungen bekannte Philosoph Slavoj Žižek denkt darüber jedoch ganz anders; er ist der Auffassung, dass der Film unser ethisches Bewusstsein vertiefen könne, da darin der Tod der Hauptdarstellerin akzeptiert statt verdrängt oder missverstanden werde. Auch wenn diese Interpretation nicht jeden überzeugen mag, spielt Žižek hier doch auf eine wichtige Unterscheidung an, die Sigmund Freud in seiner vor gut hundert Jahren verfassten Abhandlung »Trauer und Melancholie« (1917) gemacht hat: die Unterscheidung zwischen demjenigen, der einen konkreten Verlust betrauert und diesen im Laufe des Trauerprozesses zu akzeptieren lernt, und der krankhaft melancholischen Person, der einen abstrakten Verlust betrauert, den sie vor allem auf sich selbst bezieht, wodurch sie sich von sich selbst entfremdet.

Lange vor Freud hat Platon in seinem Phaidros (370360 v. Chr.) zwischen einer »krankhaften« und einer »vortrefflichen« Form der Melancholie unterschieden. In diesem Essay möchte ich untersuchen, inwieweit diese Unterscheidung, die, wie wir sehen werden, von vielen Philosophen und Ärzten nach Platon verwendet wurde, uns noch immer helfen kann, zu einem besseren Verständnis der melancholischen Gesellschaft zu gelangen, in der wir uns heute zu befinden scheinen. Wie Platon unterscheide ich zwischen der pathologischen Melancholie, die unter anderem von den unruhigen Zeiten, in denen wir leben, gespeist wird, und der gesunden Melancholie, die gerade zu Reflexion, Mitgefühl und Kreativität führen kann. Niemand verliert geliebte Menschen, Errungenschaften oder Ideale, ohne zu trauern, die Frage ist jedoch, wann und warum, wie es gegenwärtig der Fall zu sein scheint, die eine Form der Melancholie unter gewissen gesellschaftspolitischen Umständen die andere zu dominieren beginnt.

Kurzum, wann verfügen Menschen noch über genügend Mut, Widerstandskraft und Hoffnung, um über den unvermeidlichen Verlust hinwegzukommen und eine neue Form zu suchen, sich dazu zu verhalten? Melancholie ist eine Stimmung oder ein Gemütszustand, der die Menschen weltweit miteinander verbindet, aber sie kann sich auch zu einer Angst entwickeln, die uns trennt und uns gerade voneinander entfremdet. Was ist nötig, um zu verhindern, dass die melancholischen Gefühle, die uns als Menschen alle anhaften, in eine Depression umschlagen? Ruhe, Reflexion und Aufmerksamkeit sicherlich, also die Aufhebung des »Banns der Bedachtsamkeit«, aber auch soziale Verbundenheit, Liebe, Kunst und eine gemeinschaftliche politisch-kulturelle Welt sind notwendig, um unsere Melancholie »gesund« zu erhalten. Nur dann gelingt es uns, die Verluste und Veränderungen, mit denen wir im Laufe unseres Lebens konfrontiert werden, anzunehmen und in einen Neubeginn zu verwandeln – das, was Hannah Arendt »die höchste menschliche Fähigkeit« 4 nennt, wie wir noch sehen werden. Gelingt uns dies nicht, wird unsere Melancholie von Unruhe, Unsicherheit und Angst vor allem auf die dunkle Seite des Verlustes gezogen. Die Frage ist, ob sie dann noch fruchtbar werden kann, um unsere Kreativität anzuregen und uns Hoffnung zu verleihen. Oder wird sie sich in Empörung und Bitterkeit verwandeln, sodass wir wie Asselijns Schwan auf jeden fauchend und wutentbrannt reagieren, der uns nahekommt und unser Nest bedroht?

2

MELANCHOLIE: ZU ALLEN ZEITEN UND IN ALLEN KULTUREN

Where there is sorrow, there is holy ground.
Some day people will realize what that means.

– OSCAR WILDE

Seit wir über uns selbst nachdenken, denken wir auch über unseren Tod und unsere Vergänglichkeit nach. Von dem ältesten überlieferten literarischen Text, dem viertausend Jahre alten Gilgamesch-Epos, in dem sich der sumerische Titelheld auf die Suche nach dem ewigen Leben begibt, bis hin zu dem 2014 erschienenen Roman Physik der Schwermut von Georgi Gospodinow haben die Menschen den Gefühlen der Melancholie Ausdruck verliehen, die dieses Bewusstsein der Sterblichkeit in ihnen auslöste.

Melancholie wird auch als »sadness without a cause« bezeichnet, weil sie eine Form von Traurigkeit darstellt, die keine eindeutige, konkrete Ursache kennt. Es handelt sich eher um eine allgemeine trübsinnige oder schwermütige Stimmung, die uns wie ein Nebel überfällt, der plötzlich aufkommt und alles grau und dunstig erscheinen lässt. Obgleich unsere Bewertung der Melancholie sehr unterschiedlich gewesen ist, scheint sie sich um spezifische Zeit- oder Landesgrenzen kaum zu scheren. Über die Jahrhunderte und Kulturen hinweg hat sie einen festen Platz im menschlichen Gefühlsspektrum eingenommen. Sie erscheint unter vielen Namen, von mélas cholé in der Antike bis zu youyu in China, von Hüzün in der arabischen Welt bis zu Saudade in Portugal und Brasilien.

Jede kulturelle Gemeinschaft hat der Melancholie gefrönt, sie andererseits aber auch mit Hilfe von Riten, Geschichten und religiösen Handlungen im Zaum zu halten versucht. Melancholie kann unterschiedliche Formen annehmen, von einem flüchtigen emotionalen Ausbruch von Traurigkeit bis zu einer langanhaltenden Stimmung der Niedergeschlagenheit, aber das ändert nichts an der Tatsache, dass sie schon seit Menschengedenken einen konstanten Faktor in den Beschreibungen der Conditio humana bildet.

Wie schon erwähnt unterscheidet Platon im Phaidros zwischen einer »krankhaften« und einer »vortrefflichen« Form der Melancholie. Obwohl er an anderer Stelle auch den Begriff Manie verwendet, beschreibt er in diesem Text Melancholie als eine Form des Wahnsinns, und vom Wahnsinn gebe es zwei Arten, die eine aus der menschlichen Krankheit, die andere »aus göttlicher Aufhebung des gewöhnlichen ordentlichen Zustandes.« 5 Aristoteles übernahm diese Gedanken und fragte sich in seinen Problemata, ob ein Zusammenhang zwischen Melancholie und Genie bestehen könne:

»Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker?« 6 Er führt dies unter anderem auf mélas cholé zurück, was wörtlich »schwarze Galle« bedeutet. Diese schwarze Galle wurde als eine der vier Körperflüssigkeiten angesehen. Solange dieser Saft nicht »zu warm oder zu kalt« war, konnte er Aristoteles zufolge zu genialen Ideen inspirieren.

Nach Auffassung seines Zeitgenossen, dem berühmten griechischen Arzt Hippokrates, war es nicht so sehr die richtige Temperatur als vielmehr das richtige Gleichgewicht zwischen den vier verschiedenen Körpersäften oder humores, das zu genialen Ideen befähigte. Ein Gedankengang, der bis ins Mittelalter Anklang fand. Hippokrates war einer der ersten Ärzte, der gesundheitliche Defizite nicht auf übernatürliche, sondern auf natürliche Ursachen zurückführte, und gilt daher als Begründer der westlichen Medizin. Krankheiten beruhten ihm zufolge auf einem Ungleichgewicht zwischen den vier oben genannten humores, woraus sich das Wort humeur (Laune, Stimmung) ableitet. So konnte ein Übermaß an Schleim ein phlegmatisches und unerschütterliches Verhalten hervorrufen, ein Übermaß an Blut zu unbeherrschbaren Leidenschaften führen und ein Übermaß an gelber Galle einen aufbrausenden Charakter zur Folge haben. Ein Übermaß an schwarzer Galle konnte hingegen depressive Stimmungen verursachen. Hippokrates versuchte, bei seinen Patienten durch Aderlass, Diäten, Ruhekuren und Aufgüssen aus Weidenrinde, aus der Jahrtausende später Aspirin hergestellt werden sollte, das richtige Gleichgewicht wiederherzustellen.

Heutzutage bezeichnet man Melancholie als »Depression«, aber die meisten Symptome der Depression – allgemeine Traurigkeit, Schwermut, Sehnsucht, Langeweile und Rastlosigkeit – entsprechen weitgehend der Melancholie, wie sie von den Ärzten in der Antike beschrieben wurde. In Melankoliska rum (Die Räume der Melancholie) bezeichnet die schwedische Historikerin Karin Johannisson Melancholie als die »Urform des psychischen Leidens«. Diese Urform kennt ihr zufolge keine exklusive Ausdrucksform oder Definition, sondern besteht aus einem »Geflecht von Zuständen und Stimmungen«, das je nach Einfluss sozialer Gegebenheiten »in verschiedenen Zusammenhängen und Konfigurationen auftreten kann«.

Melancholie verbindet sich mit dem Bewusstsein von Zeit und Endlichkeit, mit dem Zurückblicken auf etwas, das vergangen und verloren ist. Sie kann läuternd wirken, wie Wilhelm Schmid in seinem Buch Gelassenheit schreibt, wenn sie in einem Zustand der Ataraxie (wörtlich: »frei sein von Unruhe«) auftritt und aus dieser Stimmung des Gleichmuts heraus empfänglich wird für Schönheit. Vieles in der Kunst ist melancholischer Natur und kann Gefühle von Trost oder Glück auslösen. Dieser Trost geht mit Schönheit, Verbundenheit und Ergriffenheit einher, aber auch mit der Bereitschaft, über das Leben in tiefergehender Weise nachzudenken. Melancholie wurde daher auch als »die Krankheit der Gelehrten« bezeichnet. Viele Wissenschaftler, unter ihnen auch Caspar van Baerle und Carl von Linné, der sie als »Herzangst« charakterisierte, litten an ihr. Hier zeichnet sich schon ein erster Unterschied zur heutigen Depression ab. Heute leiden gerade Menschen mit geringerer Bildung an Depressionen, wie wir später noch sehen werden.

Im Mittelalter wurde Melancholie acedia genannt, ein heftiger Anfall von Überdruss und Lustlosigkeit, der besonders studierende Mönche plagte. Thomas von Aquin (12251274) beschrieb sie als »Leiden an der Welt«, während sie Eugarius Ponticus und Johannes Cassianus im 4. und 5. Jahrhundert ihren »Mittagsdämon« nannten. Im Mittelalter sprach man nicht mehr von zwei unterschiedlichen Formen von Melancholie, wie sie Platon und seine Nachfolger noch unterschieden hatten, und es gab auch keinerlei positive Wertschätzung für sie. Im Gegenteil, die acedische Verzweiflung, die man als Folge eines wankenden Glaubens ansah, wurde im frühen Mittelalter als eine der acht teuflischen Versuchungen oder Hauptsünden betrachtet, die mit allen Mitteln bekämpft werden mussten. Fast tausend Jahre lang galt die Melancholie daher als verderbt und sündhaft, und die Strafen für diejenigen, die ihr erlagen, waren hart. Der Dämon der acedia wurde so ernst genommen, weil er nach allgemeiner Ansicht den Drang, dem geistigen Leben zu entfliehen, verstärkte und Faulheit und Trägheit Vorschub leistete.

So entwickelte sich die Melancholie in Form der acedia zur größten Bedrohung für den Glauben und die Unterwerfung unter Gott und die Kirche. Thomas von Aquin hielt sie sogar für die größte Hauptsünde, weil sie von einem Misstrauen und einer Abneigung gegen Gott zeugte. Im 14. Jahrhundert wurde Melancholie zudem noch mit der »Sünde des Fleisches« und mit otium, mit Müßiggang oder Nichtstun, in Verbindung gebracht. Die Redeweise »Müßiggang ist aller Laster Anfang« verweist auf die scharfe Verurteilung der acedia, die sich im Mittelalter allmählich von einer exklusiven Mönchskrankheit zu einer Erkrankung entwickelte, die alle Sterblichen treffen konnte.

Erst seit der Renaissance wurden bestimmte Aspekte der Melancholie wieder positiv bewertet, etwa Tiefsinnigkeit, Kontemplation und Genialität – ein Aspekt, den schon Aristoteles gepriesen hatte. Dante und Petrarca gaben die ersten Impulse für diese Neubewertung, indem sie in ihren Schriften den positiven Einfluss des Planeten Saturn auf die kontemplativen Fähigkeiten des Menschen herausstellten. Bemerkenswert ist, dass Petrarca in seinem Text De otio religioso zu einer erneuten Würdigung des otium kam, das er als Selbstbefreiung ansah. Im Gegensatz zu der mittelalterlichen Vorstellung, dass »Müßiggang« den Menschen von Gott wegführe, glaubte Petrarca, dass otium eine Voraussetzung dafür sei, sich des Göttlichen gewahr zu werden: »Dank dieser Muße und dieses innerlichen Freiseins wirst du sehen, dass Gott der Herr ist, und eine tiefere Einsicht darin gewinnen, was deinem Heil dient.«

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