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Mein Sommer mit Mémé

hier erhältlich:

Großmutters Château im Burgund zu renovieren, passt überhaupt nicht in die Pläne der jungen Antiquitätenhändlerin Paula. Denn sie wollte sich in Paris mit ihrem Verlobten Jakob treffen. Aber ihre Großmutter, Mémé genannt, setzt die liebevollen Daumenzwingen an und versammelt nach langer Zeit wieder die ganze Familie an einem Tisch. Zwischen köstlichem Essen, Familienzwist und einigen Gläsern Wein findet Paula heraus, welches Geheimnis Mémé verbirgt - und was das für Paulas Zukunft bedeutet.


  • Erscheinungstag: 07.11.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676069
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Élaine Briag

Mein Sommer mit Mémé

Roman

 

 

 

HarperCollins®

 

 

HarperCollins® Bücher
erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg
Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by HarperCollins
in der HarperCollins Germany GmbH

Copyright © Élaine Briag 2016
erschienen bei: HarperCollins Germany GmbH
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Agentur Editio Dialog,
Dr. Michael Wenzel

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln
Umschlaggestaltung: any.way, Barbara Hanke / Cordula Schmidt
Redaktion: Anna Hoffmann
Titelabbildung: FinePic / München

ISBN eBook 978-3-95967-606-9

www.harpercollins.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund
www.readbox.net

 

 

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Alle handelnden Personen in dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen wären rein zufällig.

PROLOG

Im Morgengrauen kam sie zurück. Müde, erschöpft, mit schmerzendem Nacken von der Last der letzten Tage. Das Haus war still, nur das Ticken der Uhr aus der Küche war zu hören. Sie hielt inne, horchte, und ihr war, als atme das alte Gemäuer. Im Garten setzte sie sich auf die Bank unter einer Kastanie. Die Landschaft, in ein diffuses, pudriges Licht getaucht, schien langsam zu erwachen, sich zu räkeln.

Es war jener magische Moment des beginnenden neuen Tages, wenn nach warmen Sommernächten ein unverkennbarer Duft in der Luft lag. So frisch, klar und rein, dass es schmerzte. Der erste Tau, ein Vorbote des Herbstes, hatte sich auf das Gras gelegt. Bald schon würden kühle Nächte folgen, die Blätter sich tiefrot in allen Schattierungen verfärben, die Schalen der Kastanien platzen. Das Summen der Vögel ging über in Zwitschern, verhalten, leise, fast nachsichtig.

Sie wünschte, sie könnte das Licht einfangen, das durch die Zweige und Blätter der Kastanie drückte, den betörenden Duft der Gräser in ein Fläschchen füllen. Es zu besonderen Anlässen öffnen.

Eine magische Ordnung liegt in den Dingen.

Sie schloss die Augen und spürte den Verlust, als habe sie unterwegs einen Teil ihrer selbst liegen lassen, vergessen wie ein Gepäckstück auf einem einsamen Bahnsteig.

Sie war gestolpert, gefallen, aufgestanden, hatte den Schmutz aus ihrer Kleidung geklopft und war weitergegangen. Von ihrem inneren Kompass gesteuert nach vorne, zurück, im Kreis. Und doch war es geschehen in einem Moment der Unachtsamkeit zwischen Plänen und Absichten, den Einträgen im Kalender. Jenseits der Macht der Wünsche, des Vorhersehbaren. Sie hatte eine Wahl.

Ein Windhauch strich über ihre Haut.

Nicht auszudenken, wenn ich dich verpasst hätte.

KAPITEL 1

Im Burgund gibt es magische Sommernächte mit Sternschnuppen an einem Wünsch-dir-was-Himmel, Landschaften, in denen man sich verliert, Wein, Käse und äußerst charmante Menschen. Dort, wo meine Mémé aufgewachsen war und die ersten zwanzig Jahre ihres Lebens verbracht hatte, war die Gegend still mit sanften Hügeln und Weinbergen. In den nahe gelegenen Wäldern versteckten sich Weiher, an deren Ufern Trauerweiden standen, die ihre langen Zweige ins Gewässer tauchten. Bunte Dächer spickten die Ortschaften, und im Sommer war der Himmel so blau wie nirgendwo sonst – das behauptet meine Großmutter bis heute. Ich erinnere mich an Ferien voller Unbeschwertheit und kindlicher Freude, in denen ich auf Blumenwiesen lag, mir Wolkenfiguren ausdachte, während Mémé aus einem Picknickkorb Baguette, Käse und Früchte hervorzauberte. Meist las sie in einem Buch und rauchte selbst gedrehte Zigaretten. Schon damals war meine Großmutter voller Tatendrang, aber längst nicht so unberechenbar wie heute, und übergab meiner Mutter die gebrauchten Windeln meines kleinen Bruders Marcel mit zugehaltener Nase in einer Plastiktüte.

Inzwischen ist Marcel gute fünfunddreißig Jahre aus den Windeln heraus, und ich gelte immer noch als seine große Schwester, obwohl ich nur drei Jahre älter und wenigstens einen Kopf kleiner bin. Es heißt, dass ich meinen Starrsinn von meinem Vater, die soziale Ader von Mama und ein grünes Auge von meiner Großmutter geerbt habe. Als Kind habe ich mir nichts mehr gewünscht, als zwei gleichfarbige Augen zu besitzen, grün oder braun, Hauptsache, einheitlich. Als erwachsene Frau aber habe ich durch den Blick der anderen die Magie meiner zwei Augenfarben entdeckt und war Mémé sehr dankbar für ihr genetisches Material.

Mémé ist schon lange auf Menthol-Filterzigaretten umgestiegen, liest aber nach wie vor wie eine Besessene, meist in mehreren Büchern gleichzeitig, die aufgeschlagen oder mit Reitern versehen in ihrem Haus im Markgräflerland herumliegen, und sie wird nicht müde, unser aller Leben mit Weisheiten aus Romanen der Weltliteratur zu bereichern. Mama behauptet, das sei die typische Buchhändlerkrankheit, denn Mémé war jahrzehntelang Inhaberin eines kleinen Buchladens in Müllheim im Markgräflerland, und sie hat ihre Leidenschaft für Geschichten mit in die Rente genommen. Wir kennen all ihre Helden, die sie zu jeder Gelegenheit ins Feld führt und aus deren tragischen Schicksalen sie Lebenshilfen ableitet. Nur den Ausgang von Madame Bovary würde sie am liebsten noch heute umschreiben und durch ein glückliches Ende für eine mutige Frau ersetzen, die sich vom Leben nimmt, was ihr zusteht. Denn Glück, so sagt Mémé, hat jeder verdient.

Mémé – die französische Bezeichnung für Oma hatten die Erwachsenen meinem Bruder und mir von Kindesbeinen an eingetrichtert. Niemals hätten wir gewagt, Louise Pfeiffer einfach Oma zu nennen; das wäre einer Beleidigung gleichgekommen. Nur wenn wir unter uns waren, sprachen wir von Loulou in Anlehnung an ihren Vornamen. Manchmal auch vom Feldwebel.

Inzwischen betreibe ich in Mémés ehemaligem Buchladen ein Antiquitätengeschäft. Dank einer kleinen, eher symbolischen Miete an Mémé bin ich in der glücklichen Lage, interessante Objekte zu kaufen und meine begnadete Restauratorin Dorothea zu bezahlen. Zudem habe ich drei Garagen als Depot gemietet, die sich mittlerweile aufgrund der Nachfrage von Touristen mit alten Küchenbuffets, Großmutter-Sofas und Kleinkram wie Frisiersets oder Milchkannen füllen.

Mémés Liebe gilt neben ihrem seit nunmehr vierzig Jahren währenden unermüdlichen Einsatz in der südbadischen Anti-Atomkraft-Bewegung ihrem Garten in Badenweiler, dessen Botanik einem Naturschutzgebiet gleicht, an dem nichts verändert werden darf. Eine Direktive, deren strikte Einhaltung im Laufe der Zeit eine erstaunliche Flora und Fauna hervorgebracht hat. Doch so sehr meine Großmutter der Natur ihren Lauf lässt, was ihrem Verständnis von Freiheit entspricht, so wenig tut sie das bei den Menschen, die ihr nahestehen.

Glück hat jeder verdient, glaubt Mémé, aber manchmal muss man Fortuna auf die Sprünge helfen. Meistens sind wir weit genug weg, wenn sie Glücksgöttin spielt, aber nicht immer lässt sich eine Verwicklung in ihre Pläne vermeiden.

Wie im letzten Sommer, als Mémé achtzig Jahre alt wurde. Wenige Wochen davor gefiel es ihr, die engste Familie in ihre französische Heimat zu zitieren, in den kleinen Ort Lys im tiefsten Burgund, den sie einst als junge Frau für meinen deutschen Großvater Paul verlassen hatte, um ihm nach Südbaden ins Markgräflerland zu folgen.

Im Burgund steht noch immer Mémés Geburtshaus, ein alter Familienbesitz, der von uns allen Château oder Schlösschen genannt wird, ein großzügiges, kastenförmiges Haus, wie es in Frankreich oft in kleineren Orten im neunzehnten Jahrhundert von wohlhabenden Familien errichtet worden war. Nachdem dessen letzter Bewohner, Mémés Cousin Valentin, vor drei Monaten mit sechsundachtzig Jahren verstorben war, war sie mit ihrem Renault 19 Cabrio von Südbaden nach Lys gefahren, hatte eine Foto-Collage aus verschiedenen Innen- und Außenansichten des Gebäudes angefertigt und daraus die Einladungen gebastelt. Und da charmantes Werben oder unterschwellige Manipulation nicht Mémés Sache sind, sagte sie ohne Umschweife, worum es ihr ging.

„Ich brauche einen Herzschrittmacher“, hatte sie dem Château mithilfe einer überdimensional großen Sprechblase in den Mund gelegt, und es hatte eine Weile gedauert, bis ich verstand, dass sie keineswegs sich selbst, sondern das Gebäude und einen familiären Einsatz in Sachen Notfallmedizin für altes Gemäuer meinte.

Die Aufnahmen zeugten davon, dass der einstige Familiensitz zwar seinen Glanz verloren hatte, aber insgesamt immer noch einen imposanten Herrensitz darstellte. Wir alle kannten das Schlösschen aus besseren Zeiten. Als Mémés Eltern es einst in zweiter Generation bewohnten, hatten mein Bruder und ich immer wieder unsere Ferien dort verbracht, was sich, nachdem Valentin eingezogen war, sehr schnell änderte. Ein Familienstreit setzte unseren Aufenthalten im idyllischen Feriendomizil ein abruptes Ende. Damals war ich dreizehn, mein Bruder zehn, und bis heute weiß ich nicht genau, worum es eigentlich ging. Unser Nachfragen erntete regelmäßig eisiges Schweigen, was Marcel und mich, als wir älter wurden, zu den unterschiedlichsten Spekulationen veranlasste: Ich mutmaßte, mein Urgroßvater Antoine habe Mémé enterbt und all sein Vermögen Valentin vermacht, nur weil unsere Großmutter nach dem Krieg einen Deutschen geheiratet hatte. Marcel hingegen war davon überzeugt, Antoine sei ein Spieler gewesen, hoch verschuldet, und er habe beim Pokern gegen seinen Enkel Valentin seinen gesamten Besitz verloren.

Einen Sommer später aber, nachdem das Château zur Tabuzone geraten war, war ich intensiv mit Pubertieren beschäftigt, und das pulsierende Stadtleben Freiburgs interessierte mich fortan weitaus mehr als Bäume, Hügel, Weinberge und Häuser auf dem Lande, in denen kleine Mädchen Verstecken spielen konnten.

Jedenfalls löste Mémés Sprechblase auf der Einladung eine Kettenreaktion innerhalb meiner Familie aus, und die Drähte zwischen Bruchsal, Müllheim und Badenweiler, den Hauptsitzen unserer Familie, liefen heiß. Alle schaufelten sich Zeit für Mémé und ihr krankes Château frei. Meine Mutter Claire, mein Bruder, dessen Ehefrau Helen und ihre gemeinsame Tochter Meike sagten zu.

So einfach war das für mich gerade in jenem Sommer nicht. Seit über zwei Jahren führte ich mit meinem Freund Jakob eine Fernbeziehung. Genau innerhalb Großmutters festgesetztem Burgund-Termin endete Jakobs Einsatz bei Ärzte ohne Grenzen in Kenia, und er hatte mich erst vor ein paar Tagen mit einer Paris-Reise überrascht.

„Wir treffen uns am besten direkt am Pariser Flughafen“, hatte Jakob am Telefon vorgeschlagen. „Ich habe ein Zimmer in einem kleinen Hotel im Marais für uns gebucht. Dort feiern wir endlich unsere Verlobung.“

Von dem Heiratsantrag wussten nur er und ich. Es schien mir schlichtweg nicht angemessen, meiner Familie von einer „Skype-Verlobung“ zu erzählen, zumal ich selbst romantischere Vorstellungen von einem solchen Ereignis hatte. Allerdings verstand ich Jakobs pragmatische Haltung angesichts seiner seltenen Deutschlandaufenthalte. Jetzt aber rächte sich meine Diskretion, und die Familienveranstaltung drohte mir einen Strich durch die langersehnte Zweisamkeit zu machen. In regelmäßigen Abständen erhielt ich Anrufe von Mama und Marcel, die beide nach einer kurzen Einleitung schnell zur Sache kamen.

„Paula, bitte! Mémé wünscht es sich so sehr. Du kannst unmöglich absagen“, bat meine Mutter, während Marcel mithilfe unserer materiellen Absicherung argumentierte: „Mémé ist imstande und vermacht ihr ganzes Geld der Kirche, Greenpeace oder irgendeinem Fremden, wenn wir ihren Wunsch nicht erfüllen. Und die Einzige, die aus der Reihe tanzt, bist, wie immer, du, Schwesterherz.“

„Ich tanze nicht aus der Reihe“, gab ich zurück, „sondern ich habe einen unaufschiebbaren Termin.“

Marcel ignorierte meinen Einwand. „Erinnerst du dich daran, als Mémé vor Kurzem sagte, sie wolle mit warmen Händen geben? Deshalb die Versammlung im Burgund, Paula. Denk doch nach! Mémé ist so weit.“

Es hörte sich an, als sei Großmama sterbenskrank. Dabei war sie gesund wie ein Fisch im Wasser. Während Frauen ihres Alters Seniorengymnastik betrieben, belegte Mémé einen Flamenco-Tanzkurs an der Volkshochschule, war jüngst mit einer Gruppe den Donau-Radwanderweg von Passau nach Wien geradelt und hatte mit ihrem E-Bike und einem Lied auf den Lippen die Anhöhen spielend gemeistert.

„Mémé geht es bestens“, protestierte ich, während ich meinen Küchenkalender studierte, in dem Paris Charles de Gaulle in genau acht Tagen eingetragen war. Ein kleines Herz war danebengemalt. „Marcel, du übertreibst. Was glaubst du, weshalb will sie uns dort haben? Mémé liebt Bücher, ihre Zigarette nach dem Essen, das Gläschen Wein am Abend. Und sie liebt Kontrolle.“

„Ihr Gläschen Wein? Du meinst eher Fläschchen, oder?“, korrigierte Marcel. „Hier geht es um Bares, Paula. Ich spüre so was. Komm schon. Es sind doch nur drei Wochen.“

Marcels Gefühl sagte ihm, dass Mémé zu ihrem runden Geburtstag endlich ihr beträchtliches Vermögen entweder verteilen oder zumindest durchblicken lassen würde, wann sie es der Familie vermachen wollte. Großmama liebte theatralische Auftritte, für die wir uns als Kinder vor unseren Freunden immer geschämt hatten. Angesichts einer knappen Million Euro, eine von meinem Bruder grob geschätzte Summe, die von altem Landbesitz meines deutschen Großvaters Paul Pfeiffer, das zu Bauland wurde, herrührte, stellte ein dreiwöchiger Urlaub im Burgund kein allzu großes Opfer dar. Marcel jedenfalls war allein der Gedanke daran Grund genug, seine Urlaubspläne umzuwerfen und ins Burgund zu reisen. Die Einzige, die kein Motiv brauchte anzureisen, war unsere Mutter Claire. Nach der Scheidung von meinem Vater vor über zwanzig Jahren war sie wieder zur guten Tochter und Übermutter mutiert. Die Trennungsschlacht hatte ihre Spuren hinterlassen. Seitdem gab sie alles für ein Stück Harmonie.

„Nenne mir einen vernünftigen Grund, warum du nicht kannst“, drängte mein Bruder.

Im Hintergrund hörte ich das Rascheln von Papier. Führte er bereits Buch über Mémés angebliches Vermögen?

„Es gibt nur einen einzigen“, entgegnete ich leise. „Und er ist emotionaler Natur. Eine reine Herzenssache. Jakob kommt aus Kenia zurück.“

„Das wird Mémé nicht gelten lassen.“

Seufzend legte ich auf, nachdem ich meinem Bruder versprochen hatte, noch einmal in Ruhe über die möglichen Konsequenzen für unsere Familie nachzudenken.

Zehn Minuten später klingelte das Telefon erneut. Das Display zeigte eine französische Nummer. Mémé. Ich atmete einmal tief durch und nahm das Gespräch an.

„Ich höre soeben von deinem Bruder, dass du nicht kommen willst, Paula. Das ist sehr bedauerlich.“

Marcel hatte gepetzt. Mémés Stimme klang vorwurfsfrei. Und jung und frisch wie eh und je. Eine kurze Pause. Ich schwieg beharrlich und wartete. Noch wenige Sekunden und Mémé würde Klartext reden. Sie ging selten Umwege.

„Jakob kommt also aus Kenia zurück? Wann genau wird er denn da sein?“

„In acht Tagen“, flüsterte ich und überlegte, wie ich meinem Bruder den Verrat heimzahlen könnte.

„Dann komm hierher und wir sehen weiter. Paulinchen, bitte! Außerdem hat Valentin ein kleines Vermögen an Mobiliar angeschafft. Louis-seize, wenn ich nicht irre. Ich wünschte, du könntest den Konsoltisch sehen, bevor ich ihn einem französischen Händler überlasse.“

Mémé beherrschte sie noch, die großen Auftritte. Sie brachte diese sogar am Telefon fertig. Und Paulinchen war ihre höchste Form der verbalen Liebkosung.

„Valentin hat einen echten Louis-seize-Konsoltisch besessen? Vorrevolutionärer Klassizismus? Bist du sicher?“

Ich verkniff mir ein Lachen und entschied, Mémés Spiel mitzumachen. Es war nicht allzu weit ins Burgund. Meine Kunden waren immer auf der Suche nach gut erhaltenen Louis-seize-Möbeln. Eine Epoche tat sich vor meinem inneren Auge auf: wertvolle Sekretäre, begehrte Kaminumrandungen und Zweisitzer. Sechs Tage würden genügen, um Mémé von meinem bevorstehenden Glück zu überzeugen und die Möbel zu inspizieren. Ich könnte von Lys direkt weiter nach Paris.

„Ja, du hast richtig gehört. Louis-seize.“ Ich hörte den Triumph in der Stimme meiner Großmutter und konnte förmlich sehen, wie sie auf der Veranda ihres Châteaus saß, den Hörer in der Hand und das Kinn angehoben. „Und hier auf dem Land gibt es ganz entzückende Flohmärkte, Paula. Wann kannst du hier sein?“

„Übermorgen“, antwortete ich beherzt und zog auf meinem Küchenkalender mit einem Leuchtstift eine Linie über exakt sechs Tage. Meine Reise nach Paris würde in zwei Tagen beginnen und über einen kleinen Umweg namens Lys führen. Mémé hatte ihren Willen und ich mich nicht gänzlich gebeugt.

Mit dem festen Vorsatz, meinen Zeitplan einzuhalten, startete ich am Samstag gegen vierzehn Uhr mit meinem VW Beetle in Müllheim, nachdem ich am Abend zuvor Mama und Marcel eine Nachricht per SMS hatte zukommen lassen: Ihr Lieben! Ich werde morgen am frühen Abend pünktlich in Lys eintreffen. Glaubt nicht, dass ihr gewonnen habt. Es ist nur wegen Mémé.

Im Schaufenster meines Antiquitätenladens platzierte ich ein Schild mit Betriebsferien bis zum 14. August 2015, schloss die Glastür und fuhr los. Ich überquerte die große Rheinbrücke bei Breisach und fuhr in mäßigem Tempo über die Autobahn durch die Wald- und Weidenlandschaft der Franche-Comté. Als ich am frühen Abend das Departement Saône-et-Loire erreichte, legte ich eine CD mit französischen Chansons ein, und meine Laune stieg. Ich erinnerte mich an Autofahrten mit Marcel und Mémé, auf denen wir gemeinsam mit Georges Mustaki Ma liberté und mit Edith Piaf La vie en rose gesungen hatten. Die Liedtexte konnte ich noch heute auswendig.

Unmerklich hatte sich die Gegend verändert, und die Wiesen und Äcker waren Hügeln und Weinbergen gewichen. Das erste Mal hielt ich in der Sechshundert-Seelen-Gemeinde Cormatin, die nur wenige Kilometer von meinem Bestimmungsort Lys entfernt lag.

Die Bäckerei mit den besten Croissants der Region hatte geschlossen. Vor einem stahlblauen Himmel war das Wasserschloss zu sehen, früher ein von meiner Großmutter bevorzugtes Wanderziel. Als Kinder waren wir oft mit ihr dort gewesen, und für einen Moment beschlich mich ein Gefühl von Heimat. Obwohl es bereits früher Abend war, schien die Luft zu stehen, und mein Thermometer zeigte noch knapp achtundzwanzig Grad. An einer Tankstelle kaufte ich einen Blumenstrauß und fuhr weiter in Richtung Lys.

Der Ort hatte sich seit den Achtzigerjahren kaum verändert. Immer noch existierten die Töpferei und der Käseladen, der mehr Ziegenkäsevariationen anbot, als es in Italien Nudelsorten gibt. In den Vorgärten der burgundischen Steinhäuser blühten Lavendel und Blumen in der dominanten Farbe Rot. Ich erkannte die Obstwiesen mit den üppigen Apfel- und Birnenbäumen, wo ich als Kind gespielt hatte. Mit dem Blick folgte ich dem Lauf des kleinen Bachs. In ihn hatte ich an heißen Tagen meine Füße getaucht. Ein Nachbarsjunge hatte mir beigebracht, wie man auf Bäume klettert, und in einem burgundischen Baumwipfel war ich zum ersten Mal geküsst worden. Er hieß Michel, hatte die blonden Locken eines Engels, war ein Jahr älter als ich und besaß schon Erfahrung im Küssen. Ich war zehn und hatte keine Ahnung. Aber ich weiß noch, dass ich während meines ersten Kusses die Erwachsenen bedauerte, solch ein Theater um feuchte Lippen zu machen. Fortan zählte ich, da ich eine Eingeweihte war, bei jedem Filmkuss heimlich mit, wie lange das Liebespaar die Luft anhalten konnte, während ich mir vor dem Fernseher die Nase zuhielt, bis mein Kopf fast platzte. Nach reiflicher Überlegung kam ich zu dem Schluss, dass die Großen am Küssen ersticken mussten und nur durch viel Übung durchhielten. Ich nahm mir vor, wenn ich einmal groß sein würde, fleißig zu üben und lieber häufiger, dafür aber kürzer zu küssen.

Am Ortsausgang auf einer kleinen Anhöhe, inmitten von Wiesen, lag Mémés Geburtshaus. Von der Straße aus konnte man nur die obere Etage sehen, denn das Gebäude versteckte sich hinter einer meterhohen, sorgfältig geschnittenen Hecke. Wahrscheinlich hatte Valentin bis zu seinem Tod einen Gärtner beschäftigt. Durch einen Torbogen mit einem Eisentor gelangte man auf Kieselsteinen direkt zu dem quadratischen Haus mit einer efeuüberwucherten Fassade. Im Schritttempo fuhr ich den Weg entlang, parkte hinter dem Audi meines Bruders und stieg aus dem Wagen.

Mémés Cabrio war mit geöffnetem Verdeck im ehemaligen Pferdestall untergestellt, der offen stand. Auf dem Boden an der Hauswand standen leere Blumenkästen. Eine Katze strich mir um die Beine, doch als ich mich bücken wollte, um sie zu streicheln, sprang sie ins Gebüsch. Von beiden Seiten führten Treppen zum Eingang empor, an dem zu meiner Überraschung immer noch eine Eisenstange anstelle einer modernen Klingel angebracht war. Ich ging die Treppen hinauf und zog daran. Ein Glöckchen erklang. Niemand öffnete. Ich läutete erneut, diesmal beherzter, und lauschte. Nichts.

Hinter dem Haus lag die Veranda mit der vorgelagerten Terrasse, die über wenige Stufen erreichbar war. Hatte sich meine Familie bei einem Glas Crémant im Garten unter dem Kastanienbaum versammelt und plauderte? Eilig lief ich um das Gebäude herum.

„Gott sei Dank, Kind!“

Mama saß blass in einem Korbsessel und fächerte sich mit einer Illustrierten Luft zu. Marcel hatte sich seitlich auf einen Liegestuhl gesetzt und beschirmte seine Augen mit der Hand. Ich trat zu meiner Mutter, küsste sie auf die Wange und wandte mich dann an meinen Bruder: „Seid ihr schon lange hier?“

„Seit einer halben Stunde“, antwortete Mama, blickte auf ihre Uhr, und es klang, als habe ich mich verspätet. „Wir haben bei Chalon Halt gemacht und eine Kleinigkeit gegessen. Stell dir vor, unser Lokal gibt es immer noch.“

„Das Le Bourgogne“, erklärte Marcel, schwang sich hoch, ging auf mich zu und küsste mich auf die Stirn.

Früher ist es Tradition in unserer Familie gewesen, auf dem Weg von Deutschland ins Burgund eine knappe Autostunde vor Lys im Le Bourgogne zu essen. Dort hatte Mémé für uns alle das Menu du jour bestellt und damit den Beginn der Ferien eingeläutet.

„Wo sind die anderen? Und Mémé?“, wollte ich wissen.

Ich sah mich um. Der Garten glich einer Parkanlage mit alten Lärchen, Kirsch- und Kastanienbäumen und einzelnen akkurat geschnittenen Buchshecken. Rechts neben der Veranda war ein Nutzgarten mit einem Gemüsebeet und Kräutern angelegt, dahinter, an der Grundstücksgrenze, stand ein Gewächshaus, in dessen Glas sich die Abendsonne brach. An beides hatte ich keine konkrete Erinnerung, vermutlich stammte das aus der Zeit von Valentin. Aber auf der anderen Seite der Terrasse, an der Hauswand, war der Brunnen meiner Kindheit: ein viereckiger Backsteinblock mit grüner Handpumpe aus Eisenguss, die ihr Wasser aus einer unterirdischen Regenwasserzisterne bezog. War er wirklich schon immer so winzig gewesen? Direkt daneben hingen an mehreren Stauden dicke Fleischtomaten von hellrot bis tiefviolett.

Das Burgund ist so rot wie sein Wein, sagt Mémé.

„Wo ist Mémé?“, wiederholte ich.

„Deine Großmutter scheint nicht hier zu sein.“

Ratlos sah ich auf den Blumenstrauß in meiner Hand, und es war, als senkten die Rosen abrupt ihre Köpfe. Ich dachte an das Cabrio im Pferdestall. „Aber wo könnte sie denn sein?“

Achselzucken. In der Ferne fuhr ein Auto auf der Landstraße in Richtung Westen.

„Und Helen und Meike?“

„Die kommen erst am Montag mit dem TGV. Deine Nichte muss morgen dringend auf ein wichtiges Konzert“, erklärte Marcel mit verärgertem Unterton.

„Habt ihr denn schon versucht, Mémé auf ihrem Handy zu erreichen?“

Mama und Marcel nickten gleichzeitig.

„Mailbox.“

Wie auf Kommando drehten wir unsere Köpfe in Richtung Haus. Die dunkelroten Klappläden im Hochparterre waren verschlossen. Wir dachten in diesem Moment wohl alle drei das Gleiche: Was, wenn Großmama ohnmächtig geworden war und drinnen irgendwo lag? Die Hitze war unerträglich und machte sogar jungen Menschen zu schaffen. Oder sie war gestürzt? Als ich meine Mutter ansah, wusste ich, dass sie noch Schlimmeres befürchtete. Ich hingegen wollte den Gedanken daran nicht einmal zulassen, und insgeheim versprach ich Mémé, hierzubleiben, solange sie wollte. Paris konnte warten. Wenn ihr bloß nichts zugestoßen war!

„Wir haben hier alles abgesucht“, sagte Mama.

„Vielleicht liegt irgendwo eine Nachricht oder der Hausschlüssel.“ Geistesabwesend ging ich wieder um das Haus herum zum Eingang. Ich warf einen Blick unter die Blumenkästen, in der Hoffnung, irgendwas zu finden. Nichts. Im Handschuhfach von Mémés Auto waren Benzinrechnungen, Zigaretten, Handcreme und eine Biografie über Rosa Luxemburg. Ich nahm die Reisetasche vom Rücksitz meines Wagens, stellte sie auf der Treppe ab und ging zurück auf die Veranda.

„Irgendetwas gefunden?“, fragte Marcel.

Ich schüttelte den Kopf, kramte in der Handtasche nach meinem Handy und wählte Mémés Nummer.

Nach dem ersten Klingelton hörte man Jacques Brels Ne me quitte pas, dann brach das Chanson abrupt ab und Mémés tiefe Stimme sagte: „Ich bin nicht da oder beschäftigt. Nennen Sie Ihr Anliegen nach dem Piep. Merci bien.“

Mama sah mich abwartend an.

„Mailbox“, erklärte ich und legte auf.

„Warten wir noch eine halbe Stunde“, schlug Marcel vor und zeigte auf seine Armbanduhr. Es hörte sich wie ein Ultimatum an, und ich hoffte inständig, Mémé, wo immer sie sein mochte, hätte es gehört. Gedanken an Gendarmerie, Suchtrupps und Spürhunde drängten sich mir auf, und vor meinem inneren Auge sah ich Mémé ziellos durch die Wälder irren. Ihr Orientierungssinn war noch nie besonders gut gewesen.

Ich betrachtete die Blumen, die auf dem Tisch lagen, nahm sie und sah mich nach einem Gefäß um. An der Hauswand stand ein Zinkeimer. Ich ging damit zum Brunnen, pumpte ihn voll Wasser und stellte Mémés Blumen hinein.

Mémé würde bald achtzig Jahre alt sein, und sie hatte immer ein selbstbestimmtes Leben geführt. Würde sich das jetzt ändern? Brauchte sie uns? Auf einmal sehnte ich mich nach ihrer einnehmenden Präsenz, ihren Vorträgen über Bücher, ihrem Zigarettenrauch, ihrem herben Charme.

Plötzlich klingelte ein Telefon. Mama und ich blickten gebannt auf Marcel, der den Zeigefinger hob, das Gespräch annahm und dann seine Hand sinken ließ.

Helen wollte scheinbar nur wissen, ob wir alle gut angekommen waren. Marcel antwortete kurz angebunden, gereizt. Er wolle die Leitung für Mémé freihalten, richtete Grüße an uns aus und beendete das Gespräch: „Tschüss dann, bis Montag. 16:28 Uhr am Bahnhof Mâcon. Verstanden.“

Ich ging ein paar Schritte in den Garten. Unter den alten Bäumen war es kühl, und eine sanfte Brise streichelte die Blätter. Die Abendsonne drückte durch die Äste.

„Es wäre nicht das erste Mal, dass sie Termine durcheinanderbringt“, sagte ich beschwichtigend zu Mama, als ich zurück auf die Veranda kam. „Du wirst sehen, Mama. Mémé wird bald hier sein.“

Tatsächlich hatte es ähnliche Situationen in der Vergangenheit gegeben, dass wir sorgenvoll auf Großmama gewartet hatten, und jedes Mal war sie mit einer plausiblen Erklärung aufgetaucht.

„Ein Date“, überlegte ich laut und fand die Idee geradezu großartig.

Ich stellte mir vor, wie Mémé, ein Grace-Kelly-Tuch um den Kopf geschlungen, mit einem netten, zwanzig Jahre jüngeren Mann in einem Cabrio durch die burgundische Landschaft fuhr. Es konnte auch ein klimatisierter Wagen sein und der Mann in Mémés Alter.

Meines Bruders Gesicht erhellte sich, als hielte er meinen Einfall ohne Weiteres für möglich.

„Sie hätte uns eine Nachricht hinterlassen“, wandte unsere Mutter kopfschüttelnd ein, ließ sich zurück in den Sessel sinken, legte den Nacken an die Lehne und starrte ins Leere.

„… die wir womöglich nicht gefunden haben“, erwiderte ich aufmunternd und warf unauffällig einen Blick auf die Uhr: In zwanzig Minuten endete Marcels Ultimatum. Plötzlich klingelte das Handy meines Bruders erneut. Er griff hastig danach.

„Wo, um Himmels willen, bist du, Mémé?“

Mama bekam rosige Bäckchen und ich Lust auf ein Glas eiskalten Wein. Mit dem Blick suchte ich den von Marcel, aber er zeigte uns den Rücken, lief aufgeregt hin und her, hielt sich das freie Ohr zu und blieb abrupt stehen. „Moment mal …“, setzte er an, wurde aber von Mémés Redeschwall, der auch ohne Lautsprecher zu hören war, unterbrochen.

„Dann sag mir einfach, wo ich dich abholen kann, Mémé. Wo genau bist du?“ Marcel klang schroff, und den letzten Satz hatte er so betont, als spräche er mit jemandem, der schlecht Deutsch verstünde. Dann hörte man wieder Mémé, aber nur vereinzelt drangen ein paar Silben zu uns durch.

„Wie du möchtest“, sagte Marcel schließlich leise und legte seufzend auf. „Sie kommt bald“, erklärte er an uns gerichtet und legte sein Handy auf den Tisch. „Offensichtlich lag ein Missverständnis vor. Sie hat uns nicht vor heute Abend zweiundzwanzig Uhr erwartet.“

„Das hat sie gesagt?“ Meine Mutter schrie geradezu, zerrte ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche, tupfte sich die Oberlippe und sah Marcel mit aufgerissenen Augen an. Ich verbiss mir die Bemerkung, richtiggelegen zu haben mit meiner Einschätzung.

„Ihr habt doch gehört, dass ich sie abholen wollte. Sie hat abgelehnt.“

„Und wo ist sie?“

„In Cormatin“, antwortete Marcel achselzuckend. „Sie war erst in Cluny einkaufen und anschließend in Cormatin in einer Kirche, weil es dort so schön kühl war. Unter dem Rasenmäher liegt angeblich ein Ersatzschlüssel.“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Garten. „Er müsste hinter dem Gewächshaus sein. Wir sollen es uns gemütlich machen. Unsere Zimmer sind im ersten Stock. Genau wie früher. Im Kühlschrank hat sie Wein kalt gestellt. Mama, du kannst dich ruhig schon einmal ein bisschen hinlegen“, schloss er mit Blick auf unsere Mutter.

„Sie möchte nicht abgeholt werden?“

„Definitiv nicht.“

„Wahrscheinlich hat sie in der Kirche ein Nickerchen gemacht“, warf ich lachend ein, „und der Pfarrer bringt sie nach Hause.“

Mémés Neugierde führte sie an die ausgefallensten Orte, und sie ging nicht durch die Straßen, sie schwebte meist einige Zentimeter über dem Asphalt. Und immer sorgte man sich um sie, ob sie auch Geld und ihr Adressbuch dabeihatte. Aber in einer kritischen Situation tat sie instinktiv das Richtige, und einen Geistlichen als Chauffeur einzusetzen war eine ihrer leichtesten Übungen.

„So wird es sein“, erwiderte Mama, und die Erleichterung war ihr förmlich anzusehen. Ihre Gesichtszüge hatten sich in den letzten Minuten seit Mémés Anruf zunehmend entspannt.

Marcel ging zum Gewächshaus, verschwand dahinter und kam schließlich mit einem klappernden Schlüsselbund zurück. Als ich ihm und Mama kurz darauf über den Eingang ins Haus folgte, erinnerte ich mich an mein stilles Versprechen, all meine Pläne über Bord zu werfen, wenn nur alles gut werden würde. Marcel schloss auf, und die kühle Luft des alten Hauses schlug uns entgegen. In diesem Moment entschied ich, dass stille Versprechen nicht gelten. Weil es keine Zeugen gab. Hinter uns fiel die Tür ins Schloss.

KAPITEL 2

Innen roch es nach altem Gemäuer. Von einem rechteckigen, großzügigen Flur führte eine breite Treppe ins erste Stockwerk. Im Erdgeschoss lag hinter einer Flügeltür der Salon, über eine andere Tür erreichte man die Küche. Mama öffnete sie und trat ein. Das zwischen den Sprossen der Läden eintretende Abendlicht verlieh dem Raum eine südländische Atmosphäre. Ich erkannte den alten Steinboden im Schachbrettmuster, aber in meiner Erinnerung hatte die Küche einem Saal geglichen; jetzt schätzte ich sie auf knappe zwanzig Quadratmeter. Eine einfache Holztischtafel mit mehreren verschiedenen Stühlen bildete den Blickfang. Darauf stand mittig in einer bauchigen lavendelblauen Vase ein Wiesenstrauß mit Butterblumen, Margeriten und Gräsern. Ein Buffet stach mir ins Auge, unter dessen Lackschicht ich eine Holzstruktur vermutete. Darauf ein altmodisches Radio aus den Sechzigerjahren, ein großer Kasten, an den ich mich genau erinnerte. In der Ecke war ein Herd neben einem gelbstichigen Kühlschrank, der aufdringlich surrte, unter dem Fenster noch immer die Spüle aus Speckstein. An der Wand hing eine Tafel in der Form eines überdimensional großen Schweinekopfs. Die Uhr daneben zeigte kurz vor halb acht. Ich stellte meine Reisetasche ab und öffnete das Fenster, das zum Garten zeigte.

„Ich muss mich in der Tat ein bisschen hinlegen“, sagte Mama, nachdem sie ein Glas Leitungswasser getrunken hatte. „Sagst du Mémé bitte, dass wir bereits gegessen haben?“, bat sie an mich gewandt. Sie wirkte auf einmal sehr erschöpft. „Weckt mich bitte, sobald sie hier ist. Ganz egal, wann das sein wird.“

Marcel machte sich auf, das Gepäck zu holen, und folgte dann Mama mit zwei Koffern in die erste Etage. Ich nahm Gläser aus der Vitrine, fand zwei Flaschen Weißburgunder im Kühlschrank, öffnete eine davon und setzte mich an die Tafel. Nach all den Turbulenzen rund um die Anreise genoss ich die Stille im Haus und legte meine Beine auf einen Stuhl. Der Wein war eiskalt, leicht und schmeckte vorzüglich. Während ich mich allmählich entspannte, kamen mir Bilder in den Sinn. Gerüche und Stimmungen, die mit diesem Haus verbunden waren: Obwohl unsere Großmutter unsere ganze Kindheit lang nur jeweils einige Wochen im Sommer und die Weihnachtsfeste hier verbracht hatte, war sie präsent wie der Geist einer Schlossbesitzerin. Vor meinem inneren Auge sah ich Mémé, wie sie heiße Madeleines aus dem Ofen zog, die nach Orangenöl und warmer Butter dufteten; Mémé im Dezember bei sibirischer Kälte mit einem Buch nebenan im Salon am Kaminfeuer. Mémé mit Schlapphut und Korb auf einer Leiter beim Kirschenpflücken. Und an warmen Sommerabenden zusammen mit ihrer Mutter Sophie im Garten an einem improvisierten Esstisch, der mit weißen Leintüchern unter dem Kastanienbaum zur Festtafel wurde. Es soll Zeiten gegeben haben, da beherbergte das Schlösschen drei Generationen. Mémés Vater Antoine hatte ich nie kennengelernt, er war 1943 im Krieg gefallen. Mémés Großmutter Albertine soll eine stille Frau gewesen sein, die selten ihre Stimme erhob und wenn, dann muss sie Sätze gesagt haben wie: „Mon Antoine, Gott hab ihn selig, hätte seine wahre Freude an dieser Kirschernte.“ Oder: „Antoine schaut vom Himmel herab auf die Gaben des Herrn.“

Und so kam es, dass das Château immer eine Residenz der Frauen war, obwohl die Männer, selbst nachdem sie längst gestorben waren, sonderbarerweise das Sagen hatten. Ein Bild vom Burgund aber hatte sich besonders in mein Gedächtnis eingebrannt: das gemeinsame Essen in dieser Küche an jener einfachen Tafel mit Mémé im Mittelpunkt, die lachend die Tischgesellschaft mit Geschichten verwöhnte. Am Kopf der Küchentafel, mit dem Blick hinaus zur Veranda, war ihr Lieblingsplatz. Hier hatten Marcel und ich als Kinder an ihren Lippen gehangen und gelernt, dass diese Küche ein ganz besonderer Ort war, einer, an dem die Familie zusammenrückte und selbst das Brot viel besser als zu Hause schmeckte.

„In der Küche schlägt das Herz eines Hauses“, pflegte Mémé zu sagen.

Jetzt brauchte es einen Herzschrittmacher.

Von oben war das Schließen einer Tür zu hören. Dann näherten sich auf der knarrenden Treppe Schritte, und mein Bruder betrat die Küche.

„Schenk mir bitte auch von dem Wein ein“, bat er und ließ sich auf den Stuhl mir gegenüber sinken. Ich stellte meine Füße auf den Boden, richtete mich auf und befüllte ein weiteres Glas. Trotz des gedämpften Lichts bei den geschlossenen Klappläden konnte ich Marcels Erschöpfung wahrnehmen. Sein schmales Gesicht wirkte eingefallen, die Hautfarbe fahl, die blauen Augen lagen tief in ihren Höhlen. Womöglich hatte er noch bis mittags in seinem Steuerbüro geschuftet und war anschließend in einem Rutsch durchgefahren. Seit einigen Monaten gab es Probleme mit seiner pubertierenden Tochter. Und heute dann die Sorge um Mémé. War er wirklich nur ihretwegen so kurz angebunden gewesen am Telefon mit Helen? Ich spürte, dass ihn etwas bedrückte. Aber in ihn zu dringen hatte keinen Sinn. Im Laufe von sechs Tagen würde sich der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch unter Geschwistern ergeben.

Er nahm einen kräftigen Schluck, stellte das Glas zurück auf den Tisch und drehte an dessen Fuß.

„Was hältst du davon?“

Er sah mich fragend an.

„Vom Wein? Fruchtig. Frisch. Angenehme Säure.“ Marcel nahm die Flasche, schob seine Brille auf die Stirn und studierte das Etikett. „Hier aus der Region. 2013. Ein Jahrgang, mit dem man nichts falsch machen kann.“ Dann fragte er leise: „Hast du dich schon entschieden?“ Seine Stimme klang, als sei er um einen neutralen Ton bemüht.

„Ich verstehe nicht …“

„Wie lange wirst du bleiben?“

„Sechs Tage.“

„Sie wünscht es sich so sehr, Paula. Es sind nur drei Wochen deines Lebens. Ihr bedeuten sie alles.“

Subtiler Druck war keine Spezialität unserer Familie, und Marcel zeigte sich in dieser Hinsicht als würdiger Nachfahre von Mémé. Hinzu kam eine Art Hundeblick, den er schon als Kind aufgesetzt hatte, wenn er etwas unbedingt haben wollte.

„Sieh mich nicht so an“, mahnte ich. „Ich habe meine Gründe, die ich dir bereits erklärt habe. Und es fällt mir nicht leicht, glaube mir.“

„Sechs Tage reichen ihr nicht.“ Marcel schüttelte entschieden den Kopf. „Denk bitte auch an das Erbe.“ Er flüsterte jetzt, als ob Mémé eine Abhöranlage in der Küche installiert hatte. „Und an deine Familie. An unser aller Wohl. Eine knappe Million ist kein Pappenstiel. Dabei habe ich dieses Anwesen hier minimalst kalkuliert. Geld, das Mémé nie mehr ausgeben kann. Rechne doch mal nach! Dein Laden wäre für die nächsten zehn Jahre gesichert. Du kennst Mémés Dickschädel doch. Nur wenn wir alle an einem Strang ziehen, wird sie etwas herausrücken.“

Das hieß also im Familienjargon Mit warmen Händen geben?

„Aber es ist ihr Vermögen“, sagte ich empört. „Sie kann damit machen, was sie will. Wir haben nicht das Recht, uns einzumischen, solange sie lebt. Und selbst wenn, dann wäre es Mamas Angelegenheit. Nicht unsere.“

Marcel hatte vor zwei Jahren sein Büro vergrößert. Hatte er sich übernommen?

„Nicht so laut“, zischte er. „Sie hat es angeboten. Und sie wird achtzig. Und was ist mit deinen komischen Louis-Möbeln? Tu nicht so uneigennützig.“

Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, schwieg dann aber. Marcel hatte recht: Auch der Möbel wegen war ich hier. Beschämt senkte ich die Augen. Marcel stand auf, strich mir eine Strähne von der Wange und drehte sich in Richtung Tür.

„Wie lange musste sie auf dieses Haus hier warten?“ Er sah sich um und hielt die Handflächen in Richtung Decke. „Fast ein ganzes Leben. Sie hat mehr als diese drei Wochen verdient, Paula. Du hast deine Gründe? Es gibt keinen einzigen, der es rechtfertigt, Mémé diesen vielleicht letzten Wunsch zu verweigern. Denk noch einmal in Ruhe darüber nach. Ich gehe jetzt unter die Dusche. Bis später.“

Ich blieb mit meinem schlechten Gewissen zurück.

Wie lange musste sie auf dieses Haus warten? Fast ein ganzes Leben lang.

Ich erinnerte mich gut daran, wie sich nach Valentins Einzug vor fünfundzwanzig Jahren alles für Mémé verändert hatte. Bereits zwei Jahre später gehörten unsere Familienferien im Burgund der Vergangenheit an. Mama hatte uns damals erklärt, dass Mémé und Valentin wegen des Erbes Streit bekommen hätten, und obwohl wir noch klein waren, traf uns Mémés Kränkung, als gelte sie uns. Mémés letzte Verbindung zu Frankreich war nach dem Tod ihrer Mutter abgeschnitten, und mit dem Château hatte sie ein Stück unbeschwerte Kindheit verloren. Es war ihr Elternhaus, in dem fortan Valentin den Schlossherrn spielte, ein Mann, der immer nur zu großen Familienfesten aufgetaucht war. Später dann, als Mémés Wunden verheilt waren, war sie ausgewichen, wenn wir Fragen stellten.

„Warum lebt Valentin denn ganz allein in dem großen Haus? Warum fahren wir nicht mehr dorthin?“

„Weil es nun einmal so ist“, hatte sie dann geantwortet, und über ihre Augen hatte sich ein Schleier von Traurigkeit gelegt. „Vergessen und vorbei.“

Aber wir alle wussten, dass eine Kränkung derartigen Ausmaßes für Mémé niemals vergessen war. Mémés Forderungen mochten verjähren, ihr Stolz kannte keine Verjährungsfristen.

Als ich von draußen das Geräusch eines Rasenmähers zu hören glaubte, waren Mama und Marcel immer noch auf ihren Zimmern. Ich ging hinaus in den Flur, öffnete die Tür und sah meine Großmutter auf einer Mobylette die Einfahrt hochkommen. Sie trug einen altmodischen beigen Sturzhelm, der die Form einer halben Melone besaß. Wunderte mich das? Eigentlich nicht. Nur, dass ich den offensichtlich frisierten Motor für einen Rasenmäher gehalten hatte. Eilig ging ich die Stufen hinunter und begrüßte sie.

„Endlich, Mémé. Wir haben uns große Sorgen gemacht.“

„Ach, macht doch nicht solch ein Theater“, rief sie und warf einen fragenden Blick auf Marcels Auto. „Wo sind die anderen?“

Sie stieg von dem Zweirad, nahm ihren Helm ab und ließ sich von mir auf die Wangen küssen. Ein Geruch von Zigaretten, überdeckt von Eau de Cologne, streifte meine Nase.

„Mama hat sich hingelegt“, erklärte ich, nahm die Tüten vom Gepäckträger und ging voraus in Richtung Küche, wo ich die Einkäufe auf dem Buffet abstellte, das Baguette herausnahm und Käse und Milch in den Kühlschrank stellte. Mémé stützte die Hände am Küchentisch ab und setzte sich.

„Den Käse in den Backofen, Paula“, befahl sie.

„Marcel ist ebenfalls oben“, sagte ich, holte den Käse wieder aus dem Kühlschrank und platzierte ihn im Ofen. „Ich soll Mama wecken, sobald du hier bist, und dir sagen, dass sie bereits gegessen haben.“

„Lass sie ruhig noch etwas schlafen. Wo sind Meike und Helen?“

Ihr entging einfach nichts; in Windeseile verschaffte sie sich einen Überblick, eine Art Bestandsaufnahme ihrer Liebsten.

„Sie kommen etwas später. Da ist offenbar etwas dazwischengekommen.“

Ich lächelte Mémé an, um ihr zu signalisieren, dass ich da war – trotz widriger Umstände. Ich setzte mich ihr gegenüber, schob ein Weinglas in ihre Richtung, nahm die Flasche und sah sie fragend an. Als sie nickte, schenkte ich schweigend ein.

„À la tienne“, sagte sie und stieß mit mir an. „Wie wunderbar kühl war das in der Kirche“, stöhnte sie und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Genüsslich schloss sie die Augen. „Nur dumm, dass sie dort keinen Wein servieren.“

„Du hast den Messdiener hoffentlich nicht danach gefragt“, bemerkte ich zärtlich. Sie öffnete die Augen und sah mich nachdenklich an, ohne eine Miene zu verziehen. Mémé hatte also gefragt.

„An Personal war nur der Pfarrer da. Wir hatten ein nettes Gespräch. Und Messwein ist der schlechteste nicht. Ich musste allerdings einen Schwächeanfall vortäuschen, ehe er ihn herausrückte. Er war viel zu warm, und ich ließ ihn zurückgehen.“

Ich schickte ein Dankgebet zum Himmel, nicht dabei gewesen zu sein, und beschloss, so schnell keine Kirche in Cormatin zu betreten. Es hätte jene sein können, wo Mémé zusammen mit dem Pfarrer den sakralen Weinkeller geplündert hatte.

„Ein guter Tropfen.“ Ich zeigte auf die Flasche, die vor uns stand.

„Stammt noch von Valentin“, erklärte sie mit einem Schmunzeln. „Genau wie die Mobylette. Ein wunderbares Gefährt im Sommer. Der Wind der Freiheit weht dir um die Nase, und du hast keinerlei Parkplatzprobleme.“

Sie wies mit dem Kopf in Richtung Stall, wo sie das Zweirad abgestellt hatte. Dann warf sie einen interessierten Blick auf meine Reisetasche. „Dein Gepäck? Ist das alles?“

Gute, alte Mémé. Immer auf der Hut. Sie hatte in einer kühlen Kirche Kraft getankt und bei einem Gläschen Wein mit dem Pfarrer ein Schwätzchen gehalten, während wir uns auf einer überhitzten Veranda die Köpfe zerbrochen hatten. Man konnte es sich nicht leisten, müde und entspannt mit ihr an einem Tisch zu sitzen. Jeder ihrer Gedankenblitze konnte einen treffen.

„Der Koffer ist noch in meinem Auto“, erwiderte ich beherrscht. „Ich bin gekommen, um es dir persönlich zu erklären, Mémé. Es tut mir sehr leid, aber ich habe andere Pläne. Ich werde nur sechs Tage bleiben können.“

Mémé richtete sich auf. Sie sah mich schweigend und abwartend an. Um ihren schmalen Mund glaubte ich ein Zucken wahrzunehmen.

„Ich warte auf deine Erklärung …“

Ich räusperte mich. In ihrem Blick war eine Mischung aus Entrüstung und Überraschung zu lesen. Sie legte die Hände auf den Tisch und strich über die Platte. Von oben war das Öffnen und Schließen von Türen zu hören, dann Schritte, die sich näherten. Ich presste die Lippen zusammen, bis es schmerzte, und fing innerlich zu zählen an. Als ich bei fünfundzwanzig war, betraten Mama und Marcel die Küche. Meine Großmutter fixierte mich weiter, ohne aufzusehen. Voilà – Mémé hatte ihr Publikum.

„Was machst du denn für Sachen?“, fragte Mama zärtlich.

Mémé hielt ihr und anschließend Marcel wie eine Diva ihre Wange zum Kuss entgegen, forderte sie auf, sich umgehend zu setzen, vom Wein zu nehmen und den Mund zu halten. Mama und Marcel befolgten die Anweisungen ohne Murren und warfen mir vorwurfsvolle Blicke zu. Die Luft schien zu knistern, und ich war schuld daran.

„Paula hat uns etwas zu sagen“, erklärte Mémé feierlich, hob das Kinn und sah mich herausfordernd an. „Meine Enkelin hat andere Pläne, als den achtzigsten Geburtstag mit ihrer Großmutter zu verbringen.“

Mama runzelte ungläubig die Stirn. Marcel trat unter dem Tisch mit seinem Fuß auf meinen.

„Aua“, rief ich, leerte mein Glas in einem Zug und hörte auf nachzudenken. Es war Zeit, meiner Familie die Wahrheit zu sagen.

„Wir warten auf eine Erklärung“, sagte Mémé.

„Ich muss nach Paris“, erklärte ich stockend. „Es ist nämlich so, dass Jakob und ich …“, ich suchte nach den richtigen Worten. „Wir haben uns verlobt.“

Eine merkwürdige Stille erfasste Mémés Küche. Verlobt. Ich hatte das magische Wort gesagt. So schwer war es gar nicht. Gab es eine bessere Erklärung für mein Dilemma? Gegen ein geplantes Bündnis fürs Leben war schließlich nichts einzuwenden. Das hatte Priorität. Ich liebte meine Großmutter, aber Jakob begehrte ich. Mémé traf ich zu Hause regelmäßig; sie lebte nur wenige Kilometer von mir entfernt. Jakob sah ich nach vier Monaten zum ersten Mal wieder. Marcels Augen weiteten sich. Mama schnappte nach Luft. Ich verstummte und fuhr mir mit der Zunge über die Lippen. Noch einmal nahm ich einen kräftigen Schluck.

„Ihr seid verlobt?“, fragte Mémé.

Es klang, als hätten wir irgendetwas Verbotenes getan.

„So ist es“, bestätigte ich mit stolzem Unterton. „Und in einer Woche feiern wir das in Paris. Dann kommt Jakob für immer aus Kenia zurück.“

Erst jetzt wurde mir bewusst, welch beruhigende Wirkung die Zauberformel „Wir haben uns verlobt“ im Leben einer Enddreißigerin hatte. Einmal gesagt, stieg der wunderbare Satz nach oben, tanzte in der Luft, entschwand nach draußen und verlor sich im burgundischen Sternenhimmel. Mama räusperte sich. Mémé entnahm ihrem Rucksack eine Zigarettenschachtel. Ohne ihre Augen von mir zu lassen, steckte sie sich eine Zigarette an und nahm einen kräftigen Zug. Kurz verschwand ihr Gesicht hinter einer Rauchschwade.

„Hast du ihn gefragt?“

Die Frage schoss wie ein giftiger Pfeil aus Mémés Mund.

„Mama!“, entfuhr es meiner Mutter.

„Nein“, protestierte ich und schlug ein Bein über das andere. „Er hat gefragt.“

Mémé blickte unbeeindruckt drein, Mama sah verwirrt aus, und Marcel schien sämtliche Informationen der letzten Minuten zu verarbeiten. Meine Familie brauchte Zeit, während ich mich längst an meinen Verlobungsstatus gewöhnt hatte. Ich hatte mir sogar schon ein Kleid zur Hochzeit ausgeguckt. Die Haare würde ich hochgesteckt tragen. Keinen Schleier.

„Zur Hochzeit im Herbst seid ihr alle eingeladen. Ich möchte ein champagnerfarbenes Kleid. Von der A-Linie trennen mich nur noch fünf Kilo. Ich habe schon drei Kilo abgenommen“, plapperte ich vor mich hin und wippte mit meinem übergeschlagenen Bein.

Der Wein hatte es in sich. Ich plauderte meine Geheimnisse aus und bereute es sofort. In den letzten Wochen hatte ich streng Diät gehalten. Mémé fand allein die Idee, sich mit Nährwerten und Fettgehalt von Lebensmitteln auseinanderzusetzen, abwegig. „Essen beflügelt – was interessieren mich Kalorientabellen? Wer keine Freude am gedeckten Tisch hat, dem macht das Leben keinen Spaß“, pflegte sie zu sagen, was sie sich bei ihrem geschätzten Gewicht von knapp sechzig Kilogramm auch leisten konnte.

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