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Mein Leben als Sonntagskind

Als Buch hier erhältlich:

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»Eine ganz besonders mitreißende Geschichte. Judith Visser weiß genau, wie man den Leser verlockt und seine Neugier entfacht.« Hebban

Jasmijn ist ein ganz normales junges Mädchen. Kontaktfreudig und bei allen Mitschülern beliebt. Ein Sonntagskind, dem die Welt offensteht. Doch es gibt einen Haken: So ist sie nur in ihrem Tagebuch. Denn die wahre Jasmijn ist anders. Sie redet nicht. Nur mit ihrer Hündin Senta. Und mit Elvis Presley, mit dessen Postern sie ihr Zimmer tapeziert hat. Denn beide antworten nicht, und das ist gut. Dann muss Jasmijn sich nicht fragen, was gemeint ist. Oder überlegen, was sie antworten soll. Wie schaffen es andere Menschen bloß, dass sie immer wissen, wie sie sich verhalten sollen? Mit Senta und Elvis an ihrer Seite macht sich Jasmijn auf, dieses Geheimnis zu ergründen und ihr Glück zu finden.

Der Bestseller aus den Niederlanden: ein berührender Roman über das Erwachsenwerden mit Autismus

  • »Judith Visser trifft den Leser direkt ins Herz.« Noordhollands Dagblad
  • »In klarer, schnörkelloser Sprache gibt Visser Einblicke in eine autistische Welt, die so anders ist und verwirrend parallel existiert.« Neue Presse
  • »Auf einfühlsame Weise gelingt es Judith Visser, die selbst am Asperger-Syndrom leidet, die Gefühlswelt eines jungen autistischen Mädchens einzufangen.« Lübecker Nachrichten

  • Erscheinungstag: 01.05.2019
  • Seitenanzahl: 608
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959673198

Leseprobe

»A writer’s duty is to register what it is like for him or her to be in the world.«

ZADIE SMITH

1997

Ein Fußgänger. Verdammt. Ich kannte die Verkehrsregeln, konnte sie aber, wenn es drauf ankam, nicht abrufen. In jeder Fahrstunde schnappten sie unter einer Lawine von Reizen aufs Neue nach Luft. Musste ich ihn vorbeilassen? Oder musste er mich vorbeilassen? Der Schweiß drang mir aus allen Poren und sammelte sich zwischen den Schulterblättern …

»Jasmijn«, hörte ich Jaap neben mir sagen, »du weißt doch: Meine vier Räder stehen still …«

»… wenn mein rechter Fuß es will«, ergänzte ich. Ich musste grinsen über die Eselsbrücke, die nach anderthalb Jahren Fahrschule immer noch lustig und notwendig war. Ich bremste. Der Fußgänger überquerte die Straße, ich wurde wieder ernst und gab Gas. Wir näherten uns einem Kreisverkehr. Das Lenkrad war feucht von meinen verschwitzten Händen. Konzentration. Ich drückte den Rücken fester gegen die Lehne und holte tief Luft. Überblick – Überblick war alles. Aber gerade daran haperte es bei mir. Das große Ganze existierte für mich nicht, ich sah nur eine Unmenge von Einzelheiten, die nie ein Gesamtbild ergaben. Ich sah eine Möwe in der Luft. Das Nummernschild des Autos vor mir: SP – NN – 80. Sofort machte mein Gehirn daraus: Stolzer Panther, Niemals Neidisch, 80 Kilo. Ich rückte meine Sonnenbrille zurecht, die ich auch bei bewölktem Himmel trug. Ohne die dunklen Gläser waren meine Augen den Ampeln und Blinklichtern nicht gewachsen. Wenn ich sie ungeschützt ansah, blinkte einfach alles.

»Achtung«, sagte Jaap, »Fuß auf die Bremse.«

Abstand halten vom Stolzen Panther vor mir. Abwarten, was die Autofahrer machten, die von links kamen. Der vorderste – Haariger Philosoph, Wirkt Jünger, 41 Jahre – verließ den Kreisel. Okay, ich konnte weiterfah…

»Pass auf!« Der Fahrlehrer stieg auf seine eigene Bremse.

Jetzt erst sah ich die Radfahrerin rechts von mir. Sie schaute mich groß an. Reflexartig machte ich eine entschuldigende Geste. Sie fuhr kopfschüttelnd weiter.

Hinter uns wurde laut gehupt.

»Jasmijn …« Ein Stöhnen schwang in Jaaps Stimme mit. »Bieg nach dem Kreisverkehr rechts ab. Dort kannst du kurz halten und den Motor abstellen.«

Jaap blätterte im Theoriebuch der Fahrschule. In dem Grübchen zwischen seiner Nase und der Oberlippe glitzerte eine kleine Schweißpfütze. »Hier.« Er hielt mir das Buch hin. »Das ist so eine Situation wie eben.«

Ich sah mir die Abbildung an und unterdrückte ein Gähnen. Mich dem Tempo des Verkehrs anpassen, Schritt halten mit dem sich ständig verändernden Strom, das machte mich fertig. Kaum hatte ich registriert, was vor mir geschah, war neben oder hinter mir schon wieder eine andere Situation entstanden. Jaap erfasste mit einem Blick das komplette Bild, ich dagegen sah erst den Lastwagen, dann das Auto, dann irgendwelche Radfahrer, Fußgänger, Mopedfahrer oder was auch immer. Als Autofahrer musste man aber in der Lage sein, alles gleichzeitig wahrzunehmen – ein Zwinkern, und schon sah alles wieder ganz anders aus. Die Bilder scheuerten wie Feuersteine über meine Netzhaut, bis mir Funken aus den Pupillen sprangen.

»Siehst du, was ich meine?«, fragte Jaap. »In so einem Fall musst du darauf achten, dass …«

Seine Stimme verebbte. Meine Augen brannten immer heftiger. Ich schloss sie, nur ganz kurz.

»… verstehst du, Jasmijn?«

Dunkelheit, endlich.

»Jasmijn!«

Ich schreckte auf und schob meine heruntergerutschte Brille hoch.

Jaap klappte das Buch mit einem Seufzer zu. »Bist du eben tatsächlich eingeschlafen?«

Er wirkte nicht verärgert, eher besorgt. Zwischen seinen Augenbrauen hatte sich eine Furche gebildet, und er schüttelte leicht den Kopf. »Hör zu …« Er strich sich mit Daumen und Zeigefinger übers Kinn. »Versteh mich jetzt bitte nicht falsch, aber hast du dich mal untersuchen lassen? Psychologisch, meine ich. Ich frage deshalb, weil ich seit über vierzig Jahren Fahrstunden gebe, aber noch nie erlebt habe, dass jemand so extrem auf den Verkehr reagiert. Nach gut hundert Stunden muss ich immer noch jedes Mal eingreifen. Das Steuer übernehmen, auf die Bremse treten. Du fährst Automatik, da ist viel weniger zu tun, und trotzdem sehe ich keinerlei Fortschritte. Ich habe sogar das Gefühl, du fährst von Woche zu Woche schlechter.«

Meine Hände verkrampften sich im Schoß. »Dabei geb ich mir alle Mühe«, murmelte ich frustriert.

»Ich weiß. Aber vielleicht gibt es ja irgendwelche Pillen oder so, damit du dich besser konzentrieren kannst. Dann schaffst du den Führerschein vielleicht doch noch. An deiner Stelle würde ich mal den Hausarzt fragen.«

Ich schwieg.

Jaap sah mich eindringlich an. »Bevor es noch Tote gibt …«

Es war ein Scherz, das merkte ich an dem Lachen in seiner Stimme.

Aber es war ein hoffnungsloses Lachen.

Ein Sonst-weiß-ich-auch-nicht-weiter-Lachen.

Ich war damals neunzehn, und den Führerschein habe ich nie geschafft. Aber zum Arzt bin ich gegangen, wenn auch erst ein paar Jahre später. Er überwies mich zu einem Psychologen, und nach sechs gründlichen Untersuchungen, in die auch meine Eltern einbezogen wurden, lautete die Diagnose: Asperger-Syndrom. Eine Form von Autismus. Eine angeborene Störung der Informationsverarbeitung, die die Kommunikation erschwert und den Umgang mit anderen zum Problem machen kann. Ich vertiefte mich in das Thema und stieß auf Bücher voller Lösungen für Probleme aus meiner Kindheit.

Nicht ich war anders, mein Gehirn war anders.

Jeder Mensch ist einzigartig, auch Menschen mit Autismus. Es gibt genug Aspies, die sich im Verkehr durchaus zurechtfinden, oder solche, die sich nicht ständig mit Essen vollstopfen müssen, weil ihnen sonst der Treibstoff fehlt, der sie funktionieren lässt. Es gibt Autisten, die ein Gespräch mehrere Stunden durchhalten, ohne zusammenzubrechen, die ganz entspannt die Schulbank drücken und das Leben auch ohne »Hilfshund« meistern.

Aber dies ist meine Geschichte.

Die Geschichte von Jasmijn Vink, geboren in Rotterdam an einem Sonntag im Winter 1978.

1. Kapitel

Ich war vier, als ich zum ersten Mal aus der Schule weglief. Es war mein erster Tag an der Prinses Marijkeschool, und ich verstand nicht, warum meine Mutter mich hergebracht hatte. Noch nie war ich ohne sie oder ohne Senta irgendwo gewesen. Senta war meine beste Freundin. Sie war zwei Jahre jünger als ich, und für andere war sie ein Hund. Ihr eines Ohr stand hoch, das andere hing herab, und nachts schlief sie bei mir im Bett. Meine Mutter löste meine Finger aus Sentas dichtem, weichem Fell und sagte, Senta werde jetzt mit ihr nach Hause gehen.

»Und ich?«, fragte ich.

»Du bleibst ein Weilchen hier, das hab ich dir doch erklärt.«

Ich schüttelte heftig den Kopf. Meine Mutter hatte gesagt, wir würden in die Vorschule gehen, und ich hatte gedacht, das wäre etwas Ähnliches wie einkaufen zu gehen. Von Dableiben hatte niemand etwas gesagt!

»Lassen Sie mich das machen«, hörte ich eine unbekannte Stimme. Eine blonde Frau trat zu uns. Sie streckte die Hand aus, um Senta zu streicheln.

Senta und ich wichen zurück.

Die Frau ging vor mir in die Hocke. »Du bist Jasmijn, nicht wahr? Ein schöner Name. Ich bin Fräulein Marleen, und du bleibst erst mal bei mir. Mama holt dich dann in drei Stunden wieder ab.«

Ich drehte mich entschlossen um und lief mit Senta zum Ausgang.

»Nein, Jasmijn.« Die Frau fasste mich am Handgelenk. »Du musst schön dableiben. Die anderen Kinder kommen auch gleich. Es wird dir hier gefallen, du wirst sehen.«

Ich riss mich los. Ich würde doch nicht bei einer Frau bleiben, die ich gar nicht kannte!

Meine Mutter legte mir die Hand auf den Kopf. Sie hatte mir heute mit viel Geduld die Haare geflochten. Wenn eine Strähne in der Bürste hängen blieb, hatte ich nicht mal »Au« sagen müssen; sie hatte sie ganz vorsichtig wieder herausgezogen. Sie wusste immer, was in mir vorging, und deshalb würde sie mich ganz bestimmt nicht hier zurücklassen.

Die Frau sagte etwas zu ihr, so leise, dass ich es nicht verstand.

Meine Mutter nickte.

»Sieh mal, Jasmijn.« Die Frau zeigte in eine Ecke. »Das ist unsere Puppenecke. Schön, nicht wahr?«

Ich folgte ihrem Finger mit den Augen, wurde aber durch die kahlen Fenster abgelenkt, durch die gleißendes Sonnenlicht hereinfiel. Auch die Neonröhren an der Decke verbreiteten ein grelles Licht. Darunter standen Stühle im Kreis, und in der Ecke, die mir die Frau gezeigt hatte, lagen die Puppen wild durcheinander. Ein rothaariges Mädchen packte eine davon an den Haaren und schwenkte sie im Kreis herum.

Meine Mutter hatte gesagt, Colette würde auch hier sein, aber ich sah sie nirgends.

»Komm«, sagte die Frau, »du kannst mit Mathilde spielen.«

Warum ließ sie mich nicht in Ruhe? Ich drehte mich um. Ich musste meiner Mutter klarmachen, dass wir jetzt wirklich gehen mussten. Aber wo sie eben noch mit Senta gestanden hatte, stand jetzt eine andere Mutter. Ein schreiender Junge hing an ihrem Arm. Ich trat einen Schritt zur Seite und schaute an ihnen vorbei. Dann sah ich in die andere Richtung und sperrte die Augen auf. Mama! Senta!

Die Frau nahm mich an der Hand und zog mich in die Puppenecke.

Senta! rief ich im Kopf. Senta!

Aber Senta kam nicht.

Das grelle Licht brannte mir in den Augen. Und überall waren Stimmen, so laut, als würden mir alle Kinder gleichzeitig in die Ohren schreien.

»Gib das her!«, rief ein Junge, der Ramon hieß.

»Nein!« Colette rannte weg. Sie hielt ein Feuerwehrauto hoch über den Kopf.

Ramon stürmte schreiend hinter ihr her.

»Fang mich doch, fang mich doch!« Colette machte kreischende Sirenengeräusche. Ihr schien es hier zu gefallen.

Ich setzte mich in der Puppenecke auf den Boden und hielt mir die Ohren zu. Der Boden dröhnte von Ramons Gestampfe. Sein roter Pulli – so rot wie Colettes Feuerwehrauto und Mathildes Wangen – blitzte mir in die Augen. Die ganze Welt war rot, und das Rot schlug mir gegen den Kopf. Bum-bum-bum. Ich kniff die Augen zu. Auch die Ohren hielt ich mir immer noch zu, aber der Lärm rann durch meine Finger wie Sand. Jemand stieß mich gegen die Schulter und trampelte davon. Der Boden zitterte, und das Zittern kroch in meinen Körper. Meine Zähne klapperten.

Tatü-tata! Tatü-tata!

Gib her!

Fang mich doch!

Hahaha!

Ich zog die Knie an, drückte den Kopf dazwischen und hielt die Arme wie ein Dach darüber. Dann hob ich das Gesicht vorsichtig wieder und öffnete das linke Auge einen Spalt. Die hin und her hüpfenden Flecken waren jetzt nicht mehr nur rot, sondern auch lila. Blau. Grellgelb. Die Welt war ein Ausmalbild, und alle Felder explodierten. Peng-peng-peng!

Die Frau stand in einer Ecke. Ein Junge neben ihr schlug mit der Faust gegen einen Turm. Alle Klötzchen prasselten zu Boden, aber niemand schien den ohrenbetäubenden Lärm zu hören.

Niemand außer mir.

»Hab dich!«, brüllte Ramon auf der anderen Seite des Klassenzimmers.

Colette kreischte.

Ich bekam keine Luft mehr. Taumelnd rappelte ich mich hoch. Ich musste zu Senta. Nach Hause. Zu warmer Milch mit Honig. Zum Surren der Nähmaschine meiner Mutter.

Die Frau stand noch immer in derselben Ecke, mit dem Rücken zu mir.

Wieder presste ich die Hände auf die Ohren, und dann rannte ich, so schnell ich konnte, hinaus. Zwischen den fremden Jacken an der langen Hakenreihe im Flur suchte ich meine eigene heraus, dann lief ich mit großen Schritten zum Ausgang und drückte mit beiden Händen fest gegen die Glastür. Sie flog auf. Ich rannte über den Schulhof, am Sandkasten und der Grünfläche vorbei, weg von dem ganzen Radau.

Nie wieder würde ich in die Vorschule gehen.

Mein Magen knurrte. Zu Hause würden wir Brot mit Thunfischsalat essen, hatte meine Mutter gesagt. Ich lief in die Richtung, aus der wir heute Morgen gekommen waren. Jetzt waren da keine Mütter mit Kindern mehr, keine Fahrradklingeln, kein Reden und Lachen. Aber im Kopf hörte ich immer noch den Lärm, vor dem ich geflüchtet war. Ich lief schneller. Wenn ich Senta wiedersah, würden all die Geräusche verschwinden. Bei ihr ging es mir immer gut.

Aber … Moment mal …

Ich blieb stehen.

War das der richtige Weg? Alles war auf einmal so groß.

Langsam machte ich noch einen Schritt. Die Straße, in der wir wohnten, würde ich erkennen, das wusste ich. Geertruidenbergstraat hieß sie. Dort musste ich in die zweite Tür und dann vier Treppen hoch. Das Haus gegenüber sah genauso aus wie unseres, auch mit drei Stockwerken. Zwischen den beiden Häusern standen ein paar Bäume, und für Leute mit Auto gab es Parkplätze. Wir hatten kein Auto.

Ich machte noch einen Schritt und noch einen.

Meine Jacke hielt ich mit den Händen gegen die Winterkälte zusammen. Zuknöpfen konnte ich sie nicht, das machte immer meine Mutter. Manchmal schaute ich ihr dabei zu, aber ihre Finger bewegten sich so schnell, und wenn ich es selbst probierte, verhedderte ich mich. Ich blieb auf dem Bürgersteig; über die Straße durfte ich noch nicht allein.

Mein Bruder schon, der war acht.

Der scharfe Wind machte meine Finger rot und steif. Ein Auto fuhr vorbei. Der Mann hinterm Lenkrad drehte sich nach mir um. Ich hielt mir die Hände vors Gesicht, um mich unsichtbar zu machen. Wenn mich jemand anschaute, war es, als würden seine Augen mich berühren. Wieder dröhnte mir das Getöse der Vorschule in den Ohren. Ich ging schneller. Immer wenn ich an eine Querstraße kam, bog ich um die Ecke, sodass ich kein einziges Mal den Bürgersteig verlassen musste. Dann konnte mir niemand böse sein.

Den Springbrunnen links kannte ich. Hier fütterten Oma und ich doch immer die Enten! Und dort drüben kamen wir vorbei, wenn ich mit meiner Mutter einkaufen ging; der Bäcker am Plein gab mir dann immer einen Eierkeks, den ich mit Senta teilte.

Ich war ganz nahe an zu Hause!

Vor mir schob eine Frau einen ratternden Einkaufswagen über das Pflaster. Auf einer Bank saßen ein paar Opas und rauchten. Irgendwo bellte ein Hund, aber es war eher ein Kläffen, nicht Sentas Bellen. Das konnte es auch gar nicht sein, Senta war ja zu Hause. Und ich …

Ich wusste nicht mehr, wie ich nach Hause finden sollte.

Ich blieb stehen. Was nun?

Nach dem Weg fragen ging nicht, mit Erwachsenen konnte ich nicht sprechen. Nur mit meinen Eltern und mit Opa und Oma, sonst mit niemandem. Manchmal war das schlimm, zum Beispiel, wenn der Bäcker hinter der Theke hervorkam und mir den Eierkeks gab. Dann hätte ich »Danke« sagen müssen, aber ich wusste nicht, wie ich meine Stimme aus dem Kopf herausbekommen sollte. Ich nahm dann den Eierkeks und lief schnell aus dem Laden.

»Sie ist ein bisschen schüchtern«, hatte meine Mutter gesagt, als ich wieder einmal hinausrannte.

Vor ein paar Tagen hatte sich der Bäcker zu mir herabgebeugt und gefragt: »Hast du vielleicht deine Zunge verschluckt?«

Senta hatte ihn angeknurrt. Sie wollte nicht, dass jemand sein Gesicht so nahe an meines brachte, sie wusste, dass ich dann keine Luft mehr bekam.

Ich hatte nicht auf die komische Frage reagiert.

Die Zunge konnte man doch gar nicht verschlucken, die war doch im Mund festgewachsen.

»So ist sie eben«, hatte meine Mutter noch gesagt. Das sagte sie immer, zu jedem. Meine Mutter machte sich keine Sorgen darüber, dass ich schwieg.

Ich ging weiter. Meine Zehen waren steif vor Kälte, aber ich blieb nicht stehen, denn direkt vor mir befand sich ein niedriges rotes Gebäude, das ich kannte. Bürgerhaus nannte es meine Mutter. Es hieß De Middelburgt, das wusste ich. Da trank sie manchmal Tee mit Colettes Mutter und ein paar anderen Müttern.

Vielleicht war sie jetzt auch dort!

Die Türen standen weit offen. Eine angenehme Wärme zog mich nach drinnen, in einen Saal, in dem Erwachsene an kleinen Tischen saßen. Sie hatten Spielkarten in den Händen. Blaue Rauchschwaden schwebten über ihren Köpfen. Alle redeten durcheinander, ein lautes Geschnatter, eine Vorschule voller Erwachsener. Ich sah mir jedes Gesicht und jeden Hinterkopf genau an, aber nirgends entdeckte ich die braunen Locken meiner Mutter.

Neben mir war ein langer Gang. Vielleicht würde der mich zu ihr bringen. Ich ging an einer Wand mit Bildern von Vögeln und Bergen entlang und kam wieder in einen Saal mit Tischen. Der Saal war leer.

Wo war meine Mutter?

Was, wenn ich nie wieder nach Hause fand?

Aus dem ersten Saal kam dröhnendes Erwachsenengelächter. Und ganz in meiner Nähe hörte ich Schritte. Ein dumpfes Geräusch, nicht das Klack-klack der Absätze meiner Mutter. Die Schritte kamen näher.

Hinter mir stand eine Tür einen Spalt offen.

Ich schlüpfte hinein.

Endlich war der Lärm der Vorschule in meinem Kopf verstummt. Hier würde ich bleiben, in der stillen Kabine, auf dem zugeklappten Deckel. Ich hatte die Tür verriegelt, und meine Füße baumelten über dem Steinboden. Ab und zu benutzte jemand die Toilette nebenan und ging dann wieder hinaus. An der Wand war ein Lichtschalter, den ich aber nicht anrührte. Die Dunkelheit war schön.

Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war, obwohl ich seit Kurzem die Uhr lesen konnte. Mein Bruder hatte es mir beigebracht. Er war gut mit Zahlen, ich nicht. Mit Buchstaben schon, die kannte ich alle. Ich konnte sogar schon lesen. Besser als Emiel.

Im Dunkeln formte ich Klopapierkügelchen. Ganz viele weiße Kügelchen. Unter der Tür war ein Lichtstreifen, sodass ich sie ein bisschen sehen konnte. Sie lagen überall. Auf meinem Rock, auf meiner Strumpfhose, auf dem Boden, in meinen Händen. Sie waren bei mir, ohne Lärm zu machen. Sie waren ganz still. Sie waren lieb.

Ich drückte sie an mein Gesicht. »Ihr seid meine Freunde«, sagte ich.

Dann schloss ich die Augen.

»Hallo?«

Ich rieb mir die Augen; meine Wimpern waren vom Schlaf verklebt.

»Hallo?«, tönte es noch einmal. Eine Frau. Sie klopfte an meine Tür.

Um mich herum war es dunkel. Ich saß auf etwas Hartem.

»Ist da jemand drin?«, rief die Frau.

Ah, jetzt wusste ich wieder, wo ich war. Ich sprang auf. Meine Freunde wirbelten zu Boden und senkten sich wie Schneeflocken um meine Füße. Mein Bauch fühlte sich leer an, wie Luft. Der Thunfischsalat wartete auf mich, aber ich konnte nicht weg, solange da eine Frau vor meiner Tür stand. Jemand, der Fragen stellte. Ich verharrte reglos, die Hand an der Türklinke.

»Alles in Ordnung da drin?«

Ich klopfte an die Tür. Das hieß »Ja«. Jetzt konnte die Frau gehen.

»Haben Sie sich eingesperrt?«

Ich trat gegen die Tür. Die Frau musste weg. Ich musste raus, zurück zu dem Wasser mit den Enten, zurück in die Straße, in der die Vorschule war. Wahrscheinlich war es jetzt endlich Mittag, und meine Mutter und Senta warteten schon auf mich. Wir würden zusammen nach Hause gehen, und ich konnte meiner Mutter sagen, dass ich nie wieder in die Schule gehen würde.

Die Frau ging weg. Ich hörte, wie die große Tür auf- und zugemacht wurde.

Endlich war es wieder still.

Ich öffnete den Riegel, steckte den Kopf durch die Tür und kniff die Augen gegen die plötzliche Helligkeit zusammen. Niemand war zu sehen. Schnell trat ich aus der Kabine und …

»Jasmijn!« Tante Teun, Colettes Mutter, kam hereingestürzt und sah mich groß an. Sie hatte immer knallblaue Flecken über den Augen, als hätte sie sich verletzt. Lidschatten nannte sich das.

»Kind!«, rief sie.

Ich starrte sie an. Ich hatte ihre raue Stimme nicht erkannt, aber als ich jetzt ihr Gesicht sah, passte wieder alles. Wie oft hatte ich sie schreien hören: Nein, Colette, Pfoten weg, Colette! Gib mir mal meine Kippen, Colette!

»Ja, um Himmels willen, Kind, warst du die ganze Zeit da drin?« Tante Teun schüttelte den Kopf, als wäre das die Antwort auf ihre Frage.

Nur war es nicht die richtige Antwort.

Ich wollte zur Tür hinaus, kam aber nicht an ihrem dicken Körper vorbei.

Sie stemmte die Hände in die Seiten. »Weißt du überhaupt, dass deine Mutter schier durchdreht vor Angst? Sie sucht dich überall, und dein Vater ist extra von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie haben sogar bei der Polizei angerufen. Alle sind in heller Aufregung!«

Ihr Gekreische klatschte gegen die gefliesten Wände. Ich hielt mir die Ohren zu.

»Weißt du, was«, sagte sie, »ich bring dich jetzt nach Hause. Deine Oma ist da, falls jemand anruft. Komm.«

Ich rührte mich nicht. Wovon redete sie?

»Komm, Kind.« Sie fasste mich am Arm. »O Gott, deine armen Eltern!«

Meine Mutter saß auf der Sofalehne. Ihre Wangen waren nass und verschmiert, ihre Unterlippe zitterte. Ihre Finger zupften an der schwarz glänzenden Spirale der Telefonschnur. Den grauen Hörer hatte sie am Ohr. So hatte ich sie noch nie gesehen. Ihr sonst so fröhliches Gesicht sah aus wie ein fleckiges Gemälde. »Ja, sie ist wieder da«, sagte sie ins Telefon. »Das mache ich, ja. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

Mein Vater sah mich kopfschüttelnd an. Emiel saß still neben meiner Mutter auf dem Sofa. Opa war nicht da, er radelte auf der Suche nach mir immer noch durch die Gegend. Auch meine Eltern hatten mit dem Rad nach mir gesucht, waren aber sofort zurückgefahren, als ihnen auf der Straße jemand sagte, Tante Teun habe mich gefunden.

Oma ging neben mir in die Hocke und sagte leise: »Ich hab gebetet, dass du wohlbehalten zurückkommst, Mijntje. Wir hatten solche Angst.«

Ich schluckte. »Alle sind böse auf mich.«

Aber warum? Ich hatte doch nur versucht, nach Hause zu kommen. Wo ich hingehörte. Und dann war ich eingeschlafen.

Oma strich mir den Pony zur Seite und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. »Papa und Mama waren in Sorge, weil sie dich lieb haben. Es ist schon fast Abend! Seit heute Morgen suchen dich alle, wir haben uns solche Sorgen gemacht. Verstehst du das?«

»Wo ist Senta?«, fragte ich. Senta war bestimmt nicht böse auf mich. Senta freute sich immer, wenn sie mich sah.

Meine Mutter legte den Hörer auf und wischte sich über die Augen. »Geh ruhig nach Hause«, sagte sie mit rauer Stimme zu Oma. »Ich ruf dich später noch mal an.«

Oma nickte und ging. Ihre Schritte entfernten sich, dann fiel die Haustür ins Schloss. Ich kletterte auf das Sofa am Fenster, um ihr nachzuwinken. Oma schaute immer noch mal hoch. Sie und Opa wohnten in der Gasse schräg um die Ecke, im letzten von sechs ebenerdigen kleinen Häusern.

»Jasmijn«, sagte meine Mutter, noch immer heiser.

Ich drückte meine Nase ans Fenster. Draußen wurde es schon dunkel. Omas kurze graue Locken sahen im Licht der Straßenlaternen silbern aus. Ich hob die Hand und …

Mein Vater trug mich vom Fenster weg.

»Ich muss doch Oma nachwinken!«, sagte ich strampelnd.

»Jetzt nicht.« Er setzte mich aufs andere Sofa, neben Emiel. »Wir müssen reden, Jasmijn.«

Ich sah mich um. Der Aschenbecher auf dem Tisch war noch nie so voll gewesen. Zerknüllte Papiertaschentücher lagen daneben. »Wo ist Senta?«, fragte ich wieder.

»Weißt du, mit wem Mama eben telefoniert hat?«, fragte mein Vater.

»WO IST SENTA?«, brüllte ich.

»Die ist bei Opa«, sagte Emiel. »Sie hilft ihm suchen.«

»Aber ich bin doch hier!« Ich hatte Senta so vermisst! Tränen brannten mir in den Augen. Mittag war längst vorbei. Es gab kein Brot mit Thunfischsalat. Keine Milch.

Keine Senta.

»Weißt du, mit wem Mama telefoniert hat?«, wiederholte mein Vater. »Mit der Polizei, Jasmijn. Mit der Polizei!«

»Fräulein Marleen hat angerufen, um mir zu sagen, dass du weg bist.« Meine Mutter putzte sich die Nase und warf ein weiteres Papierknäuel auf den Couchtisch. »Erst dachte sie, du hättest dich irgendwo im Klassenzimmer versteckt, und hat dich überall gesucht, aber du warst verschwunden. Du kannst nicht einfach weglaufen! Das verstehst du doch, oder?«

Ich schluckte. Wie sollte ich etwas verstehen, was mir niemand erklärt hatte?

»Wir haben die Polizei angerufen, weil wir mit dem Schlimmsten gerechnet haben. Wir hatten Angst, du könntest …« Ihre Schultern zuckten.

Mein Vater legte den Arm um sie. »Ganz ruhig, Pien. Nicht mehr dran denken. Sie ist wohlbehalten wieder da, nur das zählt.«

Meine Mutter putzte sich erneut die Nase. »Wie um alles in der Welt bist du denn in De Middelburgt gekommen?«

»Ich hab dich gesucht! Dich und Senta!«

»Und unterwegs bist du mit niemandem mitgegangen?«

Ich schüttelte den Kopf.

Mein Bauch knurrte. Vielleicht war noch Thunfischsalat übrig.

»Und sonst warst du nirgends? Du warst den ganzen Tag im Bürgerhaus? Ganz allein?«

»Nicht allein.« Mit Freunden. Ich dachte an die weißen Kügelchen. Wir hatten es gut gehabt zusammen, es war gemütlich gewesen im Dunkeln.

Meine Mutter schlug mit der flachen Hand aufs Sofa. »Verdammt! Ich hab’s gewusst! Wer war bei dir? Was ist passiert?«

Ich blinzelte. Das waren zwei Fragen auf einmal.

»Tante Teun sagt, sie hat dich in der Toilette gefunden«, sagte mein Vater. »Wer war da sonst noch?«

Ich zeigte auf die Papiertaschentücher. »Solche wie die. Nur kleiner.«

Meine Mutter griff sich an den Kopf und schüttelte sich.

»Und … was hast du … dort gemacht?«, fragte mein Vater ganz langsam.

Ich zuckte mit den Schultern. »Geschlafen. Ich war müde.«

Mein Vater strich meiner Mutter sanft über den Rücken. Auch Emiel schniefte jetzt. Er zog sich den Pulli über die Nase hoch, sodass man nur noch seine Augen sah.

Mein Vater setzte sich neben mich und hob mich auf seinen Schoß. »Jasmijn, jetzt hör mal gut zu, ja?«

Ich nickte.

»Du darfst nie wieder aus der Vorschule weglaufen. Hast du gehört?«

Wieder nickte ich. Ich hatte es gehört. Aber ich verstand es nicht.

»Mama und ich wissen, wie schwer es für dich ist, dich dort einzugewöhnen, aber das war jetzt gerade mal der erste Tag. Du musst durchhalten, Kind.«

»Aber da ist so ein Krach.« In die Schule wollte ich schon, nur ohne die anderen Kinder.

»Das ist alles eine Frage der Gewöhnung, Jassie, weiter nichts.«

»Darf Senta dann dableiben?«

»Nein«, sagten meine Eltern gleichzeitig.

Ich schluckte. Meine Tränen saßen immer erst mal in der Kehle.

Meine Mutter zündete sich eine Zigarette an. »Senta kann nun mal nicht überallhin mit.«

Ich wünschte, ich wäre nie vier geworden. Auf einmal war alles anders. Warum?

»Wenn es dir morgen zu viel wird, dann setzt du dich in eine ruhige Ecke und denkst an was Schönes«, sagte mein Vater. »Okay?«

Es klingelte. Emiel machte auf.

Ein Trippeln war im Flur zu hören, gefolgt von Opas Schritten.

»Senta!« Ich sprang auf. Mein Vater auch, aber meine Mutter legte ihm die Hand auf den Arm.

»Lass sie«, sagte sie leise.

Draußen im Flur schloss ich die Augen, während Senta mir schwanzwedelnd übers Gesicht leckte.

Als meine Mutter mich am Abend ins Bett brachte, sah sie wieder normal aus. Mein Vater würde in ein paar Stunden zur Arbeit gehen. Er war Wachmann in einem Postgebäude. Nicht nur tagsüber, auch nachts. Doppelschichten nannte sich das.

Meine Mutter ging zu meinem Kassettenrekorder. »Was möchtest du hören? Die Kassette, die drin ist?«

Ich nickte.

Früher hatte sie mir vor dem Schlafengehen vorgelesen, und ich hatte erstaunt die Seiten betrachtet. Diese kleinen Zeichen, die man Buchstaben nannte, redeten, mit einer Stimme, die man nur im Kopf hören konnte! Als ich drei war, hatte mir meine Mutter das Lesen beigebracht. Sie lieh in der Bibliothek Bücher für mich aus, und ab und zu kaufte sie welche auf einem Straßenmarkt. Das waren die besten, denn die durfte ich behalten. Manchmal stand vorn der Name des Vorbesitzers drin. Den strich meine Mutter durch und schrieb meinen darunter: Jasmijn Vink.

Zurzeit hörte ich Märchen, wenn abends das Licht ausging. Zum Geburtstag hatte ich drei Märchenkassetten bekommen, und inzwischen kannte ich die Geschichten alle auswendig. Es war schön, genau zu wissen, wie es weiterging und was jeder sagte. Manchmal sprach ich leise mit, dann war ich selbst in einem Märchen.

Meine Mutter drückte die Daunendecke wie eine Mauer um mich herum, schaltete den Rekorder ein und machte das Licht aus. »Schlaf gut, Jassie.«

Senta legte mit einem zufriedenen Seufzer ihren Kopf auf mein Kissen.

Ich schlang den Arm um sie und drückte die Nase in ihr Fell.

2. Kapitel

»Guten Morgen, guten Morgen, ein neuer Tag beginnt. Guten Morgen, guten Morgen, wenn wir zusammen sind. Ob Regen oder Sonnenschein …«

Wir saßen im Stuhlkreis. Colette sang am lautesten von allen. Auf ihrer Zunge klebten Kekskrümel. Es war meine zweite Woche in der Vorschule, und wir sangen das Lied jeden Morgen. Das war schön, alle Stimmen waren dann wie eine einzige. Man hörte keine anderen Geräusche mehr, nur Nick trommelte mit den Händen den Takt auf seine Knie. Das störte aber nicht, seine Musik machte unseren Gesang erst komplett. Beim Trommeln schaute er mit seinen hellen Augen vor sich hin, als würde er etwas sehen, was für die anderen unsichtbar war.

»Hände stillhalten, Nick«, forderte Fräulein Marleen ihn immer wieder auf. »Wenn das nicht geht, dann setz dich drauf.«

Gestern hatte ich ihn einmal angelächelt, zum Trost. Ich wusste, wie er sich fühlte. Auch er durfte nicht anders sein als die anderen.

»Ob Regen oder Sonnenschein, wir wollen heut zusammen sein.«

Alle sangen begeistert mit, nur mein Mund blieb bei der letzten Zeile geschlossen. Ich wollte nicht mit den anderen zusammen sein.

Ich blieb lieber für mich.

Nach dem Singen sah ich mich im Klassenzimmer um. Überall lagen Puppen und Autos herum. Meine Mutter hatte gesagt, ich würde in der Schule etwas lernen – aber was? Ein Buch hatte ich hier noch nirgends gesehen. Und Fräulein Marleen konnte ich nicht fragen, weil ich bei ihr immer noch nicht wusste, wie ich meine Stimme gebrauchen sollte.

Zum Glück hatte ich heute mein eigenes Buch dabei. Mein Vater war auf die Idee gekommen, obwohl er selbst nur Zeitung las. Wenn die anderen nachher spielten und Lärm machten, würde ich lesen. Das Buch hatte ich zwischen die Spielsachen in der Puppenecke gelegt. Am liebsten hätte ich gleich angefangen, es war so eine spannende Geschichte. Von Zwillingen. Ich hatte es von Oma und Opa bekommen. Einfach so, ohne Weihnachten oder Geburtstag. Auch Emiel hatte etwas bekommen, einen Tunnel für seine Eisenbahn. Ein Buch war nichts für ihn, im Lesen war er nicht so gut. Er musste mit dem Zeigefinger die Wörter entlangfahren und laut mitsprechen. Und auch dann ging es nur holprig.

Aber andere Dinge konnte er gut.

Emiel konnte rechnen. Und sich die Schuhe zubinden. Und ganz allein die Tür aufschließen. Eine Flasche zuschrauben, einen Ball fangen. Aus einem Glas trinken, ohne zu kleckern. Mit Erwachsenen reden. Emiel konnte sogar dann reden, wenn jemand im Radio oder im Fernsehen dazwischenplapperte.

Eigentlich konnte er alles, was die anderen auch konnten, nur ich nicht.

Mit der Zeigefingerspitze kramte ich im Durcheinander der Buntstifte nach dem Braun. Die Farben lagen kreuz und quer in der Schachtel, das Rot neben dem Blau statt neben dem Orange, und mehr als die Hälfte der Stifte war abgebrochen. Zu Hause lagen meine Buntstifte alle am richtigen Platz. Gespitzt.

»Woanders ist nie alles genauso wie daheim«, hatte meine Mutter gesagt. »Auch daran wirst du dich gewöhnen müssen.«

Das versuchte ich auch, aber das Braun hatte ich immer noch nicht gefunden. Eine andere Farbe konnte ich nicht gebrauchen; ich malte Senta, und die war nun mal nicht rot oder lila.

Colette saß neben mir. Die Leute auf ihrem Bild hatten blaue Gesichter, wie die Schlümpfe. Ich versuchte, nicht hinzuschauen.

»Nanu, wie kommt denn das hierher?«, ertönte plötzlich Fräulein Marleens Stimme.

Ich sah auf. Fräulein Marleen stand mit meinem Buch in der Hand in der Puppenecke. Ich ging zu ihr und streckte die Hand danach aus. Vom Umschlag lachten mich Saskia und Jeroen fröhlich an.

»Nein, nein, Jasmijn.« Fräulein Marleen hielt das Buch hoch. »Das ist kein Spielzeug. Vielleicht gehört es den Vorlesemüttern. Ich lege es mal weg.«

Ich schüttelte heftig den Kopf, den Arm immer noch ausgestreckt.

Fräulein Marleen ging an mir vorbei zum Pult, das Buch fest in der Hand. Es verschwand in ihrer Schublade. Als sie sich umdrehte, stießen wir beinahe zusammen. »O Gott, hast du mich erschreckt! Was machst du denn da hinter mir?«

Ich zeigte auf die Schublade.

Sie seufzte. »Ich hab doch gesagt, dass ein Buch kein Spielzeug ist. Geh wieder an den Maltisch.«

Ich blieb stehen, den Blick noch immer auf die Schublade gerichtet.

»Nun mach mal kein Theater. Komm mit.« Sie nahm mich an der Hand und zog mich in die Mal-Ecke. Colette sah neugierig zu uns auf.

Ich riss mich los und lief mit großen Schritten zum Pult zurück.

»Ja, was ist denn, Kind?«, rief sie. »Sag doch einfach, was los ist!«

Ich zeigte auf die Schublade, und Fräulein Marleen zog sie auf und nahm das Buch wieder heraus. »Sieh mal, damit kannst du doch gar nichts anfangen. Es ist …« Sie hatte die erste Seite mit Saskia und Jeroen aufgeschlagen, und jetzt wanderte ihr Blick zwischen dem Buch und mir hin und her. »Oh«, sagte sie.

Ich nickte.

Ihre Wangen röteten sich. »Dann sag das doch!« Es klang verärgert. »Wie soll ich wissen, was du meinst, wenn du dich weigerst, zu sprechen?« Sie klappte das Buch zu und drückte es mir in die Hand.

Ich schlug es auf und schaute auf meinen Namen, geschrieben in der engen kleinen Schrift meiner Mutter.

3. Kapitel

»Schau, genau das meine ich. Das ist das beste Beispiel.«

Ich spähte hinter meiner Mutter hervor, um zu sehen, wovon Fräulein Marleen redete. Es war ein seltsamer Anblick: eine Lehrerin auf einem Stuhl am Esstisch, mitten in unserem Wohnzimmer. Schnell zog ich den Kopf wieder zurück. Ich wollte sie nicht sehen. Lehrerinnen gehörten in die Schule und nicht hierher.

»Da siehst du, womit ich zu kämpfen habe, Paulien«, fuhr Fräulein Marleen fort. »Wie sie sich da hinter dir versteckt. In den ersten Wochen dachte ich noch: Ach, es ist eben alles neu für sie. Ich wusste ja auch, dass sie nie im Kindergarten war. Da ist die Vorschule schon ein kleiner Schock. Deswegen konnte ich es noch halbwegs verstehen, als sie weggelaufen ist, aber inzwischen sind wir einen ganzen Monat weiter, und sie spricht immer noch nicht.«

»Mit niemandem? Auch nicht mit Colette?«

»Na gut, mit fast niemandem. Mit Colette sehe ich sie schon ab und zu tuscheln. Und heute Morgen hat sie Danke gesagt, als Nick ihr einen Buntstift gegeben hat.« Fräulein Marleen seufzte. »Aber mit mir redet sie nicht.«

Meine Mutter rührte in ihrem Tee.

»Spricht sie denn zu Hause? Mit dir, mit deinem Mann?«

»Natürlich. Sie ist einfach ein bisschen schüchtern, das ist alles.«

Ein Knarren sagte mir, dass Fräulein Marleen auf ihrem Stuhl hin und her rutschte. »Ich hatte eigentlich gehofft, dein Mann könnte bei unserem Gespräch dabei sein«, sagte sie. »Die Sache geht ja euch beide an.«

»Ja, das verstehe ich, aber Wim ist bei der Arbeit. So kurzfristig konnte er seinen Dienst nicht tauschen.«

Fräulein Marleen wusste natürlich nicht, dass mein Vater fast immer bei der Arbeit war. Wenn er Nachtdienst hatte, schlief er nach dem Essen vor, und ich durfte ihm eine Geschichte erzählen. Dann krabbelten Senta und ich auf das große Bett, und oft dachte er sich den Anfang aus. »Es war einmal ein Mädchen mit einem Hund …«, sagte er, und dann musste ich weitermachen. Das Mädchen hieß natürlich immer Jasmijn, der Hund hieß Senta, und beide konnten tun und lassen, was sie wollten. Ohne Vorschule und ohne Fräulein Marleen.

Ohne Lärm.

»Jasmijn?« Fräulein Marleens Stimme klang jetzt näher.

Senta, die neben mir lag, schaute auf.

»Jasmijn, siehst du mich mal an?«

Nein. Ich kniff die Augen zusammen und presste mein Gesicht dichter an den Rücken meiner Mutter. Der glatte Stoff ihrer Bluse lag kühl an meiner Wange. Meine Mutter beugte sich ein wenig vor und drehte sich halb zu mir um. »Hast du gehört, Jasmijn?«

Ich reagierte nicht. Wenn ich so tat, als wäre Fräulein Marleen nicht da, verschwand sie vielleicht einfach.

Fräulein Marleen seufzte. »So geht das wirklich nicht. Zum Haareraufen ist das, Paulien!«

Ich linste durch meine Finger. Fräulein Marleen raufte sich überhaupt nicht die Haare. Sie hielt die Hände in der Luft, wie manche Jungen in meiner Klasse, wenn sie sich beim Kriegsspielen dem Feind ergaben.

»Ich hatte gehofft, in ihrer vertrauten Umgebung würde Jasmijn sich anders verhalten«, sagte sie. »Aus sich herausgehen, verstehst du? Aber sie kapselt sich nach wie vor völlig ab. Ich bin mit meinem Latein am Ende.«

Immer wenn Fräulein Marleen den Buchstaben K aussprach, ploppte ein Spucketröpfchen in ihrer Stimme. Das Ploppen blieb in der Luft hängen und vermischte sich mit dem Klimpern von Mamas Armreifen, dem Ticken der Uhr auf dem Kaminsims, dem Gurren der Tauben auf dem Dach, dem Motorengeräusch vorbeifahrender Autos. Mit den Doe-Maar-Songs, die Emiel in seinem Zimmer hörte. Es waren vertraute Geräusche, das Zuhause-Orchester, und da gehörte Fräulein Marleens Spucke-K nicht dazu.

Wieder drehte sich meine Mutter zu mir um. Ich hoffte, das Gespräch mit der Lehrerin würde ihr endlich klarmachen, dass die Vorschule einfach nichts für mich war. Dass ich hierbleiben musste, zu Hause, so wie ich es gewohnt war. Hier gab es kein Geschrei. Hier wurden die Farbstifte nicht falsch eingeräumt. Hier gab es keine Puppen mit nur einer Socke. Hier trampelte niemand um mich herum, und hier erschrak ich nicht jedes Mal zu Tode, wenn der Klötzchenturm einstürzte.

»Jas …«, sagte meine Mutter sanft. »Wenn du in der Schule bist, musst du auf Fräulein Marleen hören. Das haben wir doch besprochen.«

»Ich will aber nicht mehr in die Schule, Mama.«

»Alle Kinder gehen in die Schule. Das muss nun mal sein.«

»Aber warum?«

»Das ist das erste Mal, dass ich sie richtig sprechen höre«, sagte Fräulein Marleen. »Und sogar in ganzen Sätzen – ungewöhnlich für ihr Alter.«

Meine Mutter fuhr fort: »Wir haben doch abgemacht, dass du zwischendurch lesen darfst, wenn du dir sonst Mühe gibst mitzumachen.«

»Ich will aber nicht mitmachen!« Die Verzweiflung schnürte mir die Kehle zu.

Meine Mutter nahm meine Hand. »Ich weiß, aber es muss sein. Du bist jetzt vier. Da gehen alle Kinder in die Vorschule.«

Das hatte sie schon oft gesagt, aber logisch wurde es deswegen nicht. Ich war nicht »alle Kinder«.

Fräulein Marleen stand auf. »Ich lass euch mal allein, dann könnt ihr weiter darüber reden. Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, Paulien.«

Meine Mutter ging mit Fräulein Marleen auf den Flur hinaus. »Könnte man sich denn nicht irgendetwas einfallen lassen, damit sie sich in der Vorschule wohler fühlt?«, hörte ich sie leise fragen. »Mehr lesen zum Beispiel?«

»Lesen und Schreiben lernen die Kinder in der ersten Grundschulklasse«, antwortete Fräulein Marleen. »Bis dahin sind es noch zwei Jahre. Bei uns liegt der Akzent auf dem sozialen Umgang, im Wechsel mit Basteln und Spielen.«

Ich wusste nicht, was »sozialer Umgang« war, aber es klang schrecklich.

4. Kapitel

Meine Mutter hielt mir die dicke Kapuzenjacke hin. Den Bauch noch warm vom Haferbrei, zwängte ich die Arme hinein und schaute zu, wie sie die Knöpfe zumachte.

Senta lief schwanzwedelnd um uns herum.

»Du bleibst hier«, sagte meine Mutter zu ihr, während sie ihre Stiefel anzog.

»Was?« Ich sah sie fragend an. »Warum?«

»Papa und ich finden es besser, wenn Senta erst mal nicht mehr bis zur Schule mitkommt. Dann fällt es dir hoffentlich leichter, reinzugehen.«

Ich ließ mich auf den Boden fallen und schlang die Arme um Senta. »Sie kommt mit!«

Meine Mutter seufzte. »Ich will diese Szenen auf dem Schulhof nicht mehr.«

Ich drückte Senta an mich. Ich hatte sie bekommen, als ich zwei war, und konnte mich nicht erinnern, dass sie jemals nicht da gewesen war. Sie gehörte zu mir. Sie war da, wenn ich einschlief, sie war da, wenn ich aufwachte. Wenn ich auf die Toilette musste, wartete sie vor der Tür auf mich. Es wäre in der Vorschule längst nicht so schlimm, wenn sie immer bei mir sein könnte. Warum begriff das niemand?

»Jetzt mach schon«, sagte Emiel. »Serge hat neue Murmeln, und wir wollen noch damit üben, bevor es klingelt.«

Ich drückte Sentas Ohr wie ein Schmusetuch an meine Wange, aber meine Mutter zog mich hoch und trennte uns. »Von heute an gehen wir zusammen mit Colette und Tante Teun zur Schule. Tante Teun hat Colette gebeten, dich ein bisschen in ihre Obhut zu nehmen, damit du dich nicht so allein fühlst.«

Als ich an Mutters und Emiels Hand im Treppenhaus die letzten Stufen hinuntersprang, sah ich durch die große Scheibe in der Haustür Colette und Tante Teun draußen stehen. Colette hatte nichts auf dem Kopf und hielt auch nichts in den Händen. Es stimmte nicht, was meine Mutter gesagt hatte.

Colette hatte überhaupt keinen Hut.

Am Abend stach meine Mutter ein paar weitere Löcher in das Lederarmband ihrer Uhr. Dann schnallte sie mir die Uhr ums Handgelenk. »Wenn du nächstes Mal nach Hause willst, schaust du drauf. Dann siehst du, wie der große Zeiger immer ein Stückchen weiterrückt. Und dass du einfach Geduld haben musst.«

Ich hielt mein Handgelenk ans Ohr. Ein leises Ticken war zu hören, wie ein zweiter Herzschlag.

»Das wird dir helfen, durchzuhalten«, sagte meine Mutter. »Von jetzt an weißt du, wann es kurz vor halb zwölf oder Viertel nach drei ist und ich mit Senta auf dich warte.«

Ich strich mit den Fingern über die glatte viereckige Uhr. Vielleicht würde meine Haut im Sommer ringsherum braun werden, so wie bei Opa nach dem Urlaub in Uddel. Wenn er seine Armbanduhr abnahm, sah man einen weißen Streifen.

»Ich will sie Papa zeigen«, sagte ich. »Darf ich ihn wecken?«

Meine Mutter schüttelte den Kopf. »Papa ist eben erst eingeschlafen. Er hat heute wieder Nachtdienst, das weißt du doch.«

»Colette sagt, ihr Vater kommt jeden Tag zum Abendessen nach Hause und muss erst am nächsten Morgen wieder weg.«

»Das ist deshalb so, weil Onkel Frits in einem Büro arbeitet. Da sind die Arbeitszeiten anders.« Meine Mutter schaltete die Nähmaschine ein und schob den Stoff unter die Nadel. Sie nähte ein rotes Trägerkleid für mich.

»Warum sucht sich Papa dann nicht auch eine Arbeit in einem … Büro?«

»Für so was braucht man ein Diplom. Papa musste nach der Grundschule gleich anfangen zu arbeiten.«

»Warum?«

Meine Mutter unterdrückte einen Seufzer. Ich wusste, dass ihr meine »Warum-Anfälle«, wie sie es nannte, manchmal zu viel wurden. Aber ich ertrug es einfach nicht, wenn etwas nicht logisch war.

»Weil er Geld verdienen musste. Bei Opa und Oma Vink musste jeder mit zwölf anfangen zu arbeiten, das war damals so.«

Mein Vater hatte dreizehn Geschwister, und ich geriet fast in Panik, wenn ich mir vorstellte, wie es sein musste, in solch einem Trubel aufzuwachsen. Wahrscheinlich war es dort genauso zugegangen wie bei mir in der Schule. Mein Vater hatte nirgends Ruhe gehabt.

»Gott sei Dank findet Papa seine Arbeit super«, sagte ich.

»Ach ja?« Meine Mutter nahm den Fuß vom Pedal und sah mich mit hochgezogenen Brauen an.

»Klar! Sonst würde er doch keine Doppelschichten machen.« Manchmal war es, als wäre ich diejenige, die etwas erklären musste, und nicht meine Mutter.

»Ah«, sagte sie nur. »Klar.«

5. Kapitel

Mein Vater schnarchte laut, deswegen schlief meine Mutter, wenn er nachts zu Hause war, mit Ohrstöpseln. Eigentlich waren es gar keine Stöpsel, mit einem Stöpsel verschloss man ja eine Flasche. Ich nahm einen von Mamas Nachttisch und drückte ihn zusammen. Er fühlte sich fest und doch weich an. Als ich ihn losließ, nahm er langsam wieder seine ursprüngliche Form an.

»Was machst du?«, rief meine Mutter aus der Küche, wo die Koteletts in der Pfanne brutzelten.

»Nichts!«, rief ich zurück. Ramons Klötzchenturm war heute wieder eingestürzt und donnerte noch durch meinen Kopf. Jeden Tag versuchte ich von Neuem, den Krach zu überhören, mich auf mein Buch zu konzentrieren. Aber das Holzgepolter dröhnte mir in den Ohren, genauso wie der ganze übrige Lärm. In solchen Momenten rückte der große Zeiger meiner Uhr besonders langsam vor.

Ich steckte mir den Stöpsel ins Ohr. Das ovale Ding fiel sofort wieder heraus und landete geräuschlos auf dem blauen Teppichboden. Senta schnupperte daran und sah dann fragend zu mir auf.

»Der ist zu groß«, erklärte ich ihr.

»Was sagst du?«, rief meine Mutter. »Du weißt, dass Senta nicht aufs Bett darf, ja?«

Ich hob den Ohrstöpsel auf und ging damit in die Küche. »Ich brauche eine Schere, Mama.«

Meine Mutter wendete die Koteletts im zischenden Fett. »Wofür?«

»Um das hier durchzuschneiden.« Ich zeigte ihr den Ohrstöpsel. Sie sah ihn an, sagte aber nichts. »In der Schule ist es immer so laut«, erklärte ich.

Sie nickte langsam. »Ich verstehe. Komm mit.«

Wir gingen ins Wohnzimmer, wo die Schere neben der Nähmaschine lag. Meine Mutter nahm mir den Ohrstöpsel aus der Hand, teilte ihn mit einem einzigen vorsichtigen Schnitt in zwei Hälften und gab sie mir. »Bitte sehr. Aber nur benutzen, wenn du sie wirklich brauchst, und auf keinen Fall in den Mund stecken.«

Ich versprach es.

Am nächsten Morgen saß ich mit den passend zugeschnittenen Ohrstöpseln in der Tasche meines neuen Trägerkleides im Klassenzimmer. Ab und zu fühlte ich nach, ob sie noch da waren. Außer an der Schnittkante waren sie weich und glatt.

Als die Spielstunde anfing und jeder in seine Lieblingsecke ging – Ramon in die Klötzchenecke, Tobias in die Autoecke und Colette in die Puppenecke –, blieb ich wie immer als Einzige auf meinem Stuhl sitzen.

»Bitte sehr, Jasmijn.« Fräulein Marleen gab mir mein Buch, das sie noch immer in ihrer Schublade verwahrte.

Ich wusste, dass ich jetzt »Danke« sagen musste, aber meine Stimme verkroch sich ganz tief in meiner Kehle. Nur im Kopf bedankte ich mich, so laut, dass Fräulein Marleen es einfach hören musste. Doch wie jeden Tag wartete sie nur kurz und ging dann zu den anderen Kindern.

Der Klötzchenturm fiel um. Hester kreischte wegen irgendetwas. Ich wollte mir schon die Ohren zuhalten, da fielen mir die Ohrstöpsel ein. Ich holte sie heraus und drückte sie mir mit dem Zeigefinger in die Ohren, wie ich es zu Hause geübt hatte. Dann schaute ich mich um. Alles sah noch genauso aus wie vorher, nur war da jetzt eine unsichtbare Wand zwischen mir und dem Lärm. Die Geräusche waren noch da, aber sie klangen dumpfer. Gedämpft. Mein Kopf explodierte nicht mehr. Ich schlug das Buch auf. Jetzt konnte ich richtig lesen, ohne dass die Stimme in meinem Kopf überschrien wurde von …

»Jasmijn?«

Ich schaute auf. Fräulein Marleen stand vor mir. Neben ihr hüpfte Ivo auf und ab, einer von den wildesten Jungen in der Klasse. Manchmal brüllte er so sehr, dass er rot anlief. Er zog Fräulein Marleen am Arm.

»Moment, Ivo.« Ihre Stimme erreichte meine Ohren nur ganz leise. Sie ging vor mir in die Hocke und fragte: »Was hast du denn da in den Ohren?«

Ich schwieg.

Sie hob die Hand. »Gib mir das mal.«

Ich schüttelte den Kopf.

»Jasmijn …«

Ich rutschte auf meinem Stuhl weiter nach hinten.

Fräulein Marleen beugte sich vor und streckte den Arm aus, als wollte sie mir die Lärmstopper selbst aus den Ohren ziehen.

Schnell nahm ich sie heraus. Ivo schaute mit großen Augen zu, als ich sie Fräulein Marleen gab.

Sie sah mich an und runzelte die Brauen. »Ivo, geh wieder in die Autoecke, ich bin gleich bei dir.«

»Aber Fräu…«

»Kein Aber. Hopp, ab mit dir. Ich muss noch kurz mit Jasmijn reden.«

Maulend zog Ivo ab. Seine Schuhe schlurften über den Boden.

»Wo hast du die her?« Fräulein Marleens Stimme klang jetzt wieder unangenehm laut.

Ich schaute auf mein Buch hinunter. Mein Vater hatte gesagt, ich solle versuchen zu lesen, wenn mich die Geräusche ringsum störten, und jetzt störte mich Fräulein Marleen. Ich blätterte zu dem Kapitel, bei dem ich stehen geblieben war.

»Die Dinger sind nicht für Kinder bestimmt«, fuhr sie fort. »Und schau mich an, wenn ich mit dir rede. Ich will nicht, dass du so etwas mit in die Schule nimmst, Jasmijn.«

Alles nahm einem Fräulein Marleen weg. Nichts verstand sie. Und immer sollte ich sie ansehen, wenn sie etwas sagte. Dabei hörte ich doch mit den Ohren.

»Du steckst sie dir in die Ohren, aber jemand anders steckt sie vielleicht in den Mund. Daran kann man ersticken, ist dir das klar?«

Ich schüttelte den Kopf. Wie sollte jemand daran ersticken, wenn ich sie in den Ohren hatte?

»Es wird immer schlimmer mit dir«, klagte sie. »Ich denke wirklich … Ivo! Du sollst warten, hab ich gesagt!«

Ich fuhr mir schnell über die Augen.

Fräulein Marleen stieß die Luft aus. »Du musst nicht weinen, ich bin dir nicht böse, Jasmijn. Aber die Dinger werfe ich jetzt weg, und ich will dich nicht mehr damit sehen, abgemacht? Wir können einfach nicht … Ivo! Was habe ich gesagt? Ihr sollt mich nicht am Arm ziehen!«

»ABER ICH MUSS MAL – GROSS!«, brüllte Ivo.

Doch es war schon zu spät.

Als wir endlich Mittagspause hatten und Senta auf dem Schulhof schwanzwedelnd um mich herumtanzte, hörte ich, wie Fräulein Marleen mit meiner Mutter redete.

»Ich versteh das ja, Paulien«, sagte sie, »aber das geht einfach nicht. Mir ist klar, dass Jasmijn anders gestrickt ist als die anderen, aber sie macht auch Theater. Sie ist nichts gewohnt. Niemand sonst beklagt sich über den Lärm. Es kann wirklich nicht schaden, wenn sie lernt, sich anzupassen, sonst bekommt sie in zwei Jahren in der Grundschule große Probleme.«

»Es sind doch nur Ohrstöpsel. Wenn sie es damit leichter hat …«

»Was Jasmijn sich zu Hause in die Ohren steckt, müsst ihr selbst wissen, aber in meiner Klasse will ich so etwas nicht haben. Es ist ja nicht nur so, dass andere Kinder daran ersticken könnten. Jasmijn muss es auch hören können, wenn man etwas zu ihr sagt.«

»Ivo Hosenscheißer!« Roel zeigte mit dem Finger auf Ivo und rannte laut lachend über den Schulhof. »Ivo Hosenscheißer!«

Colette kicherte.

Senta winselte. Ihr wurde es auch zu viel.

Sie fand nicht, dass ich Theater machte.

Wir gingen zusammen davon.

6. Kapitel

In der Vormittagspause durften wir immer nach draußen. Bevor Fräulein Marleen die Tür zum Schulhof aufmachte, sah sie nach, ob wir unsere Jacken gut zugeknöpft hatten. Wer das noch nicht konnte, dem half sie.

Auch heute wartete ich, dass sie zu mir kam.

Ich stand neben Colette, die nicht nur ihre Jacke selbst zugeknöpft, sondern auch schon ihre Fäustlinge angezogen hatte. Ungeduldig hüpfte sie von einem Fuß auf den anderen. Die blonden Zöpfe flogen ihr ums Gesicht.

»Jasmijn«, sagte Fräulein Marleen, »soll ich dir den Mantel zuknöpfen?«

Ich nickte. Das wusste sie doch! Das machte sie ja jeden Tag.

Diesmal beugte sie sich zu mir herunter. »Ich will es hören. Immer nur nicken oder den Kopf schütteln, damit muss mal Schluss sein.« Sie sprach unnötig laut, sodass mir ihre Stimme gegen den Kopf schlug.

Ich sah zu Boden und versuchte mir vorzustellen, ich wäre gar nicht hier. Ich war im Park. Mit Senta. Sie sprang ins Wasser, und als sie wieder herauskam, schüttelte sie sich so kräftig, dass ihr die Ohren um den Kopf schlackerten. Das sah immer so lustig aus.

»Was gibt’s da zu lachen?«, fragte Fräulein Marleen. »Glaubst du, ich scherze?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Worauf wartest du dann noch? Ich hab immer noch nicht gehört, dass du mich fragst.«

»Das kann ich doch machen«, sagte Colette. »Fräulein Marleen, kannst du Jasmijn helfen?«

»Ich will es aber von dir selbst hören, Jasmijn. Du sollst nicht deine Freundin für dich einspannen.«

Ich schaute auf meine Schuhe hinunter. Wie viele Schritte waren es bis nach Hause?

»Gut, dann bleibst du eben drin.« Fräulein Marleen klatschte in die Hände und rief: »Kommt, Kinder, wir spielen draußen!«

Colette stupste mich an. »Jetzt frag schon.«

Aber ich konnte nicht.

Aus dem Fenster schaute ich Colette zu. Sie hatte die Fäustlinge ausgezogen und zwischen ihre Sandkuchen auf die steinerne Einfassung des Sandkastens gelegt. Wir spielten manchmal Bäckerei, sie war der Bäcker und ich die Kundin. Mit Colette zu reden war nicht schwer, ich kannte sie schon mein ganzes Leben lang. Tante Teun kannte ich genauso lange, aber mit ihr sprach ich nicht. Erwachsene schauten einen immer so komisch an, so als ob man Kreide im Gesicht hätte. Wie sollte man da etwas sagen? Außerdem hatte Tante Teun eine schreckliche Stimme. Zum Glück war sie keine richtige Tante.

Ramon stand bei Colette. Er hielt Zeige- und Mittelfinger an den Mund, als steckte eine Zigarette dazwischen. In der kalten Winterluft sah es aus, als würde er richtigen Rauch ausblasen.

Colette lachte.

Nick saß mit im Sandkasten. Er hatte einen Zweig in jeder Hand und trommelte damit auf einen Eimer. Sein Kopf bewegte sich mit. Nick Drumstick hatte Roel ihn getauft.

Fräulein Marleen kam herein. »Und? Kannst du jetzt fragen?«

Meine Jacke hing wieder am Haken. Am dritten von links, wie immer.

Fräulein Marleen rückte einen Stuhl ans Fenster und setzte sich neben mich. »Warum machst du’s dir nur so schwer, Kind? Ich will dir doch nur helfen.«

Gar nicht wahr. Dann hätte sie mir die Jacke zugeknöpft.

Sie seufzte. »Ich will nur, dass du mit mir redest, mehr nicht. Ich will, dass du sagst: Fräulein Marleen, hilfst du mir mit meiner Jacke? Warum tust du’s nicht?«

Ich schaute wieder aus dem Fenster. Ivo war zu Colette in den Sandkasten gesprungen und fegte alle ihre Kuchen vom Rand. Colette sprang schreiend auf.

»Hast du gehört, Jasmijn?«

Colette warf Ivo einen ihrer Fäustlinge an den Kopf.

»Na gut.« Fräulein Marleen stand auf. »Du bleibst so lange hier drin, bis du fragst, und das gilt nicht nur für heute.«

Na gut, wiederholte ich insgeheim und streckte ihr in Gedanken die Zunge heraus. Hier war es sowieso viel schöner.

Den ganzen Winter über verbrachte ich die Vormittagspause im Klassenzimmer. Während die anderen draußen herumtobten, las ich in aller Ruhe ein Buch. Das wurde für mich die schönste Zeit am Tag.

Dass meine Mutter die Knöpfe an meiner Jacke durch einen Klettverschluss ersetzt hatte, verriet ich niemandem.

7. Kapitel

»So, jetzt sind sie wieder drin.« Meine Mutter nahm die Nadel zwischen ihren zusammengepressten Lippen heraus und steckte sie in den Lockenwickler auf Omas Kopf. Dann zog sie ihr ein rosa Haarnetz über. »Das hält jetzt wieder eine Woche.«

Während Mama und Oma sich über einen Stoff beugten und Schnittmuster besprachen, half ich Opa beim Wörtersuchen in seinem Rätselheft. Ab und zu rückte er seine dunkle Brille zurecht. Er musste seine Augen vor dem Licht schützen, sonst bekam er Migräne. Das seien ganz schlimme Kopfschmerzen, hatte Oma mir erklärt, Opa habe deswegen auch aufhören müssen zu arbeiten. Jetzt war er immer zu Hause, bei Oma.

»Halt, Polizei!«, tönte es aus dem Flur, wo Emiel mit seinen Autos spielte.

Manchmal bat ich ihn, still zu sein, aber dann wurde er böse und sagte, ich solle mich nicht so anstellen.

Gleich würde es mir zu viel werden, dann würde ich aufstehen und die Tür zumachen.

»Ich hab’s, Opa.« Ich zeigte auf die dritte Zeile des Wortsuchrätsels. »Da ist es!«

»Verdammt!« Opa klopfte die Asche von seiner Zigarette und strich das Wort durch. »Du wirst immer besser.«

Ich strahlte. In manchen Dingen war ich eben doch gut.

Emiel kam herein. »Kann ich mitmachen?«, fragte er. »Was sucht ihr?«

Ich zeigte auf das nächste Wort in der Liste.

»Ge… Gewalt…«, begann er langsam.

»Gewalttätig.« Fließend las ich auch die Wörter darunter vor. »Bahnhofstraße. Optiker. Interview.«

Emiel wurde rot.

»Miel hatte es auch schon fast.« Opa zog an seiner Zigarette und blies den Rauch in Wölkchen aus. »Er kann nur noch nicht so schnell lesen wie du, Mijntje.«

»Also …«, maulte Emiel. Er sah mich an. »Also …«

»Also heißt gar nichts«, sagte ich.

»Also«, wiederholte Emiel, »ich halte beim Essen wenigstens die Gabel normal.« Er reckte die Nase in die Luft und lief wieder auf den Flur hinaus. Dort verdrehte er die Augen, krümmte den Arm und tat so, als würde er eine Gabel zum Mund führen.

8. Kapitel

Meine Mutter seufzte. »Wie oft haben wir schon darüber gesprochen?«

»Neun Mal«, antwortete ich prompt.

Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, schüttelte dann aber nur leicht den Kopf. In der Woche zuvor hatte sie mir erklärt, dass man nicht jede Frage so wörtlich nehmen dürfe. Aber sie hatte nicht dazugesagt, wie man wissen konnte, wann man es doch tun musste. Jetzt sagte sie: »Dann sag ich’s dir jetzt zum zehnten Mal: Senta darf nicht mit in die Schule, und damit basta.«

»Aber sie stört doch niemanden, Mama, das weißt du doch.«

Klapper-klapper machten ihre Stricknadeln. Klapper-klapper. Es sollte ein Pulli für Emiel werden. Ihre Finger bewegten sich schnell, sie brauchte nicht einmal hinzusehen. »Ich hab die Vorschriften nicht gemacht. Ein Hund darf nun mal nicht ins Klassenzimmer.«

»Wer macht denn die Vorschriften?«

Meine Mutter legte das Strickzeug in ihren Schoß. »Die Schule. Das Gesetz. Keine Ahnung.«

»Was ist das Gesetz?«

Sie seufzte wieder. »Jetzt gib endlich Ruhe und finde dich damit ab. Ein halbes Jahr quengelst du deswegen schon herum. Niemand auf der ganzen Welt hat in der Schule seinen Hund dabei.«

Aus Emiels Zimmer klang Musik. Doe Maar sangen davon, was sie noch alles tun mussten, bevor die Bombe fiel.

»Aber warum nicht?«, fragte ich.

»Manchmal gibt es kein Warum.« Meine Mutter nahm ihr Strickzeug wieder auf. Sie hatte plötzlich dunkle Schatten unter den Augen. »Manchmal ist es einfach, wie es ist.«

9. Kapitel

Die großen Ferien rückten näher. Bald würden wir in die Veluwe fahren, wo wir jeden Sommer zwei Wochen in einem Ferienhaus in Uddel verbrachten. Opa und Oma kamen auch mit. In Uddel war es schön. Ich spielte mit Senta im Wald und zählte mit meiner Mutter die Eichhörnchen rund um unseren Bungalow. Ich konnte es kaum erwarten.

Ich hatte gehört, wie meine Mutter Oma erzählt hatte, Fräulein Marleen habe gesagt, nach den Ferien dürfe ich in die zweite Klasse der Vorschule.

»Das Niveau hat sie, ich hoffe nur, sie verhält sich dann etwas sozialer.«

Als ich meine Mutter fragte, was das bedeute, hatte sie gesagt: »Sie meint wohl, dass du so selten etwas zu ihr sagst. Und dass du auch mal mit anderen spielen solltest, statt allein in einer Ecke zu sitzen und zu lesen.«

»Ich spiele doch mit Colette.«

»Es sind aber auch noch andere Kinder in der Klasse.«

Ich verstand nicht, worüber Fräulein Marleen sich aufregte. Morgens saß ich mit den anderen im Stuhlkreis und sang alle Lieder mit. Und als mir gestern mein Keks herunterfiel und Nick mir die Hälfte von seinem gab, hatte ich mich laut und deutlich bedankt. In solchen Momenten war ich wie alle anderen. Fräulein Marleen wollte aber, dass ich immer so war, und das ging nicht. Es gab so viele Unterschiede. Sogar meine Augen funktionierten anders. Colettes Augen wanderten ständig hin und her, während ich immer nur erst auf eine Sache schauen konnte und dann auf die nächste, nie auf zwei gleichzeitig.

»Du hast so einen durchdringenden Blick, Kind«, hatte Tante Teun mal gesagt, »als wolltest du mich hypnotisieren mit deinen dunklen Augen.«

Ich hatte keine Ahnung, was »hypnotisieren« bedeutete, aber es klang missbilligend.

»Jasmijn schaut immer so ernst«, hatte Tante Teun später zu meiner Mutter gesagt. »Als wäre sie tief in Gedanken versunken. Was kann es denn für ein so kleines Kind nachzudenken geben? Spielen muss sie! Fröhlich sein!«

»Jasmijn ist fröhlich«, hatte meine Mutter geantwortet.

»Hast du dir mal das Klassenfoto angesehen? Alle lachen, nur sie nicht.«

»Sie ist auf ihre Art fröhlich.«

Tante Teun hatte geschnaubt und ein Geräusch gemacht, das wie Ha! klang.

Ein ekliges Geräusch.

Nur gut, dass ich nie mit ihr redete.

Zur Feier des letzten Schultages fuhr die ganze Klasse ans Meer. Ich war noch nie am Meer gewesen. Wir fuhren immer in die Flusslandschaft der Rhoonse Grienden, ich bei meiner Mutter hinten auf dem Rad, Emiel seit dem letzten Jahr mit seinem eigenen Rad. Meine Eltern hatten mich tagelang auf die Klassenfahrt vorbereitet. Sie wussten, dass ich neue Situationen vorher durchspielen musste, damit es sich nachher nicht anfühlte, als würde mein Gehirn von einem Lastwagen überrollt. Neues überwältigte mich einfach. Meine Mutter zeigte mir Bilder von einem Strand, Schwarz-Weiß-Fotos aus Scheveningen, so hieß der Ort: Meine Eltern Hand in Hand, erst seit Kurzem ein Paar, mein Vater, der nur Augen für meine Mutter hatte, sie mit einer großen Sonnenbrille auf der Nase.

Ich mochte Fotos, egal, was darauf zu sehen war. Der eingefrorene Moment sorgte dafür, dass man in Ruhe alles ganz genau betrachten konnte. Im wirklichen Leben war das nicht möglich. Da ging alles so schnell. Die ganze Zeit passierte irgendetwas. Auf einem Foto war es schon vorbei.

Fotos bedeuteten Frieden.

»Möchtest du denn mit?«, fragte meine Mutter.

Ich nickte; nur schade, dass Senta nicht mitdurfte. Aber ich freute mich, dass wir mit dem Bus fuhren. Busfahren mochte ich, das sanfte Schaukeln über die Hubbel in der Straße. Meine Mutter gab mir eine Plastiktüte mit einem Handtuch, zwei Kekspackungen und ein Apfelsaftpäckchen mit. »Und bleib immer schön in der Nähe von Fräulein Marleen«, sagte sie. »Es fahren auch ein paar Betreuerinnen mit, an die kannst du dich auch wenden, wenn du Pipi musst oder irgendwas anderes ist. Nicht allein herumstromern, Jassie, man muss dich immer sehen können, ja?«

Die Betreuerinnen hatten uns orangefarbene Schwimmflügel angezogen, aber wir durften nur mit den Füßen ins Wasser und nicht weiter hinaus. Colette saß mit Eimer und Schaufel im Sand. Rockanje hieß der Ort. Hinter uns waren hohe Sandhügel. Dünen, sagte Colette. Das Meer sah aus, als würde es atmen: ein und aus, ein und aus. Immer neue Wellen kamen heran. Ich atmete im Takt mit. Die frische, salzige Luft war das Schönste, was ich je gerochen hatte.

Aber leider schien auch die Sonne. Ihre grellen Strahlen bohrten sich in meinen Kopf. In den Rhoonse Grienden saßen wir immer im Schatten der Bäume, aber der Strand war eine offene Fläche mit einem knallblauen Dach darüber, an dem eine viel zu heiße Lampe brannte. Ich kniff die Augen zusammen und hielt mir die Hände wie Klappen über die Augen.

»Hier.« Fräulein Marleen hielt mir eine weiße Kappe hin und drückte sie mir dann auf den Kopf. »Besser so?«

Das Brennen hörte auf. Die Sonne tat nicht mehr weh!

»Danke«, sagte ich.

Fräulein Marleens Augen weiteten sich. »Jasmijn … du sprichst ja!«

Ich lachte.

Sie ging vor mir in die Hocke. »Das ist ja wunderbar! Wenn das deine Mutter hört! Sehr schön!«

Ich setzte mich neben Colette in den warmen, weichen Sand und schaute den anderen Kindern zu, die mit den Betreuerinnen Sandburgen bauten oder Ball spielten. Hester schaukelte in einem großen schwarzen Autoreifen und ließ sich von einer Betreuerin durchs Wasser ziehen. Nach einer Weile stand ich auf und ging durch den Sand, nicht weit, gerade weit genug weg von dem Gekreische und Gelächter.

Alle konnten mich noch sehen, das hatte ich meiner Mutter versprochen, und das hielt ich auch.

Ich setzte mich ans Wasser. Nasser Sand glitt durch meine Finger. Lauwarme graue Wellen spülten über meine Beine. Schwapp, schwapp, ruhig, ohne Hast. Das Schwappen würde niemals aufhören, und wenn ich hundert Jahre hier sitzen blieb. Die Wellen wussten, dass sie ihr Ziel erreichen würden. Mehr verlangten sie nicht, und mehr wurde auch nicht von ihnen erwartet. Sie durften ganz sie selbst sein.

In der Ferne bellte ein Hund. Ich schaute mich um, sah aber keinen.

Für Senta wäre es herrlich hier. Ich würde meine Eltern fragen, ob wir nicht einmal alle zusammen hierherkommen konnten. Mit dem Bus, wie heute.

Ein Schatten fiel über mich. Ich sah auf.

Es war Fräulein Marleen. »Gefällt es dir denn ein bisschen, Jasmijn?«

»Ja«, antwortete ich.

Fräulein Marleen strahlte.

Auf der Rückfahrt saßen alle zwei und zwei nebeneinander. Alle außer mir. Ich war lieber auf die Rückbank geklettert, ans Fenster. Die Weideflächen, die draußen vorüberzogen, sagten mir, dass wir noch lange nicht wieder in Rotterdam waren. Colette saß, mit Hester ins Gespräch vertieft, ein paar Reihen vor mir. Hinter den beiden trommelte Nick mit den Händen auf eine rote Frisbeescheibe.

Ein winziges hellgrünes Tierchen kam angeschwebt und ließ sich auf meinem Kleid nieder.

»Hallo«, sagte ich. »Wer bist denn du?«

Zwei lange Fühler bewegten sich zitternd hin und her.

»Ich bin Jasmijn. Bleibst du bei mir?«

Wieder zitterten die Fühler. Bestimmt war das Tier aus Versehen in den Bus geraten und sehnte sich wie ich nach einem ruhigen Plätzchen.

»Hier kann dir nichts passieren«, sagte ich.

Es hüpfte auf meinen Arm. Es hatte vier durchsichtige Flügel mit grünen Streifen, die im Licht glitzerten. Seine Beine kribbelten auf meiner Haut, und ich musste kichern. Fräulein Marleen drehte sich von ihrem Platz weiter vorn nach mir um. Mein kleiner Freund spazierte mit seinen langen, dünnen Beinen über meinen Arm. Jeder Schritt kitzelte, und wieder musste ich kichern.

Dann hüpfte er von meinem Arm herunter und landete auf meinem Schoß.

»Wir beide schlafen jetzt«, flüsterte ich, und ich merkte, wie mir die Augen zufielen.

Ich schreckte hoch. Das grüne Tierchen war weg. Alle waren aufgestanden, wir fuhren nicht mehr. Die warme Luft im Bus roch nach Sonnenöl. Ich schaute aus dem Fenster: Wir waren wieder an der Schule. Die Mütter warteten schon auf uns. Ich hielt Ausschau nach meiner Mutter und fand sie neben Tante Teun, mit der sie sich unterhielt. Senta sah schwanzwedelnd hoch, als die Bustüren aufgingen. Ich klopfte an die Scheibe, aber sie hörte mich nicht.

Schnell nahm ich meine Plastiktüte und lief nach vorn.

Senta winselte, als sie mich sah.

Ich rannte zu ihr und schlang ihr die Arme um den Hals. Sie stupste mich mit ihrer feuchten Schnauze an und schnupperte. »Du riechst das Meer«, sagte ich lachend. »Was das ist, weißt du noch nicht, aber bald zeige ich es dir!«

Fräulein Marleen trat zu uns.

»Wie ging’s?«, fragte meine Mutter.

»Sehr gut.« Fräulein Marleen strich mir über den Rücken. »Jasmijn hat sich zwar abseits gehalten, aber wir haben endlich miteinander geredet. Und auf der Rückfahrt hat sie geschlafen.«

»Wie schön!« Meine Mutter klopfte mir den Sand vom Kleid. »Da bin ich aber froh.«

Ich nahm die Kappe ab und hielt sie Fräulein Marleen hin.

Sie lächelte. »Die darfst du behalten, Jasmijn.«

Wir gingen durch die Sliedrechtstraat nach Hause, vorbei am Schuster, am Stoffgeschäft, am Gemüsehändler und am Lebensmittelladen. Ich konnte mir kaum noch vorstellen, dass ich einmal nicht nach Hause gefunden hatte. Aber das war natürlich logisch, wenn man keine Straße überquerte. Dann lief man immer nur im Kreis.

Colette und Tante Teun gingen vor uns, Colette hüpfend an der Hand ihrer Mutter. Ihre hohe Stimme flatterte aufgeregt aus ihrem Mund.

Ich ging neben Senta her, und auch ich tanzte.

Hoffentlich konnte ich bald wieder nach Rockanje. Ich hatte die See gesehen, ich war glücklich gewesen, Fräulein Marleen hatte mir geholfen, als mir der Kopf wehtat, und im Bus hatte ich eine ganz besondere Freundschaft geschlossen.

Es war ein Tag, den man nie vergisst.

10. Kapitel

»Deine erste Geburtstagseinladung!«, rief meine Mutter, als ich ihr den Brief zeigte. Ihre Stimme schraubte sich mit jedem Wort höher. So klang es, wenn jemand hellauf begeistert war. Sie nahm die rosa Karte aus dem Umschlag und betrachtete sie. Eine Torte war daraufgemalt. Und darunter stand, ob ich nächsten Monat zu Zahvalas Party kommen wolle. Meine Mutter lachte. »Ein guter Anfang auf der neuen Schule. Und heute ist erst dein dritter Tag!«

Zur Beatrixschool waren es zu Fuß nur ein paar Minuten mehr als zu der Vorschule, in der ich nach der ersten auch die zweite Klasse besucht hatte. Aber das Gebäude war viel größer, es gab dort sechs Klassenzimmer und sogar einen ersten Stock. Mein Klassenzimmer lag unten. An der Wand hingen bunte Bilder mit einfachen Wörtern, und die Tische waren U-förmig angeordnet. Ich hätte am liebsten an der Ecke gesessen, wo ich nur an einer Seite jemanden neben mir gehabt hätte, aber die Lehrerin hatte gesagt, mein Platz sei in der Mitte, zwischen Colette und Ramon. Die meisten Kinder kannte ich schon aus der Vorschule, auch wenn nicht alle mit auf die Beatrixschool gekommen waren. Nick war nicht mehr da, und auch Ivo besuchte jetzt eine andere Schule. Einige Kinder waren neu hinzugekommen, Zahvala zum Beispiel, die demnächst Geburtstag hatte.

Auch hier durfte Senta nicht bei mir bleiben, nur hinbegleiten durfte sie mich wieder. Meine Mutter hatte gesagt, ich sei ja inzwischen ein paar Jahre älter und sie wolle sehen, ob ich mich jetzt von Senta trennen könne, ohne in Panik zu geraten. Im Kopf musste ich immer noch weinen, wenn es klingelte und meine Mutter mir die Leine aus der Hand nahm, aber ich presste die Lippen zusammen, damit nichts herauskam. So ging ich allein mit den anderen ins Klassenzimmer und war dann eigentlich nur halb da.

Ich war Jasmijn-und-Senta, sie war Senta-und-Jasmijn.

Die Schule schnitt das mittendurch.

Meine Lehrerin hieß Fräulein Mannink. Hinter ihrem Pult hing eine große schwarze Tafel an der Wand. Am ersten Tag konnte ich meine Stimme noch nicht benutzen, ich kannte Fräulein Mannink ja noch nicht. Aber sie hatte ein liebes Gesicht, sie roch nach Seife, und als sie an diesem Morgen die Milchpackungen verteilte, sagte ich »Danke« – laut, nicht nur im Kopf. Voriges Jahr, in der zweiten Vorschulklasse, hatte ich auch eine neue Lehrerin gehabt; damals hatte es noch vier Wochen gedauert, bis ich etwas zu ihr sagen konnte.

Das sei ein großer Fortschritt, sagte meine Mutter.

Ich blieb in Colettes Nähe, so gut es ging. Ich sah, wie sie den Finger hochstreckte, wenn sie zur Toilette musste, und wie sie lachte, wenn jemand etwas anscheinend Witziges sagte. Dann lachte ich auch. Und heute hatte mir Zahvala plötzlich die Einladung zu ihrer Party in die Hand gedrückt.

Ganz normal, als würde ich dazugehören, als wäre ich so wie alle anderen.

Meine Mutter stellte die Karte auf den Kaminsims. »Ein großer Fortschritt«, wiederholte sie. »Siehst du? Es war alles nur eine Frage der Gewöhnung.«

»Ich geh aber nicht hin.«

»Na hör mal, natürlich gehst du hin! Das ist doch schön.«

»Nein. Dame spielen mit Opa ist toll, das mache ich mittwochs immer, und danach gehe ich mit Senta in den Park, das weißt du doch.«

»Einmal kannst du das Damespielen ruhig ausfallen lassen, und der Park läuft dir auch nicht weg. Die Party wird toll, du wirst sehen.«

»Warum gehst du nicht selbst hin, wenn du’s so toll findest?«

Meine Mutter legte mir die Hände auf die Schultern. »Ich bin nicht eingeladen. Es ist eine Kinderparty. Nicht hinzugehen wäre sehr unfreundlich dem Mädchen gegenüber.«

Darüber dachte ich einen Moment nach. Ich wollte nicht unfreundlich sein.

Also gut. Ich würde hingehen.

»Machst du mit, Jasmijn?« Thijs stand vor mir, die Wangen vom Rennen gerötet.

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum nicht?« Er tippte mit der Schuhspitze gegen die Bank, auf der ich saß. »Immer liest du in der Pause nur. Fangen spielen ist doch viel schöner.«

»Findest du.« Ich hatte die anderen natürlich hintereinander herrennen sehen, und ich selbst rannte auch gern, aber nicht hier. Lieber auf einer Wiese, mit Senta. Seit ich allein über die Straße durfte, ging ich jeden Tag nach der Schule mit ihr raus. Wir rannten viel schneller als die Kinder in meiner Klasse. Und wir schrien dabei nicht so.

»Thijs!«, rief Ramon. »Komm endlich!«

Thijs warf mir noch einen Blick zu, dann lief er zu den anderen.

Ich las weiter. Ab und zu sah ich von meinem Buch auf. Ramon schrie immer lauter. Hab dich, du bist dran! Hester und Colette spielten ein Klatschspiel, bei dem es um eine Frau ging, die mit einer Vorhangschnur erdrosselt wird. Mädchen aus einer höheren Klasse machten rosa Kaugummiblasen. Emiel spielte mit Serge und Leon Jo-Jo.

Ich war auf dem ganzen Schulhof die Einzige, die auf der Bank saß.

Im Kopf sah ich mich bei Colette stehen. Und mitsingen. Als ich aber genauer hinschaute, sah ich, dass ich einen Schritt rückwärts ging, und noch einen und noch einen. Immer weiter, immer weiter, bis ich wieder bei der Bank war. Wieder ich selbst war.

Allein.

11. Kapitel

»Du hältst den Stift so komisch«, sagte Ramon.

»Tatsächlich?« Fräulein Mannink sah vom Pult zu uns her. »Ja, jetzt seh ich’s auch. Du bist nicht zufällig Linkshänderin, Jasmijn?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Warum hältst du dann die Hand so schief?« Sie ging um die Tische herum und blieb hinter mir stehen. Zwei heiße Luftströme kamen aus ihrer Nase und kitzelten mich im Nacken. Ich rutschte auf meinem Stuhl weiter nach vorn. Sie beugte sich über mich und schloss die Finger um meine Hand, sodass wir den Bleistift gemeinsam hielten. Ich blieb reglos sitzen, wie erstarrt, weil jemand mich berührte, der weder meine Mutter noch Oma oder Senta war. Sie schob meinen Daumen weiter nach unten und zog das Ende des Stifts mit dem Radiergummi zurück, dann drückte sie meinen Zeigefinger an den Daumen. »Probier’s mal so«, sagte sie. »Geht das nicht viel besser?«

Ich schluckte. Durch die veränderte Handstellung konnte ich den Bleistift nicht mehr wie gewohnt halten. Meine Finger zitterten, und er rutschte heraus.

»Macht nichts«, sagte Fräulein Mannink. Sie ging zum Pult zurück. »Halte ihn einfach so, wie es dir angenehm ist. Da hat jeder seine eigene Art.«

Ramon prustete los und machte einen Kratzer in sein Heft.

Ich tat so, als hätte ich es nicht bemerkt.

Er konnte noch nicht mal seinen Namen schreiben.

Jeden Morgen las Fräulein Mannink aus einem dicken Buch mit einem Mann und einem Kamel auf dem Umschlag vor. Biblische Geschichten für Kinder stand darauf. Das waren spannendere Abenteuer als in den Märchen auf meinen Kassetten, sogar interessantere als in den Büchern aus der Bibliothek. Sie handelten zum Beispiel von Noah. Von den Tieren in seiner Arche. Vom kleinen David, der mit einer einfachen Steinschleuder einen Riesen besiegte. Von Jakob, der vierzehn Jahre warten musste, bis er endlich seine wahre Liebe heiraten durfte. Und von Moses, der die Sklaven befreite! Aber am meisten berührte mich die Geschichte von Josef. Ich sah ihn in der Grube sitzen, ich sah ihn hinter der Sklavenkarawane herstolpern. Als Fräulein Mannink das Buch zuklappte, nachdem Josef gerade in Ägypten im Gefängnis gelandet war, streckte ich den Finger hoch.

»Ja, Jasmijn?« Ihre Stimme war genauso hoch wie die meiner Mutter, als ich ihr die Geburtstagseinladung gezeigt hatte. Ich hatte mich noch nie gemeldet, um eine Frage zu stellen.

»Wie geht es weiter«, wollte ich wissen, »mit Josef?«

Fräulein Mannink lächelte. »Das erfahrt ihr nächstes Mal.«

Ich starrte sie an. Es war Freitag. Nächstes Mal war erst nach dem Wochenende. So lange konnte ich nicht warten. Ich musste noch heute wissen, wie die Geschichte ausging.

Ich musste sie selbst lesen.

Nach der Schule ging ich mit Senta in die Zweigstelle der Stadtbibliothek im Tiengemetenhof und fand dort genau das gleiche Buch wie das von Fräulein Mannink. Ich setzte mich auf den Boden und las die Geschichte von Josef in einem Zug durch. Wie er auf den Thron kam, wie seine Träume doch noch wahr wurden. Senta lag neben mir, als ich zum Anfang des dicken Buchs zurückblätterte und alle Geschichten noch einmal las.

Am nächsten Tag hatte ich meinen Bibliotheksausweis dabei und konnte das Buch mit nach Hause nehmen. Dort las ich es von Neuem. Jetzt kannte ich alle Abenteuer auswendig. Das Alte Testament mochte ich besonders. Die Helden dort wussten, dass sie anders waren als ihre Freunde und Verwandten, weil sie Dinge hörten und sahen, die normale Menschen gar nicht bemerkten. Noah wurde ausgelacht, weil er ein großes Schiff baute. Josef wurde wegen seiner Vorhersagen verspottet. Niemand verstand, warum Samson so lange Haare hatte. Und doch waren es am Ende Noah, Josef, Samson und all die anderen, die recht bekamen.

Ich fragte Emiel, ob er die Geschichten auch so schön fand.

Er verdrehte die Augen. »Das ist doch alles Quatsch. Du glaubst doch nicht, dass das wirklich alles passiert ist! Die Bibel ist nichts weiter als ein Märchenbuch, und zwar ein ziemlich altmodisches.«

»Wovon redet ihr?«, fragte meine Mutter, die an ihrer Nähmaschine saß; sie nähte sich einen Rock.

»Jasmijn glaubt an Gott.« Emiel lachte laut.

»Miel«, sagte meine Mutter scharf. Sie nahm den Fuß vom Pedal, und das Surren hörte auf. »Jasmijn darf glauben, was sie will.«

Es war mir egal, was Emiel dachte. Auch Josef wurde von seinen Brüdern ausgelacht. Aber am Ende wurde er Vizekönig.

Na also.

Die Einzige, die meine biblischen Geschichten gern hörte, war Oma. Oft saß ich mit Senta bei ihr in der Küche, und sie wollte wissen, ob ich wieder neue Lieder gelernt hatte. Wir sangen von der Arche, von Jericho und von Samuel, während Opa im Wohnzimmer Frank Sinatra hörte.

Oma und ich waren gerade mit einem Lied über Abraham zu Ende, als Opa hereinkam. Er kenne auch ein biblisches Lied, verkündete er, und seine Augen zwinkerten hinter den dunklen Brillengläsern.

»Echt?«, fragte ich begeistert. Zu dritt singen war noch schöner.

Opa nickte. »Echt.«

»Sing vor, sing vor!« Ich sprang von meinem Hocker auf.

Opa baute sich mitten in der Küche auf, presste wie ein Chorknabe die Arme an die Seiten und räusperte sich. Dann begann er. »Johannes der Täufer, der war ein Säufer und schiss sich die Hosen voll …«

»Aart!« Oma schlug mit einem Topflappen nach ihm. »So was singt man doch nicht!«

Opa nahm seine Brille ab. Er hatte Tränen in den Augen vor Lachen.

12. Kapitel

»Hester und Jasmijn, warum geht ihr nicht Hand in Hand?«, fragte Fräulein Mannink.

»Sie will nicht«, antwortete Hester.

»Jasmijn …« Fräulein Mannink zeigte auf die anderen, die alle zwei und zwei gingen. Colette hüpfte vorneweg; ihr blondes Haar glänzte in der Morgensonne. »Ich habe doch laut und deutlich gesagt, ihr sollt euch alle an der Hand nehmen. Ich will nicht, dass sich jemand auf dem Weg zum Streichelzoo verirrt.«

Ich verlaufe mich nicht, sagte ich im Kopf, aber die Worte kamen nicht heraus. Es war eine unerwartete Situation. Gängige Antworten schaffte ich inzwischen, ich konnte zum Beispiel endlich »Danke« sagen, wenn der Bäcker mir meinen Eierkeks gab. Aber dann lief ich schnell aus dem Laden, bevor er noch mehr sagen oder mir eine Frage stellen konnte.

Ein Junge auf einem Moped flitzte vorbei, ein lautes Wrrrumm in meinen Ohren.

Ich sprang zur Seite.

»Sie will nicht«, wiederholte Hester. Es klang meckernd. Wie eine Ziege.

»Nun mach schon, Jasmijn, du nimmst Hester jetzt an der Hand. So schwer ist das doch nicht.«

Hester streckte mir wieder die Hand hin.

Ich erstarrte, als ihre kalten Finger meine berührten, zog meine Hand aber nicht zurück.

»So ist’s gut.« Fräulein Mannink ging wieder nach vorn und sagte etwas zu der Betreuerin, die heute mitkam. Die Betreuerin drehte sich zu mir um und antwortete irgendetwas.

Hester schloss ihre Hand fester um meine – ein beklemmender Fleischhandschuh. Ich versuchte, nicht an den roten Nuckelknubbel an ihrem Daumen zu denken und mich stattdessen auf unseren Marschrhythmus zu konzentrieren: links, rechts, links, rechts. Wir waren die Letzten in der Reihe. Keine Schulmauern um uns herum, nur frische Luft und blauer Himmel. Herbstblätter knisterten wie Paprikachips unter unseren Füßen. Hester fasste meine Hand fester.

Ich fing an zu schlurfen. Ich war Josef, an den Sklavenkarren gekettet.

Auf der anderen Straßenseite machte ich mich los und blieb stehen.

Hester ging weiter, alle gingen weiter. Ich schob die Hände in die Taschen und schaute ihnen nach. Der wachsende Abstand zwischen mir und der Klasse ließ frische Luft in meine Lunge strömen. Ich war kein Sklave mehr.

Ich ging in die entgegengesetzte Richtung.

»Jasmijn!«, rief Fräulein Mannink. »Komm sofort zurück!«

Ich ging weiter.

Stampfende Schritte näherten sich. »Bleib stehen, Jasmijn!« Fräulein Mannink holte mich ein und vertrat mir den Weg. »Schau mich an.«

Ich sah auf. Erwachsene fanden es wichtig, dass man sie anschaute, da war Fräulein Marleen nicht die Einzige. Es gelang mir auch, aber gleich darauf wandte ich den Blick wieder ab. Mir wurde heiß, und mein ganzer Körper kribbelte. Wenn ich jemanden ansah, war es, als berührte er mich.

»Du darfst niemals einfach von der Gruppe weglaufen, verstehst du das?«

Ich schüttelte den Kopf. Meine Eltern hatten gesagt, ich dürfe nicht aus der Schule weglaufen, aber wir waren nicht in der Schule.

Fräulein Mannink seufzte. »Am Groene Kruisweg ist viel Verkehr, da kannst du dich verlaufen und …«

Im Kopf rief ich ihr zu, dass ich mich gerade in der Gruppe so fühlte, als hätte ich mich verlaufen. Ich bin kein Schaf, sagte ich zu ihr. Ich gehöre nicht in eine Herde. Warum darf ich nicht ein einziges Mal meinen eigenen Weg gehen? Nur heute!

Seufzend fasste sie mich am Arm. »Komm.«

Wir gingen zu den anderen zurück.

Fräulein Mannink nahm auch Hester an der Hand. »So, meine Damen, jetzt gehe ich zwischen euch.«

Hester machte einen Hüpfer.

Ich schaute zu den Gänsen auf, die gerade über uns hinwegflogen, und wünschte mir, ich wäre Nils Holgersson.

13. Kapitel

Senta und ich saßen auf dem Bett. Ich hörte, wie meine Mutter Fräulein Mannink hereinließ, dann ein Rascheln, als sie ihren Mantel auszog. »Möchten Sie Tee oder Kaffee?«, fragte meine Mutter.

»Gern Tee. Und sag doch ›Du‹.«

Ich legte den Gestiefelten Kater in meinen Kassettenrekorder und drehte die Lautstärke hoch.

Nach ein paar Minuten drang Rauchgeruch unter meiner Zimmertür durch, zusammen mit der Stimme meiner Mutter und der von Fräulein Mannink. Erst war es nur ein unverständliches Gemurmel, aber als die Kassette durchgelaufen war und der Marquis von Carabas mit seinem Kater noch lange glücklich und zufrieden lebte, wurden die Worte lauter. Verständlicher.

»Und wie verhält sie sich zu Hause?«

»Gut. Jasmijn ist ein glückliches Kind.«

Ich streichelte Senta. Ich nickte. Stimmt.

»Aber wie verhält sie sich zum Beispiel, wenn Besuch kommt? Wenn andere Leute da sind?«

»Dann bleibt sie in ihrem Zimmer.«

»Oh!« Es klang erschrocken, so als hätte Fräulein Mannink eine Spinne in ihrem Tee entdeckt. »Und das darf sie?«

»Warum nicht? Sie zieht sich dann gern zurück.«

»Ja, aber … oje, wie sage ich das am besten …« Fräulein Mannink räusperte sich. »So lernt sie ja nie, sich anzupassen. Ich würde mir überlegen, ob man sie nicht doch zwingen sollte, dabeizubleiben, Paulien. So helft ihr Jasmijn nicht.«

»Zwingen nützt bei ihr nichts. Sie ist nun mal, wie sie ist.«

Ich hörte einen Löffel in der Tasse klirren, dann einen Seufzer.

»Und wenn ich dir jetzt sage, dass sie in der Schule recht unbeholfen wirkt? Dass sie sich absondert? Dieses Verhalten wird ihr bei euch offenbar beigebracht.«

Das Geräusch einer Teetasse, die hart auf die Untertasse gestellt wurde. »Jasmijn muss nicht zwischen Onkeln, Tanten und anderen Besuchern sitzen, wenn sie sich in ihrem Zimmer wohler fühlt«, sagte meine Mutter langsam. »Das hat nichts mit der Schule zu tun.«

Es blieb einen Moment still, dann sagte Fräulein Mannink: »Könntet ihr euch vorstellen, du und dein Mann, einen Intelligenztest mit ihr machen zu lassen? Ihr IQ würde mich interessieren. In manchen Bereichen ist sie ihren Altersgenossen ja weit voraus – allein schon, dass sie Bücher für Kinder liest, die zwei oder drei Klassen über ihr sind –, aber auf anderen Gebieten ist sie deutlich zurück. Ihre Motorik zum Beispiel ist die eines Kleinkindes.«

»So einen Test braucht es nicht. Sie kann einfach schnell lesen. Und die Motorik kommt schon noch.«

»Aber ihre sozialen Fertigkeiten …«

»Die machen sich. In ein paar Tagen geht sie sogar zu einer Geburtstagsparty!«

Ich hörte nicht mehr hin. An Zahvalas Party wollte ich jetzt noch nicht denken.

Ich drehte die Kassette um und drückte wieder auf Start.

Es war einmal ein kleines Mädchen, ganz zart und fein …

Am nächsten Morgen erwähnte Fräulein Mannink ihren Besuch bei uns nicht. Alles war wie immer: Wir begannen den Tag mit einem Morgengebet, sie las aus der Kinderbibel vor, wir sangen. Der Einzige, den sie direkt ansprach, war Roel, der beim Singen husten musste und dann laut »Gottverdammmich« sagte.

Alle verstummten.

»Lass das bloß nicht deine Mutter hören, wenn du solche Wörter gebrauchst, Roel«, sagte Fräulein Mannink.

Er zuckte mit den Schultern. »Die sagt das doch selber.«

»Aber hier will ich es nicht hören. Nächstes Mal stellst du dich in die Ecke.«

Wir sangen weiter, von Hagar, die in der Wüste keine Angst zu haben brauchte. Nach dem Singen erklärte Fräulein Mannink uns, warum Fluchen ein Fehler ist. »›Gottverdammmich‹ bedeutet eigentlich ›Gott, verdamme mich‹. Im Grunde bittet man also darum, dass einem etwas Schlimmes passiert. Denkt mal darüber nach.«

Ich schluckte. Meine Eltern gebrauchten das Wort selbst oft, und Opa auch; sie schienen sich nichts dabei zu denken.

Die Einzige, die es nicht sagte, war Oma.

»Gottverdammmich!«, rief meine Mutter am Abend. Sie saß an der Nähmaschine und steckte ihren Zeigefinger in den Mund. »Das ist jetzt das x-te Mal, dass ich mich an dieser blöden Nadel steche.«

»Das Wort darf man nicht sagen, Mama«, sagte ich. »Das hab ich heute gelernt.«

»Wenn ich hier nur mehr Licht hätte … Ich seh einfach nichts!«

Die Tischlampe machte sie nicht an, meinetwegen, weil mir das grelle Licht in den Augen wehtat. »Jetzt ist Blut am Stoff, gottverdammmich.«

»Nicht!« Ich schlug mit meinem Buch auf die Sofalehne. »Das darfst du nicht sagen, Mama!«

Meine Mutter sah auf. »Was ist denn auf einmal los mit dir?«

»Das Wort, das du gerade gesagt hast, das ist gefährlich!«

»Gottverdammmich!« Emiel schaute von seinem Videospiel auf und rief es noch einmal. Und noch einmal. Er lachte, als sei das ein guter Witz.

Ich boxte ihn gegen die Schulter. »Nicht! Ich weiß jetzt, was das bedeutet – was ganz Schlimmes!«

»Ach Jassie …« Seufzend legte meine Mutter ihr Schnittmuster weg. »Du musst nicht alles so wörtlich nehmen, Schatz, das sag ich dir doch immer wieder.«

»Aber ich will nicht, dass du verdammt wirst!« Ich wischte eine Träne fort.

»Ich werde nicht verdammt, Schatz.«

»Aber du darfst es wirklich nicht mehr sagen.«

»Ich werd’s versuchen«, versprach sie. »In Ordnung?«

Emiel boxte mich zurück. »Du glaubst auch alles, was das doofe Fräulein sagt.«

»Miel«, sagte meine Mutter leise. »Schluss jetzt.«

»Warum? Du und Papa, ihr glaubt den Blödsinn doch auch nicht. Jetzt sollen wir schon wieder Rücksicht nehmen. Dauernd müssen wir auf Jasmijn Rücksicht nehmen. Ich dreh noch durch! Das Geräusch von meiner Spielkonsole hält sie nicht aus, ich darf nicht mit meinem Gummiball spielen, ich darf überhaupt nichts!«

»Es reicht, Miel!«, rief meine Mutter verärgert. »Geh auf dein Zimmer. Ich mein’s ernst.«

Emiel wurde rot. Er warf seine Konsole aufs Sofa, sprang auf und stampfte auf den Flur hinaus, knallte seine Tür zu und brüllte: »GOTTVERDAMMMICH!«

14. Kapitel

»Dobre dan«, sagte Zahvalas Mutter mit einem breiten Lachen. Sie winkte uns herein. »Schön, dass ihr da seid.«

»Dobberdaan«, riefen Hester und Colette. Ihre hohen Stimmen schallten durchs Treppenhaus.

Zahvalas Mutter hatte rosige Wangen und einen dunklen Knoten oben auf dem Kopf. Sie sah aus wie Frau Pfeffertopf. Sie zeigte auf einen gedeckten Tisch mitten im Wohnzimmer und sagte: »Nähmt Plaatz!«

Wir waren zu acht. Alle rückten sich einen Stuhl zurecht und setzten sich an den Tisch, alle außer Colette. Sie streckte Zahvalas Mutter die Hand hin und sagte höflich: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag Ihrer Tochter.«

»Oh, daanke, daanke!« Die roten Wangen wurden rund wie glänzende Äpfel.

Auch Hester gratulierte ihr, und plötzlich standen alle auf und schüttelten Zahvalas Mutter die Hand.

Das wollte ich auch tun. Sehr gern sogar. Ich wollte sagen, wie lieb ich es fand, dass ich hier sein durfte, wie schön es war, dass neben jedem Teller eine Bonbonkette lag, und dass es meine erste Party war. Im Kopf sah ich eine zweite Jasmijn, eine Normale Jasmijn, die sich benahm, wie es sich gehörte. Ich sah, wie sie gequält den Kopf schüttelte, als sie mich hier sitzen sah, als Einzige wie festgeklebt auf ihrem Stuhl.

Hester und Colette setzten sich wieder an den Tisch, die anderen folgten.

Ich starrte auf meine Bonbonkette. Vielleicht hätte ich doch nicht kommen sollen. Dann wäre ich jetzt bei Opa und Oma, wo ich nie überlegen musste, wie ich mich verhalten sollte. Wo alles gut war, so wie es war. Wo mich nicht, wie jetzt, alle ansahen.

Zahvalas Mutter ging in die Küche und kam mit einem hohen Stapel dampfender Pfannkuchen zurück. Als sie ihn auf den Tisch stellte, sagte ich leise: »Herzlichen Glückwunsch.«

Einen Moment schien es, als hätte sie mich nicht gehört.

Dann wischte sie sich die Finger an ihrer Schürze ab, legte mir eine warme Hand auf die Schulter und sagte: »Daanke schen, mein Kind.«

Zahvala hatte beim Auspacken der Geschenke begeisterte Schreie ausgestoßen, über die alle gelacht hatten. Und ich hatte mitgelacht. Ich saß aufrecht auf meinem Stuhl, ich schaffte das. Alles ging sehr gut. Außerdem gab es etwas zu essen, und Essen war immer schön. Die frischen goldbraunen Pfannkuchen hatten einen knusprigen Rand, und Zahvalas Mutter füllte den Stapel immer wieder auf. Es roch warm und süß, im ganzen Zimmer hingen Luftschlangen, und wir alle hatten uns die Bonbonketten um den Hals gehängt. Aus den hohen Lautsprecherboxen, die auf dem Boden standen, klang fröhliche jugoslawische Musik, gerade noch so, dass ich mir nicht die Finger in die Ohren stecken musste.

Ob es bei einer Geburtstagsparty in Jugoslawien auch Pfannkuchen gab? Vielleicht war das etwas typisch Niederländisches, und Zahvala hatte so lange gebettelt, bis ihre Mutter Pfannkuchen machte; ein jugoslawisches Essen wäre komisch gewesen. Und natürlich wollte niemand komisch sein und komisch angeschaut werden und immer alles ein bisschen anders machen als andere. Aber daran wollte ich jetzt nicht denken. Ich würde mich auf die Party konzentrieren, gut aufpassen, wie die anderen ihre Gabel hielten, und mir Mühe geben, es genauso zu machen. Ich würde darauf achten, dass ich lachte, wenn die anderen lachten, und vor allem würde ich nicht zulassen, dass meine Gedanken abschweiften. Ich würde nicht an Omas Damebrett denken, auf dem manchmal die schwarzen Steine gegen Lakritz und die weißen gegen Pfefferminz ausgetauscht waren. Nicht an Senta, die nicht mitgedurft hatte, weil Zahvalas Mutter Angst vor Hunden hatte. Ich musste dafür sorgen, dass ich es schön fand, hier zu sein. Wunderschön.

Auch wenn es anstrengend war.

Ich musste auf so vieles gleichzeitig achten. Aufpassen, dass ich nichts umstieß, zuhören, was die anderen sagten, nicht die Augen zumachen. Nein, auch nicht bloß für eine Sekunde. Ich musste wach bleiben, auf der Hut sein, auch wenn mir die Gabel schon zweimal auf den Tisch gefallen war und mein Messer beim Schneiden auf dem Teller knirschte, sodass ich es kaum noch zu benutzen wagte. Colette und die anderen Mädchen bestrichen ihre Pfannkuchen lässig mit Sirup und konnten trotz der Musik auch noch munter plaudern, lachen und essen.

Das versuchte ich auch. Immer wieder versuchte ich es.

Aber die Gabel rutschte mir zum dritten Mal aus den Fingern. Und Diane neben mir schien immer lauter zu schmatzen. Und mir gegenüber vergaß Rianne jedes Mal, die Sirupflasche wieder zuzuschrauben. Ich hatte sie schon viermal zugeschraubt. Niemand außer mir achtete darauf.

Zahvalas Mutter telefonierte in der Küche, auf Jugoslawisch.

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