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Meerblick zu verkaufen

Als Buch hier erhältlich:

Verliebt, verlobt... nicht verheiratet. Nach der geplatzten Hochzeit wartet die große Liebe!

Als Lisa, frisch getrennt von ihrem langjährigen Verlobten, Heimaturlaub bei ihren Eltern macht, gibt es genau zwei Probleme. Nummer eins: Ihre kleine Schwester Julia, zu der sie noch nie das beste Verhältnis hatte. Und Nummer zwei: Ihre Eltern wollen den geliebten Gulfhof verkaufen, auf dem sie aufgewachsen ist.

Dem Hausverkauf hat sich Simon Gercke angenommen und Lisa, selbst Immobilienmaklerin, stellt ihn sich als einen unangenehmen und schmierigen Typen vor. Als er dann allerdings vor ihr steht, ist er alles andere als das.

Gemeinsam mit ihrer Schwester, versucht sie den Hausverkauf zu sabotieren, was nach Jahren endlich für ein gutes Verhältnis der beiden sorgt. Sie ziehen an einem Strang. Es sorgt aber auch dafür, dass Lisa eng mit Simon zusammenarbeiten muss und sie sich seiner Nähe und den aufkeimenden Gefühlen bald nicht mehr entziehen kann…


  • Erscheinungstag: 19.03.2024
  • Aus der Serie: Nordseeromane
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365005767

Leseprobe

Kapitel 1

»Ich frage mich inzwischen, ob Sie die Richtige für uns sind.« Frau Richter sah von der Mappe auf, die ich ihr in die Hand gedrückt hatte, dabei schüttelte sie kaum merklich den Kopf, eine Zornesfalte grub sich zwischen ihre Augenbrauen.

»Was stimmt denn Ihrer Meinung nach nicht mit dem Exposé?«

»Die Fotos, die Sie von unserem Haus gemacht haben, wirken überhaupt nicht behaglich, und der Text liest sich, als würden Sie aus einem Sachbuch zitieren, Frau Brandt. Da kommt der Charme gar nicht zur Geltung.«

Wie auch? Dieses Haus mochte über sämtlichen Schnickschnack verfügen, aber an Charme fehlte es ihm eindeutig. Sterile weiße Wände, grauer Fliesenboden, eine Küche, in der nie gekocht wurde. Hier sah es aus wie in einem Katalog für modernes Wohnen. Wenn man Fotos riechen könnte, würden diese den klinischen Geruch von Desinfektionsmittel ausströmen.

»Möchten Sie, dass ich neue Aufnahmen mache?« Ich hatte zwar keine Ahnung, was das ändern sollte, aber irgendwas musste ich diesen überkritischen Kunden ja anbieten.

»Ich bitte darum. Und dann bearbeiten Sie sie auch gleich noch mit einem Fotoprogramm, damit sie professioneller aussehen.«

Innerlich verdrehte ich die Augen. »Ich werde sehen, was sich machen lässt.«

Die Richters waren das, was man ein gut situiertes älteres Ehepaar nannte. Sie erfüllten sämtliche Klischees, die eine solche Bezeichnung mit sich brachte. Frau Richter trug einen toupierten Kurzhaarschnitt, bei dem jedes Haar einzeln in Form gestylt war. Um ihren Hals hing eine Perlenkette, und auch ihre Garderobe verriet, dass sie viel Wert auf ihr Äußeres legte. Sie trug eine weiße Bluse und eine beigefarbene Hose mit Bügelfalte.

Die Immobilienagentur, für die ich arbeitete, hatte mich mit dem Verkauf des Hauses der Richters beauftragt, aber dass es ein so harter Brocken werden würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Ich konnte ihnen einfach nichts recht machen. Besonders die Dame des Hauses machte mir die Arbeit schwer, ständig hatte sie etwas an meiner Vorgehensweise auszusetzen. Herr Richter war eher ruhigerer Natur. Er war ein stattlicher Mann mit ordentlich gestutztem Schnurrbart, der froh schien, dass die Tiraden seiner Frau ausnahmsweise einmal nicht ihm galten.

»Nun sag du doch auch mal was dazu, Gunter«, forderte Frau Richter ihn auf.

Herr Richter lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Was soll ich denn sagen, Ilse? Vielleicht sollten wir das Exposé erst einmal freigeben, um zu sehen, wie es bei den Interessenten ankommt.«

»Nicht in dieser Form, ich will mich doch nicht blamieren.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und zerknickte dabei mein Exposé, das sie aus der Mappe genommen hatte.

»Okay, dann machen wir noch einmal miteinander einen Rundgang, und ich zeige Ihnen die Fotos, die ich dabei aufnehme, direkt auf dem Display«, bot ich an. »Sie sagen mir dann einfach, welche ich nehmen soll. Bei den Formulierungen können Sie mir natürlich auch gerne sagen, was Sie im Exposé stehen haben wollen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Frau Richter sah mich herausfordernd an. »Und wofür kassieren Sie dann noch die Provision, wenn ich die ganze Arbeit mache?«

Ich hatte in meinen sieben Jahren bei der Immobilienagentur »Stadt und Land« schon einige komplizierte Kunden erlebt, aber in Frau Richter hatte ich meine Meisterin gefunden. Schon zu Beginn unserer Zusammenarbeit hatte sie mir ständig das Wort abgeschnitten oder nach Feierabend meinen Chef angerufen, wenn sie ihre Meinung geändert hatte und ihr meine Ausarbeitungen plötzlich doch nicht mehr gefielen. Seitdem war keine Besserung eingetreten.

Mein Magen knurrte laut, woraufhin Frau Richter mir einen missbilligenden Blick zuwarf. Sicherlich existierten in ihrer sterilen Welt keine menschlichen Bedürfnisse wie Hunger oder Durst. Ich unterdrückte den Impuls, einen Blick auf meine Armbanduhr zu werfen, doch die rettende Mittagspause konnte nicht mehr fern sein.

Ich sehnte mich danach, diesen hässlichen Klotz zu verlassen, dem man bei jedem Detail anmerkte, dass es bei seinem Bau einzig und allein um Funktionalität gegangen war. Warum konnten meine aktuellen Auftraggeber keine netten Leute sein, die ein schnuckeliges, älteres Häuschen verkaufen wollten, dessen Wände Geschichten erzählten und in dem man den Atem der Zeit verspürte?

»Frau Richter, ich möchte doch nur, dass Sie zufrieden sind, und da Ihnen meine bisherigen Ausarbeitungen nicht gefallen haben, wollte ich Ihnen die Möglichkeit geben –«

»Ich habe dir gleich gesagt, du hättest deinen Einfluss geltend machen sollen, Gunter. Mir wäre Herr Wagner eindeutig lieber gewesen. Frau Brandt scheint noch nicht über die nötige Erfahrung zu verfügen«, fiel sie mir ins Wort.

»Aber Ernst hat sie uns doch empfohlen, mein Schatz. Frau Brandt arbeitet schon seit Jahren für ihn und ist eine seiner besten Mitarbeiterinnen. Ich bin mir sicher, dass sie ein sehr ansprechendes Exposé aufsetzen wird, wenn du sie nur mal machen lässt.«

Ich warf Herrn Richter einen dankbaren Blick zu, den er mit einem kurzen Nicken quittierte.

Seine Frau sah unschlüssig zwischen uns hin und her, die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst, Falten zogen sich um ihren Mund. »Also gut, wir geben Ihnen noch eine Chance.« Sie reichte mir das mittlerweile reichlich zerknitterte Exposé. »Die Fotos müssen Sie aber unbedingt bearbeiten, damit unser Haus wohnlicher aussieht.«

Klar, und gleich morgen würde ich eine Initiativbewerbung nach Hogwarts schicken. Die Chance, dort zu landen, war genauso hoch, wie einen wohnlichen Aspekt an diesem Haus zu entdecken. »Also soll ich sie nicht neu aufnehmen?«

Frau Richter schüttelte den Kopf. »Wenn Herr Wagner sich so sicher ist und auch meinen Mann von Ihren Fähigkeiten überzeugt hat, will ich mal nicht so sein.«

Vom Arbeitsaufwand her war es keine Erleichterung für mich, wenn ich jedes einzelne Foto bearbeiten musste, aber wenigstens konnte ich so endlich diese Reinheitsresidenz verlassen.

Eine halbe Stunde später fuhr ich auf den Parkplatz der Immobilienagentur. Das Schild über der Eingangstür zeigte unter dem Schriftzug beim Wort »Stadt« ein Haus und beim Wort »Land« einen Baum, die nahtlos ineinander übergingen. Ich stellte den Motor ab und schälte mich aus dem Autositz.

Schwungvoll öffnete ich die Eingangstür und ging zu Marlies an den Empfangstresen. Mein Chef Ernst Wagner bezeichnete sie gern als »die gute Seele des Hauses«, doch für mich war sie noch viel mehr: Sie war die einzige Freundin, die ich in Oldenburg hatte. Während meiner Beziehung mit Marc hatte ich den Fehler gemacht, andere Freundschaften zu vernachlässigen, unser Freundeskreis bestand irgendwann nur noch aus Paaren, die er schon vor unserer gemeinsamen Zeit gekannt hatte. Nach unserer Trennung hatten sich alle auf seine Seite und die seiner neuen Freundin gestellt.

Marlies begrüßte mich mit einem breiten Lächeln, das wie immer gute Laune versprühte. Genau das, was ich nach meinem Termin mit den Richters brauchte. »Hallo, Lisa! Willst du zuerst die gute oder die schlechte Nachricht hören?« Sie tippte mit einem rot lackierten Fingernagel auf ihrer Schreibtischplatte herum.

»Die schlechte.« Lieber gleich raus damit, danach konnte es bergauf gehen.

»Frau Richter hat angerufen.«

»Ich hab’s geahnt«, stöhnte ich. »Es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein, wenn sie sich an ihre Ankündigung gehalten hätte.«

»Sie wollte direkt mit dem Chef sprechen.«

Ich konnte mir denken, dass sie sich wieder mal über meine angebliche Unfähigkeit beschweren wollte. »Und was meint der Chef dazu?«

»Der ist gar nicht da.«

»War das die gute Nachricht?«

»Nein, die gute ist, dass ich dich auf einen Cappuccino einlade. Hast du Lust?«

»Klar.«

»Prima, ich habe für heute Vormittag nämlich auch die Nase voll. Gehen wir zu Angelo?«

»Gern.« Das war ganz nach meinem Geschmack. Bei Angelo gab es den leckersten Cappuccino in ganz Oldenburg, der immer mit einem selbst gebackenen Keks serviert wurde. Genau das, was ich jetzt brauchte.

Marlies schnappte sich ihre rote Handtasche, und wenige Augenblicke später stiefelten wir erwartungsvoll den Bürgersteig zu Angelo entlang. Die Sonne schien, und es war sommerlich warm. Perfekt, um draußen zu sitzen.

Wir setzten uns an einen freien Tisch im Außenbereich, bestellten den obligatorischen Cappuccino und unterhielten uns über unsere Urlaubspläne.

»Wenn alles glattgeht, fliege ich nächsten Monat nach Malle«, sagte Marlies.

Ich lächelte in mich hinein. Sie war der herzlichste und liebste Mensch, den ich kannte, aber bei ihrem alljährlichen Ballermann-Urlaub ließ sie komplett die Sau raus, wenn ich ihren Schilderungen Glauben schenken konnte. Vielleicht war das ihr Ventil, um im Alltag immer so gelassen und freundlich sein zu können.

»Und was planst du?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Du meinst als Ersatz für Mauritius?«

»Entschuldige, ich wollte das Thema eigentlich gar nicht zur Sprache bringen. Möchtest du lieber nicht darüber reden?«

»Ist schon okay. Ich denke, ich werde mich endlich mal nach einer neuen Wohnung umsehen. Übernächste Woche fahre ich dann noch für ein paar Tage zu meinen Eltern nach Ostfriesland. Meine Mutter geht bald in Rente und kann ein wenig Ablenkung vertragen.«

Ich freute mich auf diesen Besuch, unseren alten Gulfhof und die Nordsee. Das Problem war nur, dass ich mich auch auf Mauritius gefreut hatte, denn dorthin hätte Marcs und mein letzter großer Urlaub vor der Hochzeit gehen sollen. Nach acht Jahren Beziehung, davon drei Jahre verlobt, hatten wir endlich festgelegt, im kommenden Jahr zu heiraten. Zunächst hatte ich den Eindruck, wir hätten den Termin nur wegen der Coronapandemie auf die lange Bank geschoben, doch dann erkannte ich, dass wir ein grundlegendes Problem hatten. Kaum hatten wir den Termin für Mitte Juni ins Auge gefasst, stritten wir uns plötzlich mehr als zuvor, und sobald wir in die detaillierteren Planungen für unsere Hochzeit eingestiegen waren, geschah dies noch häufiger.

Nach ein paar weiteren Wochen kam ich zu dem Schluss, dass ich mir den 25. Mai als Termin für unsere Trauung wünschte, denn dies war der Geburtstag meiner Oma Lene, die vor eineinhalb Jahren verstorben war. Dieses Datum steckte voller glücklicher Erinnerungen für mich, ein Tag, an dem die ganze Familie zusammenkam und miteinander aß, lachte und Spaß hatte. Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als dieses Datum mit neuen schönen Erinnerungen zu füllen.

Als ich Marc jedoch eines Morgens beim Frühstück mitteilte, dass mir eine Hochzeit im Mai besser gefiel als im Juni, gestand er mir, dass ihm seine Arbeitskollegin besser gefiel als ich. Die beiden hatten seit drei Monaten ein Verhältnis, und er konnte den Gedanken nicht ertragen, mit mir vor den Traualtar zu treten, wenn sich seine Gefühle doch derart geändert hatten, weshalb er mir alles gestand. Ansonsten schwieg er sich über die Gründe jedoch größtenteils aus und meinte, er hätte sich diese Entwicklung nicht ausgesucht. Vielleicht war ihm aber auch wegen der Hochzeit alles zu viel geworden, und er hatte einfach kalte Füße bekommen, jetzt, da wir den Termin bekannt geben wollten.

Marc war schon immer ein Typ gewesen, der gern flirtete, doch geschah dies stets auf eine Art, die man seinem jungenhaften Charme zuschrieb. Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, er könnte sich anderweitig umsehen oder mich gar betrügen. So konnte man sich in seinem vermeintlichen Traummann täuschen.

Nun war ich also seit drei Monaten, fünfzehn Tagen und sieben Stunden Single und stand vor meinem ersten Solo-Sommerurlaub. Zwar hätte ich die Zeit lieber in der Agentur verbracht, aber mein Jahresurlaub war bereits genehmigt und ließ sich nicht mehr ändern. Dummerweise hatte ich gleich vier Wochen beantragt.

»Wird deine Schwester auch nach Ostfriesland kommen?«, riss mich Marlies aus meinen Gedanken.

»Ich habe noch nicht mit ihr darüber gesprochen, wir hören ja eher selten voneinander. Aber ich könnte mir vorstellen, dass wir an einem Tag mal ein Familientreffen organisieren, sie hat es aus Hamburg ja auch nicht besonders weit.«

Der Kellner kam und brachte unsere Cappuccinos.

Marlies lächelte mich aufmunternd an. »Es ist doch schön, wenn die ganze Familie beisammen ist. Die Ablenkung wird dir sicherlich guttun.«

Ich nickte. Momentan war mir jede Art von Ablenkung recht. In der ersten Zeit hatte ich mich noch in Selbstmitleid gesuhlt und es regelrecht zelebriert, in Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit Marc zu schwelgen, doch inzwischen hatte ich diese Phase zum Glück überwunden und krempelte alles auf Neuanfang um. Besonders die Suche nach einer neuen Wohnung stand auf dem Programm, denn ich wollte in meinem Zuhause nicht mehr bei jedem Schritt an ihn erinnert werden. Wenn schon ein Neuanfang, dann auch richtig.

Ich nahm den Keks von der Untertasse und tunkte ihn in meinen Cappuccino. Marlies verzog das Gesicht, wie immer, wenn ich das tat, doch ich liebte das Zusammenspiel von Kaffee- und Keksaromen und das geschmeidige Gefühl, wenn das Gebäck im Mund zerfiel.

»Guck nicht so vorwurfsvoll«, sagte ich. »Du weißt ja gar nicht, was dir entgeht.«

»Doch. Aufgeweichte Kekskrümel, die sich am Tassenboden sammeln und die man dann als schwabbelige Stückchen mit runterschluckt.«

»Du weißt wirklich, wie man anderen Leuten den Appetit verdirbt. Meine Oma Lene hat früher immer Kekse in den Tee eingetunkt, das habe ich schon als Kind von ihr übernommen. Es ist sozusagen eine Familientradition. Mit Ostfriesentee schmeckt das Ganze allerdings noch besser.«

Marlies sah nicht überzeugt aus. »Ich glaube dir einfach mal, sonst zwingst du mich irgendwann noch, das zu probieren.«

Unsere Mittagspause verging viel zu schnell, Marlies’ lockere Art und ihr ansteckendes Lachen hoben meine Stimmung und lenkten mich vom verkorksten Termin mit dem Ehepaar Richter ab. Auf dem Rückweg machten wir einen kleinen Umweg an der Hunte entlang. Ich genoss es, mich am Wasser aufzuhalten, das war wohl eine Vorliebe, die man aus einem Küstenkind nicht herausbekam.

Nach dieser Mischung aus Cappuccino, Keks, Sonne, Wasser und natürlich Marlies’ Gegenwart fühlte ich mich gestärkt genug, den Nachmittag in Angriff zu nehmen. Selbst wenn das bedeutete, dass ich ihn mit dem Exposé der Richters verbringen musste.

Ich spürte die Last, die mir von den Schultern fiel, als ich die Wohnungstür aufschloss. Endlich Feierabend. Doch die Freude währte nur kurz, denn das Klingeln meines Telefons empfing mich bereits.

»Vergiss es, heute werde ich mit niemandem mehr sprechen«, rief ich dem Apparat entgegen.

Ich legte den Schlüssel auf der Kommode im Flur ab, streifte die Schuhe von den Füßen und ging schnurstracks ins Wohnzimmer, wo ich mich aufs Sofa fallen ließ. Dabei versuchte ich, das Telefon, so gut es ging, zu ignorieren, aber der Anrufer war ganz schön hartnäckig. Da hieß es nur standhaft bleiben. Den ganzen Tag hindurch hatte ich mir den Mund fusselig gequatscht, und ich sah mich nicht in der Lage, auch nur ein weiteres Wort mit einem meiner Mitmenschen zu wechseln.

Der Anrufbeantworter sprang an. Ich hoffte, dass mein Anrufer nun aufgeben würde – wer sprach schon gern aufs Band? –, aber nach der automatischen Ansage und dem Piepton ertönte die altbekannte Stimme meines Chefs Ernst Wagner. »Hallo, Lisa, könntest du dich gleich morgen früh noch mal mit Frau Richter in Verbindung setzen? Sie möchte nun doch neue Fotos in ihrem Exposé haben.«

Also hatte sie meinen Chef doch noch erreicht. Damit war die Arbeit, die ich mir am Nachmittag mit der Überarbeitung der Fotos gemacht hatte, auch hinfällig.

Leider hatte Ernst es sich mittlerweile zur Gewohnheit gemacht, mich auch nach Feierabend anzurufen. Wobei ich an diesem Umstand wohl selbst schuld war, schließlich wollte ich in naher Zukunft als Partnerin in die Agentur einsteigen, woraufhin er mir nicht nur spontan das Du angeboten hatte, sondern nun auch davon ausging, dass ich jederzeit für ihn erreichbar war. Mein Handy hatte ich in weiser Voraussicht ausgeschaltet, aber wie es aussah, hatte er sich meine Festnetznummer aus der Personalakte besorgt.

»Vielleicht rufst du Frau Richter einfach noch kurz an und vereinbarst einen Termin mit ihr. Falls du ihre Nummer gerade nicht zur Hand hast, gebe ich sie dir sicherheitshalber noch mal.« Er hinterließ eine Telefonnummer, die ich heute ganz bestimmt nicht mehr anrufen würde, und legte auf.

Ich atmete tief durch und sah gedankenverloren aus dem Fenster. Am wolkenlosen Himmel zog ein Flugzeug vorbei. Wieder kam mir Mauritius in den Sinn. Wenn ich ehrlich war, trauerte ich nicht nur der entgangenen Reise hinterher, sondern befürchtete auch, dass ich in meiner bevorstehenden freien Zeit nichts mit mir anzufangen wusste. Vier Wochen, wie sollte ich die nur rumkriegen? Hoffentlich fand ich schnell eine neue Wohnung, damit ich wenigstens den Umzug vorbereiten konnte.

Das Telefon klingelte erneut. Ich ignorierte es, da ich dachte, es sei wieder mein Chef, doch als der Anrufbeantworter ansprang und meine Mutter mich bat, sie bald zurückzurufen, hechtete ich zum Hörer und nahm das Gespräch gerade noch rechtzeitig an.

»Hallo, Mama!«

»Hallo, mein Schatz. Ich wollte gerade wieder auflegen. Sicherlich bist du beschäftigt, ich wollte dich nicht stören.«

»Das tust du nicht.«

Nachdem wir den üblichen Small Talk gehalten hatten, kam sie auf den Grund ihres Anrufs zu sprechen. »Es geht um deinen Urlaub bei uns. Du wolltest doch ab übernächster Woche für ein paar Tage nach Norddeich kommen.«

»Ja. Wieso? Ist euch etwas dazwischengekommen?«, fragte ich. »Keine Sorge, ich bin an schlechte Neuigkeiten gewöhnt.«

»Nein, wir freuen uns schon sehr auf dich. Die Sache ist die, dass ich dich fragen wollte, ob du nicht vielleicht länger bleiben möchtest. Dein Vater und ich dachten an zwei bis drei Wochen. Du wärst doch ohnehin bald länger auf Mauritius gewesen, also dachten wir, du möchtest dafür vielleicht einfach mehr Zeit bei uns verbringen.«

»Eigentlich wollte ich mich ja noch nach einer neuen Wohnung umsehen, aber eine ausgedehntere Auszeit bei euch wäre schön. Wie kommt ihr denn plötzlich auf die Idee?«

Sie zögerte. »Du erinnerst dich doch, dass ich dir schon öfter gesagt habe, wie viel Arbeit das Haus und das Grundstück machen.«

»Ja, klar.«

Genau genommen klagte meine Mutter schon, seit ich denken konnte, über die viele Arbeit, aber ich hatte es eben als notwendiges Übel angesehen, um in dem – nach meinem Geschmack – schönsten Haus der Welt leben zu können. Ein alter Gulfhof, der beinahe für sich allein in einer ruhigen Seitenstraße lag, nur durch den Deich von der Nordsee getrennt. Was gab es Schöneres? Wenn ich jedoch genauer darüber nachdachte, hatten sich ihre Beschwerden in den letzten Monaten gehäuft, und zwar, seit sie beschlossen hatte, ihren kleinen Laden für Textilien und Dekostoffe aufzugeben, der sich in einem Teil der alten Scheune des Gulfhofs befand.

»Nun, es ist so, dass wir uns in der letzten Zeit einige Wohnungen angesehen haben«, fuhr meine Mutter vorsichtig fort. »Einfach aus Neugier, ohne besondere Absichten.«

»Okay …« Mir gefiel nicht, in welche Richtung sich dieses Gespräch entwickelte, und eine dunkle Vorahnung stieg in mir auf.

»Wir haben eine Wohnung gefunden, die uns so gut gefallen hat, dass wir einfach zuschlagen mussten. Sie wird dir gefallen, sie befindet sich in einem alten Haus mit diesen gemauerten Verzierungen am Giebel, die du so magst. In den Zimmern sind Stuckleisten und Sprossenfenster, außerdem –«

»Aber was passiert denn dann mit unserem Haus?«, unterbrach ich sie.

Meine Mutter schwieg und schien über die richtige Formulierung nachzudenken, doch schließlich atmete sie tief durch und sprach weiter. »Wir haben uns schweren Herzens dazu entschlossen, es zu verkaufen.«

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag, alles in mir verkrampfte sich. Natürlich hatte ich mich schon mal gefragt, was meine Eltern auf lange Sicht mit dem Haus vorhatten, nun, da meine Oma nicht mehr lebte und die Rente bevorstand. Aber ein Verkauf? Vor dieser Möglichkeit hatte ich immer die Augen verschlossen und wollte das Naheliegende nicht herbeirufen, indem ich darüber nachdachte.

»Bist du noch dran, Lisa?«

»Ja«, sagte ich matt.

»Ich weiß, das ist nicht leicht für dich, aber versuch dich doch mal in unsere Lage zu versetzen: Das Haus ist einfach zu groß für deinen Vater und mich allein. Nun, da die Rente vor der Tür steht, wollen wir unser Leben etwas einfacher gestalten und auch mal verreisen. Der Unterhalt würde uns auffressen, allein die Energiekosten sind enorm. Von der Arbeit rund ums Haus will ich gar nicht reden.«

»Ich verstehe euch ja.« Ich wusste nicht, ob ich diese Worte wirklich an meine Mutter richtete oder ob ich versuchte, sie mir selbst einzureden. »Deine Ankündigung traf mich nur gerade völlig unvorbereitet.«

»Ich weiß, mein Schatz, und es tut mir leid. Du musst in letzter Zeit ganz schön viele schlechte Nachrichten verkraften.«

»Nun ja, wenn man es so sieht, kann es ja nur besser werden«, versuchte ich, tapfer zu bleiben, spürte jedoch bereits das Brennen in meinen Augenwinkeln.

»Aber ich war ja noch nicht mit meinem Anliegen fertig, Lisa. Dein Vater und ich haben überlegt, dass es doch ein schöner Abschluss für uns als Familie wäre, wenn wir ein paar letzte gemeinsame Wochen auf unserem Hof verbringen würden. Nicht nur ein paar Tage, sondern so wie früher, als wir noch alle hier gelebt haben.«

»Alle?«

»Ja, deine Schwester kommt auch.«

»Dann hast du es ihr also schon vor mir erzählt?«

»Ach Lisa, Julia hat zufällig heute Nachmittag angerufen. Was sollte ich denn machen? Ich kann damit doch nicht hinter dem Berg halten, nur weil du die Ältere von euch beiden bist. Jedenfalls kann sie es kurzfristig einrichten, zwei Wochen zu bleiben. Was sagst du? Hast du Lust auf eine kleine Zeitreise?«

»In der Julia und ich uns bekriegen wie in besten Teenie-Zeiten?«

Meine Mutter lachte. »Der Phase seid ihr doch wohl hoffentlich entwachsen.«

Ich war mir da nicht so sicher, sagte aber lieber nichts. Meine Schwester und ich verstanden uns ganz gut, solange wir nicht zu viel Zeit miteinander verbrachten. Ich liebte sie, aber eine wirklich enge Bindung hatten wir nie gehabt, weder im Kindesalter noch als Erwachsene. Dabei konnte ich nicht einmal wirklich ausmachen, wo unser Problem lag. Es hatte immer dieses Konkurrenzdenken zwischen uns gegeben, das einen ungezwungenen Umgang unmöglich machte.

»Also, bist du dabei?«, holte mich meine Mutter in die Gegenwart zurück.

»Ich bleibe gern länger und freue mich auf die Familienzeit«, sagte ich nach einer kurzen Überlegung.

Ich konnte den Stein, der meiner Mutter vom Herzen fiel, beinahe durch die Leitung hören. »Das ist toll. Ich freu mich auf euch. Dann also bis übernächste Woche!«

»Bis dann, Mama.« Ich legte auf und fragte mich noch im selben Moment, ob es richtig gewesen war, so schnell zuzusagen. Andererseits war das Haus groß genug, meine Schwester und ich würden uns schon irgendwie aus dem Weg gehen können.

Kapitel 2

Ich parkte meinen blauen Golf in der Auffahrt direkt neben der alten Rotbuche, die vor meinem ehemaligen Kinderzimmerfenster stand. Früher wurde ich im Sommer vom sanften Rascheln ihrer Blätter in den Schlaf begleitet, und bei Vollmond saß ich manches Mal auf der Fensterbank und betrachtete den Mondschein durch ihre Äste hindurch.

Zwischen den kräftigen Wurzeln hatten sich Vertiefungen gebildet, in denen sich bei Regen Wasser sammelte. Eines Tages, ich muss ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein, saß ich auf einer der Wurzeln und ließ selbst gebastelte Papierschiffchen aus Kaugummipapier auf der Pfütze fahren. Für den Nachmittag war ich zum Geburtstag meiner Freundin Wiebke eingeladen, worauf ich mich aus mehreren Gründen freute. Zum einen, weil Wiebke meine beste Freundin war, und zum anderen, weil sie in der Nähe des Bahnhofs wohnte und somit in der Nachbarschaft meines Schwarms Keno. Ich hoffte, ihm dort ganz zufällig über den Weg zu laufen. Dann jedoch riss mich der laute Schrei meiner Schwester aus meinen Gedanken, und bevor ich reagieren konnte, sprang sie mit den Füßen voran in die Pfütze, ihre gelben Stiefel versanken zusammen mit meinen Papierschiffchen im Wasser. Matsch und Steinchen spritzten mir ins Gesicht und in mein rechtes Auge, sodass ich den Nachmittag beim Augenarzt verbrachte und nicht, wie eigentlich geplant, auf Wiebkes Geburtstag und in Kenos Nähe. Dieser Vorfall war bis heute bezeichnend für das Verhältnis zu meiner Schwester. Immer, wenn ich eine schöne Sache für mich entdeckt hatte oder Pläne schmiedete, kam sie angestürmt und machte mich nass.

Ich stieg aus dem Wagen und ließ den Anblick des alten Gulfhofs einen Moment auf mich wirken. Mein letzter Besuch lag noch nicht allzu lange zurück, aber nun, da es aller Voraussicht nach das letzte Mal sein würde, wollte ich jedes Detail aufsaugen und in meinen Erinnerungen abspeichern.

Wie die meisten Gebäude hierzulande hatte das Haus eine rote Backsteinfassade, in deren Front Verzierungen gemauert waren. Rundbögen über den weißen Sprossenfenstern und alte Maueranker verliehen dem Gebäude einen unwiderstehlichen Charme. Der Scheunenteil war breiter als das Wohnhaus und im oberen Drittel mit Reet eingedeckt, ansonsten bestand das Dach aus roten Ziegeln. Die grüne Scheunentür, die sich einst neben der Haustür befunden hatte, war schon vor Jahrzehnten durch eine Glasfront ersetzt worden, durch die man in den Laden meiner Mutter gelangte. Zwischen der Haustür und der Ladentür stand eine massive Gartenbank aus Baumstämmen, die mein Vater vor ein paar Jahren selbst gebaut hatte.

Meine Schwester hatte mein Auto anscheinend gehört und kam schnellen Schrittes aus dem Haus auf mich zugelaufen. »Das wurde aber auch Zeit! Wir warten seit über einer Stunde auf dich.«

»Danke für die freundliche Begrüßung. Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Ich lief um das Auto herum und hievte meinen Koffer aus dem Kofferraum.

»Du weißt genau, wie ich das meine. War auf deiner Strecke auch so viel los? Ich sag’s dir, ich dachte, ich komme nie an, dabei habe ich noch nicht mal Mittag gegessen, geschweige denn sonst irgendwas zwischen die Kiemen bekommen. Ich sterbe noch, wenn es nicht bald Kuchen gibt.«

Ich seufzte gottergeben und folgte Julia zur Haustür. Was das Temperament anging, hatte meine Schwester mir einiges voraus. Sie war schnell zu begeistern und wirkte mit ihrer Leidenschaft für die verschiedensten Dinge so lebendig, dass ich mich in ihrer Gegenwart manchmal wie eine energielose Schattengestalt fühlte. Sie ließ sich von ihren Impulsen leiten und sprach aus, was ihr gerade in den Sinn kam, wohingegen ich die Angewohnheit hatte, alles in Endlosschleife zu überdenken. Auch äußerlich zeigte sich dieser Unterschied. Ihr blondes Haar war passend zu ihrem sonnigen Wesen einige Nuancen heller als meins, ihre Haut dafür etwas stärker gebräunt, sodass ihr Lächeln noch strahlender wirkte.

Wir betraten das Haus und bogen links in die Küche ab, in der unsere Eltern bereits vor einer gedeckten Teetafel saßen. Mein Vater stand auf und drückte mich, dass meine Rippen ächzten. Meine Mutter tat es ihm gleich, allerdings fiel ihre Umarmung deutlich sanfter aus. »Schön, dass du auch da bist, Lisa. Setz dich, ich habe Pflaumenkuchen gebacken. Greift zu.« Sie gab Kluntjes in die Tassen und goss den heißen Tee ein, unter dem sie klirrend zersprangen. Zum Schluss gab sie etwas Sahne in die Tassen, die an der Oberfläche zu einem Wölkchen aufstieg.

»Endlich!« Julia nahm sich das größte Stück Kuchen und begrub es unter einem Berg Schlagsahne. »Nichts schmeckt besser als Kuchen mit Pflaumen aus dem eigenen Garten.«

Im Garten unseres Elternhauses standen verschiedene Obstbäume, und unsere Mutter verbrachte jedes Jahr viel Zeit damit, das Obst einzukochen oder einzufrieren. Früher war es mir wie eine lästige Pflicht vorgekommen, beim Entkernen zu helfen, doch heute erinnerte ich mich gern daran zurück.

Wir verbrachten die nächsten Minuten damit, uns auf den neusten Stand zu bringen, wie man es eben macht, wenn man sich längere Zeit nicht gesehen hat.

»Was macht denn die Arbeit, Schwesterherz?«, fragte Julia, als wir beim zweiten Stück Kuchen angelangt waren. »Mama hat erzählt, dass du dich beruflich verändern möchtest.«

»Das stimmt, mein Chef hat mir angeboten, als Partnerin in die Firma einzusteigen, und ich habe das Angebot angenommen. Im Herbst werden die Verträge unterzeichnet.«

»Herzlichen Glückwunsch!« Julia strahlte mich an, und ich hatte den Eindruck, dass sie sich aufrichtig für mich freute. Kein Wunder, in diesem Punkt war sie mir bereits zuvorgekommen, denn sie betrieb mit ihrer Geschäftspartnerin ein gut gehendes Geschäft für Braut- und Abendmoden in Hamburg. Julia hatte seit je ein Faible für Hochzeiten gehabt und war daher genau in der richtigen Branche gelandet, dabei hatte sie diesen Beruf nicht einmal gelernt.

»Und wie läuft es bei dir so? Wie geht es Kai?«, wollte ich wissen. Nur weil mein Liebesleben den Bach runtergegangen war, musste ich ja nicht gleich jede andere zwischenmenschliche Beziehung totschweigen. Julia und Kai waren seit drei Jahren ein Paar, und mindestens so oft hatten sie sich auch schon getrennt. Aber ich mochte Kai, er war ein netter Kerl, der gut mit Julias Temperament umgehen konnte.

Meine Schwester antwortete nicht sofort. Hoffentlich war ich nicht ins Fettnäpfchen getreten, und die beiden gingen wieder einmal getrennte Wege.

»Gut so weit«, sagte sie schließlich. Sie nippte an ihrem Tee, der jedoch noch zu heiß war. Das Porzellan klirrte, als sie die Tasse abrupt auf die Untertasse zurückstellte. »Er hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«

Diese Nachricht traf mich wie ein Schlag, und ich brauchte einen Moment, um mich zu sammeln. »Das sind doch tolle Neuigkeiten.« Ich versuchte, ebenso begeistert zu klingen wie sie, als sie mir eben zu meiner beruflichen Partnerschaft gratuliert hatte. Das war nicht leicht, denn obwohl ich mich natürlich für meine Schwester freute, war die Wunde wegen meiner eigenen geplatzten Hochzeit noch zu frisch. »Wann ist es denn so weit?«

»Nächstes Jahr im Mai.«

Alles in mir verkrampfte sich schlagartig. Genau der Monat, in dem auch ich hatte heiraten wollen. Natürlich konnte Julia davon nichts wissen, denn ich hatte meiner Familie noch gar nichts von unseren Hochzeitsvorbereitungen erzählt und wollte dies erst tun, wenn der genaue Termin feststand. Zwar wussten alle von der Verlobung – sie hatte ja lange genug gedauert –, aber bevor ich irgendjemandem sagen konnte, dass Oma Lenes Geburtstag der schönste Tag unseres Lebens werden sollte, hatte sich die Sache schon wieder erledigt.

»Habt ihr schon ein genaues Datum ins Auge gefasst?« Bitte nicht den 25. Mai, flehte ich innerlich, nachdem ich die Frage ausgesprochen hatte. Sollte es tatsächlich so sein, würde ich auf der Stelle meinen Koffer schnappen und zurück nach Oldenburg fahren.

»Wir haben uns für den 18. Mai entschieden«, sagte Julia.

Ich merkte erst jetzt, dass ich die Luft angehalten hatte, und stieß sie erleichtert aus.

Die Blicke unserer Mutter waren während unserer Unterhaltung zwischen meiner Schwester und mir hin und her gehuscht. Unser Vater hatte die Gelegenheit genutzt und die Nase in die Zeitung vergraben, um beschäftigt zu wirken. Mir war klar, dass die beiden die frohe Kunde bereits erhalten hatten.

»Und wo soll die Feier stattfinden?«, fragte ich. »Bei euch in Hamburg?« Julia hatte sich vom freiheitsliebenden Küstenkind zur überzeugten Stadtpflanze entwickelt, und es schien mir naheliegend, dass sie ihren großen Tag auch dort verbringen wollte.

»Um ehrlich zu sein, hatte ich immer gehofft, hier im Garten feiern zu können.« Ihr Gesicht nahm einen verträumten Ausdruck an. »Auf der Obstwiese hätten wir ein Zelt aufstellen können und die heruntergefallenen Blütenblätter wären wie Konfetti gewesen. Wir hätten Gott und die Welt eingeladen und eine riesige Sause veranstaltet.« Ihre Miene wurde wieder ernst. »Aber das hat sich nun ja erledigt. Außer, wir haben Glück, und das Haus findet bis dahin keinen Käufer.«

»Dann hätten wir aber ein großes Problem«, warf unsere Mutter ein. »Schließlich brauchen wir das Geld für unsere neue Wohnung.«

Julia zog eine Schnute. »Schon klar, man wird ja noch mal träumen dürfen.«

»Ihr könntet die Hochzeit aber doch trotzdem in Ostfriesland feiern«, versuchte unsere Mutter sie aufzumuntern. »Die Bauers haben doch immer noch ihren Saalbetrieb, wie wäre es denn damit?«

Julia zog die Augenbrauen hoch. »Ist das dein Ernst? Ich stelle mir meine Hochzeitsfotos nicht mit einem Hintergrund aus rustikaler Eiche und einem abgewetzten Parkettboden vor. Oder wurde der Saal in den letzten zwanzig Jahren mal renoviert?«

»Ich fürchte nicht.«

»Dann vergessen wir diese Idee lieber ganz schnell wieder.« Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Wie auch immer, es ist ja noch Zeit bis dahin, und wir wollen unseren letzten Heimaturlaub in den heiligen Mauern ja nicht damit verbringen, meine Hochzeit durchzuplanen.«

Ich blickte sie überrascht an. Hatte sie etwa mir zuliebe gerade das Thema fallen gelassen, um nicht unnötig den Finger in die Wunde zu legen? So kannte ich meine Schwester gar nicht.

»Haben wir eigentlich besondere Pläne für die bevorstehenden zwei Wochen?«, fragte ich. Zwar hatte ich mich dazu entschieden, drei Wochen in Ostfriesland zu verbringen, aber Julia musste bereits in zwei Wochen wieder abreisen, da sie in ihrem Geschäft gebraucht wurde. »Ich meine, ihr braucht doch auch sicherlich Hilfe bei der Ladenauflösung, oder?«

»Zuerst macht ihr bitte einfach mal Urlaub. Dabei könnt ihr gerne die Augen offen halten, ob ihr Erinnerungsstücke findet, die ihr behalten und mitnehmen möchtet. Was den Laden angeht, könnte ich wirklich Hilfe brauchen, aber das hat noch Zeit.« Meine Mutter stand auf und goss Teewasser nach. »Für die letzte Woche planen wir einen großen Ausverkauf, da können wir die Ladenhüter aus dem Lager holen und schauen, ob wir sie noch an die Leute bringen können.«

Ich warf einen unauffälligen Blick auf ihr Outfit, das aussah, als würde sie selbst einen dieser Ladenhüter tragen. Es handelte sich um ein selbst genähtes hellblaues Kleid mit unregelmäßigen grünen, blassgelben und roten Flecken. Damit erinnerte sie mich frappierend an eine dieser Landkarten, die früher im Erdkundeunterricht aufgehängt wurden. Meine Mutter war eine großartige Näherin, aber ihren Farbgeschmack musste man wohl als speziell bezeichnen. Sie nähte viele Kleidungsstücke selbst, was wohl einfach der Tatsache geschuldet war, dass ihr Geschmack in den wenigsten Klamottenläden zu finden war.

»Es könnte auch vorkommen, dass der Immobilienmakler in den kommenden Tagen kurz vorbeischaut«, teilte sie uns eine Spur ernster mit. Sie checkte unsere Reaktion und tauschte einen kurzen Blick mit unserem Vater, der ihr durch ein Nicken zu verstehen gab weiterzusprechen. »Es tut uns leid, aber es ließ sich leider nicht anders einrichten. Wenn ihr mögt, rufe ich Hauke an und frage nach dem genauen Zeitpunkt, wann er hier auftaucht, dann könnt ihr euch währenddessen etwas vornehmen und müsst nicht hier sein, wenn er die fehlenden Hausdaten aufnimmt.«

»Hauke?«, fragte ich. »Etwa Hauke Gerdes?«

»Ist das nicht dein ehemaliger Klassenkamerad?«, fragte Julia. »Der Bruder deiner Freundin Wiebke?«

»Ja, genau.« Ich erinnerte mich, vor Jahren gehört zu haben, dass er unter die Immobilienmakler gegangen war und sich selbstständig gemacht hatte.

»Ich möchte gern, dass jemand hier aus der Nähe den Verkauf übernimmt. Jemand, der weiß, was uns das Haus bedeutet. Ihr wisst ja, dass wir es am liebsten eines Tages in eure Hände gegeben hätten, wenn eine von euch in der Gegend geblieben wäre, aber unter diesen Umständen würden wir das nie von euch verlangen.« Die Augen unserer Mutter glänzten feucht. So sehr meine Eltern sich auch eine Verkleinerung wünschten, es fiel ihnen sichtlich nicht leicht, sich von dem Haus und den damit verbundenen Erinnerungen zu trennen.

»Wenn ihr mögt, können wir das heute beim Abendessen weiter besprechen«, sagte sie. »Bringt doch erst mal die Sachen auf eure Zimmer und richtet euch ein wenig ein, dann sehen wir weiter.«

Seit meinem Auszug vor zwölf Jahren hatte sich in meinem Zimmer nicht viel verändert. Das Bett aus Kiefernholz stand immer noch an der Längsseite des Raums, schräg gegenüber stand der dreitürige Kleiderschrank mit dem ausgeblichenen Pferdeposter hinter der mittleren Tür, daneben das blaue ausklappbare Sofa, für das ich damals mein Konfirmationsgeld geopfert hatte.

Ich räumte meine Klamotten in den Schrank und schrieb Marlies eine Nachricht, dass ich gut angekommen war, als ein leises Klopfen an meiner Zimmertür mich innehalten ließ.

»Herein.«

Die Tür öffnete sich, und Julia trat ein. »Hast du einen kurzen Moment?«

»Klar, setz dich.« Ich deutete auf das Sofa, klappte den Kleiderschrank zu und setzte mich meiner Schwester gegenüber auf das Fußende des Bettes. »Ist was passiert?«

Julia wiegte den Kopf hin und her. »Wie man es nimmt. Mama hat gerade erzählt, dass Hauke morgen schon zum Gespräch vorbeikommt.«

»Morgen? Sonntag?«

»Ja, das ist bei der Immobilienagentur wohl nicht unüblich. Viele Interessenten kommen von weiter weg und können nur am Wochenende an die Küste kommen. Hauke hat gestern eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, Mama hat sie aber gerade erst gesehen und abgehört. Letztlich ist es ja auch egal, an welchem Tag er aufkreuzt, ich möchte nur lieber nicht hier sein, wenn es so weit ist.«

Das konnte ich gut verstehen, denn mir ging es ähnlich. Ich konnte Hauke schon damals am besten aus der Ferne leiden, und meine Gefühle ihm gegenüber hatten sich nicht geändert, nun, da er sich dem Verkauf unseres Elternhauses annahm. »Wollen wir dann morgen was zusammen unternehmen?«

Julia lächelte mich erleichtert an. »Gern. Hast du eine Idee?«

»Na, ein Ausflug in den Ort natürlich. Ich war noch immer nicht am neuen Deck.« Der Promenadenbereich war in den vergangenen Jahren umgebaut worden und hatte einen neuen Namen erhalten, doch bislang hatte ich einfach nicht die Zeit gefunden, dem Areal einen Besuch abzustatten. Bei meinen letzten Aufenthalten in Norddeich hatte ich immer nur meine Eltern besucht und war bald darauf nach Oldenburg zurückgefahren. Für einen Besuch an der Strandpromenade hatte es nie gereicht, dafür lag unser Haus zu weit außerhalb des Ortes.

Meine Schwester musste nicht lange überlegen. »Das klingt gut, ich war auch noch nicht dort.«

»Wann will Hauke denn hier sein?«

»Mama sagte, so gegen Mittag.«

»Okay, dann ergreifen wir rechtzeitig die Flucht. Lass uns vorsichtshalber früh genug das Feld räumen.«

Ich freute mich auf den Ausflug mit meiner Schwester, vielleicht würden wir es während unseres Heimaturlaubs tatsächlich schaffen, etwas näher zueinanderzufinden. Nur weil uns das bislang nicht gelungen war, hieß es ja nicht, dass man diesbezüglich jede Hoffnung über Bord werfen musste.

Um kurz vor sechs rief uns unsere Mutter zum Essen. Julia und ich hatten uns in der Zwischenzeit überraschend gut unterhalten – zwar größtenteils über Belanglosigkeiten, aber immerhin. Ich hatte den Eindruck, dass auch sie sich wünschte, wir würden ein innigeres Verhältnis zueinander aufbauen.

Wir stiefelten die Treppe nach unten in die Küche, wo unser Vater gerade dabei war, den Tisch zu decken, während unsere Mutter am Herd stand und eine Soße anrührte.

»Können wir euch noch helfen?«, fragte ich.

»Nicht nötig, danke«, sagte meine Mutter über die Schulter, hob den Topf vom Herd und füllte die Soße in eine Schale.

»Wir sind ja froh, dass wir endlich mal wieder jemanden im Haus haben, den wir bekochen können«, fügte unser Vater hinzu. Er stellte verschiedene Schüsseln mit gekochten Kartoffeln, einer Gemüsemischung und selbst kreierten Linsenbällchen auf den Tisch.

Ich setzte mich neben Julia, die sofort damit begann, sich den Teller vollzuschaufeln. Man konnte wirklich meinen, in Hamburg sei eine Hungersnot ausgebrochen.

»Bin ich froh, mal wieder was Selbstgekochtes zu essen«, sagte sie mit vollem Mund.

»Kocht ihr denn zu Hause nicht?«, fragte unsere Mutter.

»Nö.« Julia nahm einen Schluck Wasser aus ihrem Glas. »Ich hasse es zu kochen, und Kai gibt dabei auch keine besonders gute Figur ab.«

»Geht ihr etwa jeden Abend essen?«

»Meistens essen wir in der Mittagspause was Warmes, abends gibt es dann nur noch eine Kleinigkeit.«

»Dann ist es ja gut, dass du hier bist. Wenn man immer auswärts isst, weiß man ja gar nicht, was so an Zusatzstoffen enthalten ist.«

Julia zuckte mit den Schultern. »Ich glaube, mein Körper ist daran gewöhnt. Außerdem ist es wohl besser für alle Beteiligten, wenn ich nicht selber koche. Wie sieht es bei dir aus, Schwesterherz«, wandte sie sich an mich, »schwingst du den Kochlöffel, oder teilen wir das fehlende Talent?«

»Ich koche eigentlich ganz gern«, erwiderte ich. Okay, wenn man es genau nahm, hatte ich mich seit der Trennung von Marc hauptsächlich mit Pizza und Fertigfraß vollgestopft. Das war wohl auch der Grund, warum mir nur noch zwei meiner Jeans passten.

Während unserer Beziehung hatten wir uns oft mit befreundeten Paaren zum gemeinsamen Kochen getroffen. Ich liebte diese geselligen Abende, aber am Ende wurde deutlich, dass mein Platz an Marcs Seite ebenso austauschbar war wie ein Leasingfahrzeug, das man durch ein neueres Modell ersetzte.

Wieder einmal nahm ich mir fest vor, mir nach meiner Rückkehr nach Oldenburg einen neuen Freundeskreis aufzubauen. Sollte ich jemals eine neue Beziehung eingehen, würde ich den Fehler, meine Freundschaften zu vernachlässigen, kein zweites Mal begehen. Vielleicht sollte ich mich im Fitnessstudio anmelden, um mehr unter Leute zu kommen, dann konnte ich auch gleich das Problem mit den nicht mehr passenden Jeans angehen.

Wie gern hätte ich eine Prise von Julias Charakter, denn sie schaffte es immer und überall, neue Freunde zu finden. Selbst nach der kürzesten Urlaubsreise kehrte sie mit neu gewonnenen Bekanntschaften nach Hause zurück.

Wir ließen uns das Essen schmecken und versprachen unserer Mutter, ihr am Dienstag bei den Vorbereitungen für den Ausverkauf des Ladens zu helfen. Im Anschluss machten Julia und ich einen Verdauungsspaziergang auf dem Deich entlang. Der Blick auf die Nordsee war malerisch, Wellen kräuselten sich an der Wasseroberfläche, Möwen kreisten über uns und stießen von Zeit zu Zeit einen durchdringenden Schrei aus. In der Ferne konnten wir eine weiße Fähre ausmachen, die in Richtung Norderney unterwegs war.

»Ich vergesse immer wieder, wie schön es hier ist«, sagte Julia.

Ich schloss die Augen und atmete die salzige Luft in tiefen Zügen ein. »Ich weiß genau, was du meinst. Vielleicht kommt es uns auch gerade jetzt so vor, weil wir wissen, dass wir zukünftig nicht mehr in unser Haus direkt am Meer zurückkehren können.«

»Wie geht es dir beim Gedanken an den Hausverkauf? Ich meine abgesehen davon, dass wir Hauke nicht begegnen wollen.« Sie grinste mir verschwörerisch zu.

Ich zuckte mit den Schultern. »Gute Frage. Ich kann Mama und Papa verstehen, sie werden nicht jünger, das Haus fordert viel Arbeit, und der Unterhalt ist nicht gerade günstig. Andererseits kann ich mir kaum vorstellen, dass jemand Fremdes hier wohnt. Es ist eben die Wiege unserer Familie, wenn man so will. Auch wenn sich das kitschig anhört.«

Unser Ururgroßvater Lübbo hatte das Haus in den Zwanzigerjahren gebaut. Er war ein entschlossener Mann, der das Herz am rechten Fleck trug. Als die Nazizeit ihre Schatten auch über Ostfriesland warf und Lübbos Sohn Ewald zum Kriegsdienst eingezogen werden sollte, meldete Lübbo sich freiwillig und übergab den Hof an seinen Sohn, obwohl er als Landwirt über eine »Unabkömmlichkeitsstellung« verfügte. Lübbo fiel wenige Tage nach seiner Abreise aus Norddeich, und Ewald haderte lange mit der ihm auferzwungenen Rolle. Er hatte eine künstlerische Ader, malte Bilder von der ostfriesischen Küstenlandschaft und später von den Fehn- und Moorgebieten, da seine Frau Kea aus Großefehn kam. Nach Ewald ging der Hof in die Hände von Oma Lene und Opa Heinz über, die die Letzten waren, die dort aktiv Landwirtschaft betrieben. Meine Mutter richtete sich schließlich in einem abgetrennten Teil der Scheune ihren Laden ein, und die übrige Fläche wurde als Stellplatz für Oldtimer, Wohnwagen oder landwirtschaftliche Geräte vermietet.

»Und wie geht es dir dabei?«, fragte ich.

»Ich versuche, vernünftig zu sein und die Dinge so zu sehen, wie du es gerade beschrieben hast, aber es fällt mir schwer. Ich fühle mich, als müsste ich nun mit einem Mal erwachsen werden.« Sie lächelte traurig. »Etwas, das ich in den letzten Jahren gekonnt vermieden habe.«

Selten hatten Julia und ich so offen miteinander gesprochen. Meinetwegen konnte es gern so weitergehen, denn mir gefiel die neue Art, wie wir miteinander umgingen.

Meine Schwester schien jedoch lieber das Thema wechseln zu wollen. »Meinst du, Hauke ist noch immer so ätzend wie früher?«

»Ich glaube kaum, dass sich so was verwächst. Ich kann gar nicht fassen, dass er in einem Beruf gelandet ist, wo er es mit Kundenbetreuung zu tun hat beziehungsweise damit, auf Menschen einzugehen. Autoverkäufer hätte zu ihm gepasst, dabei wäre ihm seine prahlerische Art sicherlich zugutegekommen, aber Immobilienmakler?«

Ein verschmitztes Grinsen schlich sich in die Züge meiner Schwester. »Wenn er uns blöd kommt, lassen wir uns etwas einfallen, wie wir ihn vergraulen können.«

Ich lachte auf. »Das hört sich nach einem guten Plan an.«

Wie hatte Oma Lene immer so schön gesagt: Nichts eint so sehr wie ein gemeinsamer Feind.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen wachte ich ausgeruht und voller Tatendrang auf. In Erinnerung an alte Zeiten hatte ich das Fenster in der Nacht offen gelassen, die Blätter der alten Rotbuche raschelten leise in der Brise, die vom Meer kam.

Ich tastete auf dem Nachttisch nach meinem Handy. Es war kurz vor sieben. Wenn ich mich beeilte, konnte ich die Zeit zu einer kleinen Tour in den Ort nutzen, um Brötchen für das Frühstück zu besorgen. Das hatte früher zu meinem Ferienprogramm gehört, und da wir hier ja in alten Zeiten schwelgen wollten, schien es mir eine gute Idee zu sein, meinen Tag auf diese Weise zu beginnen. Ich zog mich an und ging leise die Treppe runter, um meine Eltern und Julia nicht zu wecken.

In der Küche legte ich einen Zettel auf den Tisch, damit sich niemand Sorgen machte oder schon anderweitig Frühstück vorbereitete. Zum Bäcker waren es gute zweieinhalb Kilometer, also ging ich in den ausgebauten Abstellraum der Scheune, in dem sich früher der Schweinestall befunden hatte, um mir das Rad meiner Mutter zu leihen. Ich hatte gerade den Fahrradständer weggeklappt, als ich ein Kratzen auf der Holzdecke über mir hörte, wo sich der alte Heuboden befand. Ratten, schoss es mir durch den Kopf. In Windeseile war ich draußen und radelte drauflos. Es war ein angenehmer Morgen, die Sonne erfüllte die Gegend mit ihrem warmen Licht und malte durch die Baumwipfel der Bäume am Straßenrand Schatten auf den Asphalt.

Mein Weg führte mich am Nachbarhaus vorbei, einem Bauernhof, in dem noch aktive Landwirtschaft betrieben wurde. Hier wohnten Willm und Elisabeth Lüpkes mit ihrem Sohn Martin, den man jedoch nie zu Gesicht bekam. Der stechende Geruch von Silage lag in der Luft, hinter einem Weidetor neben dem Haus standen einige schwarzbunte Kühe und drehten ihre Köpfe in meine Richtung.

Aus dem geöffneten grünen Scheunentor trat ein hochgewachsener grauhaariger Mann mit einer Heugabel in der Hand. Er bemerkte mich und winkte. »Moin! Da bist du ja mal wieder, Lieschen Müller!«

Seit ich ein kleines Mädchen war, nannte Willm Lüpkes mich Lieschen Müller, und ich konnte es bis heute nicht ausstehen, diesen Namen aus seinem Mund zu hören. Sicherlich lag es auch daran, dass mein Name einfach keine Möglichkeit für einen klangvollen Spitznamen bot. Da hatte Julia es besser, sie wurde von ihren Freunden meist Juli genannt.

Willm Lüpkes kam an die Straße gelaufen, also hielt ich an und stieg vom Rad.

»Na, Lieschen Müller, wie geht’s? Wir haben uns ja schon lange nicht mehr gesehen.« Er grinste mich aus seinem wettergegerbten Gesicht an und stützte sich auf seine Heugabel.

»Aber doch wiedererkannt«, sagte ich. »Julia und ich verbringen ein paar Tage in der Heimat.«

»Wohnt ihr bei euren Eltern?«

Ich nickte. »Wie in der guten alten Zeit.«

»Schade, dass sie das Haus verkaufen wollen.«

»Ja, aber es nützt ja nichts, es ist ihnen zu groß.«

Willm Lüpkes warf einen Blick über die Schulter zu seinem Hof. »Zum Glück war das bei uns kein Problem. Unser Martin wollte den Hof schon von klein auf übernehmen, daher haben wir keine Nachwuchssorgen.«

Ich verkniff mir einen Kommentar, denn bei der letzten Feier, bei der ich mit Martin Lüpkes zusammengetroffen war, hatte er mir lallend unter Alkoholeinfluss gestanden, dass er viel lieber studiert hätte und mit der Landwirtschaft nicht besonders viel am Hut hatte.

»Ich muss leider weiter, Willm. Ich muss noch Brötchen für das Frühstück besorgen. Bestimmt sehen wir uns in den nächsten Tagen noch öfter.«

»Mach’s gut, Lieschen Müller.«

Ich stieg aufs Rad und setzte meinen Weg fort. Fast fühlte ich mich wie in einem dieser alten Filme, in denen eine Frau auf einem Fahrrad mit Weidenkorb am Lenkrad durch die blühende Landschaft fährt. Okay, das Rad meiner Mutter hatte einen Gitterkorb auf dem Gepäckträger und einen E-Antrieb, also hinkte dieser Vergleich etwas. Aber immerhin ließ ich die Unterstützung nur auf der niedrigsten Stufe laufen.

Ich schloss die Augen und nahm einen tiefen Zug der klaren, würzigen Morgenluft, als ich von rechts hinter einem Busch am Straßenrand ein metallisches Klimpern vernahm. Ich öffnete die Augen gerade noch rechtzeitig, um einem Hund auszuweichen, der von der Seite angeschossen kam und mir beinahe ins Vorderrad rannte. Ich geriet ins Schlingern, kam von der Straße ab und wäre fast im Graben gelandet, konnte mich aber gerade noch fangen, indem ich vom Sattel sprang und beide Füße fest in die Erde stemmte.

»Hey!«, rief ich dem Vierbeiner zu, der verdutzt stehen geblieben war und mich aus großen Augen unschuldig ansah. Es handelte sich um einen Golden Retriever, der offensichtlich bestens gepflegt war. »Hättest du deine Äuglein mal ein wenig früher aufgemacht, dann wären wir nicht fast zusammengestoßen.«

Ich blickte mich suchend nach dem Besitzer des Tieres um und entdeckte schließlich einen Mann, der ein Stück entfernt um die Kurve gerannt kam. Ich fasste den Hund am Halsband, damit er sich nicht wieder vom Acker machte.

Der Mann kam keuchend vor mir zum Stehen und stützte sich mit den Händen auf den Oberschenkeln ab. »Mistvieh!«, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Freut mich, ich bin Lisa.«

»Tut mir leid, aber Timmy benimmt sich heute unmöglich.« Der Mann sprach abgehackt und schien gar nicht so schnell atmen zu können, wie sein Körper nach Sauerstoff verlangte. »Er ist irgendeinem Tier hinterhergejagt, und ich bin seit einer halben Stunde unterwegs, um ihn einzufangen.«

Als der Mann sich aufrichtete, bekam ich die Gelegenheit, ihn genauer in Augenschein zu nehmen. Er war etwa einen halben Kopf größer als ich. Mit seinen vom Spurt etwas zerzausten dunkelblonden Haaren und dem gepflegten Dreitagebart sah er unglaublich gut aus. Er schaute mich aus schokoladenbraunen Augen aufmerksam an, und ich hatte das Gefühl, als würde mein Herzschlag irgendwie aus dem Takt geraten.

»Vielleicht hätten Sie ihn an die Leine nehmen sollen«, schlug ich vor, nachdem ich mich wieder im Griff hatte.

»Das wollte ich ja, ich leine ihn immer an, sobald wir das Ortszentrum verlassen.« Zum Beweis präsentierte er mir eine schwarze Leine, die in seiner Hand baumelte. »Er hat ja eigentlich auch gar keinen Jagdtrieb, darum ist es mir ein Rätsel, warum er plötzlich auf und davon war. Normalerweise trottet er nur neben mir her und lässt sich nicht mal zu einem Spurt hinreißen.«

»Dann scheint heute wohl ein besonderer Tag zu sein.«

»Den Eindruck habe ich auch.«

Unsere Blicke trafen sich, und wieder schaffte ich es kaum, mich von diesem tiefen Braun abzuwenden. Wenn man genau hinsah, fanden sich darin kleine goldene Punkte. Schokolade mit Karamellsplittern, schoss es mir durch den Kopf. Eine Mischung, für die ich eine ausgeprägte Schwäche hatte.

»Ist mit Ihrem Fahrrad alles okay?« Er deutete auf das Rad meiner Mutter, das ich am Straßenrand abgelegt hatte.

»Ja, es ist nichts passiert, ich konnte rechtzeitig anhalten. Timmy hat auch nichts abbekommen.« Ich tätschelte den Kopf des Hundes, und dieser sah mich hechelnd an, wodurch es, ganz typisch für diese Hunderasse, so aussah, als würde er lächeln.

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