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Marilyn und ich

Als Buch hier erhältlich:

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Reichen vier Tage, um ein Leben zu retten?

Korea 1954: Bereits seit einem Jahr herrscht eine fragile Waffenruhe in dem zerrütteten Land. Doch das Leben der Menschen ist nach wie vor überschattet von den Kriegswirren. Da wird Alice, eine junge Übersetzerin, die für die Amerikaner arbeitet, als Dolmetscherin für einen illustren Gast auserkoren: Marilyn Monroe wird vier Tage lang durch Korea reisen, um die amerikanischen Truppen zu unterhalten. Vier Tage, in denen sich der Hollywood-Star und die vom Krieg gezeichnete Übersetzerin kennen und verstehen lernen. Vier Tage, in denen Alice sich an der Seite der lebenshungrigen Schauspielerin ihren traumatischen Erinnerungen stellt. Doch wie soll Alice nach allem, was passiert ist, wieder in eine Normalität zurückkehren?

»Lees berührende Untersuchung des langen Schattens, den ein Krieg auf das Leben einer Frau wirft, bewegt beim Lesen zutiefst.«
Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 27.10.2020
  • Seitenanzahl: 240
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959675499

Leseprobe

An die

Twentieth Century Fox Film Corporation

Marketingabteilung

Sehr geehrte Damen und Herren,

mein Name ist Herbert W. Green. Ich diene im 31. Regiment der 7. Infanteriedivision im Koreakrieg. Ich habe großes Heimweh, und wenn ich Briefe schreibe, wird es noch schlimmer. Korea ist schrecklich. Sosehr ich mich auch bemühe, ich glaube, ich kann Ihnen die Trauer und das Entsetzen in diesem Land nicht ausreichend vermitteln. Ich frage mich, wo all diese Kinder auch heute wieder übernachten sollen, Kinder mit strubbeligen Haaren, die durch Bombenangriffe ihre Eltern und ihr Zuhause verloren haben. Ich bete, dass Gott sie segne, aber wie es scheint, will der Herr seine Gnade hier für geraume Zeit nicht walten lassen.

Nebenbei bemerkt liege ich derzeit in einem Lazarett bei Busan, einer Stadt im Süden des Landes. Wir wurden bei Hwacheon, einem Ort knapp oberhalb des 38. Breitengrads, versehentlich von alliierten Streitkräften mit Napalm bombardiert, und ich verlor eine Menge meiner Kameraden.

Zum Glück habe ich überlebt und bin in Behandlung. Ein Batzen Napalm traf mich am Gesäß und meine Haut ging in Fetzen auf, aber alles in allem kann ich mich nicht über meinen Zustand beklagen. Bei der kleinsten Berührung verbrennt die Stelle schwarz wie Kohle, so fürchterlich ist Napalm. Allein die Schreie der Sterbenden zu hören geht einem durch Mark und Bein.

Auf jeden Fall bin ich hier ans Bett gefesselt, zur Untätigkeit verdammt, und warte nur darauf, möglichst schnell wieder gesund zu werden. Ich langweile mich zu Tode und bin deprimiert. Ich schreibe Ihnen, weil ich Sie um einen Gefallen bitten möchte. Haben Sie Mitleid mit mir und erfüllen Sie mir meinen kleinen Wunsch!

Können Sie mir bitte ein neues Poster von Marilyn Monroe schicken? Meine Kameraden und ich und sogar der koreanische Bursche, der hier für uns Botengänge verrichtet, wir alle lieben Miss Monroe von ganzem Herzen. Ihr schönes Lächeln ist wie ein warmer Sonnenstrahl für uns einsame Seelen. Allein wenn ich ihr Poster betrachte, das ich über meinem Bett aufgehängt habe, scheinen die tagtägliche Müdigkeit und die Sorgen über die Zukunft wie weggewischt. Ich gehe nicht einmal zu den Aufführungen der United Service Organizations, denn lieber sehe ich mir Bilder von Miss Monroe an, als fremden Frauen auf den Hintern zu schielen. Sehr zu meinem Unglück hat irgendein vermaledeiter Kerl vor einigen Tagen all meine Fotos von Miss Monroe entwendet! Seither komme ich mir vor wie ein Verdurstender in der Wüste, ohne eine Flasche Wasser. Bitte haben Sie ein Einsehen und schicken Sie mir ein Poster von ihr. Ich habe gehört, dass Miss Monroe einen neuen Film dreht. Wenn Sie noch einige Werbefotos dazulegen würden, könnten wir alle hier wirklich eine schöne Zeit haben. Am liebsten wäre es mir selbstverständlich, Miss Monroe würde persönlich zu uns kommen, aber das wird wohl ein ewiger Traum bleiben. Trotzdem werde ich ihn weiterträumen und ersuche Sie inständig: Bitte schicken Sie uns die Fotos!

Im Vertrauen darauf, dass Sie sich meiner Bitte annehmen werden, bedanke ich mich im Voraus.

Ich wünsche Ihnen Gesundheit und alles Gute!

Mit herzlichen Grüßen

Herbert W. Green

PS: Falls Sie Miss Monroe treffen, richten Sie ihr bitte aus, dass wir alle hier dafür beten, dass sie das Glück immer begleiten möge.

EIN TAG IN SEOUL MIT FRÄULEIN ALICE

12. Februar 1954

Während ich zur Arbeit gehe, denke ich an den Tod.

Ich weiß, die wenigsten, die hier in Seoul zur Arbeit gehen, sind glücklich. Aber bestimmt fühlt sich kaum jemand so miserabel wie ich. Letzte Nacht suchten mich im Schlaf wieder grässliche Erinnerungen an den Tod heim. Ich wand und krümmte mich, wie eine Jungfrau, die ihre Unschuld schützen will, aber es war zwecklos. Ich wusste, dass nur eine luftige Baumwolldecke auf mir lag, dennoch strampelte ich mit den Beinen, um sie abzustreifen, als handle es sich um einen Mann, einen Sargdeckel oder die schwere Last der Erde, die in Gräber geschaufelt wird. Trost in dem Gedanken findend, dass die Nacht irgendwann enden und ich dem Tod nicht auf diese Weise gegenübertreten würde, gelang es mir, bis zur Morgendämmerung im Bett auszuharren. Nach der durchlittenen Nacht fühlte ich mich wie die Nylonstrumpfhose, die ich über den Schminktisch gelegt hatte, abgenutzt, aber zäh. Um wenigstens einigermaßen passabel auszusehen, kleisterte ich mich so grell mit Puder zu, dass sich die Dunkelheit, die mich belagerte, erschrocken verzog. Ich schlüpfte in die Strümpfe, meine Kleider und die fingerlosen Handschuhe aus schwarzer Spitze. Wie ich wohl ausgesehen habe, als ich so in aller Herrgottsfrühe auf die Straße trat, wo der eisige Februarwind meine Waden schonungslos peitschte? Hübsch wirkte diese Person wohl kaum, unter der dicken Schicht Make-up und mit Beinen, die vor Kälte zitterten wie Espenlaub. Schön war sowieso die letzte Eigenschaft, die man mit mir in Verbindung brachte. Erduldend passte besser zu mir, hübsch keinesfalls. Wer schön sein will, muss leiden, irgendwo habe ich diesen Satz gelesen, und ich befinde mich seit Jahren im Selbstversuch, wenngleich ohne große Hoffnung.

Wie gewöhnlich blicken mich die Menschen in der Straßenbahn verstohlen an. Missbilligend, versteht sich. Ich bin Alice, Alice J. Kim – meine aschgrauen Haare wasche ich mit Bier und verstecke sie unter einem violett gepunkteten Kopftuch. Ich trage einen schwarzen Wollmantel und dunkelblaue, an den Spitzen abgewetzte Schuhe aus Veloursleder, dazu Handschuhe, die an einen schwarzen Schleier erinnern, wie man ihn zu Begräbnissen aufhat und dem man nicht zu nah kommen möchte. Die Menschen mögen mich nicht, weil ich aussehe wie eine Puppe, die ein Mädchen aus dem Westen weggeworfen hat, nachdem es ihrer überdrüssig geworden ist. Wahrscheinlich, weil ich nicht in diese Stadt passe, in der vor Kurzem noch der Krieg wütete. Und weil ich zugleich ganz hervorragend zu ihr passe.

Kaum bin ich aus der Straßenbahn ausgestiegen, verfalle ich in einen raschen Schritt. Der Weg zur amerikanischen Militärbasis ist keineswegs zum müßigen Flanieren geeignet. Am Himmel über den matschigen Wegen kräuseln sich weiße Dunstschwaden. Wie Arbeiterinnen in der Hölle kochen Frauen Wäsche von amerikanischen Soldaten, den heißen Dampf, der aus halbierten Fässern aufsteigt, schweigsam hinunterschluckend. Ich wende schnell den Kopf ab, um Blickkontakt mit den Waisenkindern zu vermeiden, die gekürzte Militärkleidung tragen. Angesichts des verzweifelten Hungers in ihren klugen Augen ziehen sich mir die Eingeweide zusammen. Ich ignoriere die derben Scherze der Schuhputzer, die mich für eine Hure der Amerikaner halten, und betrete eilig den Stützpunkt. Unter den hellen morgendlichen Sonnenstrahlen glänzt Schnee auf den halbrunden Blechdächern der Nissenhütten. Sobald ich die Tür meines Büros öffne, strömt mir warme Luft entgegen. Die friedliche Behaglichkeit steht im krassen Gegensatz zur Welt da draußen. Die schwarze Underwood-Schreibmaschine thront artig auf dem Tisch und wartet wie ein Klavier darauf, dass ich die erste Taste anschlage. Zunächst setze ich jedoch Wasser auf. Eine Tasse Kaffee im Büro ist mein einziges Frühstück. Es klingt vielleicht lächerlich, aber wenn ich behauptete, der Kaffee habe nichts damit zu tun, dass ich für die amerikanische Armee arbeite, würde ich lügen. In der Ablage liegen bereits neue Dokumente, die ich heute wahlweise ins Englische oder Koreanische übertragen muss. Sie sind genau so formuliert, dass ich sie mit meinen Englischkenntnissen erledigen kann. Einfache und unwichtige Dinge. Als Erstes muss ich dem Sicherheitsministerium die Absicht mitteilen, dass die 8. Division des amerikanischen Armeekorps an den Zeremonien zum »Tag des Baums« teilnehmen will. Anschließend steht ein Bericht über die Planung des koreanisch-amerikanischen Freundschaftsturniers im Baseball an, das am amerikanischen Unabhängigkeitstag stattfinden wird. Kurz gesagt, ich tue alles Mögliche, was der Freundschaft zwischen den beiden Ländern keinen sonderlichen Nutzen bringt.

»Es ist saukalt, Alice. Seoul ist genauso kalt wie Alaska.« Hammett reißt die Tür weit auf und tritt mit seinem typischen breiten Grinsen ein.

»Alaska? Waren Sie schon mal da?«, erwidere ich, die Stirn wie immer dicht über der Schreibmaschine.

»Habe ich Ihnen nie davon erzählt? Dass ich eine Weile in Alaska stationiert war, bevor ich nach Camp Drake bei Tokio kam? Ein kleiner Vorposten war das, ein Stützpunkt namens Cold Bay. Dort war es wirklich kalt und trostlos. Genau wie hier.«

»Das will ich sehen.« Ich versuche mir eine Gegend auszumalen, die von Gott ebenso im Stich gelassen wurde wie Seoul, doch mir fehlt die Vorstellungskraft.

»Alice, ich habe großartige Neuigkeiten!«, ruft Hammett plötzlich und schlägt mit der Faust auf den Tisch.

So aufgeregt habe ich ihn noch nie gesehen. Vor Schreck drücke ich mehrfach auf die Y-Taste. Vogelspuren wandern über das Papier.

»Sie wissen doch, dass Marilyn Monroe Joe DiMaggio geheiratet hat, oder? Die beiden verbringen zurzeit ihre Flitterwochen in Japan und werden auch Korea besuchen! Das ist so gut wie gesetzt! General Christenberry hat sie um ein Konzert für die Truppe gebeten, und sie hat angeblich zugesagt! Die Monroe kommt nach Korea!«

Marilyn … Monroe. Ich rufe sie mir so, wie ich sie kenne, ins Gedächtnis. Ich sehe sie vor mir, während sie wie eine Meerjungfrau, die gerade laufen lernt, über die Leinwand stakst. Sie geht, als bestünden ihre Gelenke aus Wackelpudding, und sie lächelt, als wäre ihr das Gehirn abhandengekommen. Hammett starrt mich tadelnd an, weil ich auf die frohe Botschaft nicht so begeistert reagiere, als handele es sich um die Verkündung des Kriegsendes.

»Sie hat geheiratet?«

»Ja, Joe DiMaggio. Zwei amerikanische Idole leben nun zusammen unter einem Dach. Das war eine fette Schlagzeile!«

Ich erinnere mich vage, irgendwann in einer Zeitschrift über Joe DiMaggio gelesen zu haben. Ich weiß nicht viel über ihn, außer dass er ein berühmter Profibaseballspieler ist. Aber ich weiß zumindest, dass Marilyn Monroe und das Konzept von Ehe nicht zusammenpassen.

»Und es kommt noch besser. Man hat hier eine Angehörige der Streitkräfte als Dolmetscherin für die Monroe angefordert, und da habe ich Sie empfohlen. Sie sind zwar nicht bei der Armee, aber Sie haben ja die nötige Erfahrung. Alice, Sie begleiten die Monroe vier Tage lang als Kulturattachée. Ist das nicht großartig? Am liebsten würde ich der Monroe selbst hinterherlaufen. So wie Elliott Reid in Blondinen bevorzugt

Ich bin wie gelähmt vor Schreck und weiß nicht, was ich sagen soll. Dann frage ich mich urplötzlich, warum sie überhaupt in dieses verdammte Land kommt, das amerikanische Soldaten am liebsten nur mit dem Hintern ansehen würden, während sie ihrem Herrn danken, dass sie nicht hier geboren sind.

»Wir haben viel zu tun. Wir müssen mit der Band sprechen, die das Konzert begleiten soll. Außerdem müssen wir Geschenke besorgen, einen Blumenstrauß und diverse Souvenirs. Was wäre wohl passend? Traditionelles Kunsthandwerk findet sich überall. Wie wäre es – nur so als Idee –, wenn Sie ein Porträt von der Monroe malen? Stars mögen so was.«

»Por… Porträt?«, stottere ich. »Wenn Sie wirklich ein Porträt haben wollen, können Sie in der Bilderabteilung der PX nachfragen …« Ich spüre, wie ich rote Flecke am Hals bekomme.

Amüsiert darüber zeigt mein Gegenüber ein schelmisches Lächeln: »Nun … der beste Porträtmaler, den ich kenne, sind Sie, ja, wirklich.«

Mein Mund ist plötzlich ganz trocken. Ich bin verlegen wie eine junge Frau, die gesteht, schwanger zu sein: »Ich … ich habe schon lange nichts mehr gemalt. Und … ich kenne die Dame auch nicht gut.«

Hammett kommt in Fahrt und fuchtelt mit beiden Händen in der Luft herum: »Es gibt nichts Leichteres zu malen als Gesichter von Stars. Nur wer ein leicht zu malendes Gesicht hat, wird ein Star. Sie brauchen außerdem gar nichts über sie zu wissen. Die Monroe ist, was man von ihr sieht!«

Er singt ein Hohelied auf Marilyn Monroe und macht im gleichen Atemzug einen Narren aus mir. Je peinlicher mir das alles wird, desto köstlicher amüsiert sich Hammett. Als unsere Blicke sich treffen, verschwindet die Verschmitztheit abrupt aus seinem Gesicht. Der scharfe Blick hinter seinem gutmütigen Lächeln gibt schließlich das offene Geheimnis preis, dass er ein amerikanischer Nachrichtenoffizier ist.

In ernstem Ton fragt er: »Alice, warum malen Sie nicht wieder? Soweit ich mich erinnere, sind Sie eine ernsthafte Künstlerin, mehr als Sie selbst es vielleicht ahnen. Ist es nicht so?«

Ich bin verlegen, er hat mich aus dem Takt gebracht, und ich verliere die Kontrolle auf der Tastatur. Die Silben purzeln auf das weiße Blatt Papier wie abgebrochene Äste. Zum wiederholten Mal wird mir bewusst, dass er vielleicht der einzige Mensch ist, der sich an meine Vergangenheit, ja, meine glänzenderen Tage erinnert. Zumindest unter den Überlebenden.

»Nein … Wenn ich eine echte Künstlerin wäre, hätte mich der Tod bereits im Krieg geholt.«

Ich hebe die Tasse an die Lippen, als wolle ich Kaffee trinken, und murmele vor mich hin. Die Worte plumpsen in den schwarzen Sud, wie eine Jungfrau, die Suizid begeht. Ein kleiner Strudel entsteht, dessen dunkle Verwirbelungen sich tief in meinem Inneren ausbreiten.

Ich mache früher Feierabend als sonst und nehme eine Straßenbahn Richtung Namdaemun-Tor.

Einige Monate vor Ausbruch des Kriegs hatte ein besonnener Mensch ganz oben im Namdaemun-Tor zwischen einer koreanischen und einer amerikanischen Flagge ein Schild aufgehängt, auf dem »Welcome US Navy!« stand. Vielleicht hatte es an der unerschütterlichen Zuversicht des Textes gelegen, dass dieses alte Stadttor trotz des schweren Beschusses nicht eingestürzt war. Beim Anblick des Tors, nun der bekannteste Kriegsversehrte des ganzen Landes, fallen mir keine aufmunternden Worte mehr ein. Da sitzt es wie ohnmächtig, als wisse es nicht, wofür es sich weiter zu existieren lohnt, und als denke es darüber nach, die Stadt zu verlassen. Während ich vorübergleite, pflichte ich ihm bei.

Am Eingang des Chayu-Markts in der Nähe des Namdaemun-Tors wimmelt es von Passanten und Händlern sowie amerikanischen Soldaten, die sich an Ständen mit Anstecknadeln herumtreiben. Es herrscht ein babylonisches Sprachengewirr, bestehend aus den Dialekten von acht Provinzen, die sich mit dem Jargon der Großstädter und dem Slang der Amerikaner zu einem Höllenlärm vermischen. Mit eingezogenen Schultern kämpfe ich mich voran, immer darauf bedacht, mit niemandem zusammenzustoßen. Die Hektik und der Lärm, die der Markt verbreitet, nachdem die Kriegshandlungen Gott sei Dank ein Ende gefunden haben, sind nicht weniger Furcht einflößend als diese. Ich kann bei der Geschwindigkeit, mit der alles zurück ins Leben drängt, nicht mithalten und gehe vorsichtig einen Schritt zur Seite, um nicht im Weg zu stehen. Einem Mann mit Hut und Dokumenten unter den Armen sowie einer Frau, die ein Kind auf dem Rücken trägt und ein übergroßes Bündel auf dem Kopf hat, weiche ich ebenso aus wie einem Träger, der das Kunststück zelebriert, an seine Kraxe gelehnt zu schlafen, und betrete eilig den Markt.

Frau Chang, die mir ein Zimmer direkt neben dem Hauseingang vermietet hat, betreibt hier ein Bekleidungsgeschäft namens »Westwaren Mode«. Dort treffe ich auf eine Gruppe von Frauen, die sich zu einem System privaten Geldverleihs zusammengeschlossen haben und tratschen, während sie vor sich Chinaseide, Samt und ähnliche Stoffe ausgebreitet haben. Als ich den Raum betrete, stupsen sie sich gegenseitig an und verfallen in kollektives Schweigen. Ich bin an die gleichermaßen geringschätzigen wie neugierigen Blicke gewöhnt, begrüße Frau Chang und ignoriere die Übrigen. Sie organisiert die Vergabe der Privatkredite und hat auf ihrem purpurfarbenen Seidenrock Geldscheine ausgebreitet, die sie hastig einsammelt, bevor sie aufsteht.

»Ihr kennt Fräulein Kim, die bei mir wohnt, nicht wahr? Sie arbeitet als Stenotypistin für die amerikanische Armee. Blamiert euch nicht mit lächerlichen Versuchen, etwas auf Englisch zu sagen.«

Als das Wort »Englisch« fällt, beginnen die anderen Frauen sofort zu kichern und tauschen Anzüglichkeiten über englische Begriffe wie »quickie« und »whole night« aus. Die Gelegenheit ergreift Frau Chang beim Schopf und führt mich in eine Abstellkammer im hinteren Teil des Ladens. Als sie die Glühbirne anknipst, springen mir sofort die Markennamen auf den schwindelerregenden Mengen an Konservendosen, Zigaretten und Kosmetika ins Auge, alles Schmuggelware aus der amerikanischen Kaserne, sorgfältig gestapelt und ausgerichtet, wie die Spalten und Zeilen eines Kreuzworträtsels.

»Ich habe, worum Sie mich gebeten haben. Sehen Sie es sich an!«

Frau Chang blickt in Richtung des vorderen Ladenraums und bedeutet mir, die Stimme zu senken. Ich ziehe ein in ein Kalenderblatt eingewickeltes Pornomagazin aus der Tasche. Ich hatte einen der Botenjungen bei der Armee, der gewöhnlich auf mich hört und umgänglich ist, mit der Besorgung beauftragt. Frau Chang blättert durch die Zeitschrift und zieht die Augenbrauen hoch, während sie eine Blondine mit enormen Brüsten betrachtet.

»Oho, selbst da ist die amerikanische Ware besser, Donnerwetter.« Dann lächelt sie unbeholfen und sucht Zuflucht in einer Ausrede. »Ein Stammkunde sucht ja so etwas. Ich könnte natürlich auch welche organisieren, aber was bei mir landet, ist schon zu abgegriffen, um es zu verkaufen, weißt du?«

Ich möchte nicht auf ihre dürftige Lüge eingehen und drehe den Kopf zur Seite.

Die schlitzohrige Frau Chang will die Zeitschrift haben, um sie ihrem impotenten Mann vorzulegen. Während des Kriegs hat sie alle drei Kinder verloren. Das ist traurig genug, noch bemitleidenswerter ist aber ihr Versuch, ihren invaliden Mann, der den ganzen Tag einen furchtbar riechenden Kräuterextrakt trinkt, dazu zu animieren, dass er weitere Nachkommen mit ihr zeugt. Ich stelle mir vor, wie diese Frau im mittleren Alter, deren Schoß bereits zu verdorren beginnt, aus Sehnsucht nach ihren toten Kindern vor ihrem Mann den Playboy ausbreitet, wo er doch kaum aufrecht sitzen kann. Diese Szene erscheint mir irgendwie erotisch.

»Ich schäme mich, dass ich eine unbescholtene Jungfrau mit so einem Auftrag behelligen musste.«

»Kein Problem. Wer sagt denn außerdem, dass ich eine Jungfrau bin?«

Auf meine anzügliche Bemerkung reagiert Frau Chang mit einem missbilligenden Blick und gibt mir ein paar gute Worte mit auf den Weg: »Treib dich nicht zu lange draußen herum. Ich stell dir den Serviertisch vor die Tür. Bedien dich einfach.«

Obwohl sie schroff redet, ist sie die einzige Person, die sich darum sorgt, dass ich ordentlich esse.

Frau Chang ist berüchtigt für ihre Zielstrebigkeit, was sich auch daran erkennen lässt, wie schnell sie als nordkoreanischer Flüchtling erfolgreich hier im Süden Fuß gefasst hat. Sie ist anerkanntermaßen die raffgierigste und herzloseste Person auf dem gesamten Markt. Wenn sie sich also um mich sorgt, zeugt das nur von meinen erbärmlichen Lebensumständen.

Ich lernte Frau Chang in einem Flüchtlingslager auf der Geoje-Insel kennen. In ihren Augen bin ich nach wie vor ein ausgezehrter und leidender Flüchtling. Um die Wahrheit zu sagen, stand ich damals selbst in der armseligen Gruppe der Flüchtlinge am untersten Ende der Rangordnung und wurde von allen argwöhnisch betrachtet. Ich faselte zusammenhangloses Zeug im Hochkoreanisch der Seouler Bürger und gelegentlich auch auf Englisch. Ich fiel in Ohnmacht, kaum dass ich mich in eine Schlange einreihte. Mitten in der Nacht heulte ich und zerfetzte meine Decke. Die anderen schnalzten missbilligend mit der Zunge und zeigten mir die kalte Schulter. Ich war dort als die Verrückte verschrien, die im Ausland studiert hatte. Ich zementierte diesen Status schließlich durch einen Vorfall, den ich herbeiführte und der Frau Chang dazu veranlasste, ein wachsames Auge auf mich zu haben. Wahrscheinlich wird sie heute Abend nicht mehr auf meine Rückkehr warten, dennoch bin ich jedes Mal nervös, wenn sie mich schief ansieht, als müsste ich ihr etwas beweisen. Schon lange kommt es mir so vor, als hofften die Leute, ich würde meine Lebenskraft verlieren und elend zugrunde gehen. Das ist kein Verfolgungswahn. Gerade eben spüre ich es. Ich habe das Geschäft noch nicht einmal verlassen, schon zerreißen sich die Frauen ihr Maul über mein knochiges Becken. All ihre kritischen Bemerkungen darüber, wie unmöglich es für mich sein würde, ein Kind zu gebären, sprudeln aus ihnen heraus. Die Frauen würden es nicht glauben, selbst wenn ich daläge und vor ihren Augen unter Schmerzen niederkäme. Irgendwie bin ich zur Zielscheibe allen möglichen Spotts verkommen.

Alice J. Kim. Objekt der Verachtung.

Frauen nähern sich mir mit Argwohn, und Männer gehen fort, weil sie mich missverstehen. Gelegentlich tauchen Leute auf, die sich für mich interessieren, aber ihre Zahl ist äußerst überschaubar. Fremde, Linkshänder oder Menschen, deren ganzer Lebenssinn nur in Gutherzigkeit besteht. Jedenfalls ist allein mein Name schon Stein des Anstoßes.

»Was soll das sein, ›Alice‹? Will sie sich aufspielen, weil sie ein bisschen Englisch sprechen kann?«

Alice. Fast niemand kennt meinen richtigen Namen. Ja, wirklich nur wenige Menschen wissen, wann ich den Namen Kim Aesun abgelegt habe und zu Alice geworden bin. Wofür das J in der Mitte steht, weiß nur ich. Nur Frauen im ältesten Gewerbe der Welt oder Spione geben sich hierzulande einen einfach zu rufenden, ausländischen Namen. Somit habe ich entweder meine Eltern enttäuscht oder mein Land verraten. Die Leute halten mich für eine Prostituierte, die nur hohe amerikanische Offiziere bedient. Ich habe es schon einmal zu dem Beinamen UN-Matratze gebracht, der noch unverblümter ist als UN-Madam. Als ich davon Wind bekam, war ich dankbar, zumindest als jemand wahrgenommen zu werden, der für den Weltfrieden arbeitet. Doch sind die beiden unverrückbaren Pfeiler in der Wahrnehmung Fremder über mich, dass ich eine Hure bin und dass ich spinne. Ja, eine verrückte Hure, heißt es. Wenn ich ein Wetterphänomen wäre, wäre ich ein seltener Tag im Jahr, an dem es gleichzeitig blitzt und hagelt. Ein Unglückstag eben. Manchmal frage ich mich selbst, ob an diesem für eine Frau höchst vernichtenden Gerücht etwas dran ist. Ab und zu fasst jemand den Mut und fragt mich direkt: Ein amerikanischer Offizier zückte einmal seinen Geldbeutel und sagte mir, er wolle gern mit eigenen Augen sehen, ob das Geschlechtsorgan der asiatischen Frauen längs oder quer gewachsen sei. Ich erwiderte, dass es bei jeder Frau auf der ganzen Welt die gleiche Form habe wie bei seiner Mutter. Der Offizier räusperte sich daraufhin höflich und suchte das Weite. Dennoch ist ein Leben unter dem Schleier des Argwohns meiner Erfahrung nach nicht unbedingt schlecht. Auch wenn das Gerede äußerst obszön ist, schützt es mich manchmal besser, dass die anderen im Ungewissen über mich sind, als dass sie die Wahrheit kennen. Das Geheimnisvolle macht anderen Angst. Wenn ich kein Geheimnis hätte, wäre ich womöglich wirklich bettelarm geworden.

»Pass auf, ich habe viele Frauen gesehen, die im Krieg verrückt geworden sind: Eine Mutter stillte ihr totes Kind, eine fußlahme junge Frau, übersät von Narben der Bombensplitter, suchte überall auf Knien rutschend ihren jüngeren Bruder. Und eine alte Oma stürzte sich in enger Umarmung mit ihrem verkrüppelten Sohn am Hafen von Hŭngnam ins Meer.«

Das hörte ich einmal Frau Chang sagen, die damit vermutlich denjenigen den Wind aus den Segeln nehmen wollte, die sich abfällig über mich äußerten. Offensichtlich meint sie, die Leute sollten mich einfach als eine der vielen Frauen akzeptieren, die im Krieg ihren Verstand verloren haben. Trotzdem kann mich diese Frau, die sich als meine Beschützerin sieht, eigentlich nicht leiden. Allein ihrem Mutterinstinkt ist es zu verdanken, dass ich vorübergehend bei ihr Unterschlupf gefunden habe, weil das eigentliche Ziel ihrer Mutterliebe von einem Tag auf den anderen nicht mehr da war. Diese Art von Gefühlen habe ich zwar niemals besessen, aber ich frage mich, ob ihre Beschaffenheit nicht irgendwie der von Opium gleicht. Man kann sich sein Leben lang davon fernhalten, aber hat man einmal davon gekostet, kann man es sich kaum abgewöhnen. Mutterinstinkt ist etwas Großartiges, Starkes und Ursprüngliches. Daher waren die traurigsten Szenen im Krieg, die mich am meisten erschüttert haben, wenn ich Mütter neben den Leichen ihrer Kinder sah. Oder umgekehrt? Nein, beides trifft es nicht. Wo Mütter waren, gab es Nahrung und Tränen. Es ist schwer, jetzt mit bloßen Worten die herzzerreißenden Situationen zu beschreiben. Auf jeden Fall verwechselt mich Frau Chang mit ihrer Tochter und versucht andauernd, ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken. Es ist daher kein Wunder, dass sie mit mir unzufrieden ist. Frau Chang straft mich mit Verachtung, weil ich mir mit einem Geheimrezept die Haare wasche, das mir eine Prostituierte verraten hat, die bei den amerikanischen Soldaten ein und aus geht. Nämlich mit Bier. Das ist gewiss Anlass genug, auf jemanden herabzublicken, gleichwohl habe ich einen guten Grund dafür: Meine Haare sind frühzeitig ergraut. Vor langer Zeit bin ich über Nacht dermaßen gealtert. Seit diesem Herbsttag ist die ursprüngliche Farbe auf rätselhafte Weise verschwunden und nie wiedergekommen. Daher bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Haare mit Bier zu behandeln, um wenigstens jünger zu wirken. Dank des Biers haben meine unansehnlichen Haare zwar die Struktur von rostigem Draht, dennoch bin ich für den Augenblick damit zufrieden. Frau Chang kritisiert auch meine Kleidung. Mein Stil sei zu gewöhnlich. Da hat sie recht. Ich will nicht als eine gebildete Frau wahrgenommen werden. All das, was ich gelernt und erlernt habe, hat mir im entscheidenden Moment meines Lebens kein bisschen geholfen. Vielmehr waren es mein Intellekt und mein Talent, die mich in eine Falle geraten ließen. Obwohl beide nur sehr schwach ausgeprägt sind, so standen sie mir im entscheidenden Moment im Weg. Dann wäre da noch mein Charakter, der Frau Chang ebenso wenig gefällt: Sie wirft mir vor, von Natur aus hochmütig und misanthropisch zu sein. Doch damit liegt sie falsch. Menschen tun mir einfach weh. Tatsächlich habe ich Mitleid mit ihnen. Auf jeden Fall tut sie alles, um mich auf ihre schroffe Art zu beschützen, indem sie mich in ihrer Nähe behält. Noch eigenartiger ist, dass ich sie nicht verlassen kann, obwohl auch ich sie nicht sonderlich wertschätze. Unser besonderes Schicksal scheint uns auf unerklärliche Weise zusammenzuschweißen. Ich glaube, wenn Frau Chang meine blassbläulichen Wangen sieht, fühlt sie sich an den frostigen Wind in der Hölle des Hafens von Hŭngnam erinnert, der noch in ihrem Herzen weht. Vielleicht denkt sie beim Anblick meiner kalkweißen Stirn auch mit Schaudern an das DDT-Pulver, das auf der Geoje-Insel über uns versprüht wurde, während wir auf dem lehmigen Boden des Flüchtlingslagers saßen. Ohne es zu wollen, haben wir schicksalhafte Stunden geteilt. Wie alle, die den Krieg erlebt haben, verbinden uns das gemeinsame Leid und eine Zeit, in der Leben und Tod dicht beieinanderlagen. Vor allem aber weiß sie genau, wobei ich Erfolg hatte und worin ich versagt habe.

Überlebt zu haben, das ist mein Triumph, auch wenn ich zugleich am Leben gescheitert bin. Im Lager hatte ich versucht, mich zu erhängen. Allein Frau Chang habe ich es zu verdanken, dass ich wieder zur Besinnung kam. Wenn sie nicht zufällig des Wegs gekommen wäre und mich beherzt, nicht ohne eine unbeschreibliche Schimpfkanonade loszulassen, heruntergezogen hätte. Warum suchte ich den Tod, dem ich in Bombenhagel und Blutbad gerade erst entflohen war? Frau Chang versteht intuitiv, worauf ich selbst keine Antwort habe, und weicht nicht von meiner Seite, um über mich zu wachen. Wenn sie mich ansieht, liegt in ihrem Blick nicht einfach nur Mitleid, das eine ältere Frau gegenüber einer jüngeren hegt, sondern abgrundtiefes Bedauern, das eine vom Schicksal gebeutelte Frau gegenüber einer anderen empfindet, der das Unglück noch fremd ist. Die zurückliegenden Jahre haben mir die Erkenntnis gebracht, dass eine Frau ihre Kraft nicht aus dem Alter schöpft, sondern aus den überwundenen Tiefpunkten. Dennoch möchte ich diese Art von Weisheit ungern erlangen. Obwohl ich diesbezüglich alle Voraussetzungen erfülle, will ich nicht auf solch eine Art Stärke bauen. In dem Moment, in dem eine Frau merkt, wie stark sie ist, wird sie sich ihrer Einsamkeit bewusst. Für mich ist Einsamkeit nichts Erstrebenswertes, weswegen ich noch eine Weile dankend darauf verzichte.

Ich verlasse den Chayu-Markt und lenke meine Schritte in Richtung Stadtzentrum.

Durch die leicht geöffneten Lippen strömt so kalte Luft in meinen Rachen, dass sich eine dünne Eisschicht auf meiner Zunge bildet. Ich schiebe sie im Mund umher, als würde ich ein Bonbon lutschen, und schlucke den Frosthauch hinunter. Der Wind, der durch die öden Straßen fegt, schmeckt eigenartig süßlich. Es sind nicht viele Menschen unterwegs, vermutlich wegen der unwirtlichen Temperaturen. Sehr zu meiner Freude.

Als ich an der Kreuzung vor der Chosun-Bank stehe, hält eine überfüllte Straßenbahn vor mir. Die Tram, vollgestopft mit schwarzen Schöpfen, kommt mir wie eine Lunchbox vor, randvoll mit in Sojasoße eingelegten Bohnen. Die Mienen der Insassen sind ausdruckslos. Ich frage mich, wozu wir Augen, Nase und Mund haben, wenn wir sie nicht benutzen. Während ich, ohne mich zu rühren, die felsbrockengleichen, leblosen Kreaturen betrachte, beginnen tatsächlich Augen, Nasen und Münder in deren Gesichtern zu verblassen. Nur die schwarzen Haare bleiben übrig. Auf einmal verspüre ich ein Ziehen in der Brust, und mir wird schwindelig. Ich schließe schnell die Augen und wende mich ab. Als der Waggon aus meinem Blickfeld verschwindet, atme ich erleichtert auf, als hätte man mir das Korsett aufgeschnürt. Ich blicke mich um, in der Angst, jemand könnte meine Anwandlung mitbekommen haben. Gewiss eine Krankheit, gegen die es kein Medikament gibt. Ich reagiere immer noch überempfindlich, ein gleichermaßen mentaler wie auch körperlicher Reflex, wenn ich Menschenmassen sehe. Das ist ein ernsthaftes Problem, und es hat mit meiner Würde zu tun. Dass ich am ganzen Leib zittere, sobald ich im Gedränge stecke, passt nicht zu meinem Selbstverständnis als unabhängiger Mensch. Es macht mich nachgerade verrückt. Menschen, die mich in dieser Verfassung erlebt haben, stempeln mich als Irre ab. Sie erwarten vielleicht, dass ich mich mit Erklärungen verteidige, aber ich denke gar nicht dran.

Als ich am Hauptpostamt vorübergehe, fällt mir ein buckliges Mädchen auf, das davorsitzt. Es bettelt, am ganzen Körper zitternd und in eine alte Wolldecke gehüllt. Seine mageren Knöchel ragen unter dem zeitungspapierdünnen Rock hervor. Während die Kleine mit einem Löffel über einen leeren Kupfernapf schabt, wimmert sie herzzerreißend. Es hört sich verzweifelter an als ein Vaterunser. Wird das Mädchen zu einer Frau heranwachsen können, ohne missbraucht zu werden? Nur das macht mir Sorgen. Ich scheue mich, ihrem Blick zu begegnen, und wende mich ab. In diesem Moment höre ich ein Baby schreien. Erschrocken drehe ich mich um, der Buckel des Mädchens bewegt sich plötzlich und ein helles Köpfchen kommt zum Vorschein. Die Kleine hat also gar keinen Buckel, sondern trägt ein Baby auf dem Rücken, vermutlich ein Geschwisterchen. Obwohl es nicht nach meiner Muttermilch bettelt, zucke ich zusammen und greife mir an die Brust. Das Baby wirft den Kopf in den Nacken und plärrt, während das Mädchen, zu schwach, um den schreienden Fratz zu besänftigen, die Augen gen Himmel verdreht und etwas vor sich hin murmelt. Seine schwarzen Pupillen sind stumpf. Darin spiegelt sich weder Hoffnung noch ein wie auch immer gearteter Traum. Wahrscheinlich hat das Mädchen von solchen den Alltag übersteigenden Vorstellungen noch nicht einmal gehört. Ich stöbere hastig in meiner Tasche und finde einen angebrochenen Schokoladenriegel, den ich ihr hinwerfe. Dann sehe ich zu, dass ich fortkomme. Die Schokolade wird den Hunger des Mädchens nicht stillen, sondern es lediglich mit der süßen Verlockung bekannt machen. Unfähig, den Geschmack zu vergessen, wird die Kleine weiter durch die Straßen ziehen, ihr Gefühl der Scham verbergend. Das ist die hochheilige Aufgabe von Hershey’s-Schokolade, der Freundin des Kriegs, der Soldaten und der Kinder.

»Alice, hast du gestern ›Weiblich und frei‹ gelesen? Was glaubst du? Will die Frau von Professor Chang mit dem Nachbarn ins Bett? Meiner Meinung nach ist das sonnenklar. ›Der Mann von nebenan‹ – schon das klingt doch irgendwie verführerisch, oder? Die Geschichte bewegt sich irgendwo zwischen Seifenoper und Erotikroman.«

Yusa plappert ohne Punkt und Komma vor sich hin, während sie in den Flammen des Holzofens, die jeden Moment zu verlöschen drohen, geduldig einen Metallstab erhitzt. Die Myeongdong-Arztprais, in der Yusa an der Rezeption arbeitet, liegt ein ganzes Stück vom Zentrum des gleichnamigen Stadtviertels entfernt, weshalb nie viel los ist, wenn ich sie besuchen komme. Für eine Frohnatur wie sie, die den ganzen Tag Tanzmusik im Ohr hat, ist die Arbeit dort viel zu eintönig.

»Egal wo ich hingehe, jeder spricht von ›Weiblich und frei‹«, bemerke ich. »Dabei gibt es wohl kaum zwei Begriffe, die gegensätzlicher sein könnten als diese beiden – ›frei‹ und ›weiblich‹.«

Auf dem Tisch liegt die Seoul Zeitung, in der dieser Fortsetzungsroman, der in aller Munde ist, täglich erscheint. Yusa verschlingt jede Episode mehrmals mit Begeisterung.

»Alice, dein altjüngferlicher Sarkasmus ist unmöglich. Weißt du, das ist es, was Männer hassen. Eins, zwei, drei …«

Yusa zählt langsam bis zwanzig, während sie sich mit dem mittlerweile heißen Metallstab den Pony einrollt. Als sie den Stab herauszieht, fällt eine armselige Locke herunter, wie eine in Wasser eingeweichte Alge – von natürlich wirkenden Hollywooddauerwellen à la Jean Harlow, wie Yusa sie sich wünscht, weit entfernt. Zur Entschädigung bedeckt sie schnell ihr Gesicht mit einer weiteren Lage Coty-Puder. Dann wechselt sie den Rock, indem sie in dem leeren Untersuchungszimmer, auf dem Polster der Liege sitzend, mit ihrem Hintern hin- und herrutscht. Wenn ich ihre runden Pfirsichwangen sehe, frage ich mich, was sie dazu bewogen hatte, eine Stelle als Militärkrankenschwester anzunehmen.

Was sie in erster Linie dazu gebracht hat, war wohl der Wunsch, einen Platz auf einem der Evakuierungszüge zu ergattern, während der dritten Schlacht um Seoul im Januar 1951. Sie war Hals über Kopf zum Rekrutierungsbüro im Donhwamun-Tor des Changdeokgung-Palasts geeilt, nachdem sie eine entsprechende Anzeige der Armee in einer Zeitung entdeckt hatte. Direkt nach der Unterschrift erhielt sie den Befehl, sich umgehend zur Yongdeungpo-Station zu begeben. Also rannte sie quer über den zugefrorenen Han-Fluss zum Bahnhof, doch der letzte Evakuierungszug war gerade weg. Yusa fand schließlich noch Platz in einem Zug voll Kriegsverletzter, wo sie sofort begann, sich um die Männer zu kümmern und ihre Bettpfannen zu entsorgen. So verbrachte sie einige anstrengende Tage in dem Zug, der tagsüber stand und nur nachts fuhr. Als die Waggons eines Nachts in den frühen Morgenstunden in einem namenlosen Dorf anhielten und Yusa im spärlichen Licht der Dämmerung, das durch die Fenster drang, die Essensreste der Kriegsverletzten vom Boden aufklaubte und gierig verschlang, überkam sie abgrundtiefe Schwermut.

In Busan, im Süden des Landes, angekommen, schlüpfte sie in den Uniformkittel der amerikanischen Armee und erhielt eine Grundausbildung. Kaum war sie jedoch mit dem Training fertig, gab sie aus Sorge um ihre Familie ihren Traum wieder auf, Krankenschwester zu werden. Die Zeiten mit Krieg und Flucht hatten auch ihr viel Leid gebracht. Genau genommen ist es noch nicht sehr lange her, dass sie begonnen hat, sich das Gesicht zu pudern und sich zurechtzumachen. Ich kann verstehen, warum sie danach lechzt, ihre Weiblichkeit zu betonen. Eine Blume blüht gerade einmal zehn Tage, aber der Frühling einer Frau ist noch kürzer, sagt man. Viele solcher Lenze hat der Krieg in diesem Land im Keim erstickt. Allein die Tatsache, dass sie überlebt hat, gibt Yusa das Recht, in voller Schönheit zu erblühen.

»Gehst du heute Abend auch in den Offiziersclub? Du könntest schon mehr Elan beim Tanzen zeigen.«

Bei meiner spöttischen Bemerkung sieht mich Yusa schräg an und lacht selbstbewusst.

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