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Man liebt nicht nur zur Weihnachtszeit

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Süßer die Herzen nie schmelzen

Ein Leben in der Kleinstadt hatte Camryn Neff für sich nicht vorgesehen. Doch nach dem Tod ihrer Mutter zog sie nach Wishing Tree, Washington, um das Familiengeschäft zu übernehmen. Als sie von dem Projekt »Jakes Braut« hört, ist Camryn zunächst amüsiert. Dann soll sie selbst als Frau für Jake kandidieren. Zu dumm, dass sie ihn tatsächlich attraktiv findet ... Camryns Freundin River soll dagegen die Rolle der Schneekönigin übernehmen und damit allen Weihnachtsveranstaltungen der Stadt vorstehen. Nie hätte River erwartet, dass ausgerechnet ihr Schneekönig Dylan Tucker ihr Herz zum Schmelzen bringen würde. Doch er hütet ein Geheimnis, das ihr die Festtagsstimmung gründlich verdirbt. Aber wenn man liebt, dann nicht nur zur Weihnachtszeit!

»Mallery fängt in ihrem zweiten Wishing-Tree-Roman gekonnt die festliche Stimmung ein. Wenn man dann noch die unbestreitbare Weihnachtsatmosphäre hinzufügt, ist dieser Wohlfühlroman unwiderstehlich.« Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 26.09.2023
  • Aus der Serie: Wishing Tree
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905881
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

»Ihre Zähne sind ganz wunderbar, Camryn. Haben Sie als Kind eine Spange getragen?«

Camryn Neff ermahnte sich, dass es sich bei der Frau, die ihr gegenübersaß, nicht nur um eine sehr wohlhabende potenzielle Kundin handelte, sondern sie selbst auch dazu erzogen worden war, älteren Mitmenschen gegenüber höflich zu sein. Dennoch musste sie sich sehr anstrengen, um bei dieser seltsamen Frage nicht vom Stuhl zu kippen.

»Nein. Die sind so gewachsen.«

Hm, das klang irgendwie komisch. Allerdings hatte sie auch keine Erfahrungen mit Unterhaltungen, die plötzlich ins Dentale abglitten.

Schnell konzentrierte sie sich wieder auf das eigentliche Thema ihres Meetings. Wobei sie auch da nicht sicher war, warum Helen Crane, Leiterin der Wishing Tree Society und alleinige Besitzerin des beeindruckenden Crane-Hotels, sich mit ihr hatte treffen wollen. Die Bitte, sich heute um zwei Uhr mit ihr in dem weitläufigen Anwesen am Wolfsee zu treffen, war in Form einer handgeschriebenen Einladung gekommen.

Und so hatte Camryn das Kostüm angezogen, das seit über einem Jahr ungetragen in ihrem Kleiderschrank hing, und war hergefahren. Der Dresscode für den Einzelhandel in Wishing Tree und der für den Job in der Finanzwelt, den sie in Chicago zurückgelassen hatte, waren sehr unterschiedlich. Und auch wenn es Spaß gebracht hatte, ihre wunderschönen Stiefel abzustauben, ihre Seidenbluse hervorzuholen und festzustellen, dass der Rock ihr noch passte, war sie nun bereit, auf den eigentlichen Punkt ihres Treffens zu kommen.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Mrs. Crane?«, fragte sie.

»Nennen Sie mich doch bitte Helen.«

Camryn lächelte. »Helen. Ich richte gerne eine Einpackparty aus. Entweder hier oder in meinem Laden. Wenn es Ihnen lieber ist, kann ich auch alle Ihre Geschenke abholen und für Sie einpacken.«

Unauffällig schaute sie sich in dem Raum mit den hohen Decken um. Es gab einen riesigen Kamin, reich verzierten Stuck und einen Blick auf den See, der selbst bei einem halben Meter Schnee spektakulär war. Auch wenn es ein paar bezaubernde Blumengestecke gab, konnte sie nirgendwo einen Anflug von Weihnachtsschmuck entdecken. Was für die Woche vor Thanksgiving in Wishing Tree allerdings typisch war, denn hier wurde traditionell erst am Freitag danach geschmückt.

»Ich habe ein paar Geschenkpapiermuster dabei«, fuhr sie fort und holte mehrere Bögen aus ihrer Aktentasche. »Das Design kann natürlich angepasst werden, und es ist kein Problem, die Farben auf die Dekorationen abzustimmen, die Sie für dieses Jahr geplant haben. Verpackte Geschenke unter dem Baum sind ein so eleganter Touch.«

»Sie sind sehr gründlich«, murmelte Helen. »Beeindruckend.« Sie machte sich eine Notiz. »Sind Sie verheiratet, meine Liebe?«

»Was?« Unwillkürlich umklammerte Camryn die Geschenkpapiermuster. »Nein.«

Helen nickte. »Ihre Mutter ist letztes Jahr verstorben, nicht wahr?«

Es war, als zöge sich ein Eisenring um Camryns Herz zu. »Ja. Ende Oktober.«

»Ich erinnere mich an sie. Sie war eine bezaubernde Frau. Sie und Ihre Schwestern müssen am Boden zerstört gewesen sein.«

So kann man es auch ausdrücken, dachte Camryn grimmig. Der Verlust hatte ihr Leben in seinen Grundfesten erschüttert. Innerhalb weniger Wochen war sie von einer relativ sorgenfreien, verlobten, glücklichen Juniormanagerin in Chicago zum Vormund ihrer beiden Zwillingsschwestern geworden und hatte gleichzeitig dafür sorgen müssen, Schleifchen drum, die Papeterie der Familie, am Leben zu halten. Die ersten Monate nach dem Tod ihrer Mutter waren im Rückblick immer noch verschwommen. Das Einzige, woran sie sich von den Feiertagen im letzten Jahr erinnerte, war eine alles durchdringende Traurigkeit.

»Dieses Jahr wird die Adventszeit so viel fröhlicher werden«, sagte Helen mit fester Stimme. »Victoria und Lily machen sich in der Schule großartig. Natürlich vermissen sie ihre Mutter noch, aber sie sind glückliche, gesunde Teenager.« Sie lächelte. »Ich weiß, dass diese Jahre herausfordernd sein können, aber ich muss zugeben, dass ich sie mit Jake sehr genossen habe.«

Camryn runzelte leicht die Stirn. »Woher kennen Sie die beiden?«

Helens Lächeln blieb fest. »Das hier ist Wishing Tree, meine Liebe. Jeder weiß mehr, als die anderen denken. Nun, Sie fragen sich vermutlich, warum ich Sie heute hierher eingeladen habe?«

»Um über Geschenkpapier zu sprechen?« Doch noch während Camryn das sagte, ahnte sie, dass das nicht der wahre Grund war.

Helen Crane war beinahe sechzig. Sie hatte eine perfekte Haltung und kurze dunkle Haare. Ihr Blick war direkt, ihre Kleidung stylish. Sie sah aus, als hätte es ihr nie an etwas gefehlt. Und als wäre sie es gewohnt, ihren Willen durchzusetzen.

»Natürlich werden Sie sich um alle meine Verpackungen kümmern«, sagte sie leichthin. »Und mir gefällt Ihre Idee, das Geschenkpapier für die Dekopäckchen auf den übrigen Weihnachtsschmuck abzustimmen. Ich werde meiner Dekorateurin Bescheid sagen, dass sie sich mit Ihnen in Verbindung setzt. Aber der wahre Grund, warum ich Sie hergebeten habe, ist, um über Jake zu reden.«

Camryn hatte Schwierigkeiten, ihr zu folgen. Der Auftrag für das Einpacken der Geschenke war eine gute Neuigkeit, aber warum wollte Helen mit ihr über ihren Sohn reden?

Sie wusste, wer Jake war – jeder in der Stadt kannte ihn. Er war der attraktive, erfolgreiche Erbe des Crane-Hotel-Vermögens. Auf der Highschool war er der Star der Footballmannschaft gewesen. Danach hatte er in Stanford studiert. Nachdem er das Hotelgewerbe in einigen kleineren Crane-Hotels von der Pike auf gelernt hatte, war er nach Wishing Tree zurückgekehrt und hier zum General Manager des größten, luxuriösesten Hotels der Kette ernannt worden.

Als Kinder hatten sie nicht viel miteinander zu tun gehabt, was zum Teil daran lag, dass sie ein paar Jahre jünger war als er. Ihre einzig echte Verbindung mit Jake war die Tatsache, dass er einst mit ihrer Freundin Reggie verlobt gewesen war.

Helen seufzte. »Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Jake, wenn man ihn sich selbst überlässt, mir niemals Enkelkinder schenken wird. Vor achtzehn Monaten habe ich meinen Ehemann verloren, was sehr schwer für mich war. Es ist an der Zeit, dass mein Sohn jemanden findet und heiratet, um mir die Enkel zu geben, die ich verdient habe.«

Tja, das lässt die »Haben Sie eine Spange getragen«-Frage in einem ganz anderen Licht erscheinen, dachte Cam und war nicht sicher, ob sie lachen oder Mitleid mit Jake empfinden sollte. Seine Mutter war eine mächtige Frau, mit der Camryn sich auf keinen Fall anlegen wollte.

»Mir ist nicht ganz klar, was das mit mir zu tun hat«, gestand sie.

Helen tippte auf den Block auf ihrem Schoß. »Ich habe einen Plan. Ich nenne ihn Projekt: Jakes Braut. Ich werde für meinen Sohn eine Frau finden, und Sie sind eine potenzielle Kandidatin.«

Camryn verstand zwar die individuellen Worte, die Helen sagte. Aber zusammengefügt ergaben sie für sie überhaupt keinen Sinn.

»Entschuldigen Sie, aber … was?«

»Sie sind hübsch. Sie sind klug. Sie haben sich bei Schleifchen drum prima geschlagen. Sie sind fürsorglich – da muss man sich nur ansehen, wie Sie sich um Ihre jüngeren Schwestern kümmern.« Wieder lächelte Helen. »Ich gestehe, mir gefällt die Idee, sofort Enkel zu haben, das ist also ein Plus für Sie. Natürlich gibt es noch andere Kandidatinnen, aber Sie stehen definitiv sehr weit oben auf der Liste. Ich brauche jetzt nur noch eine Bestätigung Ihrer Frauenärztin, dass Sie fruchtbar sind, und dann können wir uns daranmachen, dafür zu sorgen, dass Sie und Jake sich ineinander verlieben.«

»Sie wollen wissen, ob ich fruchtbar bin?«

Camryn steckte die Geschenkpapiermuster in die Aktentasche zurück und stand auf. »Mrs. Crane, ich weiß nicht, was Sie glauben, in welchem Jahrhundert wir leben, aber das hier ist keine Unterhaltung, die ich bereit bin, mit Ihnen zu führen. Meine Fruchtbarkeit geht Sie nichts an. Genauso wenig wie mein Liebesleben. Sie sollten Ihren Plan noch einmal überdenken. Und vielleicht einen Termin bei Ihrem Arzt machen, denn irgendetwas stimmt mit Ihnen nicht.«

Helen wirkte erstaunlich ungerührt. »Sie haben recht, Camryn. Ich entschuldige mich. Die Fruchtbarkeit zu erwähnen, ging ein wenig zu weit. Sie sind die erste Kandidatin, mit der ich spreche, deshalb verzeihen Sie, wenn ich noch ein wenig ungeschickt bin.« Sie machte sich erneut eine Notiz. »Ich werde das Thema nicht wieder anbringen. Aber was den Rest angeht: Was halten Sie davon?«

Camryn ließ sich wieder auf den Sessel sinken. »Lassen Sie das lieber bleiben. Ihm ein wenig auf die Sprünge zu helfen, ist eine Sache, aber Sie sprechen davon, eine regelrechte Kampagne zu starten, um eine Braut für Ihren Sohn zu finden. Und das geht einfach nicht. Zum einen, weil Sie ihn damit vermutlich ziemlich verärgern, und zum anderen, weil eine Frau, die bereit ist, bei so etwas mitzumachen, niemand ist, den Sie in Ihrer Familie haben wollen.«

Helen nickte langsam. »Ein interessanter Punkt. Es ist nur … In den Realityshows sieht das alles immer so leicht aus.«

»Glauben Sie mir, nichts an diesen Shows ist leicht. Die Beziehungen halten nicht. Jake wird schon jemanden finden. Geben Sie ihm etwas Zeit.«

»Ich habe ihm schon zwei Jahre gegeben. Ich werde nicht jünger, wissen Sie.« Ein wehmütiger Ausdruck trat in ihre Augen. »Ich will doch nur Enkelkinder.«

»Wenn Sie mich am richtigen Tag fragen, können Sie die Zwillinge haben.«

Helen lachte. »Ich wünschte, das wäre wahr.« Dann wurde sie wieder ernst. »Kennen Sie meinen Sohn?«

»Nicht wirklich.«

»Wir könnten mit einem Kaffeetrinken anfangen.«

Camryn seufzte. »Helen, ernsthaft. Das wird nicht klappen. Lassen Sie ihn selbst sein Mädchen finden.«

»Aber das tut er nicht. Das ist ja das Problem. Nun gut, ich sehe, dass ich Sie nicht davon überzeugen kann, mitzumachen. Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.« Sie stand auf. »Was ich über das Verpacken gesagt habe, meinte ich ernst. Ich werde alle meine Geschenke zu Ihnen in den Laden liefern lassen. Und meine Weihnachstdekorateurin meldet sich, was das Papier angeht.«

»Unterscheidet sich Ihre Weihnachstdekorateurin von Ihrer normalen Dekorateurin?«, platzte es aus Camryn heraus, bevor sie sich zurückhalten konnte.

Helen lachte leise. »Ja. Mein normaler Dekorateur ist temperamentvoll und erschaudert bei dem Gedanken an Fröhlichkeit und Traditionen. Vor ein paar Jahren war er kurz vor Weihnachten hier und wäre beim Anblick des Weihnachtsbaums im Wohnzimmer beinahe ohnmächtig geworden.«

Sie beugte sich vor und senkte die Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Er ist mit all den Basteleien geschmückt, die Jake für mich gemacht hat, als er noch klein war. Es gibt Handabdrücke in Gips und kleine Sterne aus Lollistielen. Mein Lieblingsornament ist eine Thunfischdose mit einem winzigen Jesus darin. Er liegt auf Stroh, und über ihm leuchtet ein Stern.« Sie presste ihre Hände aufs Herz. »Allein bei dem Gedanken kommen mir die Tränen.«

Das Jesuskind in einer Thunfischdose? Helen war eine sehr seltsame Frau.

Camryn nahm ihre Aktentasche und folgte Helen zur Haustür. Dort schaute die ältere Frau sie noch einmal an.

»Sind Sie sicher, dass Sie nicht an Projekt: Jakes Braut teilnehmen wollen?«

»Ja. Ganz sicher«, sagte Camryn mit fester Stimme, um bloß keinen Zweifel aufkommen zu lassen.

»Wie schade. Aber ich schätze Ihre Ehrlichkeit.«

Camryn ging zu ihrem SUV und legte die Aktentasche auf den Rücksitz. Sobald sie hinter dem Lenkrad saß, schaute sie noch einmal zu dem dreistöckigen Haus, das sich stolz vor dem Schnee und dem grauen Himmel erhob.

Reiche Leute sind wirklich anders, dachte sie und fuhr los in Richtung Hauptstraße. Und zwar auf ziemlich verrückte Art.

Sie bog links auf die Nördliche Schleifchenstraße ein. Als sie den Zypressen-Highway erreichte, hielt sie sich zunächst rechts, um auf kürzestem Weg in die Stadt zurückzukommen. Doch in letzter Minute entschied sie sich, geradeaus weiterzufahren. Es geht mich nichts an, sagte sie sich. Vielleicht wusste Jake ja von den Plänen seiner Mutter. Womöglich hieß er sie sogar gut.

Okay, das wohl nicht, dachte sie, während sie am Outletcenter vorbeifuhr und dann auf den Hemlocktannen-Highway abbog, der in die Berge führte. Sie kannte Jake zwar nicht gut, aber Reggie war für ein paar Monate mit ihm zusammen gewesen. Sie war eine Süße, die niemals mit einem Armleuchter ausgehen würde. Also musste Jake ein normaler Mann sein, und normale Männer hießen es nicht gut, wenn ihre Mütter versuchten, eine Frau für sie zu finden.

Außerdem bezweifelte sie, dass Jake in dieser Hinsicht Unterstützung brauchte. Er war groß, sportlich und sah gut aus. Sie hatte ihn schon öfter an ihrem Laden vorbeijoggen sehen und gab gerne zu, dass sie den Anblick jedes Mal sehr genossen hatte. Und er war reich. Männer wie er brauchten keine Hilfe, um Frauen kennenzulernen.

Das Eingangsschild des Resorts kam in Sicht. Camryn verlangsamte und seufzte, als sie vor dem Hotel vorfuhr. Vielleicht war das hier ein Fehler, aber sie konnte das, was sie eben erfahren hatte, nicht für sich behalten. Das wäre so, als würde man jemanden nicht darauf aufmerksam machen, dass er Toilettenpapier am Schuh kleben hatte.

Wenn Jake es bereits wusste, würde es eine kurze Unterhaltung werden. Wenn es ihm egal wäre, würde er in ihrer Achtung stillschweigend ein wenig sinken. Und wenn er so entsetzt wäre, wie sie es annahm, hatte sie ihre gute Tat für diese Woche erledigt. Was auch immer passierte, sie hätte das Richtige getan und könnte heute Nacht gut schlafen. Manchmal war das das Höchste, was sie erwarten konnte.

Jake Crane stand am Fenster seines Büros und schaute hinaus auf die Berge. Die Luft war still, der Himmel grau. Über Nacht waren ungefähr sechzig Zentimeter Pulverschnee gefallen. Sein Meeting um vierzehn Uhr war auf die nächste Woche verschoben worden, und die Sonne würde erst in zweieinhalb Stunden untergehen. Es gab also keinen Grund, warum er sich nicht seine Ausrüstung schnappen und mit dem Snowboard rausgehen sollte. Danach könnte er immer noch ins Büro zurückkehren und seine Arbeit beenden. Einer der Vorteile seiner Position war die Möglichkeit, seine Arbeitszeit flexibel zu gestalten, wenn er wollte. Nur wollte er gar nicht snowboarden.

Oh, er liebte den Sport, den Rausch der Geschwindigkeit, die Herausforderung, die Balance zu halten und sich selbst am Berg zu beweisen. Er genoss die Kälte, die Geräusche, das Adrenalin, wenn er eine schwierige Abfahrt gemeistert hatte. Er mochte es, draußen zu sein. Nur nicht allein.

Er hatte Freunde, die er anrufen könnte. Dylan konnte sich in seinem Job ebenfalls jederzeit freinehmen. Und er war immer dafür zu haben, mit dem Snowboard rauszugehen. Aber irgendwie war das nicht die Gesellschaft, nach der Jake sich sehnte. Eine Frau im Leben – das war es, was ihm fehlte.

Vor dieser Wahrheit verschloss er nun schon eine ganze Weile die Augen. Angesichts seiner katastrophalen Erfolgsbilanz auf diesem Gebiet hatte er Beziehungen abgeschworen. So wie er es sah, gab es nur eine Möglichkeit, es nicht zu vermasseln. Und das war, sich aus romantischen Verwicklungen komplett rauszuhalten. Das war eine einfache, praktische Lösung. Womit er nicht gerechnet hatte, war die Einsamkeit.

Sex zu finden, war leicht. Er könnte nach Seattle oder Portland fahren, eine Frau kennenlernen, ein tolles Wochenende mit ihr verbringen und wieder nach Hause zurückkehren. Keine Verpflichtungen, kein Risiko, sich das Herz brechen zu lassen. Nur hatte er erkennen müssen, dass ihm diese Art von Kurzzeitbeziehungen nicht gefiel. Er wollte mehr. Er wollte jemanden richtig kennenlernen und kennengelernt werden. Er wollte Erfahrungen teilen, gemeinsam lachen, und – das war das Schlimmste – er wollte eine Verpflichtung eingehen. Er wollte das, was bei anderen Menschen immer so einfach aussah.

Doch wenn er sich auf jemanden einließe, würde er es wieder vermasseln. Oder so werden wie sein Vater, was es auf jeden Fall zu vermeiden galt. Also unternahm er nichts. Was aber nicht länger funktionierte. Womit er wieder am Ausgangspunkt angelangt war, nämlich, auf die Berge zu starren und keine Ahnung zu haben, was er mit seinem Privatleben anfangen sollte.

Das Telefon auf seinem Schreibtisch klingelte.

»Jake, hier ist eine Camryn Neff, die dich sehen will. Sie hat keinen Termin, meint aber, es wäre etwas Persönliches.«

Camryn Neff? Die Geschäftswelt in Wishing Tree war klein genug, um zu wissen, wer sie war. Ihr gehörte Schleifchen drum, ein Geschäft, in dem es Geschenkpapier gab und wo man Geschenke einpacken und verschicken lassen konnte. Das Hotel verwies seine Gäste bei Bedarf gern an sie.

Er kannte sie gut genug, um sie bei den Treffen des Wirtschaftsverbands zu grüßen, aber mehr auch nicht. Ihm war irgendwie, als hätte sie jüngere Schwestern.

»Ich komme sofort«, antwortete er.

Er durchquerte sein großes Büro und trat hinaus in den Empfangsbereich der Büroetage. Camryn, eine attraktive Frau mit einem wilden roten Lockenkopf und großen braunen Augen, wartete an Margies Tisch.

Wishing Tree war ein eher lässiger Ort, deshalb überraschte es ihn, dass sie ein teuer aussehendes Kostüm und hochhackige Lederstiefel trug. Ihre Haltung war steif, ihre Miene wirkte defensiv. Sie ist nicht vorbeigekommen, um mir Geschenkpapier zu verkaufen, dachte er.

»Hallo, Camryn«, sagte er locker.

»Jake.« Sie schien sich zu einem Lächeln zwingen zu müssen. »Danke, dass du so kurzfristig Zeit hast. Ich war nicht sicher, ob ich vorbeikommen sollte, aber ich konnte auch nicht nicht mit dir reden und …« Sie presste die Lippen zusammen. »Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?«

»Natürlich.« Er bedeutete ihr, voranzugehen, und folgte ihr in sein Büro. Dort wies er auf die Sitzecke, in der eine Couch und zwei Sessel standen.

»Kann ich dir etwas zu trinken anbieten?«, fragte er. »Kaffee? Wasser? Bourbon?«

Nun endlich zeigte sie ein echtes Lächeln. »Schön wär’s, aber dafür ist es noch ein wenig zu früh. Außerdem bin ich keine Bourbontrinkerin. Brauner Alkohol ist nicht mein Ding.«

»Wir haben in der Hauptbar eine gute Auswahl an Wodkas.«

Camryn setzte sich leise lachend in einen der Sessel und schien sich etwas zu entspannen. »Verlockend, aber nein.«

Jake nahm auf dem Sofa Platz, beugte sich ein wenig vor und fragte: »Womit kann ich dir helfen?«

Camryns Lächeln verschwand. Unbehaglich schlug sie die Beine übereinander. »Äh, also, ich wollte dir etwas sagen. Wobei, es geht mich eigentlich gar nichts an.« Sie hielt inne und fing seinen Blick auf. »Wenn ich Ja gesagt hätte, würde es mich schon etwas angehen, aber das habe ich nicht. Das wollte ich nur klarstellen.«

»Bitte, fass das nicht falsch auf, aber bisher hast du noch gar nichts klargestellt.« Er lächelte. »Außer, dass du keinen braunen Alkohol magst.«

»Entschuldige. Tut mir leid. Ich versuche, die richtigen Worte zu finden. Ich sollte es einfach sagen. Es geradeheraus aussprechen.«

Jake hielt sich für einen ziemlich entspannten Typ, der mit jeder Krise umgehen konnte, aber Camryn fing an, ihn langsam etwas nervös zu machen. Was konnte sie ihm nur zu sagen haben? Nicht, dass sie schwanger war – sie waren nie zusammen ausgegangen, geschweige denn, dass sie miteinander geschlafen hatten. Er bezweifelte auch, dass sie Geld brauchte. Ihr Laden lief gut, und wenn sie ein Darlehen bräuchte, würde sie sicher nicht zu ihm kommen. Ein Problem mit einem gemeinsamen Freund war auch unwahrscheinlich. Sie hatten zwar viele gemeinsame Bekannte, verkehrten aber nicht in den gleichen Kreisen.

»Ich habe mich heute mit deiner Mutter getroffen.«

Jake unterdrückte ein Stöhnen. Diese Worte bedeuteten immer Probleme. Und meistens für ihn.

Camryn hielt seinen Blick fest. Ihre braunen Augen waren voller Mitgefühl und Besorgnis. »Sie hat mich zu sich nach Hause eingeladen. Ich wusste nicht, warum, hoffte aber, dass sie speziell angefertigtes Geschenkpapier kaufen wollte. Wir können beinahe jeden Designwunsch erfüllen. Ehrlich gesagt habe ich sogar Ideen für Geschenkpapier für das Resort. Ich habe ein wenig mit dem Logo gespielt und …«

»Camryn?«

Sie blinzelte. »Ja?«

»Meine Mutter.«

»Oh. Stimmt. Also.« Sie schluckte und sah ihn wieder an. »Sie will eine Frau für dich finden. Sie hat einen Plan. Sie nennt ihn: Projekt: Jakes Braut. Sie interviewt Frauen als potenzielle Kandidatinnen. Offenbar ist sie es leid, darauf zu warten, dass du selbst jemanden findest.«

Er stand auf, wusste aber nicht, was er tun sollte. Auf und ab tigern? Weglaufen? Brüllen? Seine Mutter hatte sich schon immer in alles eingemischt, aber das hier war selbst für ihre Verhältnisse schlimm. Projekt: Jakes Braut? Ernsthaft? Ernsthaft?

»Sie will Enkelkinder«, ergänzte Camryn hilfreich.

Er ließ sich wieder aufs Sofa sinken und widerstand dem Drang, den Kopf in den Händen zu vergraben. »Sie ist dabei, den Verstand zu verlieren.«

»Das glaube ich nicht. Sie wirkte sehr klar und kontrolliert. Ich war mir nur nicht sicher, ob du von ihrem Plan weißt.«

Er starrte sie an. »Nein, wusste ich nicht.«

»Ja, das verrät mir der Ausdruck in deinem Gesicht.«

»Horror und mordlüsterne Wut?«

Sie lächelte. »Du bist nicht wütend. Resigniert vielleicht. Du liebst deine Mutter, deshalb kannst du sie nicht hassen. Aber ich verstehe, dass die Situation nicht ideal ist.«

Jake ließ sich gegen die Sofalehne fallen. »Meine Mutter versucht, eine Frau für mich zu finden, Camryn. Ich denke, nicht ideal trifft es da nicht ganz.«

Er stieß einen leisen Fluch aus, als ihm bewusst wurde, dass er keine Ahnung hatte, was er diesbezüglich unternehmen sollte. Seiner Mutter zu sagen, dass sie sich zurückhalten sollte, wäre genauso wie hochzuschauen und mit dem Himmel übers Wetter zu diskutieren, nämlich unbefriedigend und schlussendlich nutzlos.

»Ich verschiffe sie nach Bali. Sie mag das tropische Klima. Ich kaufe ihr ein hübsches Apartment, besorge ein paar Angestellte. Dann kann sie anfangen zu malen. Wie dieser Künstler. Wie hieß er noch mal?« Er hielt kurz inne. »Ah, Paul Gauguin. Wobei, das war Tahiti, nicht Bali. Was auch in Ordnung ist. An beiden Orten ist es um diese Jahreszeit sehr schön.«

»Wie kommst du darauf, dass sie da mitmachen würde?«, fragte Camryn. »Deine Mutter scheint sehr an deinem Privatleben interessiert zu sein.«

»Ich trickse sie aus. Ja, das könnte klappen.« Er würde ihr sagen, dass er durchbrennen und sie bei der Hochzeit dabeihaben wollte. Dann würde er sie in dem neu erstandenen Apartment einschließen und …

Er sah Camryn an. »Warum hat sie dir das alles erzählt?«

Sie senkte den Kopf, doch er sah, wie ihre Wangen sich röteten. »Sie, äh, glaubte, ich wäre eine gute Kandidatin.«

Jake hatte nicht damit gerechnet, dass die Situation noch schlimmer werden könnte, doch das hätte er tun müssen. Denn was Helen Crane anging, bestand diese Möglichkeit immer.

»Meine Mutter hat dich in ihr Haus eingeladen, um mit dir über die Möglichkeit zu sprechen, dass wir beide heiraten?«

Camryn nickte langsam. »Wobei sie meinte, wir sollten erst einmal mit einem Date anfangen. Um einander kennenzulernen.«

»Du verteidigst sie?«

»Nein. Es ist nur … Sie war sehr beeindruckend, und so über sie zu reden, lässt sie so …«

»Unmöglich klingen?«

»Ein wenig. Ich verstehe, warum du aufgebracht bist. Sie wollte von mir einen Beweis meiner Fruchtbarkeit, was der Moment war, in dem ich dem Ganzen ein Ende setzen musste.«

Einen Beweis ihrer … Jake stand erneut auf, um dann zu merken, dass er immer noch nicht wusste, wo er hinsollte.

»Das alles tut mir furchtbar leid«, sagte er steif. »Dass sie sich in dein Leben gedrängt und dich in einen ihrer verrückten Pläne hineingezogen hat. Ich sorge dafür, dass das aufhört.«

Irgendwie musste es ihm gelingen, dem Ganzen einen Riegel vorzuschieben.

Camryn stand auf. »Es gibt andere Kandidatinnen. Ich weiß nicht, wen, aber sie hat sie erwähnt. Einige haben möglicherweise Kinder. Sie meinte, meine jüngeren Schwestern wären ein Pluspunkt. Sie hat sie ihre ›sofortigen Enkelkinder‹ genannt.«

Er unterdrückte ein Stöhnen. Andere Kandidatinnen? Nichts ahnende Frauen, die von seiner Mutter angesprochen werden würden?

Camryn sah ihn an. »Sie ist einsam, Jake. Sie hat ihren Mann vor nicht einmal zwei Jahren verloren und lebt ganz allein in diesem riesigen Haus. Ich weiß, dass sie Freundinnen und ein Leben hat, aber das ist etwas anderes, als seinen Mann bei sich zu haben. Und in ihrem Alter ist es auch ganz normal, sich Enkelkinder zu wünschen.« Sie hob eine Hand. »Ich will sie gar nicht verteidigen, ich kann sie nur verstehen, und wenn man genauer darüber nachdenkt, ist das, was sie da vorhat, eigentlich ziemlich süß.«

»Dann werden wir ihr einen Ehemann suchen. Mal sehen, wie süß sie dann wirkt.«

Camryn lachte. »Guter Punkt. Wie auch immer, ich wollte nur, dass du es weißt.«

»Danke, dass du hergekommen bist und mich gewarnt hast. Ich bin dir was schuldig.«

Ihre Augen leuchteten auf. »Wirklich? Ich könnte dir ein paar Muster des Geschenkpapiers vorbeibringen, das ich für euch entworfen habe. Es würde unter den Dutzenden von Weihnachtsbäumen, die ihr immer aufstellt, ganz bezaubernd aussehen.«

»Ja, gern. Mach einen Termin mit Margie, und bring sie vorbei. Wir unterstützen den örtlichen Handel, wo wir nur können.«

»Dann sehen wir uns bald wieder. Mit Mustern.«

»Ich freue mich darauf.«

Er begleitete sie zur Tür. Sobald sie gegangen war, schaltete er seinen Computer ab, schnappte sich seinen Mantel und verließ das Büro. Am Tisch seiner Assistentin blieb er stehen.

»Ich bin für ein paar Stunden weg. Schick mir eine Nachricht, wenn es einen Notfall gibt. Ansonsten bin ich gegen vier wieder zurück.«

Margie, eine brünette Frau Mitte vierzig mit drei Söhnen im Teenageralter und einem Mann, der sie anbetete, runzelte die Stirn. »Geht es dir gut, Boss? Du siehst, ich weiß nicht, irgendwie gestresst aus.«

»Ja, mir geht’s gut«, log er. »Ich fahre kurz bei meiner Mutter vorbei und komme dann wieder.«

Margie seufzte. »Ich hoffe, wenn meine Jungs mal groß sind, sind sie genauso gut zu mir wie du zu deiner Mutter.«

Jake nickte nur, denn er konnte nicht laut sagen, was ihm gerade durch den Kopf ging. Der Bali-/Tahiti-Plan ergab am meisten Sinn, aber wenn sie dem nicht zustimmte, würde er eine Art Babysitter für sie einstellen. Und ihr den Laptop und das Handy wegnehmen. Vielleicht auch ihr Auto. Er verstand, dass sie seinen Vater vermisste, und er wollte für sie da sein. Aber auf keinen Fall würde er sie mit diesem verrückten Projekt weitermachen lassen. Nicht jetzt. Und niemals.

2. Kapitel

Jake betrat das Haus, in dem er aufgewachsen war. Nachdem er seinen Mantel auf das Tischchen am Eingang geworfen hatte, ging er durch die große, zweigeschossige Eingangshalle und den Flur hinunter. Er wusste, dass er seine Mutter um diese Zeit im Wohnzimmer finden würde. Außer, sie interviewt gerade eine weitere potenzielle Braut, dachte er grimmig. Er konnte nur hoffen, dass eine Kandidatin pro Tag ihr Limit war.

Als Kind war er diesen Weg nach der Schule jeden Tag gegangen. Und genauso nach seiner Rückkehr vom College. In diesem Raum mit den großen Fenstern mit Blick auf den See hatte er von seinem Tag erzählt, über seine Schulprobleme gesprochen und gehört, dass alles gut werden würde. Im Büro seines Vaters wurde Disziplin ausgeteilt, aber im Wohnzimmer seiner Mutter ging es nur um Liebe.

An der offenen Tür blieb er stehen. Seine Mutter telefonierte gerade und machte sich Notizen.

»Ja, das klingt nach einem ausgezeichneten Vorschlag für das Menü. Perfekt. Das wird allen schmecken.«

Er musterte sie und stellte erfreut fest, dass sie so aussah wie immer. Kompetent, intelligent und immer noch schön mit ihren sechzig Jahren. Er wusste, eines Tages würde er dieses Zimmer betreten und erkennen, dass seine Mutter alt geworden war, aber heute war das zum Glück noch nicht der Fall.

Sie schaute hoch und hieß ihn sofort mit einem Lächeln willkommen. Dann bedeutete sie ihm, einzutreten. Nachdem sie aufgelegt hatte, stand sie mit ausgebreiteten Armen auf.

»Was für eine Überraschung«, sagte sie erfreut. »Hatte ich mit dir gerechnet?«

»Nein.«

Er umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Gemeinsam gingen sie zu dem bequemen Sofa vor einem der Fenster und nahmen ihre üblichen Plätze ein.

»Müsstest du nicht im Büro sein?«, zog sie ihn auf. »Immerhin leitest du ein Hotel.«

»Ich fahre nach unserem Gespräch wieder zurück.«

»Gut. Worüber wollen wir reden?«

Er sah sie an. »Wirklich, Mom? Das musst du fragen?« Er schüttelte den Kopf. »Projekt: Jakes Braut? Was hast du dir nur dabei gedacht?«

Anstatt beschämt zu wirken, strahlte seine Mutter ihn an. »Sie hat es dir erzählt. Ich hatte mich gefragt, ob sie das tun würde.« Dann presste sie die Hände zusammen. »Das zeugt von einem guten Charakter und bringt sie ganz oben auf meine Liste.«

»Nein.« Tahiti ist nicht weit genug weg, dachte er. »Mom, hör auf. Das kannst du nicht machen. Du kannst mir keine Frau suchen.«

»Ich wüsste nicht, warum nicht. Einer von uns muss es schließlich tun, und du machst es ja offensichtlich nicht. Seit einem Jahr bist du wieder in der Stadt, und soweit ich weiß, bist du nicht ein einziges Mal mit einer Frau ausgegangen. Wenn ich so darüber nachdenke, glaube ich, dass du nach der Trennung von Reggie überhaupt keine Freundin mehr hattest.«

Damit hatte sie recht. Es hatte die Wochenenden in Seattle und Portland gegeben, aber darüber würde er sich nicht mit seiner Mutter unterhalten. Außerdem waren es nicht die Art Dates gewesen, wie sie ihr vorschwebten. Es war um Sex gegangen und um nichts anderes.

»Du hättest Reggie niemals gehen lassen dürfen«, sagte sie entschieden. »Du hättest versuchen müssen, sie zurückzugewinnen

»Da gab es nichts zurückzugewinnen. Außerdem sind wir beide viel zu schnell über die Sache hinweggekommen, als dass wir so verliebt hätten sein können, wie wir dachten. Sie ist jetzt glücklich verheiratet, und ich wünsche ihr nur das Beste.«

»Wenn sie nicht deine wahre Liebe war, warum triffst du dich dann nicht mit anderen Frauen? Ich brauche Enkelkinder, Jake. Ich will sie nicht nur, ich brauche sie in meinem Leben.«

»Dann adoptier welche.«

Ihr Blick wurde stählern. »Das ist nicht lustig.«

»Du machst mir keine Angst. Hör damit auf, dich in mein Leben einzumischen. Keine Interviews mit Frauen mehr. Wer tut so etwas überhaupt?«

»Ich bin proaktiv.«

»Das ist schlimm, selbst für dich«, erklärte er. »Du hast dich immer eingemischt, aber noch nie so. Lass es bitte sein. Das meine ich ernst. Pfusch nicht in meinem Leben herum.«

Sie seufzte. »Ich kann nicht anders. Ich liebe dich.« Ihre Miene wurde weich. »Ich will, dass du glücklich bist. Eine gute Ehe ist etwas Wundervolles.«

Das erzählte sie ihm schon sein ganzes Leben. Dummerweise hatte er entdeckt, dass ihre Ehe mit seinem Vater nicht ganz so perfekt gewesen war, wie sie immer behauptete. Der Schock wirkte noch immer in ihm nach. Es war nicht ihre Schuld gewesen, sondern die seines Vaters.

»Ich weiß, was du denkst, aber du irrst dich. Er war ein guter Mann, und ich habe ihn von ganzem Herzen geliebt. Er hat mich glücklich gemacht.«

»Abgesehen von seinem Fremdgehen.«

Seine Mutter wandte den Kopf ab. »Ich ziehe es vor, nicht daran zu denken. Niemand ist perfekt.«

»Es gibt einen Unterschied zwischen einer drolligen Marotte und dem, was er getan hat, Mom. Vielleicht konntest du über sein Verhalten hinwegsehen, aber ich kann es nicht.«

Ein wissender Ausdruck trat in ihre Augen. »Aber das ist nicht das Problem, oder?«

Sie kannte ihn zu gut. Das hatte sie schon immer. Ja, er war wütend, dass sein Vater nicht so gewesen war, wie er immer gedacht hatte. Aber das größere Problem war, dass er nicht so werden wollte wie sein alter Herr. Er hatte seine Freundinnen nie betrogen, aber er hatte es das eine oder andere Mal vermasselt. Das war der Hauptgrund, warum seine Mutter nicht die Enkelkinder hatte, nach denen sie sich so sehr sehnte.

Er stand auf und beugte sich vor, um ihr noch einmal einen Kuss auf die Wange zu geben. »Ich hab dich lieb. Halte dich aus meinem Leben raus.«

Seine Mutter lächelte. »Wir wissen beide, dass das niemals passieren wird. Also wegen Camryn. Findest du nicht, dass sie sehr hübsch ist?«

»Ich höre dich nicht«, sagte er auf dem Weg zur Tür. »Kein einziges Wort.«

Camryns Tag, der so seltsam begonnen hatte, normalisierte sich nach ihrem Ausflug zum Resort. Jakes Wut hatte ihre eigenen Gefühle wegen dieser ganzen Projekt: Jakes Braut-Sache beruhigt. Sie war froh, dass er nichts davon geahnt hatte, und fühlte sich jetzt besser. Wie er seine sehr entschlossen wirkende Mutter aufhalten wollte, wusste sie zwar nicht, aber das konnte ihr auch egal sein. Der positive Punkt in dem Gespräch mit seiner Mutter und mit ihm war die Aussicht auf Aufträge – für das Verpacken der Geschenke und für das speziell für das Resort angefertigte Geschenkpapier. Wenn sie das Hotel dazu bringen könnte, es auch im Souvenirshop anzubieten, wäre das einfach perfekt.

Um kurz vor fünf war Camryn mit der Bestellung für die nächste Woche fertig. Sie winkte Wendy zu, die um sieben den Laden schließen würde, und ging hinaus zu ihrem SUV.

Die grauen Wolken hatten sich verzogen, und über ihr funkelten nun die Sterne an einem nachtblauen Himmel. Um diese Jahreszeit ging die Sonne bereits gegen halb fünf Uhr unter. Die Temperaturen waren leicht unter den Nullpunkt gefallen, und Camryn atmete die eisige Luft ein und genoss den leichten Duft nach Rauch, der aus den Kaminen der umstehenden Häuser aufstieg.

Sobald sie den Wagen gestartet hatte, gab sie dem Motor einen Moment, um warm zu werden. Die Fahrt nach Hause würde keine zehn Minuten dauern. In Wishing Tree war nichts wirklich weit. Der Umzug nach Chicago nach dem College war für sie ein Schock gewesen. Nicht nur die unglaublich vielen Leute dort, sondern auch die Entfernungen. Einige ihrer Freunde hatten Arbeitswege von über einer Stunde gehabt.

Das passiert einem hier nicht, dachte sie, als sie rückwärts ausparkte und auf die Straße einbog. Hier gab es auch keine Staus oder verstopfte Straßen oder Einbruchswellen. Wishing Tree war ein Ort, an dem die Nachbarn einander kannten und Touristen ausreichend Geld in die Kassen spülten. Vor allem um diese Zeit im Jahr.

Auch wenn sie gerne hier aufgewachsen war, hatte sie nicht vorgehabt, zurückzukommen. Sie hatte ihr Leben in Chicago geliebt – ihre Freundinnen, ihre Arbeit, ihre wunderschöne Wohnung. Aber die Krankheit und dann der Tod ihrer Mutter hatten alles verändert. Camryn war zurückgekommen, um sich um ihre Schwestern zu kümmern. Lily und Victoria waren fünfzehn und auf der Highschool. Nach einem Jahr, in dem sie damit gekämpft hatten, den grausamen Verlust ihrer Mutter zu verarbeiten, waren sie jetzt endlich wieder glücklich.

Und auch Camryns Wunde heilte langsam. Der Schmerz war nicht mehr so scharf, das Vermissen nicht mehr so zerstörend. Ihre Mutter würde ihr immer fehlen, aber inzwischen konnte sie an sie denken, ohne dass ihr die Trauer den Atem raubte.

Sie bog in die vertraute Einfahrt ein und drückte auf den Knopf, um das Garagentor zu öffnen. Während sie wartete, schaute sie nach links und grinste, als sie sah, dass die Nachbarjungs im Vorgarten eine große Burg aus Schnee gebaut hatten. Sie hatte ein wenig Schlagseite, aber es gab Wände und sogar ein paar bunte Fahnen, die im Abendwind flatterten.

In der Garage schaltete sie den Motor ab und ging dann durch den Vorraum in die Küche. Oben spielte jemand »Stille Nacht« auf der Flöte, und aus dem Wohnzimmer hörte sie Gelächter. Das Haus war warm, alle Lampen brannten. Das Geschirr vom nachmittäglichen Snack der Zwillinge stand in der Spüle.

Alles ganz normal, dachte Camryn zufrieden. Und normal war das Beste.

»Ich bin wieder da!«, rief sie und ging ins Wohnzimmer.

Victoria lag auf dem Boden, die Füße auf dem Sofa. Als sie Camryn sah, setzte sie sich lächelnd auf.

»Sie ist zu Hause. Ich muss auflegen. Aha. Ja, wir sehen uns morgen.«

Sie ließ ihr Handy auf den Teppich fallen und stand auf, um ihre Schwester zu umarmen.

»Angie glaubt, dass Braydon sie angelächelt hat, aber wir alle wissen, dass das nicht stimmt. Und Lily spielt schon seit zwei Stunden ›Stille Nacht‹. Kannst du sie dazu bringen, damit aufzuhören?«

Camryn grinste. »Mir geht es gut. Danke, dass du fragst. Wie war dein Tag?«

Victoria lachte. »Sorry. Hi. Ich bin so froh, dass du zu Hause bist. Kannst du Lily bitte dazu bringen, mit diesem Lied aufzuhören?«

Lily kam ins Zimmer gestürzt. »Ich habe ein Solo beim Weihnachtskonzert. Ich muss üben. Das ist nichts Neues.«

»Ich weiß, aber es fängt an, mir auf die Nerven zu gehen.«

Lily streckte ihr die Zunge heraus, dann umarmte sie Camryn. »Sie ist nur neidisch auf meinen Ruhm.«

»Ruhm?«, erwiderte Victoria mit einem Schnauben. »Du machst bei einem Highschool-Konzert mit und trittst nicht im Fernsehen auf oder so.«

Camryn legte die Arme um die beiden. »Victoria, ist das hier der Punkt, an dem ich dich daran erinnere, wie du nach der Kunstausstellung letztes Jahr warst? Du bist ein wenig außer Kontrolle geraten, als du den Preis für das beste Aquarell gewonnen hast. Wir alle bekommen unsere fünfzehn Minuten im Scheinwerferlicht.«

»Ach, es ist mir egal, ob Lily im Scheinwerferlicht steht. Nicht egal ist mir, wenn sie zum fünftrillionsten Mal ›Stille Nacht‹ spielt«, erwiderte sie mit einem strahlenden Lächeln.

Gemeinsam gingen sie in die Küche. Lily, die gerade einmal eins sechzig groß war und lange, glatte, flammend rote Haare hatte, trat an die Spüle und fing an, das Geschirr in die Maschine zu räumen. Victoria, die fast zehn Zentimeter größer war und die gleichen kastanienbraunen Locken hatte wie Camryn, öffnete den Kühlschrank, um die Zutaten fürs Abendessen herauszuholen.

»Hast du ihr von Angie und Braydon erzählt?«, fragte Lily. »Als ob das wahr wäre.«

»Ja, oder?« Victoria legte einen großen Plastikbeutel mit Gemüse auf den Tisch. »Er würde niemals was mit ihr anfangen.«

»Warum sind alle so besessen von Braydon?«, wollte Camryn wissen, während sie sich die Hände wusch.

»Weil er der Typ ist.« Lily sah sie mitleidig an. »Hattet ihr so einen nicht, als du auf der Highschool warst? Jemanden, für den alle schwärmen? Du weißt schon, gut aussehend und ein bisschen älter?« Sie seufzte. »Ich liebe ihn so sehr.«

»Du liebst den, für den du ihn hältst«, warf Victoria ein. »Genau wie ich. Wir kennen ihn eigentlich gar nicht.«

Camryn verteilte das Gemüse auf einem Backblech. Bevor sie zur Arbeit gegangen war, hatte sie alles klein geschnitten und mit Olivenöl, Salz und Pfeffer gewürzt, sodass sie abends Zeit sparte. Außerdem hatte sie den Hühnchen-Tortellini-Auflauf vorbereitet, der nun nur noch in den Ofen geschoben werden musste.

In den ersten Monaten nach dem Tod ihrer Mutter hatten sie von Aufläufen gelebt, die von Freunden und Nachbarn vorbeigebracht worden waren, sowie vom Lieferservice. Doch Camryn hatte schnell gemerkt, dass sie einen Weg finden musste, Schleifchen drum zu führen, sich um ihre Schwestern zu kümmern und jeden Abend etwas zu essen auf den Tisch zu bringen. Also hatte sie eine Liste mit Gerichten erstellt, die sie alle mochten, und dann im Internet nach einfachen Rezepten gesucht.

»Und, gab es so einen?«, hakte Victoria nach. »Einen Jungen wie Braydon?«

Camryn lachte. »Ich bin mir sicher, dass jede Klasse einen Braydon hat. Unserer war Jake Crane. Und ja, er war älter als ich.« Er war damals auf der Schule ein wahrer Herzensbrecher gewesen. Und wo sie so darüber nachdachte … Das war er heute noch.

»Woher kenne ich den Namen?«, fragte Lily.

»Seiner Familie gehört das Resort.«

»Also ist er reich«, merkte Victoria nachdenklich an. »Braydon ist nicht reich. Bedeutet das, wir sind weniger oberflächlich als du?«

»Würdest du Braydon weniger lieben, wenn er reich wäre?«

Lily und Victoria schauten einander an und grinsten.

»Nein«, gab Victoria zu. »Ich würde ihn noch mehr lieben.«

Camryn grinste. »Dann seid ihr nicht weniger oberflächlich, meine Süße. Sorry, dass ich euch enttäuschen muss.«

»Ich kann damit leben, oberflächlich zu sein«, erklärte Victoria. »Ich bin erst fünfzehn. Wenn ich erwachsen bin, werde ich bestimmt auch emotional tiefgründiger sein.«

»Du wirst niemals erwachsen«, beschied Lily ihr. »Ich bin die Erwachsene von uns.«

»Bist du gar nicht.«

»Bin ich wohl.«

Camryn lauschte ihrem liebevollen Geplänkel und freute sich, dass die beiden laut, selbstbewusst und ab und zu auch egoistisch waren. In einem Wort: Teenager. Letztes Jahr um diese Zeit waren sie viel zu still gewesen. Aber jetzt geht es uns besser, dachte sie. Und zwar ihnen allen dreien. Die Adventszeit stand vor der Tür, und Camryn war entschlossen, sie dieses Jahr mit Lachen und Fröhlichkeit zu füllen. Wir werden gute Erinnerungen schaffen, schwor sie sich. Nach allem, was sie durchgemacht hatten, brauchten sie die.

»Das ist ein Fehler«, sagte Dylan Tucker lässig und tippte auf die Mappe vor sich.

Helen lächelte ihn quer über die Kücheninsel an. »Ist das Wort Fehler nicht etwas zu heftig?«

»Wie wäre es mit Katastrophe? Ist das besser?«

Helen lachte und tätschelte seine Hand. »Du kümmerst dich um mich. Das gefällt mir. Aber ich weiß, was ich tue.«

»Würdest du eine Wette darauf abschließen?«

Helen war seit seinem ersten Schultag ein fester Bestandteil seines Lebens. Damals hatte er ihren Sohn Jake kennengelernt, und sie waren schnell beste Freunde geworden. Sie hatte sich immer um ihn gekümmert und war wie eine Ersatzmutter gewesen, wenn seine eigene Mutter abwesend oder indifferent gewesen war. Sie war die Person, an die er sich wandte, wenn er einen Rat brauchte. Und nervigerweise war sie auch oft die Stimme in seinem Kopf.

Aber sie war auch eine Frau, die sich zu gerne in Dinge einmischte und glaubte, sie wisse alles besser. Ein manchmal sehr anstrengender Charakterzug für alle Beteiligten. Ein Beispiel dafür war die Mappe, die vor ihm lag. Darin befand sich ein detaillierter Plan mit Listen, Namen und Strategien.

»Projekt: Jakes Braut?«, fragte er trocken. »Willst du deinen Sohn wirklich so unter die Haube bringen?«

»Jemand muss das endlich in die Hand nehmen. Jake unternimmt nichts, um seinen Singlestatus zu ändern. Ich sage dir das Gleiche, was ich ihm gestern gesagt habe: Ich habe geduldig darauf gewartet, dass er die richtige Frau findet und sesshaft wird, aber er ist seit einem Jahr wieder in der Stadt und war nicht auf einem einzigen Date.«

Sie hielt erwartungsvoll inne, als fordere sie Dylan auf, die fehlenden Informationen beizusteuern. Keine Chance, dachte er amüsiert. Er und Jake hatten einander noch nie verpetzt.

»Also hast du vor, eine Frau für ihn zu finden?«, fragte er. »Was lässt dich glauben, dass er da mitmacht?«

»Er liebt mich«, verkündete Helen entschlossen. »Ich bin seine Mutter. Er hat keine Wahl. Im Moment ist er nicht glücklich darüber, aber er wird schon noch einsehen, dass es so am besten für ihn ist.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Ich bin inzwischen wirklich gut darin, euch beiden Schuldgefühle zu bereiten. Es ist eine Gabe.«

»Du bist ziemlich verschlagen.«

»Ja, das kann ich sein.« Sie griff nach ihrer Kaffeetasse. »Hast du dich schon für ein Wohltätigkeitsprojekt in der Adventszeit entschieden?«

»Bücher«, antwortete er. »Ich werde jedem Kind in Wishing Tree ein Buch schenken.«

»Das ist wundervoll. Was für eine fabelhafte Idee. Natürlich bestellst du die bei Ihr Bücherlein kommet im Ort. Oh, ich habe eine Idee: Du kannst Camryn von Schleifchen drum engagieren, um sie für dich einzupacken. Ich habe sie gestern kennengelernt, und sie ist eine bezaubernde junge Frau.«

Da war etwas in Helens Stimme. Eine Art von Gewissheit.

»Bei welcher Gelegenheit hast du sie kennengelernt?«

»Ich habe sie eingeladen, damit wir uns unterhalten können.«

Sein Blick fiel auf die Mappe. »Ist sie eine Kandidatin?«

»Ich denke, das könnte sie sein.«

Dylan wusste nicht, ob er beeindruckt sein oder lieber in Deckung gehen sollte. Egal wie, er würde ein langes Gespräch mit Jake führen müssen. Sein Freund konnte zwar nichts tun, um Helen aufzuhalten, aber es wäre besser für ihn, wenn er wüsste, was seine Mutter plante, damit er … Nun ja, wenn Dylan ehrlich war, hatte er keine Ahnung, was Jake tun könnte, um sich vor der Naturgewalt zu schützen, die sich Helen nannte.

»Hast du ihr von deinem Projekt erzählt?«

Helens blaue Augen weiteten sich. »Natürlich. Ich würde niemals lügen.«

»Das muss eine interessante Unterhaltung gewesen sein. Wie hat sie es aufgenommen?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob sie mir geglaubt hat.«

Camryn sollte ihre Ignoranz genießen, solange sie noch konnte, dachte Dylan. Denn Helen gab selten auf, bevor sie ihren Willen bekommen hatte. Aber er kannte Camryn nicht gut genug, um sie zu warnen. Ja, sie grüßten einander, aber sie verkehrten nicht in den gleichen Kreisen. Sie war ein paar Jahre jünger, und wenn er sich richtig erinnerte, war sie nach dem College weggezogen.

»Ich nehme an, du hast noch andere Kandidatinnen?«, fragte er.

»Ja. Einige von hier, andere von außerhalb. Ich werde einen Computerexperten anheuern, um sie alle gründlich durchleuchten zu lassen. Das ist alles sehr hightech.«

Dylan unterdrückte ein Lächeln. »Volle Kraft voraus.«

»Ganz genau.« Sie musterte ihn mit schief gelegtem Kopf. »Hast du eine Freundin?«

»O nein. Wir reden nicht über mein Privatleben. Du hast genug damit zu tun, Jake unter die Haube zu bringen. Lass mich aus der Sache raus.«

»Willst du nicht auch eine besondere Frau finden und sesshaft werden?«

Sie wusste, dass er das wollte. Das Problem war jedoch, eine Frau zu finden, in die er sich verlieben konnte.

»Helen, ich liebe dich sehr, also sage ich das mit großer Zuneigung: Halte dich aus meinem Privatleben raus.«

»Aber nicht aus Jakes.«

»Aus seinem solltest du dich auch raushalten, aber er ist dein Sohn, also hast du da mehr Macht.«

Sie nahm die gläserne Kaffeekaraffe mit dem silbernen Griff und schenkte ihnen nach. »Ich habe mich so gefreut, zu hören, dass die Stadt dieses Jahr die Tradition des Schneekönigs und der Schneekönigin wieder aufleben lässt.«

»Wirklich? Es ist schon ein paar Jahre her, oder?« Er erinnerte sich vage daran, dass es früher immer einen Schneekönig und eine Schneekönigin gegeben hatte. Sie waren bei Veranstaltungen in der Stadt aufgetreten.

»Schon eine ganze Weile, ich weiß nicht mehr genau. Zum Glück haben sie die Regeln geändert. Dass jeder seinen Namen einfach in den Ring werfen konnte, hat überhaupt nicht funktioniert. Beim letzten Mal war der Schneekönig ein Sechsjähriger und die Schneekönigin war Mrs. Percy.« Helen seufzte. »Sie war siebenundachtzig.«

»Ich bin mir sicher, dass sie eine ganz bezaubernde Schneekönigin war.«

Helen schüttelte den Kopf. »Die Situation war einfach unmöglich. Beim Weihnachtsball ist sie gestürzt, und wir alle fürchteten, dass sie sich die Hüfte gebrochen hat. Zum Glück war das nicht der Fall.«

»Daran kann ich mich gar nicht erinnern.«

»Du warst noch nie politisch interessiert, mein Lieber.«

Er lachte leise. »Der Schneekönig und die Schneekönigin sind politisch?«

»Natürlich nicht. Das war ein Scherz. Du warst damals ein Teenager. Was haben dich da Traditionen interessiert? Was ich sagen will, ist, dass sie die Regeln geändert haben und jeder, der teilnehmen will, nun Single und zwischen einundzwanzig und fünfunddreißig Jahre alt sein muss. Ich freue mich schon darauf, zu sehen, was daraus erwächst. Mit Beginn des Adventskalenders werden sie zusammen auftreten. Übrigens ist das große Stadtevent dieses Mal eine Schatzuche.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe so meine Quellen.«

»Du bist Furcht einflößend.«

Helen reckte stolz die Brust. »Ja, ich weiß. Ist das nicht toll? Oh, und der Schneekönig und seine Königin werden an den Keksdienstagen in der Jury sitzen. Das sind dieses Jahr drei Dienstage. Willst du die Kekskategorien wissen?«

Bildete er sich das ein, oder musterte sie ihn wie ein Spatz einen fetten Wurm? »Helen? Was ist hier los? Hast du vor, es so zu drehen, dass Jake der Schneekönig wird?«

»Warum sollte ich das tun?« Sie deutete auf die Mappe. »Ich habe bereits einen Plan für ihn. Allerdings habe ich eine großzügige Spende an das Festkomitee getätigt. Sie waren sehr dankbar.«

Ein Kribbeln überlief ihn. Nein, sagte er sich. Helen liebte ihn. Sie würde niemals …

»Du bist es, Dylan«, erklärte Helen mit zuckersüßer Stimme. »Ich habe arrangiert, dass du der nächste Schneekönig wirst. Offiziell wird der Name am Samstag gezogen, also wäre es schön, wenn du überrascht tun könntest.«

»Was?« Er stand auf. »Nein. Auf keinen Fall, Helen. Das mache ich nicht.«

Sie lächelte weiter. »Habe ich erwähnt, dass es eine Krone gibt? Du wirst so gut aussehen.«

3. Kapitel

River Best hatte einen schlechten Tag gewählt, um das Trinken von Cola light aufzugeben. Ihr fehlte das Kribbeln, der leicht chemische Nachgeschmack, das Klirren von Eiswürfeln in einem Glas. Sie war nun seit über vierundzwanzig Stunden wach, hatte Kopfschmerzen und wollte wirklich, wirklich eine kühle, zischende Dose von irgendetwas öffnen, um durchzuhalten.

»Konzentrier dich«, ermahnte sie sich und tippte wild weiter, wobei sie das schmerzhafte Pochen in ihrem Rücken ignorierte. Der dreckige Mistkerl, den sie seit vierzehn Stunden jagte, musste doch irgendwo eine Spur hinterlassen haben. Sie hatte sich in seinen Computer gehackt und angefangen zu graben. Sie hatte seine Online-Konten geknackt, seine E-Mails und seine gesamte eklige Internethistorie gelesen. Sie hatte viel über diese menschliche Laus in Erfahrung gebracht, aber noch hatte sie ihn nicht gefunden.

Seufzend wirbelte sie mit ihrem Stuhl herum und studierte die große Landkarte der Vereinigten Staaten, die an der Wand hing. Daneben stand ein Whiteboard mit unzähligen handgeschriebenen Notizen. Devon Greene, fünf Jahre alt, war von ihrem Onkel entführt worden. Ian Greene, ein Kredithai mit vermuteten Verbindungen zur Mafia und einigen Anklagen wegen Mordes, die er irgendwie abgeschüttelt hatte, hatte seine Nichte entführt, um seinen Bruder zu überzeugen, nicht gegen ihn auszusagen. Sechsundzwanzig Stunden wurden die beiden nun schon vermisst. Nach zwölf Stunden waren den Behörden die Spuren ausgegangen, und sie hatten River angerufen, damit sie mit dem Computer ihre Magie wirkte.

Nun stand sie auf und stöhnte, als ihr Rücken sich verkrampfte. Sie atmete durch den Schmerz hindurch, bevor sie zu der Landkarte humpelte und die Spur der Stecknadeln nachfuhr, die sie in all die Orte gesteckt hatte, an denen Ian laut seinen Kreditkartenabrechnungen in den letzten fünf Jahren gewesen war. Den Großteil der Zeit operierte er aus Chicago. Er war regelmäßig nach Las Vegas geflogen und zweimal in Florida gewesen. Er war ein Stadtmensch, der lieber flog, als mit dem Auto zu fahren.

Warum also hatte es im Abstand von zwei Wochen zwei Tankstopps in Sioux Falls, South Dakota, gegeben?

Sie zog eine Linie von Chicago nach Sioux Falls. Die offensichtliche Route war über die Interstate 90, aber wohin? Der Highway endete in Seattle, doch da war Ian nie gewesen. Montana war nicht wirklich seine Gegend, und Idaho …

River eilte an ihren Computer zurück und überflog noch einmal die Kreditkartenabrechnungen. Sie hatte etwas gesehen. Es war ungefähr vier Jahre her. Etwas, das sich vom Rest unterschied. Eine Eintrittskarte in den Yellowstone National Park.

Eine schnelle Internetsuche verriet ihr, dass die meisten Straßen in dem Nationalpark Anfang November geschlossen wurden. Heute war der Sechzehnte, doch geschlossen bedeutete nicht unpassierbar.

Sie nahm ihr Handy und wählte eine Nummer.

»Sag mir, dass du was hast«, begrüßte Sergeant Griffin sie mit angespannter Stimme. »Irgendetwas.«

»Der Yellowstone National Park. Dort war er vor vier Jahren.«

»Greene? Der ist kein Naturbursche.«

»Kreditkartenabrechnungen lügen nicht. Er hat um die Zeit herum in Sioux Falls getankt, als er in den Park gefahren ist.«

»Das ist ein Tausende Hektar umfassendes Gebiet.«

Und uns läuft die Zeit davon, dachte sie grimmig. »Du hast gesagt, dass er kein Naturbursche ist. Also wird er nicht zelten. Schon gar nicht mit einem Kind. Sucht nach einer Hütte, aus deren Kamin Rauch aufsteigt. Ihr braucht eine Drohne mit Wärmebildkamera.«

»Okay. Such du in der Zwischenzeit weiter nach einem anderen möglichen Aufenthaltsort«, sagte Griffin. »Ich melde mich.«

Er legte auf, bevor sie etwas erwidern konnte.

River richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. Greene hatte keine Social-Media-Accounts, aber es gab andere Wege, um digitale Spuren zu hinterlassen, und sie würde jede einzelne davon finden.

Sechs Stunden später klingelte das Telefon.

»Wir haben sie«, sagte Griffin. »Eine Hütte im Yellowstone. Genau wie du gesagt hast.«

River sackte auf ihrem Stuhl zusammen. »Geht es ihr gut?«

»Sie hat Hunger, will zu ihrer Mom und ihrem Dad, aber ja, sie ist okay. Du hast was bei uns gut.«

Erleichterung legte sich wie eine Decke um sie. »Ich schicke euch eine Rechnung.«

Griffin lachte leise. »Daran habe ich keinen Zweifel. Das Team bedankt sich.«

»Gern geschehen.«

Sie legte auf und ließ das Handy auf den Schreibtisch fallen. Erschöpfung machte sich in ihr breit, und damit die quälende Erkenntnis, dass sie seit über zwanzig Stunden am Computer gesessen hatte. Sie schaltete ihn aus und stand langsam auf.

Sie war ein Wrack. Dr. Chi, ihr orthopädischer Chirurg, wäre fuchsteufelswild, wenn er wüsste, wie lange sie gesessen hatte, ohne sich zu strecken. Er würde sie darauf hinweisen, dass er sie nicht dreimal operiert hatte, nur damit sie seine harte Arbeit leichtsinnig verspielte. Und dann würde er wissen wollen, ob es ihr gut ginge.

»In diesem Moment nicht«, flüsterte sie, als ein stechender Schmerz durch sie hindurchschoss.

Sie humpelte zur Wand und lehnte sich dagegen. Dann atmete sie tief durch. Nach ein paar Minuten entspannten sich ihre Muskeln langsam, und der Schmerz ließ ein wenig nach. Dann begann sie mit den vertrauten Dehnübungen, die sie in den letzten zwei Tagen vernachlässigt hatte, und wechselte die Positionen langsam und mit Bedacht. Nach ungefähr zwanzig Minuten konnte sie wieder aufrecht stehen und beinahe die Schultern straffen, ohne vor Unbehagen die Zähne zusammenzubeißen. Sobald sie zu Hause wäre, würde sie die Übungen noch einmal machen und sich dann ein schönes heißes Bad einlassen. Es würde ein paar Tage dauern, bis ihre Muskeln sich beruhigt hatten, aber Devon gefunden zu haben, war den Schmerz wert.

Dieser Sieg sollte gefeiert werden, dachte sie und ging zu dem kleinen Kühlschrank in der Ecke, um sich eine Dose Cola light herauszunehmen. Sie öffnete sie und trank einen großen, erfrischenden Schluck. Das fröhliche, leckere Kribbeln füllte ihren Mund.

»Du wirst mich umbringen, aber ich werde glücklich sterben«, sagte sie laut, bevor sie die Dose abstellte, um die Essensbehälter aufzuräumen, die sich im Laufe der letzten zwei Tage angesammelt hatten.

Sie hatte sich den Taco-Salat aus dem Navidad Café bestellt. Den Salat hatte sie beiseitegelassen, aber alles andere hatte sie verschlungen, darunter alle Nachos mit Salsa. Außerdem lagen ein paar Verpackungen von Judys Pasteten herum. Normalerweise lieferten sie nicht, aber Shaye war eine Freundin und hatte auf dem Heimweg ein halbes Dutzend Pasteten vorbeigebracht. Zwischen all dem standen To-go-Becher vom Jingle Café und drei leere Wasserflaschen. Es war wirklich erstaunlich, wie viel Müll jemand in ihrem Job produzieren konnte.

River warf die Verpackungen in eine Mülltüte, dann öffnete sie die Tür ihres kleinen Dachbodenbüros und trat auf den Flur hinaus, um den Müll nach unten zu bringen.

Es war wie ein Schock, wieder die reale Welt zu betreten. Erstens fiel Sonnenlicht durch die großen Fenster. Sicher, vom Kopf her wusste sie, dass es mitten am Tag war, aber ihr unter Schlafentzug leidender Körper hatte angenommen, es wäre immer noch Mitternacht. Zweitens war der Laden – Schleifchen drum – voller Kunden, die in Erwartung der anstehenden Feiertage Geschenkpapier kauften. Das fröhliche Geplapper und Gelächter und die allgemeine Umtriebigkeit weckten in River den Wunsch, sich wieder in die Stille und Sicherheit ihres Büros zurückzuziehen.

Müll wegbringen, ermahnte sie sich. Danach würde sie ihre Sachen holen und nach Hause gehen, wo sie nach einem ausgiebigen Schaumbad fünfzehn oder zwanzig Stunden schlafen würde. Und danach wäre sie wieder bereit, es mit der normalen Welt aufzunehmen.

Als sie nach draußen trat, schlug ihr die eiskalte Luft ins Gesicht. Trotz des strahlend blauen Himmels waren die Temperaturen unterhalb des Gefrierpunkts, wie der liegen gebliebene Schnee bezeugte.

Schnell warf River den Müll in den Container und eilte in den Laden zurück, wo Camryn – Besitzerin von Schleifchen drum und Rivers Freundin und Vermieterin – sie aufhielt.

»Warst du wirklich zwei Tage durchgehend auf?«, fragte Camryn, die Hände in die Hüften gestemmt.

»Ich habe gearbeitet.«

»Zwei volle Tage?«

River dachte an die verängstigte Fünfjährige, die von jemandem entführt worden war, von dem sie glaubte, ihm vertrauen zu können.

»Es war ein Notfall.«

Die Augen ihrer Freundin verdunkelten sich vor Besorgnis. »Werde ich in den Nachrichten davon hören, was du gemacht hast?«

»Vermutlich. Aber sie werden meinen Namen nicht nennen.«

»Ich mache mir Sorgen um dich. Hast du überhaupt geschlafen?«

»Nicht, seitdem ich den Job erledigt habe. Ich gehe jetzt nach Hause.«

»Treffen wir uns trotzdem morgen zum Lunch?«

River musste sich durch ihre Erschöpfung kämpfen, um die Frage zu verstehen. Sie und Camryn trafen sich jeden Donnerstag mit ein paar anderen Frauen aus der Stadt zum Mittagessen. Da sie seit dem frühen Dienstagmorgen im Büro gewesen war, musste es jetzt Mittwochnachmittag sein.

»Natürlich.«

»Wenn du zu müde bist …«, setzte Camryn an.

River unterbrach sie mit einem Kopfschütteln. »Ich will dabei sein«, sagte sie schnell.

Lunch mit ihren Freundinnen war eines der Highlights ihrer Woche. Mit dem Konzept von Schnee hatte sie zwar noch zu kämpfen, aber was ihre Freundinnen anging, war sie voll dabei. Nachdem sie den Großteil ihres Lebens eine Außenseiterin gewesen war, war es aufregend, Teil einer Gruppe zu sein. Sicher, sie brauchte ihren Schlaf, aber ihre Freundinnen brauchte sie genauso sehr.

»Dann sehen wir dich um zwölf im Blitzen’s Pub.« Camryns Lächeln wurde breiter. »Ich freue mich schon auf den neuesten Klatsch und Tratsch.«

»Ich auch«, antwortete River fröhlich, bevor sie sich mit einem Winken der Treppe zuwandte.

Sie musste jede Stufe langsam nehmen, denn ihr Körper protestierte gegen die Anstrengung. Doch ihr Büro war es wert. Nicht nur war sie die Einzige auf der Etage, sondern sie konnte auch kommen und gehen, wie sie wollte. Den Aktivitäten im Laden so nah zu sein, ohne Teil davon sein zu müssen, war das Sahnehäubchen. Sie konnte sich zu ihren eigenen Bedingungen einlassen und sich zurückziehen, wenn es ihr zu viel wurde.

Wieder im Büro, packte sie sich für den Heimweg warm ein. Pullover, Mantel, Schal, Mütze. Die Handschuhe zog sie erst an, nachdem sie sich den Rucksack aufgesetzt und die Bürotür abgeschlossen hatte.

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