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Magnolia

Als Buch hier erhältlich:

„Dieser Roman ist kraftvoll, verführerisch und subversiv in einem." – Dana Spiotta

Magnolia Brown ist neunzehn Jahre alt und eine Waise. Neben einem notorisch überzogenen Bankkonto und ihrem übergriffigen Vermieter muss sie jetzt auch noch damit klarkommen, dass sie ihre kürzlich verstorbene Großmutter Mama Brown sehr vermisst.

Erst die zufällige Begegnung mit dem weißen Bestatter Cotton und seiner alkoholabhängigen Tante, einer begabten Visagistin, scheint die positive Wende zu bringen. Magnolia soll als Model die Identität verstorbener Mädchen annehmen, damit sich die trauernden Familien per Video von ihnen verabschieden können.

Obwohl sich einige Dinge zum Besseren wenden, wird Magnolias Leben nicht weniger kompliziert. Als Cottons Anfragen immer seltsamer werden, stellt sie fest, dass es für sie um viel mehr geht als nur darum, endlich genug Geld für die Miete zu verdienen.


  • Erscheinungstag: 23.01.2024
  • Seitenanzahl: 352
  • ISBN/Artikelnummer: 9783753000657

Leseprobe

Dies ist eine fiktive Geschichte.
Alle dargestellten Personen, Organisationen und Geschehnisse sind der Fantasie der Autorin entsprungen oder auf frei erfundene Weise benutzt.

Gewidmet dem House Mountain –
dessen Lage ich auf Beharren einer
jeden Geschichte verändere –,
der auf mein Leben herabblickt
und so viel seltsame Schönheit birgt.

»Ach, wenn ich keine Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Hause zu essen kriege, so sterbe ich.«
Brüder Grimm, Rapunzel

Sie hatten ihr aber so gut geschmeckt, dass sie den andern Tag noch dreimal so viel Lust bekam.
Brüder Grimm, Rapunzel

Ich will keine anderen machen.
Ich will mich selbst machen.
Toni Morrison, Sula

Und schon als kleines Mädchen hatte ich gelernt, dass man seine Zeit nicht damit verschwendet, Leuten Dinge zu erzählen, die sie nicht glauben würden.
Gloria Naylor, Mama Day

1

Noch nie habe ich mich so gefangen gefühlt, so nah am Ersticken wie jetzt gerade. Wenn es mir so geht, wenn es sich anfühlt, als hätte sich Kudzu fest um meinen Brustkorb geschlungen, wenn mir Hitze aus allen Poren quillt, dann verziehe ich mich gern in meinen Kopf. Ich vergesse diese harte Kirchenbank und all die breitkrempigen seidenen Hüte, die zum Trauergospel wippen. Ich bin nicht hier. Ich bin nicht in der Mountain Bend Baptist Church. Ich bin nicht mal in Tennessee.

Ich bin eine kleine schwarze Bohne. Ich bin eine kleine schwarze Bohne in England im Jahr 1734, und ein Junge trägt mich in der Hand zu sich nach Hause. Als wir in das kleine Häuschen kommen, sagt seine Mama: Junge, du hast doch nicht die Kuh für ein paar Bohnen verkauft! Bevor sie ihn mit ihrem Schuh verdrischt, schmeißt sie mich aus dem Fenster, aber mir passiert nichts. Ich bin eine kleine schwarze Bohne, die in weichem Lehm landet. Ich schlafe tief im kühlen Boden. Als es Morgen wird, weckt mich nicht die Sonne. Der Junge weckt mich. Seine mageren Finger packen mich. Ich bin eine Bohnenranke: dick, grün, kräftig und hoch, hoch bis zum Himmel. Aber der Junge kann mich nicht in Ruhe lassen. Er schlingt die Beine um mich und zieht seinen Bubenkörper an mir hoch. Seine Knochen graben sich in mich. Ich sage: »Warum zum Teufel kletterst du an mir rauf?«

Eine glatte Hand reibt meine Schulter, holt mich zurück zur Trauerrede.

»Magnolia, Baby. Deine Granny hat jetzt Frieden gefunden.« Die schöne hellbraune Frau neben mir muss mein Lachen für Schluchzen gehalten haben. Sie zieht mit ihren Acrylnägeln Kringel auf meinem Arm, flüsterzart, bis Pastor Wooly etwas in ihr auslöst. »Halleluja!« Sie klatscht in die Hände. Mama Brown und ich waren nur zweimal im Jahr in der Kirche. Ostern und Weihnachten. Ich weiß den Namen der Frau neben mir nicht. Aber sie hat meine Mama Brown gemocht. Anders als die meisten.

Die mochten sie jedenfalls nicht genug, um zu wissen, dass sie die Blumen da um ihren Sarg herum schrecklich fände: aufgeplusterte Nelken, schlaffe Rosen, zungenfarbene Pfingstrosen. Mama Brown hätte so was gewollt wie zu Hause: Gartentulpen mit ein paar Zweigen Schleierkraut. Und ihr Gesicht ist total daneben. Die Foundation ist zwei Töne zu hell und bibeldick. Und dieses Predigtgefasel würde sie auch nicht wollen. Sondern Musik und fröhliches Tanzen.

»Und was spricht der Herr?« Pastor Wooly klopft mit dem Mikrofon auf seinen Handrücken. Er ist dunkel und runzlig mit Pusteblumenflaum als Haar. Immer fängt er sein Programm damit an, dass er mit seinem Gehstock zum Altar humpelt. Bei diesem Trauergottesdienst ist es auch nicht anders. Wenn der Geist über ihn kommt, wirft Pastor Wooly die Arme hoch. Das Knallen, wenn der Gehstock auf den Parkettboden schlägt, ruft prompt ein schallendes Halleluja hervor. Die einzelnen Stimmen der Gemeindemitglieder – der heiseren alten Frauen, der jungen Männer mit Feuer unter den Zehen, das sie immerzu aufspringen lässt, der Sünder, die Brocken von Lobpreisung in ihrem Mund finden –, alle werden zu einer einzigen Stimme, stark und voll. Als ich klein war, dachte ich in diesen Momenten, er beschwöre die Stimme Gottes herbei. Jetzt weiß ich, dass das nicht stimmt.

»Ich will euch sagen, was der Herr spricht«, sagt Pastor Wooly.

»Ja, Pastor!«, ruft ein Mann irgendwo hinten.

»Er spricht: ›Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt‹.«

»Halleluja«, sagt die hübsche Frau neben mir.

»Hört ihr mich?« Pastor Wooly hüpft, kommt außer Atem. Jedes zweite Wort, das er uns in die Ohren feuert, ist mit einem flattrigen Luftholen verbunden. »Er spricht: ›Ich bin-hhh die Auferstehung-hhh und das Leben-hhh!‹« Der Stock knallt auf den Boden.

»Halleluja!« Als der Geist sich verflüchtigt, erhebt sich die Gemeinde und bringt ein Trauerfeier-beendet-Gemurmel hervor.

Ich ertrage die Vorstellung nicht, herumzustehen, von Umarmungen und vom Geruch nach White Diamonds und Old Spice und von Beileid erstickt zu werden. Alle Gott-segne-dich, die die Kirche mir spenden will, können mir diesen Schmerz nicht nehmen. Können das Wissen in mir nicht wegmachen, dass der einzige Mensch, der mir mit meinem Problem helfen könnte, steif und stumm in einer Eichenholzkiste liegt.

Ich schleiche mich durch die Seitentür, die zum Rand des Friedhofs hinausführt. Am Horizont reift Rot. Es wird dunkel sein, bevor sie Mama Brown runterlassen.

»Miss Magnolia!«, ruft eine Stimme von den Grabsteinen her.

Sugar Foot kommt vom Rand des offenen Grabs angeschlendert; er pafft eine knittrige Selbstgedrehte. Als er bei mir ist, grinst er. »So ein Bullshit, eh?«

Ich habe Sugar Foot im Trauergottesdienst nicht gesehen. Und er ist auch nicht dafür angezogen: mahagonifarbener Anzug mit goldenem Schlips und dazu passendem, schief aufgesetztem Fedora. Ich kenne diesen Mann schon mein Leben lang, und ich habe ihn noch nie anders als in seinen Diakonsachen gesehen: weißes Hemd und Tuchhose. Er wirft mir ein Butterscotchbonbon zu.

Ich fange es auf. Er füttert mich mit Süßigkeiten, seit ich klein war. »Sir? Was meinen Sie?«

Er zeigt mit der kreiselnden Zigarette zur Tür. »Das alles. Deine Granny hätte es schrecklich gefunden.«

»Mama Brown fände es schon okay«, sage ich. »Die Kirche hat ihr Bestes getan.«

Er zieht an der Zigarette, bläst eine dicke Rauchwolke in die Luft zwischen uns. »Ich habe dadrin ein Wunder gesehen.«

»Ein Wunder?«

»Ja, Miss Magnolia. Ich habe dadrin etwa zehn Frauen mit trockenen Augen weinen sehen. Keine einzige gottverdammte Träne.« Er gluckst.

Ich lächle. »Die Werke des Herrn sind wundersam.«

Die Seitentür der Kirche geht auf. »Wir haben dich überall gesucht, Mädchen«, sagt ein Kirchendiener.

»Bist du mit dem Auto da?«, fragt Sugar Foot, als ich reingehe.

»Nein, Sir. Ich bin zu Fuß gekommen«, sage ich.

»Ich nehme dich nachher mit.«

»Ja, Sir.«

Der Kirchendiener führt mich wieder zur vordersten Bank; die Sargträger heben Mama Brown hoch, als wäre sie so leicht wie ein Gedanke.

Ich folge der langsam gehenden Menge hinaus auf den winzigen, staubigen, eingezäunten Friedhof. Wie würde ich mich fühlen, wenn ich weinen könnte? Albern. Die Erde mit Tränen zu nässen hat noch nie jemanden daraus hervorsprießen lassen. Das letzte Tageslicht sinkt mit ihr hinab.

Sugar Foot findet mich vor dem Trauermahl, schlingt mir den Arm ums Kreuz und geht mit mir runter ins Untergeschoss der Kirche, zum Speisesaal. Auf einem langen weißen Klapptisch, der eigens für Gemeinschaftsanlässe gemacht ist, stehen Aluschalen. Spaghettiauflauf, frittierter Catfish, gefüllte Eier. Hefebrötchen, grüne Bohnen, frittierte Hähnchenstücke, Kartoffelsalat mit Senf. An der Seite ein Rührkuchen. Ich habe keinen Hunger. Man wartet höflich, dass ich meinen Teller fülle, also tue ich’s, gehe dann an einen Tisch beim Ausgang und trinke langsam von meinem Mineralwasser. Jemand dreht die Anlage auf, Lauryn Hill fängt an zu singen, und ich weiß, dieser Teil zumindest würde Mama Brown gefallen.

Sugar Foot kommt angetänzelt, nur ein bisschen Kartoffelsalat und ein kleines Brötchen auf dem Teller. Er wedelt mit seiner Plastikgabel über meinem Essen. »Ich würde das nicht essen, wenn ich du wäre.« Er sticht mit der Gabel auf seinen Salat ein, sieht aus wie ein Blödmann, der vor dem Beten isst. »Den Fisch hat Miss Wanda gemacht. Letztes Mal hat sie so ziemlich der ganzen Gemeinde Cholera angehängt.«

»Kriegt man Cholera nicht vom Wasser?«, frage ich.

»Da leben die doch, oder?« Er stößt mich mit dem Ellbogen an, lacht.

Alle finden einen Platz, mit vollgehäuften Tellern. Pastor Wooly, der vorn am Büfett steht, sagt: »Lasst uns beten.«

Sugar Foot legt seine Gabel hin.

Ein Gebet, das Mägen zum Knurren bringt, ein Amen und sein Echo.

Eineinhalb Stunden sitze ich da und lasse es über mich ergehen, diese Parade guten Willens. Leute, die versuchen, meiner Mama Brown so zu gedenken, wie sie sollten, wobei aber immer das Gleiche rauskommt: dass sie in aller Nettigkeit über sie sagen, dass sie ein loses Weibsbild gewesen sei. Eineinhalb Stunden beiße ich mir auf die Wangen.

Pastor Wooly steht auf, zum Zeichen, dass das Mahl vorbei ist.

Als ich vorn in Sugar Foots Auto sitze, schallt mir immer noch Gospelgesang in den Ohren. Wie können sie von Freiheit singen und vom Wegfliegen, wenn sie Erde auf jemanden schaufeln? Wir fahren in dem schwülen Schwarz langsam die Straße lang, den House Mountain runter, diesen bewaldeten Hubbel, der North Broadway von der East Side trennt.

»Wie alt bist du jetzt, Miss Magnolia?«, fragt Sugar Foot.

»Neunzehn«, sage ich.

»Versteh mich nicht falsch, ich spreche echt nicht gern von geschäftlichen Dingen an so einem traurigen Tag, aber ich habe mein Geld nun mal nicht gemacht, indem ich Nettigkeit obenan gestellt habe.« Er zündet sich eine Selbstgedrehte an. Ich mache das Fenster einen Spalt auf.

»Was für geschäftliche Dinge?«

»Na ja, du bist neunzehn und arbeitest an der Tankstelle. Du hast jetzt deine Granny nicht mehr, um mir die Miete zu zahlen.«

»Sie kriegen sie rechtzeitig. Wie immer.« Ich strecke den Arm aus dem Fenster und lasse den Wind mein Handgelenk kühlen. Wir kommen an einer Stelle vorbei, wo Geißblatt wächst, und der süße Duft füllt den Wagen.

Ich halte mich daran fest, als er fragt: »Wo ist denn deine Mama? Ich habe Miss Cherry schon eine Weile nicht mehr gesehen.«

»Ich auch nicht«, sage ich.

Sein schwerer Wagen rumpelt über die Schotterzufahrt bis zu meinem Haus. »Echt ein Jammer, dass deine Mama auf dem Scheißzeug ist. Du bist so hübsch wie sie. Die gleichen hellen Augen.«

»Danke, Sugar Foot.« Ich zwinge mich zu lächeln und mache die Tür auf. Er packt mich am Handgelenk.

»Hör zu, ich weiß, es ist schwer, in deinem Alter allein im Leben zu stehen und über die Runden zu kommen. Wir können da was finden, wenn du so weit bist.« Er leckt sich die Lippen, als wären sie klebrig von Melasse, und fährt davon.

Das Haus fühlt sich leer an. Auf dem Couchtisch das Puzzle, das wir nicht mehr fertig machen können: ein halber Esel auf einer Blumenwiese. Wir müssen Hunderte Puzzles zusammengeklebt haben, bevor die Demenz Mama Brown erwischt und ihr Gehirn gefressen hat.

Ich sitze in ihrem roten Fernsehsessel, wo ich sie am deutlichsten riechen kann – die Pfefferminzlotion, den gelegentlichen Zigarillo und den Luftbefeuchter, den sie schalen Nebel ausblasen ließ. Als Kind habe ich hier nur gesessen, wenn ich auf Mama Browns Schoß war. Die samtenen Armlehnen sind voller Brandlöcher von ihren Zigarillos. Am Ende vergaß sie, dass sie sich einen angezündet hatte, und streifte die Asche praktisch überall ab. Meistens auf Möbeln. Zweimal auf ihren Oberschenkeln.

Vor der Demenz konnte sie die Wucht eines Junigewitters an den Tag legen. Wenn sie da gewesen wäre und Sugar Foot in seinem billigen Anzug gesehen hätte und wie er sich die Lippen leckte, als würde er völlig ausgedörrt nach meinem Speichel lechzen, dann hätten wir keine Mietprobleme mehr. Sie hätte seine trockene Zunge richtig schön fettig in der Pfanne gebraten. Und wenn sie diese Trauerfeier mitbekommen hätte! Pastor Wooly klingt, als wüsste er die Antwort auf alles, wie ein Autoverkäufer oder einer von diesen glitzrigen Hellsehern im TV. Aber er weiß die Antworten nicht. Mama Brown schon. Aber sie ist nicht mehr da.

Ich habe seit eineinhalb Monaten nicht mehr geblutet. Vielleicht ist es ja Stress, weil ich damit fertigwerden muss, dass diese Liebe aus mir rausgeschnitten wurde. Ich könnte glauben, dass der Verlust meinen Zyklus durcheinandergebracht hat. Vielleicht ist es aber auch nicht Stress. Vielleicht habe ich einen Klumpen Leben in meinem Bauch, nicht größer als ein Paprikasamen. Schwanger. Ich mag das Wort nicht. Es klingt so nach Schwellen.

Andererseits – vielleicht hätte mir Mama Brown nicht geholfen. Ich war fünfzehn, als ich Cherry das letzte Mal gesehen habe. Ich lag im Bett. Mein ganzer Körper tat weh und war aufgeheizt von einem Virus. Mama Brown hatte mir gerade brühheißen Wasserdosttee gebracht und ein rosa Benadryl. Ich schluckte die Pille und nahm mir im Liegen ein Heft vor, um ein Gedicht zu schreiben über einen Jungen, an den ich mich nicht mehr erinnere. Von der Eingangstür kam ein gedämpftes Klopfen. Wir kriegten nie Besuch, außer Sugar Foot kam vorbei wegen der Miete und auf einen Zigarillo oder einer von Mama Browns Boyfriends – aber die waren so schlau, nur zu kommen, wenn sie gerufen wurden. Ich hörte eine Frauenstimme, kratzig, und wusste, es war Cherry. Ihr Gespräch war zuerst ruhig, kaum zu hören, dann aber so laut wie die Stimmen in der Kirche.

Es wurde still. Das weiß ich noch, weil ich endlich anfangen konnte zu schreiben. Meine Augenlider waren schwer, obwohl ich dachte, dass die Medizin noch gar nicht lange genug in meinem Magen war. Ich wollte wegdösen. Aber stattdessen schrieb ich, weil: Kann man über Liebe nicht am besten in schläfrigem und fiebrigem Zustand schreiben? Schritte kamen über die Dielen, es klopfte dreimal an meine Tür.

Ich schob mein halb fertiges Gedicht unter die Bettdecke. »Herein«, sagte ich.

Cherry drückte sich herein, machte die Zimmertür zu. Ihre schäbigen Klamotten waren zu groß für ihre magere Gestalt. Die Schattenkuhlen wie bei einem Skelett. Ihre weiße Haut gelblich. Eine verwelkte Tulpe.

»Maggie«, sagte sie. Ich mochte es nie, wenn sie mich so nannte.

»Hey.« Ich presste meine Stimme absichtlich durch meine Kehle, damit sie wusste, ich war krank und hatte keinen Nerv.

Sie setzte sich auf meine Bettkante. Ich roch sie: eine Gasse hinter einem Fast-Food-Schuppen. »Wie geht’s dir?«

»Krank«, sagte ich.

»Dachte, ich schau mal vorbei.« Cherry hatte einen aknenarbigen Boyfriend namens Quarry Jones. Ein dürrer Weißer. Er schlug sie manchmal, aber die meiste Zeit sah er fern. So wie sie mit den Füßen scharrte und dauernd zur Tür blickte, wusste ich, dass sein Pick-up in unserer Zufahrt stand. Ich wusste, er wartete dort ungeduldig mit laufendem Motor. »Ich habe dich vermisst.«

»Ich dich auch«, sagte ich.

»Maggie. Kannst du mir einen Gefallen tun?«

Ich schloss die Augen.

»Kannst du Granny fragen, ob sie mir was leiht? Bei mir macht sie’s nicht. Du bist doch ihr Liebling.«

»Mama Brown hat Nein gesagt?«, fragte ich.

Cherry legte erwartungsvoll den Kopf schief. »Komm schon, Quarry wartet draußen, und wir haben fast kein Benzin mehr.«

»Ich mach’s nicht. Mir ist nicht gut«, sagte ich.

»Ich habe so viel für dich getan.« Sie schüttelte ihr schlaffes Haar. »Du weißt doch, wie jung ich war, als ich dich gekriegt habe?«

»Mir geht’s nicht gut.«

»Hätte ja wissen müssen, dass ich keine Hilfe kriege. Das letzte Mal, dass ich sie um Geld gebeten habe, war, als ich mit dir schwanger war.« Sie stand auf. »Aber dass eine Frau frei sein will, ist offenbar eine Sünde gegen Gott.«

»Warum sollte sie dir helfen? Sie ist ja nicht mal deine Mutter. Sie ist die Mutter von Daddy.«

»Dein Daddy ist schon verdammt lang tot. Wen hat sie denn sonst zum Bemuttern? Kann echt auf niemand zählen in dieser Drecksfamilie.« Sie knallte meine Tür zu.

Ich war nicht da, um ihre Schritte zurück zur Haustür zu hören oder das Fick dich, das sie vermutlich Mama Brown entgegenfauchte. Ich war nicht im Bett. Ich war nicht mal im Haus.

Ich war ein Laib frisch gebackenes Brot. Ich war ein Laib frisch gebackenes Brot in einem Körbchen, und ein kleines Mädchen brachte mich zum Häuschen seiner Granny. Als das Mädchen das Häuschen der Großmutter schon fast erreicht hatte und ich von der Sonne und dem Duft von Zimtplätzchen unter mir schon halb eingelullt war, kam ein Wolf hinter einem Baum hervorgeschlendert, mitten auf den Weg. Das pelzige Untier sagte: Du bist ein hübsches Ding, kleines Rotkäppchen. Was hast du denn vor? Das Mädchen, das mich in dem Korb trug, sagte: Danke, großer, böser Wolf. Ich gehe zu meiner Granny. Ich war zwar nur ein Laib Brot, aber Gefahr erkannte ich doch. Als der Wolf so tat, als ginge er weg, sagte ich: Bitch, bist du blöd?

Damals musste ich darüber wahrscheinlich lachen. Jetzt finde ich’s nicht mehr so komisch. Jedenfalls, wenn Mama Brown Cherry bei ihrem Problem nicht geholfen hat, hätte sie mir bei meinem wahrscheinlich auch nicht geholfen. Ich wollte, ich hätte Zeit zum Nachdenken. Ich wollte, ich hätte Zeit, in dieser leeren Stille zu sitzen und meine ganze Traurigkeit sich in mir setzen zu lassen. Aber ich habe keine Zeit. Ich muss zur Arbeit.

2

Ich lehne halb auf dem Kassentisch, bin irgendwo zwischen Wachsein und Schlafen, als ein Mann mit blutverschmierten Händen pfeifend hereinspaziert. Ich richte mich auf und blicke auf seine rot glänzenden Knöchel. Ich mag Sommermusik, wenn sie von Ochsenfröschen, Zikaden und fetten Waldsängern kommt. Ein Mann, der pfeift, wenn er einen Raum betritt, der ihm nicht gehört, ist nicht normal. Wie wenn man einen ausgeschlagenen Zahn auf dem Beton findet. Ein Omen.

Er schaut mich an, grinst breit und sagt: »Ma’am, brauche ich für die Toilette einen Schlüssel?«, mit einem richtig fetten Südstaatenakzent. Schlüssel ist nicht nötig, der Mann geht nach hinten, und wehe, er schmiert die Sauerei an den Türknauf und ich soll sie wegputzen. Bis jetzt war es eine typische Arbeitsnacht.

Es ist eine Werktagnacht, also bin ich allein. Die Tanke liegt mitten in Halls Crossroads, und bis zehn ist noch ziemlich Betrieb. Nach zehn habe ich vielleicht einen Kunden alle halbe Stunde; dann nehmen die Männer hier in der Gegend noch ein bisschen Altes Testament zu sich, bevor sie ins Bett fallen und schlafen.

Von draußen kommt ein Scheppern. Es ist Mitternacht. Cigarette Sammy, der einzige andere Schwarze Mensch, den ich auf dieser Seite der Stadt sehe. Er durchsucht die Mülltonnen neben den Zapfsäulen nach Zigarettenkippen, unterhält sich dabei murmelnd und lachend mit den Engeln, die in seinem Kopf herumflattern. Die Plastiktüte steht schon neben mir, voll mit dem Üblichen: L&Ms, ein Schoko-MoonPie, Apfelsaft. Wenn ich Extrageld habe, gebe ich ein falsches Geburtsdatum ein und spendiere noch ein Pabst-Bier. Heute aber nicht.

Ich nehme die Tüte und einen Zigarillo, Black & Mild mit Mundstück, und gehe nach draußen. Der blutige Mann ist noch nicht wieder aus der Toilette gekommen. Ich weiß, ich sollte ihn nicht allein im Laden lassen, aber was auch immer er vorhat, gottgefällig ist es bestimmt nicht. Wenn er klauen will, soll er klauen. Ich vergieße dafür gar nichts. Wenn er mich draußen rauchen sieht, kapiert er vielleicht, dass der Laden ihm gehört, bis ich das Ding ausdrücke.

Cigarette Sammy, bis zu den Ellbogen im Mülleimer, schaut nicht mal auf, als er meine Schritte hört.

»Hey«, sage ich. Ich lächle, strecke ihm die Hand hin mit der Tüte, die am Handgelenk baumelt.

Er hört auf herumzufischen und setzt sich neben mich auf den Asphalt, trinkt schlückchenweise seinen Apfelsaft. Seit ich ihn kenne, guckt er dabei in den Himmel und lacht: seine Art, Danke zu sagen.

Es hat ein paar Monate gedauert, bis ich es raushatte, diese Mitternachtstüten nach Cigarette Sammys Geschmack zusammenzustellen. Meine Arbeitskollegen erzählen Gerüchte über ihn: Bevor ihn das synthetische Gras kaputtgemacht hat, war er ein feiner Kerl. Wie wenn er plötzlich gestorben wäre. Nach diesem schlechten Zeug sei er auf harte Drogen gekommen, und jetzt würde er Kinder anfassen. Als ich ihn das erste Mal sah, wusste ich, dass es nicht stimmt. In der Nacht, als wir uns kennenlernten, sah ich ihn den Müll durchwühlen. Er zog einen ketchupverschmierten Styroporbecher heraus und trank wie halb verdurstet. Ich lief mit einer Flasche Wasser nach draußen, aber er sah mich nicht mal an. Ich sagte: Was dann, Cigarette Sammy? Was mögen Sie? Er guckte auf seine Füße, die unruhig auf zerrissenen Trinkhalmpapierchen herumscharrten. Möchten Sie eine Cola? Milch? Saft? Er hörte auf mit dem Gescharre. Ich kam wieder mit Apfelsaft, Orangensaft und Fruit-Punch-Limo. Er nahm den Apfelsaft. Von da an achtete ich auf seine Füße und hielt mich dran. Aber er wühlt immer noch in den Mülleimern, und deshalb weiß ich, er ist ein bisschen zu sehr daran gewöhnt, auf sich allein gestellt zu sein.

Ich zünde den Zigarillo an und lecke mir die Lippen. Der erste Zug macht immer einen tollen Geschmack im Mund. Aber ich kann die Dinger nur halb rauchen, weil sich dann Zunge, Kehle und Lunge anfühlen, als wären sie mit chemischem Reiniger besprüht und abgeflammt worden. Schrecklich, aber auf eins kann ich stolz sein, ich lechze nicht nach dem Nikotin. Ich kann einen Zigarillo rauchen, wann ich will, und es jederzeit wieder sein lassen. Ich bin nicht wie Cherry. In mir ist kein bisschen Sucht. Trotzdem, ich weiß, es ist total schlecht für mich. Total schlecht für das Baby, das vielleicht in mir ist. Ich habe schon genug zu bereuen für mein ganzes Leben und für das Leben des Vielleichtbabys auch. Ich sollte mir einen Schwangerschaftstest kaufen. Es nicht zu wissen, ist das Allerschlimmste, aber auch das Einzige, was mich tröstet.

»Heute war ich auf einer Beerdigung«, sage ich.

Cigarette Sammy knautscht seine MoonPie-Verpackung zusammen, zeigt auf das Neonschild auf dem Dach: People’s Gas Station. Vielleicht seine Art zu fragen: Warum arbeitest du in diesem Drecksladen? Weiße Motten umschwärmen das neonrote Leuchten. Mama Brown war überzeugt, wenn eine weiße Motte auf jemandem landet, dann naht der Tod. Sie war überhaupt total abergläubisch. Einmal hängte sie Glasflaschen an die Äste des Ahorns im Garten, um unser Haus vor bösen Geistern zu schützen. Sie sagte oft: Meine Nase juckt. Jemand kommt zu Besuch. Und sie stellte nie ihre Handtasche mit dem Geldbeutel auf den Boden, weil sie glaubte, je tiefer der Geldbeutel, desto weniger Geld. Ein paarmal muss sie allerdings nicht aufgepasst haben, denn trotz all ihrer Vorsicht, was ist schon dabei rausgekommen?

Cigarette Sammy knautscht die Verpackung wieder zusammen, zeigt auf das Schaufenster. Der Mann mit jetzt makellos sauberen Händen steht am Kassentisch, Desinfektionstücher und Twizzlers im Arm. Ich will nicht rein. Als er pfeifend zur Toilette ging, guckte ich stur auf einen zerquetschten Käfer auf dem Fliesenboden. Ich fühlte seinen Blick auf meiner Haut, und der langsame Rhythmus seiner Schritte sagte mir, dass er mich in aller Ruhe in sich aufsog.

Ich gucke wieder Cigarette Sammy an. Grahamkeks, Marshmallow und Schokolade kleben in seinen Mundwinkeln. Aber das Wichtigste: Seine Füße bewegen sich nicht.

»Bis dann«, sage ich. Ich ziehe noch ein letztes Mal an meinem Zigarillo und gehe hinein.

Ich schlurfe langsam hinter den Ladentisch. »Sorry«, sage ich. »Dachte, Sie wären eine Zeit lang dadrin.«

Er grinst, und ich schaue zum ersten Mal in sein Gesicht. Milchweiße Haut. Kieferngrüne Augen, tiefe Grübchen und eine orangebraune Sommersprosse auf der Nase. Ringellocken und ein gutes Rasierwasser. Ich schätze ihn auf Ende dreißig, Anfang vierzig. Seine Finger ruhen auf dem Ladentisch. Gepflegte Nägel.

»Sorry, dass ich vorhin so reingekommen bin«, sagt er. Er klingt wie von hier, ist aber nicht so angezogen. Schöner dunkler Anzug mit blauem Seidenschlips. Sein Aussehen und sein Geruch sagen mir: Er hat Geld. Vielleicht ist er ein Geschäftsmann aus dem Zentrum. Vielleicht macht er Gesetze und stellt Schecks aus. Ich wette, er verkauft irgendwas, mit diesen tollen Zähnen. Vielleicht ist er Pastor in einer Schlosskirche, Bestatter berühmter Leute.

Ich habe ihn zu lange angeguckt, ohne was zu sagen. »So reingekommen?« Als hätte ich seinen gruseligen Auftritt nicht gesehen. Ich scanne die Desinfektionstücher und die Twizzlers.

»Irgendein Idiot hat auf der Raccoon Valley Road einen Hund überfahren. Ich musste anhalten und ihn von der Straße runterschaffen.«

Auf dem Parkplatz stand kein Auto. Er öffnet seine Brieftasche auf dem Ladentisch, während er die Zigaretten beäugt, klappt sie dann wieder zu. Ich meine, ich hätte einen New Yorker Führerschein gesehen; ging aber zu schnell, um sicher zu sein. Er klingt, als wäre er von hier, aber das kann nicht sein. »Es ist beinah unmöglich, um diese Zeit eine Tankstelle zu finden. Mein Lenkrad …« Er guckt von den Zigaretten zu mir, macht einen Mund, als wollte er was sagen, und guckt auf mein Namensschild. »Magnolia. Kann ich bitte noch ein Päckchen Virginia Slims haben?« Er sieht nicht aus, als würde er Virginia Slims rauchen.

Ich scanne sie. Er klopft mit seiner Karte aufs Lesegerät. »Josephine Baker«, sagt er.

»Hä?«

»Ich habe überlegt, an wen Sie mich erinnern. Josephine Baker.«

»Danke.« Ich lächle. Ich weiß nicht, wer das ist.

Er schiebt die Karte ins Lesegerät. »Wissen Sie, Sie könnten Model werden.« Er gibt seine PIN ein.

Höfliches Lachen. »Sie sind lustig.« Ich spreche jedes Wort sorgfältig aus. Bei der Arbeit vermeide ich es, Wörter zusammenzuziehen. Das hört und fühlt sich zwar nicht natürlich an, aber den Kunden scheint es zu gefallen.

»Es ist mein Ernst. Würden Sie gern modeln?«

»Klar. Wenn man in Knoxville Model werden könnte, klar.«

Er greift in die Tasche, zückt mit zwei Fingern eine Karte und legt sie auf den Ladentisch. Ich berühre die Karte, die dick, fest und weiß ist. Durch die Grübchen beim Grinsen wirkt er ein bisschen jünger. »Denken Sie drüber nach.« Er nimmt seine Ware und geht zur Tür. Seine Schuhe machen Musik auf den Fliesen. »Gute Nacht.«

Nachdem ich seinen Bon weggeworfen habe, gucke ich aus dem Fenster; er ist verschwunden.

Als meine Schicht zu Ende ist, überlege ich, ob ich zu Fuß noch einen Umweg von einer halben Stunde machen soll, zu einer anderen Tankstelle, wo ich einen Schwangerschaftstest kaufen könnte, weil mich dort niemand kennt. Angie ist jetzt an der Kasse und zählt Zigaretten, und sie würde den Mund verziehen, so wie: Oh, ich wusste gar nicht, dass du’s getrieben hast. Als wäre sie nicht bald sechzig und hätte keine Beziehung mit einem Mann, mit dem sie permanent so was wie ein Highschooldrama laufen hat. Es ist drei Uhr morgens, die Welt ist tot, und meine Füße tun weh. Ich kann das alles morgen machen. Wenn ich’s jetzt weiß und mir klar wird, dass ich entweder den Lebensunterhalt für zwei Leute ranschaffen oder mich drauf einstellen muss, wirklich allein zu sein, wie soll ich dann einschlafen?

Der Bus fährt von Halls Crossroads zum Fuß des House Mountain. Halls wird zu Fountain City – Bräunungsstudios, Boutiquen und Spas. Weiter den Broadway rauf – Autotiteldarlehen, Pfandleihhäuser, Taqueria La Herradura mit dem guten Fisch (mit Gräten und allem), Tattoostudios und noch mehr Autotiteldarlehen. So spät hat alles zu.

Raus aus dem Bus, die Seitenstraße lang, durch den Wald. Auf der Zufahrt fühlen sich meine Schritte zu schwer an, als würde ich durch Wasser gehen. Das einstöckige weiße Haus und seine kleine Eingangsveranda, kein Licht, denn niemand ist da. Die gelbe Tür düster im Nachtdunkel.

Ich denke nicht an die Geschäftskarte, bis ich drinnen bin. Ich sitze im Fernsehsessel, unter einem Quilt verkrochen und mit einem Blunt. Ein Jazzsender bringt einen ausgesuchten Mix. Gerade läuft »Sleep Walk« von Santo & Johnny. Das habe ich noch nie gehört, aber es passt zu etwas in meiner Brust. Ich inhaliere Fake-Traubenaroma und schwaches Gras und ziehe die Karte aus meiner Tasche. Sie fühlt sich nicht an wie Karton. Sie fühlt sich an wie Wildleder. Eine geschwungene Schrift in Dunkelgold: Cotton & Eden Productions. Telefonnummer, E-Mail, Postanschrift, aber keine Beschreibung, kein Websitelink. An diesen weißen Mann zu denken, weckt einen neuen Wunsch. Er hatte etwas Geheimnisvolles: wie er sprach, welche Zigaretten er nahm und die soliden Schuhe mit den guten Sohlen. Aber ich werde mich nicht bei ihm melden. Die einzigen Modeljobs in Knoxville würden damit enden, dass mein Haar steif und toupiert wäre, ein mieses Revival von Glamourbildern aus den Achtzigern. Oder dass mein Körper zerhackt in Kartons in einem feuchten, leer stehenden Lagerhaus liegen würde. Ich nehme noch einen Zug von dem Blunt, kratze mir die Nase, werfe die Karte auf den Couchtisch. Was hat der weiße Mann gesagt, wem ich ähnlich sehe?

Meine Nägel lauern über der Laptoptastatur, bis es mir wieder einfällt. Die Fotos sagen mir, dass ich kein bisschen wie Josephine Baker aussehe. Sie hatte Schmollaugen und einen Gepard als Haustier. Vielleicht haben wir denselben Hautton. Sie ist auf jedem Foto jemand anders: verruchte Jezebel, Geschäftsmann, Dschungelgöttin. Mein Lieblingsbild von ihr ist das mit Bananen um die Taille. Ich frag mich, ob ich mit einem Rock aus Früchten gut aussehen würde. Verflixtes Jucken. Ich kratze mir die Nase.

Zeit ist ohne Bedeutung. Es ist vier Uhr morgens, und ich bin nicht im Bett. Meine ganze Sonne sind die Leselampe und das Schummerlicht von meinem Laptop. Ich schwimme im Dunkel, oder das Dunkel schwimmt in mir. Mama Browns Leben ist hier immer noch so deutlich zu riechen, und meine Nase hört nicht auf zu jucken. Alle Fenster und Türen bleiben fest zu, aber es fühlt sich an, als würde der heiße Sommer durch die Ritzen dringen. Einen wohltuenden Balsam, den hätte ich gern. Ich stehe auf, lasse den Laptop auf den Fernsehsessel rutschen. Lasse Louis Armstrong dem leeren Zimmer was von grünen Bäumen vorsingen. Im Bad läuft kaltes Wasser über meine Handgelenke. Abkühlung, das brauche ich. Vielleicht ist es ja, weil ich high bin, aber mein ganzes Leben scheint in dieses Waschbecken zu fließen. Und wie ich diesen Napf sehe, der mein Waschbecken ist und ganz allein meins, wird mir klar, dass ich noch nie ein so kleines Waschbecken im TV gesehen hab. Nicht mal in Serien und Filmen, wo die Leute arm sein sollen. Und die Badewanne – ich muss die Beine anziehen, wenn ich baden will. Dieser Raum ist nicht zum Baden und Zähneputzen – er ist zum Kleinsein.

Das einzige noch kleinere Waschbecken, das ich je gesehen habe, war in Cherrys Trailer. Als das mit ihr und Quarry anfing, war ich fünf. Er hatte noch seine Zähne und eine Menge heublondes Haar. Und am Anfang, als sie sich kennenlernten und frisch verliebt waren, da hat er versucht, mich auch zu lieben. Am Tag nachdem er bei uns eingezogen war, kam er von der Arbeit heim. Er hatte eine Schachtel Pizza Plus dabei und einen rosa Cowgirlhut. Habe ich von meinem Trinkgeld gekauft, sagte er. Ich setzte ihn auf. Quarry ging auf alle viere, und wir lachten, bis uns die Tränen kamen: ich mit den Beinen um seinen Hals, er – trab, trab – durchs Wohnzimmer, Cherry machte Fotos mit der Wegwerfkamera. Meine Blase war voll, aber es war einfach zu lustig. Ich ließ es laufen. Wir lachten noch doller. Ich sprang ab, und er rannte ins Bad, wusch sich Nacken und Kopf mit Seife aus dem Seifenspender und Wasser. An diesem winzigen Waschbecken. Ja, solche Orte sind dafür gemacht, ein kleines Leben zu leben.

Wie hat Mama Brown es geschafft, ihr ganzes Leben gebückt und beengt zu verbringen? Ich will Platz, um meine Lunge ganz zu füllen, Platz, um richtig langsam auszuatmen. Vielleicht wusste Mama Brown ja nicht, wie erstickend unser Leben war, mit nichts als Wänden und einem bummernden Herzen. Wenn sie all meine schlechten Gedanken kennen würde, würde sie sagen: Magnolia, was versinkst du in Selbstmitleid, wenn wir doch eine Perle am Himmel haben, Schuhe an den Füßen und Liebe in uns drin? Ich kann den Mond nicht als Perle sehen. Wenn ich in Selbstmitleid versinken will, dann lasst mich versinken.

Es klopft dreimal an der Haustür.

Ich drehe das Wasser ab und horche. Ich höre nichts außer Louis, der mir sagt, dass er die Welt wundervoll findet.

Klopf, klopf, klopf.

Ich schleiche ins Wohnzimmer, und ehe ich es bringe, durch den Spion zu gucken, stehe ich ganz still und horche. Auf der anderen Seite ein leises Pfeifen. Und einen Moment lang bin ich ein Kind, das Angst hat, was da lauern könnte – eine Banshee, die den Tod ankündigt und ein bisschen zu spät kommt, ein Mann, der vorgibt, er müsse telefonieren, nur um aus mir einen Haufen Knochen zu machen. Wenn ich jetzt nicht gucke, tu ich’s gar nicht. Das Auge an das kleine Guckloch gepresst, sehe ich ihn. Sugar Foot steht da in seinem Anzug, kaut rosa Kaugummi. Er blickt auf das Guckloch, als könnte er mich ganz sehen, und grient.

Ich schleiche in mein Zimmer, drücke die Tür zu und krieche ins Bett. Er soll gefälligst in seinem eigenen Bett sein, um den leeren Platz zu spüren und seine Frau zu vermissen, die er ins Altersheim gesteckt hat – den Schlafgeruch ihrer Nachtcreme zu vermissen, ihr Gemurmel im Traum. Und nicht hier an meine Tür klopfen. Stille im Haus, bis auf das gedämpfte Saxophon. Als ich sicher bin, dass er aufgegeben hat und gegangen ist, schleiche ich wieder ins Wohnzimmer. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss – kurzes Zähneklappern –, und er marschiert in mein Haus.

»Was zum …«

»Miss Magnolia«, sagt er.

Ich reibe mir die Augen. »Wollte grade aufmachen.«

Wir setzen uns auf das gelbe Sofa mit den eingesunkenen Polstern.

Das Schweigen zieht sich. Sugar Foot wippt mit dem Kopf zu einem Song ohne Worte, während er den Blick durchs Zimmer wandern lässt. Er guckt, als würde er Bestandsaufnahme machen. Und es ist spät. Zu spät für das hier. Aber er wirkt nicht, als wollte er gleich gehen.

Schließlich sagt er: »Wie kommst du klar?«

»Ich tu mein Bestes.«

»Ich wollte nur mal vorbeikommen und nach dir schauen.« Er macht eine Blase. Sie platzt – ein trockener Knall. »Du warst vorhin nicht ganz du selbst.«

Er sitzt breitbeinig da, nimmt den ganzen Platz ein.

»Mama Brown ist tot.« Als diese Worte von meinen Lippen purzeln, habe ich das Gefühl, ich rede in Zungen. Ich wünschte, ich würde an Geister glauben. Erscheine, Mama. Auch wenn du nur ein kleines Rauchwölkchen bist. Flutsche diesem Mann in den Hals. Bring ihn zum Husten. Dann sage ich ihm, wir haben keine Halspastillen. Er muss zur Tür rausgehen, in sein Auto steigen, zur Apotheke fahren. Erscheine, als hättest du mich nie verlassen.

»Ich wollte mich noch entschuldigen«, sagt er.

»Wofür?« Als hätte sich mir nicht der Magen verknotet, als er sich die Lippen leckte.

»Dass ich mit dir über die schnöden Dinge des Lebens geredet habe.« Er hält inne, kratzt sich die Bartstoppeln, als würden sich die richtigen Worte irgendwo darunter verstecken. »Du bist ein behütetes Mädchen, Miss Magnolia.«

»Das würde ich so nicht sagen.« Er weiß wohl nicht alles über Cherrys Versuche, mich großzuziehen. Und die letzten Monate, die Mama Brown noch gelebt hat, war ich auch nicht gerade behütet. Habe mich durch Tinder gewischt. Wärme im Sexgeruch von Männern gesucht. Meinen Körper auf vermüllten Parkplätzen dargeboten, im Bett von Fremden, im Rippenkäfig eines atmenden Walds. Wenn mein Problem wirklich eins ist, wird dieses Baby seinen Daddy nicht kennen. Aber ob man seinen Daddy und seine Mom kennt, scheint keinen Wahnsinnsunterschied dabei zu machen, wie man lebt. »Ich zahle meine Rechnungen. Ich arbeite.«

»Weißt du, was deine Granny in deinem Alter gemacht hat?« So wie sein Blick jetzt weich wird, ist er tief in Erinnerungen. Er kichert, und kurz denke ich, er klingt nicht wie ein alter Mann. Er klingt wie ein Kind. »Sie ist mit einem Limokronkorken rumgelaufen, festgesteckt am Oberteil.«

Ich lache. »Was?«

Er lächelt. »Du bist echt total behütet.«

»Warum mit einem Kronkorken?«

»Sie hat die Männer wissenlassen …« Er spitzt die Lippen und studiert mein Gesicht. »Sie war für Geld zu haben.«

»Das ist nicht meine Sache und Ihre auch nicht.«

»War es aber.«

Das kaputte Sofa schluckt mein Gewicht. Ich sitze nie auf diesem Ding – es ist eher ein lustiges und trauriges Dekorationsstück als ein Sitzmöbel. Warum habe ich mich nicht in den Fernsehsessel gesetzt? Jetzt käme es mir unhöflich vor umzuziehen. Als würde ich Streit suchen. Er rückt ein bisschen näher. Sein Geruch ist aufdringlich: Kaugummi und Sandelholz.

»Ich sage nicht, dass es unrecht war, was sie gemacht hat. Sie musste ja über die Runden kommen.« Er macht wieder eine Kaugummiblase. »Sie war was Besonderes.«

»Jeder weiß, dass Mama Brown was Besonderes war.« Ich gähne. »Ich bin müde.«

»Ich sorge mich ein bisschen, wie du klarkommst, das ist alles. Deine Granny hatte Rückgrat. Sie war nicht so leicht unterzukriegen.« Er berührt meinen Schenkel. »Du bist weich.«

»Nein«, sage ich.

3

Ich bin Brotkrümel. Ich bin Brotkrümel in der Tasche eines kleinen Jungen. Er ist mit einem kleinen Mädchen unterwegs, und bei jedem ihrer Schritte durch diesen Wald voller herumliegender Äste hüpfe ich auf und ab. Das kleine Mädchen sagt: Bruder, kannst du mich heimbringen? Er lässt was von mir auf den Boden fallen. Das ist okay, weil es nicht wehtut. Verstreut zu werden, macht mir nichts. Sie sagt wieder: Bruder, lass uns heimgehen. Er verstreut das letzte bisschen von mir im Hof eines Häuschens, das ganz aus Süßigkeiten ist. Da sind Butterscotchbonbons und Pfefferminz- und weiche Karamellbonbons. Zuckerstangen und Root-Beer-Drops und Erdbeerbonbons. Da sind Wirbellutscher und Wunderbälle und so viel Kaugummi. Ich bitte den Wind, mich hochzuwehen. Lass mich Süßigkeiten kosten, sage ich, lass mich zurückkehren. Der Wind hört nicht auf mich, was klar ist, weil der Wind der Wind ist. Eine fette Krähe stößt herab, landet. Der Vogel pickt mit seinem steinharten Schnabel auf mich ein. Ich sage: Verschwinde, Krähe. Ich sage: Dein Atem ist wie Leichengestank.

4

Ich weiß, ich sollte weinen, bis meine Augen geschwollen sind. Ich sollte Sugar Foot aufstöbern und ihn blutig schlagen. Dass er um sein Leben fleht. Aber ich werde nicht so leicht traurig und wütend. Also dusche ich stattdessen und verneble das kleine Bad mit Dampf. Ich schrubbe und schrubbe und schrubbe. Scheure mich ab, während die alten Rohre stöhnen. Danach schmiere ich mich mit Kakaobutter ein. Als ich in ein dünnes Trägerkleid schlüpfe – kein BH, kein Slip, nicht mal ein Tanga –, bin ich eine furchtlose Frau. Ich bin die, die ich auf Tinder bin. Ich bin Carolina Nettle.

Es fühlt sich gut an, draußen zu sein, raus aus der düsteren Einsamkeit des Hauses, weg von meiner jüngsten schlimmen Erinnerung. Wenn ich drinnen geblieben wäre, bei all dem, was mich an Mama Brown erinnert, all den greifbaren Beweisen dafür, dass sie nicht mehr da ist, um mich zu beschützen – ich weiß, dann würde ich anfangen zu schluchzen. Auf die Art, bei der ich Panik kriege, weil meine Lunge ihren verdammten Job nicht macht, sich aufzublasen. Aber ich bin sowieso nicht dort. Nein, ich bin in diesem Wald, der von Hitze und Licht pulst. Feuchtigkeit klebt auf meiner Haut. Das schöne Wetter und das ganze Leben um mich rum halten etwas in mir am Pumpen. Ausgestreckte grüne Finger von Platanen und Pappeln. Die gespreizten Hände von Indianernesseln. Spatzen und singende Gelbkehlchen, Spechte, die ein taumelndes Trommeln in mir mitklopfen.

Ich war müde, so müde, als ich mich mühsam aus dem Schlaf herauswühlte. Ich war aufgeblieben, bis die Sonne durch ihren violetten Schleier lugte; als ich dann um die Mittagszeit aufwachte, wusste ich, ich musste raus.

Die Sonne besänftigt mich, gart meine feuchte Haut. Ich sitze auf dem backofenheißen Holz der Veranda. Die Wärme breitet sich auf meinen Oberschenkeln aus, während ich warte. Ein kirschroter Wagen biegt in die Zufahrt ein. Ein neuer. Ich treffe nie einen Mann zweimal.

Ein dunkelfarbiger Typ steigt aus, kommt zu mir herauf. Er lässt ein Zuchtperlenlächeln aufblitzen. »Carolina?« Er steuert auf die Tür zu.

»Nein, komm mit.« Ich fasse seine Hand, führe ihn in den Garten. Wir stehen in der Mitte, umzingelt von Löwenmäulchen, reifen Tomaten, Kürbissen, Basilikum, Pfefferminzdickicht. Monarchfalter und Bienen saugen Nektar.

Er küsst mich. Ich stecke meine Zunge zwischen seinen Zahnreihen hindurch. Meine Hand gleitet über seine Brust hinunter, die Bauchmuskelwülste, fummelt, bis seine Gürtelschnalle klickend aufgeht, die Hose bis zu den Knöcheln runterrutscht. Zu unseren Füßen: Geißblattranken. Er legt sich regelrecht in seinen Kuss, und wir sinken auf den weichen Boden, als hätten wir die Schwerkraft vergessen. Ich ziehe mein Kleid hoch, und er schiebt sich zwischen meine Schenkel, tief. Ich lass ihn in dem Glauben, dass es so läuft, bis er steif ist, dann wälze ich ihn herum und setze mich auf ihn. Auch nach all dem Schrubben senkt sich unsichtbarer Dreck in meine Haut. Ich fühle ihn – wie er einsickert, zu Bosheit gärt. Meine Finger verdrehen sein Hemd. Und die Berührung dieses Mannes ist nicht anders als die von Sugar Foot. Kein süßes Verlangen, nur schiere Gier. Meine Hände packen seinen Hals, die Nägel graben sich ein, aber nur ein bisschen. Welches Recht hat er, so heißhungrig auf meine Pussy zu sein, meine Pussy zu brauchen, als wäre er ohne Essen ins Bett gegangen? Meine Augen laufen voll, aber ich ziehe meine Titten raus, damit er’s nicht merkt. Seine Finger zwirbeln meine Nippel, und Gott, ich will nicht, dass es mich erregt, aber es tut’s, und ich spring drauf an. Ich fühle, wie sich innen an meinen Schenkeln Schweiß bildet, wie er runterrinnt zu all der Nässe. Seine Arme sind schlaff, sein Gesicht hat diesen kindlichen Ausdruck des Schönfindens, mit offenem Mund. Er scheint sich zu wohlzufühlen. Meine Hände krabbeln auf seine Brust und kratzen, kratzen, kratzen. Als es aussieht, als wäre da Angst in seinen Augen, sage ich: »Ja, Junge, ich bin’s, vor der du Angst hast.« Ich sage: »Halt still.« Ich komme.

Als mein Schreien und Wimmern nachlässt, treten seine Augen hervor. »Ich bin gleich …« Ich steige schnell ab und stecke ihn mir in den Mund. Das Heiße, Bittere schießt in meinen Rachen, erstickt den Zorn dort drinnen. Ich schlucke und stehe auf.

Er liegt immer noch auf dem Rücken, atemlos, zitternd. »Kann ich dein Bad benutzen?«

»Ich muss wohin.« Ich gehe, wische mir Dreck vom Kleid, sein Zeug von den Lippen. Lasse ihn sich die Hose hochziehen und zumachen vor all dem fliegenden Getier.

Das Walgreens in der East Side ist nicht weit. Ich gehe aus dem dichten Stück Wald raus auf die Magnolia Avenue, wo ich Netz habe, und checke mein Bankkonto auf dem Handy. Ich habe noch neunzehn Dollar für den restlichen Mai, bis ich meinen nächsten Scheck kriege. Zwei Wochen. Die Miete brauche ich wohl diesen Monat nicht zu zahlen. Ein billiger Schwangerschaftstest muss reichen.

Ich gehe an den Apartments vorbei; Jugendliche hängen auf den Seitenveranden ab, Kinder spielen im Süßgras Fangen. Diese Seite der Stadt fühlt sich nach Liebe und Lust an. Dröhnende Bässe aus vorbeifahrenden Autos mit runtergedrehten Scheiben. Ich weiß, an so schönen Tagen muss man beim Tammy’s Fried Green Tomatoes ordentlich warten, und auf dem Flohmarkt in der Nähe herrscht wahrscheinlich ein einziges Gedrängel und Gefeilsche. Neben dem Wok N Roll betreten und verlassen hübsche Frauen das Q-Nails. Weiter rauf Richtung Asheville Highway, vor dem Smokeshop, stehen immer ein paar Alte rum.

Ich bin froh über den kühlen Kuss der Klimaanlage im Walgreens und gehe langsam den Make-up-Gang entlang. Ich sollte kein Geld ausgeben, das ich nicht habe, aber Gucken kostet ja nichts. Ich mag die Lidschatten, die wie Fischschuppen schillern. Das habe ich wahrscheinlich von Cherry. Als ich klein war, fünf oder sechs, und noch bei ihr und Quarry wohnte, hat sie mich immer mitgeschminkt, wenn sie sich schminkte. Alles war da soft: ihr Vanilleparfüm, unsere geglossten Lippen, Ashantis Stimme aus dem Radio. Ich saß in all der Softheit und durfte klein sein, und ich sagte: Mommy, mach mein Gesicht golden. Und Cherry sagte dann: Maggie, ich mach dich so golden, dass die Leute denken, ich habe Fort Knox ausgeraubt. Ich sang die Songs mit und tat so, als wäre ich im Radiosender, ein Mikro in der Hand, die Augenlider schwer von Glitzer. Ich wollte berühmt sein: eine Diva mit Federboa und Fans und Limousinen und schlanken Champagnerflöten. Cherry versprach mir, dass ich es schaffen würde. Und wir sangen zusammen, bevor sie zur Arbeit ging oder wenn sie Abendessen machte. Wir klangen so schön wie eine Windharfe. Aber Quarry schickte mich immer mein Gesicht waschen, wenn er sah, was sie gemacht hatte.

Jetzt trage ich kaum Make-up. Ich pflücke einen roten Lippenstift von seinem Plätzchen im Ständer. Blutrot – die Farbe von einer, die Männern den kleinen Zeh abbeißt und ihn in den Straßengraben spuckt. Die Farbe für Carolina Nettle. Ich gucke auf den Preis und stelle den Lippenstift zurück. Muss tun, wofür ich hergekommen bin, und dann gehen. Ich bin jetzt im Gang mit den Schwangerschaftstests.

»Magnolia?«

Eh ich mich zu der Stimme umdrehen kann, höre ich einen Gehstock klacken.

»Pastor Wooly«, sage ich.

Er kommt zu mir gehumpelt. »Wie geht’s?« Seine Schwarzbohnenaugen wandern zu den Tests im Ständer.

Er kneift die Augen zusammen, und ich frage mich, ob er das Sperma in meinem Atem riechen kann.

»Gut, danke«, sage ich.

»Weißt du, Mama Brown hat jetzt ihren Frieden«, sagt er.

»Ich weiß.« Wir schweigen, und ich hoffe, dass er gerufen wird, sein Medikament abholen, oder dass seine Frau anruft und sagt, er solle Debbie Cakes mitbringen, oder dass ihm einfällt, dass es Zeit ist, mit Gott zu reden.

»Sugar Foot hat es mir erzählt«, sagt er.

Wenn ich irgendwas im Magen hätte, würde ich auf seine blank geputzten Schuhe kotzen.

»Was?«

»Habe heute Morgen mit ihm geredet; hat mir gesagt, er hat vor, dir diesen Monat die Miete zu erlassen.« Er nickt zu irgendeinem Beat in seinem Kopf. »Du kannst auf uns zählen, wenn du Trost brauchst. Die Kirche ist deine Familie. Wir sind da.«

»Danke, Pastor.« Ich sag das mit einem Lächeln, das sich zu künstlich anfühlt. In dem Moment, als Mama Browns Herz stehenblieb, habe ich gesagt, das war’s mit Kirche. Die Trauerfeier hat das für mich nur noch mal bestätigt. Und Sugar Foot, der meinen Körper nimmt und Diakon ist. Wenn das jetzt Familie ist, will ich keine.

Die Apothekenabteilung ruft ihn mit einer sterilen Stimme. Ich gehe langsam weiter.

»Schön brav sein, ja?« Ich spüre seinen Blick auf meinem Rücken.

Ich gehe wieder zurück zu dem roten Lippenstift im Make-up-Gang. Ja, das ist die kühne Farbe einer Frau, deren Stilettoschritte Beachtung fordern. Wenn eine Frau sich die Lippen in so einer krassen Farbe anmalt, dann sagt ihr niemand, nicht mal Pastor Wooly, sie solle brav sein. Ich lasse den Lippenstift in meiner Hand hüpfen und wandere weiter, bis ich ein Parfümspray sehe. Body Fantasies Vanille – billig und riecht nach früher.

Ich schlage die Zeit tot.

Im Süßigkeitengang schnappe ich mir einen Beutel Lollis. Ich werde für dieses Zeug kein Geld ausgeben. Wenn er mich mit dem Test sehen würde, bekäme ich eine leise vorgetragene Feuer-und-Schwefel-Predigt. Alle in der Kirche würden wissen, was ich für eine bin. Sugar Foot würde wissen, dass ich kein Geld habe. Er würde wahrscheinlich öfter vorbeikommen.

Ich spähe in die Apotheke. Er ist nicht da. Ich pirsche mich zu den Kassen vor. Da ist er, überfliegt die Zeitung, lehnt mehr überm Frischgedruckten als auf seinem Stock. Er spürt wohl meinen Blick, denn bevor ich in den Gang abtauchen kann, hat sich seine Aufmerksamkeit auf mich gerichtet.

Ich gehe auf ihn zu, halte die unschuldigen Waren gut sichtbar.

»Fertig eingekauft?«, fragt er. Er studiert weiter die Zeitung.

Ich lege Lippenstift, Parfümspray und Lollis auf den Tresen.

»Ja, Pastor. Und Sie?«

»Gottes Zorn sengt gewaltig, was?« Er fächelt mit der Zeitung, legt sie in den Drahtständer.

Mein Handy piept meine Nummer ins Zahlterminal. Keine Belohnungspunkte. »Ja, Sir. Ist echt heiß draußen.«

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