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Magic Study

hier erhältlich:

Jenseits von Ixia liegen die Wurzeln der Magie...

Als die Entdeckung ihrer magischen Fähigkeiten zu einem Hinrichtungsbefehl führt, bleibt Yelena nichts anderes übrig, als nach Sitia zu fliehen, ihrem lang verschollenen Geburtsort. Dort hat sie die Chance, ihre Familie wiederzufinden, die sie nie kennengelernt hat. Doch Sitia ist ihr fremd und die Menschen, denen sie zu vertrauen glaubte, begegnen ihr mit Misstrauen und Hass – sogar ihr eigener Bruder.

Dann bekommt Yelena die Chance, in die Hauptstadt zu reisen. In der Zitadelle kann sie ihre magischen Fähigkeiten unter der Anleitung von Meistermagiern verfeinern. Während sie die Gesetze der Magie erlernt, trifft Yelena auch diejenigen, die keine Scheu davor haben, sie zu brechen. Und als ein abtrünniger Magier auftaucht, der es auf junge Frauen abgesehen hat, riskiert Yelena ihr Leben, um ihn zu stoppen.


  • Erscheinungstag: 20.08.2024
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745704617
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Triggerwarnung

Liebe Leser:innen,

dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr am Romanende eine Themenübersicht, die demzufolge Spoiler enthalten kann.

Wir wünschen euch das bestmögliche Erlebnis beim Lesen der Geschichte.

Euer Team von reverie

1.
Kapitel

»Wir sind da«, sagte Irys. Ich schaute mich um. Der Dschungel, der uns von allen Seiten einschloss, explodierte förmlich vor Leben. Üppig wucherndes Gebüsch versperrte uns den Pfad, Lianen hingen von den Bäumen, deren Geäst sich zu einem undurchdringlichen Himmel verknotet hatte, und das immerwährende Krächzen und Trillern der Urwaldvögel hallte in meinen Ohren wider. Kleine pelzige Kreaturen, die uns auf unserem Weg gefolgt waren, lugten misstrauisch zwischen riesigen Blättern hervor, hinter denen sie sich vor uns versteckten.

»Wo?«, fragte ich mit einem Blick auf die anderen drei Mädchen, die sich ratlos anschauten. Die Luft war so schwül, dass ihre dünnen Baumwollkleider schweißgetränkt waren. Auch meine schwarze Hose und meine weiße Bluse klebten an meiner klammen Haut. Ich war müde von dem schweren Rucksack, mit dem ich mich auf den schmalen Dschungelpfaden abgeschleppt hatte, und meine Haut juckte von den Stichen unzähliger Insekten, deren Namen ich nicht kannte.

»Die Heimstatt der Zaltanas«, erwiderte Irys. »Und höchstwahrscheinlich dein Zuhause.«

Neugierig betrachtete ich das dichte Grün ringsumher, ohne etwas zu entdecken, das auch nur im Entferntesten einer Ansiedlung glich. Jedes Mal, wenn Irys auf unserem Weg in den Süden verkündete, dass wir ein weiteres Ziel erreicht hatten, fanden wir uns normalerweise mitten in einer kleinen Stadt oder einem Dorf wieder, mit Häusern aus Holz, Backstein oder Ziegeln, umgeben von Feldern und Bauernhöfen.

Die Einwohner, die allesamt farbenprächtige Kleider trugen, hießen uns gewöhnlich freundlich willkommen, gaben uns zu essen und lauschten unseren Erzählungen, während rings um uns ein wildes Stimmengewirr herrschte und uns die unterschiedlichsten Düfte in die Nase stiegen. Anschließend wurde in aller Eile die ein oder andere Familie herbeigerufen, und unter aufgeregtem Geschnatter wurde eines der Kinder aus unserer Mitte, das im Waisenhaus im Norden gelebt hatte, seinen Angehörigen zurückgegeben, von deren Existenz es überhaupt nichts gewusst hatte.

Auf diese Weise war unsere Gruppe nach und nach immer kleiner geworden, nachdem wir erst einmal das kalte nordische Klima hinter uns gelassen hatten und immer tiefer in das im Süden gelegene Sitia vordrangen. Und jetzt schwitzten wir in der drückenden Schwüle des Dschungels, in dem nicht der geringste Hinweis auf eine Stadt zu erkennen war.

»Heimstatt?«, fragte ich.

Irys seufzte. Aus ihrem straff zusammengebundenen Knoten hatten sich schwarze Haarsträhnen gelöst, und ihre strenge Miene passte nicht so recht zu dem schalkhaften Blitzen in ihren smaragdgrünen Augen.

»Yelena, der Augenschein kann trügen. Suche mit deiner Seele, nicht mit deinen Sinnen«, belehrte sie mich.

Mit meiner feuchten Handfläche rieb ich über den gemaserten Griff meines hölzernen Streitkolbens und konzentrierte mich auf die glatte Oberfläche. Mein Verstand wurde eine weiße Fläche, und das Summen des Dschungels verebbte, während ich mein Bewusstsein in andere Lebewesen hineinprojizierte. Plötzlich sah ich meine Umgebung durch die Augen einer Schlange, die auf der Suche nach einem sonnigen Platz durchs Unterholz glitt. Kurz darauf schwang ich mich mit einem langgliedrigen Tier in einer solchen Leichtigkeit durch das Geäst der Baumkronen, dass es mir vorkam, als ob wir flögen.

Immer noch in luftiger Höhe, bewegte ich mich unvermittelt inmitten von Menschen mit offenem und freundlichem Sinn, die sich darüber unterhielten, was sie zu Abend essen wollten, und über Neuigkeiten aus der Stadt diskutierten. Nur einer von ihnen machte sich Sorgen über die Geräusche, die von unten aus dem Dschungel heraufdrangen. Etwas war nicht in Ordnung. Ein Fremder hielt sich in der Nähe auf. Eine mögliche Gefahr. Wer ist in mein Bewusstsein eingedrungen?

Sofort war ich wieder ganz bei mir. Irys betrachtete mich aufmerksam.

»Sie leben auf den Bäumen?«, fragte ich.

Sie nickte. »Aber vergiss eines nicht, Yelena: Nur weil du in den Verstand von Menschen eindringen kannst, bedeutet das nicht, dass du ihre geheimsten Gedanken ausspionieren darfst. Das wäre ein Bruch unseres Ehrenkodexes.«

Ihre Stimme klang streng, die Meister-Magierin wies ihre Schülerin zurecht.

»Es tut mir leid«, sagte ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich vergesse immer wieder, dass du noch viel lernen musst. Höchste Zeit, dass wir die Zitadelle erreichen und endlich mit deinem Unterricht beginnen. Aber hier werden wir uns wohl einige Zeit lang aufhalten müssen.«

»Warum?«

»Ich kann dich nicht einfach bei deiner Familie zurücklassen wie die anderen Kinder. Doch es wäre auch unmenschlich, dich sofort wieder von ihr zu trennen.«

In diesem Moment rief eine laute Stimme von oben: »Venettaden.«

Irys hob den Arm und murmelte etwas Unverständliches, doch mein Körper wurde starr, ehe ich dem Zauber, der uns umgab, Widerstand leisten konnte. Unfähig, mich zu bewegen, versuchte ich, die aufkommende Panik zu bekämpfen und eine mentale Schutzmauer um mich herum zu errichten, aber die Magie, die mich einhüllte, stieß die Steine der imaginären Wand schneller um, als ich sie aufbauen konnte.

Nur Irys war unbeeindruckt. Sie rief in die Baumkronen hinauf: »Wir sind Freunde der Zaltanas. Ich bin Irys vom Jewelrose-Clan, Vierte Magierin in der Ratsversammlung.«

Ein weiteres, mir unbekanntes Wort schallte von oben herunter. Meine Beine zitterten, als die Wirkung des Zaubers verebbte. Ich sank auf den Boden und wartete darauf, dass das Schwächegefühl nachließ. Auch die Zwillinge Gracena und Nickeely konnten sich nicht mehr auf den Beinen halten. May rieb sich das Knie.

»Warum seid Ihr gekommen, Irys Jewelrose?«, fragte die Stimme von oben.

»Ich glaube, ich habe eure verlorene Tochter gefunden«, erwiderte sie.

Aus dem Geäst entrollte sich eine Strickleiter.

»Hinauf, Mädchen«, sagte Irys. »Yelena, halt das untere Ende fest, während wir hochklettern.«

Und wer wird die Leiter für mich festhalten?, dachte ich sofort. Prompt hörte ich Irys’ ärgerliche Stimme in meinen Gedanken. Yelena, es ist bestimmt kein Problem für dich, auf die Bäume zu kommen, wies sie mich zurecht. Selbst wenn sie auf die Idee kämen, die Leiter hochzuziehen, ehe du oben bist. Dann kannst du immer noch deinen Eisenhaken und dein Seil benutzen.

Natürlich hatte sie recht. Als ich mich vor meinen Feinden in Ixia in den Bäumen verstecken musste, gab es auch keine Leiter, die ich bequem hätte erklimmen können. Abgesehen davon machte es mir noch immer Spaß, gelegentlich durch die Baumkronen zu ›spazieren‹, um in Übung zu bleiben.

Irys warf mir ein Lächeln zu. Das liegt dir wahrscheinlich im Blut.

Mir wurde ein wenig unbehaglich zumute, als ich mich an Mogkans Worte erinnerte. Er hatte gesagt, ich sei mit dem Blut der Zaltanas verflucht. Doch warum sollte ich den Worten eines MagiersMagier, der längst tot war, Glauben schenken? Vorsichtshalber hatte ich das Thema Irys gegenüber nie zur Sprache gebracht, da ich mir keine falschen Hoffnungen über meine Zugehörigkeit zum Clan machen wollte. Denn Mogkan war es durchaus zuzutrauen, dass er anderen selbst im Sterben noch einen letzten hinterhältigen Streich spielte.

Mogkan und Reyad, General Brazells Sohn, hatten mich zusammen mit mehr als dreißig anderen Kindern aus Sitia entführt. Jedes Jahr waren ihnen zwei Kinder zum Opfer gefallen. Sie hatten die Mädchen und Jungen in Brazells »Waisenhaus« geschleppt, das im Norden auf dem Territorium von Ixia lag, um sie für ihre perversen Pläne zu missbrauchen. All diese Kinder trugen nämlich das Potenzial zum MagierMagier in sich, weil sie aus Familien mit ausgeprägten Kräften stammten.

Von Irys wusste ich, dass Magie ein Geschenk war und dass es in jeder Sippe nur eine Handvoll Magier gab. »Je mehr Magier in einer Familie sind«, hatte sie erklärt, »umso größer ist natürlich die Wahrscheinlichkeit, dass es in der nächsten Generation noch mehr werden. Trotzdem ist Mogkan ein Risiko eingegangen, als er die Kinder so jung entführt hat, denn die magischen Fähigkeiten zeigen sich erst in der Pubertät.«

»Warum waren es mehr Mädchen als Jungen?«, wollte ich wissen.

»Nur dreißig Prozent unserer Magier sind männlich. Bain Bloodgood ist der einzige im Range eines Meisters.«

Während ich die Strickleiter festhielt, die aus dem grünen Dschungeldach herabbaumelte, überlegte ich, wie viele der Zaltanas wohl Magier sein mochten.

Die Mädchen neben mir stopften den Saum ihrer Kleider unter ihre Gürtel. Irys half May beim Erklimmen der Sprossen; Gracena und Nickeely folgten ihnen.

Als wir die Grenze nach Sitia passierten, hatten die Mädchen sofort die Uniformen des Nordens gegen die farbenfrohen Baumwollkleider getauscht, die die Frauen aus dem Süden bevorzugten. Auch die Jungen hatten ihre Uniformen abgelegt und schlichte Baumwollhosen und Tuniken angezogen. Ich dagegen hatte die Uniform der Vorkosterin anbehalten, bis mir so heiß und feucht war, dass ich mir eine leichte Männerhose und ein dünnes Hemd kaufte.

Nachdem Irys in dem grünen Dach verschwunden war, stieg ich auf die unterste Sprosse. Meine Füße waren schwer wie Blei, sodass ich sie kaum heben konnte. Ungelenk stieg ich die Strickleiter hinauf. Auf halber Strecke blieb ich stehen. Wenn diese Leute mich nun gar nicht haben wollten? Wenn sie mich gar nicht für ihre verlorene Tochter hielten? Wenn ich für sie zu alt war, um mich zu akzeptieren?

All die Kinder, die ihr Zuhause bereits gefunden hatten, waren mit offenen Armen aufgenommen worden. Im Alter zwischen sieben und dreizehn hatte man sie von ihren Eltern getrennt, und zwar nur für wenige Jahre. Die Ähnlichkeit, das Alter und der Name hatten dazu beigetragen, dass ihre Eltern und Geschwister sie sofort wiedererkannten. Die meisten aus unserem Zug waren wieder vereint. Ich war mit zwanzig die Älteste der Gruppe.

Laut Irys’ Erzählungen hatte die Zaltanas vor vierzehn Jahren ein sechsjähriges Mädchen verloren. Das war eine lange Zeit, um fort zu sein. Längst war ich kein Kind mehr.

Ich war überhaupt die Älteste, die Brazells Pläne überlebt hatte und unversehrt geblieben war. Als die anderen entführten Kinder reif geworden waren, wurden diejenigen mit magischen Fähigkeiten so lange gequält, bis Mogkan und Reyad sich ihrer Seelen bemächtigen konnten. Anschließend hatte Mogkan die Magie der willenlosen Gefangenen benutzt, um seine eigene Zauberkraft zu vermehren, und die Kinder als seelenlose Hüllen zurückgelassen.

Irys oblag die schwere Aufgabe, die Familien über das Schicksal ihrer Kinder aufzuklären, während ich mich schuldig fühlte, weil ich als Einzige Mogkans Versuche, meine Seele zu rauben, überlebt hatte.

Beim Gedanken an meine schwierige Zeit in Ixia kam mir unweigerlich Valek in den Sinn, und mir wurde ganz schwer ums Herz. Während ich mich mit einer Hand an der Leiter festhielt, tastete ich mit der anderen nach dem Schmetterlingsanhänger, den er für mich geschnitzt hatte. Vielleicht würde ich eine Möglichkeit finden, nach Ixia zurückzukehren. Immerhin gerieten mir meine magischen Kräfte nicht mehr außer Kontrolle, und ich wäre viel lieber mit ihm zusammen gewesen als bei fremden Menschen aus dem Süden, die in Bäumen lebten. Sogar der Name dieses Landes, Sitia, verursachte ein klebriges Gefühl in meinem Mund.

»Komm, Yelena!«, rief Irys zu mir hinunter. »Wir warten.«

Ich schluckte schwer und berührte meinen langen Zopf. In meinem schwarzen Haar hatten sich einige Kletterpflanzen verfangen. Sorgfältig zupfte ich sie heraus. Trotz des langen Wegs durch den Urwald fühlte ich mich nicht sonderlich müde. Mit meinen gut ein Meter sechzig war ich kleiner als die meisten Ixianer, aber mein ehemals ausgemergelter Körper war in meinem letzten Jahr in Ixia recht kräftig geworden. Das verdankte ich den Lebensumständen, die sich von einem auf den anderen Tag für mich geändert hatten, als ich Vorkosterin von Kommandant Ambrose geworden war. Zuvor hatte ich im Gefängnis hungern müssen. Rein körperlich ging es mir von diesem Moment an also gut. Was ich von meinem seelischen Befinden leider nicht behaupten konnte.

Mit einem energischen Kopfschütteln verbannte ich diese Gedanken aus meinem Kopf und konzentrierte mich auf die unmittelbare Gegenwart. Während ich die letzten Sprossen erklomm, rechnete ich damit, dass die Leiter an einem kräftigen Ast enden oder zu einer Plattform im Baum, ähnlich einem Treppenabsatz, führen würde. Stattdessen betrat ich ein Zimmer.

Verblüfft schaute ich mich um. Die Wände und die Decke des kleinen Raums bestanden aus zusammengebundenen Ästen. Sonnenlicht fiel durch die Ritzen. Auf vier Stühlen, die aus Stöcken geflochten waren, lagen Kissen aus Blättern.

»Ist sie das?«, wollte ein kräftiger Mann von Irys wissen. Seine Baumwolltunika und die kurze Hose waren von der gleichen Farbe wie die Blätter der Bäume. Er hatte sich grünes Gel ins Haar und auf jene Teile des Körpers geschmiert, die nicht von Kleidung bedeckt waren. Bogen und Köcher hingen über seiner Schulter. Vermutlich war er der Wächter. Aber warum brauchte er eine Waffe, wenn er der Magier war, der uns unbeweglich gemacht hatte? Ob Irys ebenso leicht einen Pfeil abwehren konnte, wie sie den Zauber des Mannes gebrochen hatte?

»Ja«, sagte Irys zu dem Mann.

»Auf dem Markt haben wir Gerüchte gehört und uns gefragt, ob Ihr uns wohl einen Besuch abstatten würdet, Vierte Magierin. Bitte wartet hier«, sagte er. »Ich hole das Oberhaupt.«

Irys sank auf einen der Stühle, während die Mädchen ihre Blicke durch das Zimmer schweifen ließen und die Aussicht aus dem einzigen Fenster bewunderten. Nervös lief ich in dem kleinen Raum auf und ab. Der Wächter schien durch die Wand zu verschwinden, aber als ich genauer hinschaute, entdeckte ich eine Öffnung, durch die man auf eine Brücke gelangte, die ebenfalls aus Ästen bestand.

»Setz dich«, forderte Irys mich auf. »Entspann dich. Hier bist du sicher.«

»Selbst nach diesem herzerwärmenden Empfang?«, fragte ich ironisch.

»Das übliche Verfahren. Unbegleitete Besucher sind äußerst selten. Da es im Dschungel von Räubern nur so wimmelt, nehmen die meisten Reisenden die Dienste eines Wächters aus Zaltana in Anspruch. Was ist nur los mit dir? Seitdem ich dir gesagt habe, dass wir hierher gehen, bist du gereizt und aggressiv.«

Mit einem Blick auf meine Beine fuhr sie fort: »Du stehst in Kampfpositur, als wolltest du jeden Moment angreifen. Diese Menschen sind deine Familie. Warum sollten sie dir etwas antun wollen?«

Jetzt erst merkte ich, dass ich meine Waffe vom Rücken genommen hatte und abwehrbereit umklammerte. Ich folgte Irys’ Rat und nahm eine entspannte Position ein.

»Entschuldige.« Ich steckte den Streitkolben, einen Holzstab von ein Meter fünfzig Länge, in die Halterung an meinem Rucksack zurück.

Vor lauter Angst vor dem Unbekannten verhielt ich mich vollkommen verkrampft. Solange ich denken konnte, hatte man mir in Ixia erzählt, dass meine Familie tot sei. Dass ich sie für immer verloren hätte. Trotzdem hatte ich stets davon geträumt, eine Adoptivfamilie zu finden, die mich lieben und sich um mich kümmern würde. Die Hoffnung hatte ich erst aufgegeben, als Mogkan und Reyad mich für ihre Experimente benutzten, und nun, da ich Valek hatte, glaubte ich, keine Familie mehr zu brauchen.

»Das ist nicht wahr, Yelena«, sagte Irys laut. »Deine Familie wird dir helfen herauszufinden, wer du bist und warum du so bist. Du brauchst sie mehr, als du ahnst.«

»Hast du nicht gesagt, dass es gegen den Ehrenkodex verstößt, in den Köpfen anderer Menschen zu lesen?« Es machte mich wütend, dass sie in meine privaten Gedanken eingedrungen war.

»Als Lehrerin und Schülerin sind wir miteinander verbunden. Du hast mir freiwillig einen Weg zu deinem Bewusstsein geöffnet, als du mich als deine Mentorin akzeptiert hast. Es wäre leichter, einen Fluss umzuleiten, als unsere Verbindung zu unterbrechen.«

»Ich kann mich nicht erinnern, dir einen Weg geöffnet zu haben«, erwiderte ich gereizt.

»Wenn du es bewusst getan hättest, dann gäbe es diese Verbindung auch nicht.« Aufmerksam schaute sie mir ins Gesicht. »Du hast mir dein Vertrauen und deine Loyalität geschenkt. Mehr braucht es nicht, um ein Band herzustellen. Ich werde nicht in deine intimsten Gedanken und Erinnerungen eindringen, aber deine vordergründigen Gefühlsregungen bleiben mir nicht verborgen.«

Ich wollte etwas erwidern, doch in diesem Moment kehrte der grünhaarige Wächter zurück.

»Folgt mir«, sagte er.

Wir bahnten uns einen Weg durch die Baumkronen. Korridore und Brücken verbanden die Räume hoch über der Erde miteinander. Von unten hatte man nicht den geringsten Hinweis auf dieses Labyrinth von Zimmern sehen können. Niemand begegnete uns, als wir an Schlaf- und Wohnräumen vorbeikamen. Sie waren mit Gegenständen aus dem Dschungel eingerichtet, wie ich bei einem flüchtigen Blick in das Innere feststellte. Kokosnussschalen, Nüsse, Beeren, Gräser, Zweige und Blätter waren zu kunstvollen Wandbehängen, Buchhüllen, Kisten und Statuen verarbeitet worden. Jemand hatte sogar eines dieser langschwänzigen Tiere aus schwarzen und weißen Steinen angefertigt.

»Irys«, sagte ich und deutete auf die Statue, »was sind das für Tiere?«

»Valmure. Sehr intelligent und verspielt. Millionen von ihnen bevölkern den Urwald. Sie sind auch sehr neugierig. Erinnerst du dich noch daran, wie sie uns von den Bäumen beobachtet haben?«

Ich nickte. Natürlich erinnerte ich mich an die kleinen Geschöpfe, die niemals lange genug an einem Ort geblieben waren, als dass ich sie genauer hätte betrachten können. In anderen Zimmern standen weitere Nachbildungen dieser Tiere, diesmal aus andersfarbigen Steinen zusammengeklebt. Meine Kehle schnürte sich zusammen, als ich an Valek und die Tiere dachte, die er aus Stein meißelte. Die Meisterschaft dieser Figuren würde er gewiss zu schätzen wissen. Vielleicht konnte ich ihm eine davon schicken.

Ich hatte keine Ahnung, wann und ob ich ihn jemals wiedersehen würde. Der Kommandant hatte mich aus Ixia verbannt, nachdem meine magischen Kräfte ans Licht gekommen waren. Sollte ich nach Ixia zurückkehren, würde seine Anordnung, mich zu exekutieren, sofort wirksam werden. Wenigstens hatte er mir nicht ausdrücklich verboten, mit meinen Freunden aus Ixia Kontakt zu haben.

Nun wurde mir auch klar, warum wir auf unserem Weg durch das Dorf niemandem begegnet waren. Wir betraten ein großes, rundes Gemeinschaftszimmer, in dem sich ungefähr zweihundert Leute befanden. Offenbar waren sämtliche Bewohner zusammengekommen. Sie saßen auf den aus Holz geschnitzten Bänken rund um eine riesige, mit Steinen ausgelegte Feuergrube.

Als wir eintraten, verstummten die Gespräche sofort. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Mir lief eine Gänsehaut über den Rücken. Sie schienen jeden Zentimeter meines Gesichts, meiner Kleidung und meiner schlammverkrusteten Stiefel zu begutachten. Ihre Mienen ließen keinen Zweifel daran, dass ich nicht ihren Erwartungen entsprach. Am liebsten hätte ich mich hinter Irys versteckt. Warum bloß hatte ich sie nicht genauer über die Zaltanas ausgefragt?

Die Frauen der Zaltanas trugen ärmellose Kleider oder Röcke, deren Säume an den Knien endeten, und kurzärmelige Blusen mit farbenfrohen Blumenmustern. Die Männer der Sippe waren in helle Tuniken und einfache Hosen gekleidet. Sämtliche Zaltanas liefen barfuß, und die meisten von ihnen waren schlank. Ihre Haut war sonnengebräunt.

Schließlich trat ein älterer Mann einen Schritt vor. »Ich bin Bavol Cacao Zaltana, der Sippenälteste der Zaltana-Familie. Bist du Yelena Liana Zaltana?«

Ich zögerte. Dieser Name klang so förmlich, ungewöhnlich und fremd. »Mein Name ist Yelena«, antwortete ich.

Ein junger Mann, nur ein paar Jahre älter als ich, bahnte sich einen Weg durch die Menge und blieb neben dem Sippenältesten stehen. Mit seinen jadegrünen Augen musterte er mich durchdringend. In seiner Miene spiegelte sich eine Mischung aus Hass und Abscheu. Ich spürte einen Hauch von Magie an meinem Körper.

»Sie hat getötet«, rief er laut. »Sie stinkt nach Blut.«

2.
Kapitel

Dem Zaltana-Clan verschlug es den Atem. Entsetzen und Wut spiegelten sich in den Gesichtern, deren Mienen unversehens feindlich und abweisend geworden waren. Schutz suchend stellte ich mich hinter Irys und hoffte, auf diese Weise die negativen Kräfte, die aus so vielen Augenpaaren strömten, abwehren zu können.

»Leif, du hattest schon immer einen Hang zum Dramatischen«, wies Irys den jungen Mann zurecht. »Yelena hat ein schweres Leben gehabt. Urteile nicht über etwas, von dem du nichts weißt.«

Unter ihrem bohrenden Blick wurde Leif ganz verlegen.

»Ich stinke auch nach Blut. Oder etwa nicht?«, fragte sie.

»Aber Ihr seid die Vierte Magierin«, erwiderte Leif.

»Also weißt du, was und warum ich es getan habe. Ich schlage vor, du informierst dich erst einmal darüber, was deine Schwester in Ixia erleiden musste, ehe du sie beschuldigst.«

Seine Wangenmuskeln verkrampften sich, und an seinem Nacken traten die Sehnen hervor, als er die Antwort, die ihm auf den Lippen lag, hinunterschluckte. Ich riskierte einen weiteren Blick durch den Raum. In den Gesichtern der Anwesenden zeigten sich nun Nachdenklichkeit, Angst und sogar Verlegenheit.

Plötzlich wurde mir die Bedeutung von Irys’ Worten klar. Bruder? Ich habe einen Bruder?

Um ihre Mundwinkel zuckte es. Ja. Einen Bruder. Dein einziges Geschwisterkind. Du wüsstest es längst, wenn du nicht jedes Mal das Thema gewechselt hättest, als ich versuchte, dir etwas über die Zaltanas zu erzählen.

Na großartig. Mein Pech ließ mich wirklich nicht im Stich. Und ich hatte schon geglaubt, sämtliche Probleme in Ixia zurückgelassen zu haben. Aber warum überraschte mich das eigentlich? Während alle anderen Sitianer in Dörfern lebten, die auf festem Boden standen, wohnte meine Familie in den Bäumen! Aufmerksam suchte ich in Leifs Gesicht nach Spuren von Ähnlichkeit. Seine kräftige, muskulöse Statur und sein eckiges Gesicht unterschieden sich gewaltig von denen der anderen schlanken Clan-Mitglieder. Ich hatte nur das schwarze Haar und die grünen Augen mit ihm gemeinsam.

Die folgenden Minuten wurden ziemlich peinlich, und am liebsten wäre ich unsichtbar gewesen. Ich musste Irys unbedingt fragen, ob es einen solchen Zauber gab.

Eine ältere Frau, die ungefähr so groß war wie ich, trat auf uns zu. Als sie näher kam, warf sie Leif einen gebieterischen Blick zu, und er senkte den Kopf. Ohne Vorwarnung nahm sie mich in die Arme. Verunsichert wich ich zurück. Ihr Haar duftete nach Flieder.

»Das habe ich mir seit vierzehn Jahren gewünscht«, sagte sie, während sie mich fester an sich drückte. »Wie sich meine Arme nach meinem kleinen Mädchen gesehnt haben.«

Ihre Worte weckten Bilder aus der Vergangenheit in mir und machten mich wieder zu einem sechsjährigen Kind. Schluchzend schlang ich meine Arme um sie. Vierzehn Jahre ohne meine Mutter hatten mich glauben lassen, völlig ungerührt zu sein, wenn ich ihr endlich gegenübertreten würde. Auf der Reise in den Süden hatte ich mir diesen Augenblick oft vorgestellt. Ich würde zwar gespannt sein, aber dennoch gelassen bleiben. Sehr nett, dich kennenzulernen. Leider müssen wir weiter zur Zitadelle. Doch auf die Woge der Gefühle, die nun über mir hereinbrach, war ich vollkommen unvorbereitet. Ich klammerte mich an diese Frau, als sei sie die Einzige, die mich vor dem Ertrinken bewahren könnte.

Aus weiter Ferne drang Bavol Cacaos Stimme an mein Ohr. »Alle gehen jetzt zurück an die Arbeit. Die Vierte Magierin ist unser Gast. Heute Abend wollen wir ein Fest feiern, das diesem Anlass angemessen ist. Petal, richte die Gästezimmer her. Wir brauchen fünf Betten.«

Das Stimmengewirr im Gemeinschaftsraum verebbte. Erst als sich das Zimmer fast geleert hatte, ließ mich die Frau – meine Mutter – aus ihren Armen. Noch fiel es mir ziemlich schwer, beim Anblick ihres ovalen Gesichts an »Mutter« zu denken. Vielleicht war sie gar nicht meine leibliche Mutter. Und wenn sie es doch war, hatte ich dann das Recht, sie so zu nennen, nachdem ich all die Jahre fort gewesen war?

»Dein Vater wird überglücklich sein«, sagte sie, während sie sich eine schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht schob. Ihre Zöpfe waren grau meliert, und in ihren blassgrünen Augen schimmerten unvergossene Tränen.

»Wieso bist du dir so sicher?«, fragte ich. »Vielleicht bin ich gar nicht deine …«

»Deine Seele füllt die Lücke in meiner Seele vollkommen aus. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass du zu mir gehörst. Ich hoffe, du wirst mich Mutter nennen, aber wenn du das nicht kannst, sag ruhig Perl zu mir.«

Ich wischte mir mit dem Taschentuch, das Irys mir gegeben hatte, übers Gesicht und schaute mich nach meinem Vater um. Vater. Noch so ein Wort, welches das letzte bisschen Selbstbeherrschung, das mir geblieben war, zu zerstören drohte.

»Dein Vater ist unterwegs und sammelt Kräuter«, sagte Perl. Offenbar konnte sie meine Gedanken lesen. »Sobald er es erfährt, wird er zurückkommen.« Sie drehte den Kopf zur Seite, und ich folgte ihrem Blick. Leif stand ganz in unserer Nähe. Die Arme hatte er über der Brust gekreuzt, und seine Hände waren zu Fäusten geballt. »Deinen Bruder hast du ja schon kennengelernt. Steh doch nicht so steif da herum. Komm her und begrüße deine Schwester, wie es sich gehört.«

»Ich kann den Geruch nicht ertragen«, erwiderte er, drehte sich auf dem Absatz um und stapfte davon.

»Mach dir nichts draus«, sagte meine Mutter. »Er ist ziemlich empfindlich. Dein Verschwinden hat ihm sehr zugesetzt. Er ist mit einer starken Zauberkraft gesegnet, aber sie ist …« Sie suchte nach den richtigen Worten. »Einzigartig. Er spürt, was ein Mensch getan und wo er es getan hat. Dabei geht es nicht um die konkrete Tat, sondern es ist vielmehr ein allgemeines Gefühl. Die Ratsversammlung bittet ihn um Hilfe, wenn sie Verbrechen aufzuklären, Streitigkeiten zu schlichten oder zu entscheiden hat, ob jemand schuldig oder unschuldig ist.« Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. »Die Zaltanas, die über magische Kräfte verfügen, haben ungewöhnliche Talente. Wie ist es mit dir, Yelena? Ich spüre, wie die Magie durch dich hindurchströmt.« Sie lächelte flüchtig. »Wenigstens das kann ich mit meinen beschränkten Fähigkeiten. Und was sind deine?«

Ich warf Irys einen Hilfe suchenden Blick zu.

»Man hat sich ihrer Zauberkräfte bedient, und bis vor Kurzem waren sie außer Kontrolle. Ihre besonderen Fähigkeiten müssen wir noch herausfinden.«

Meine Mutter wurde blass. »Wer hat sich ihrer Zauberkräfte bedient?«

Ich berührte ihren Ärmel. »Es ist schon in Ordnung.«

Perl biss sich auf die Lippen. »Könnte sie verglühen?«, wollte sie von Irys wissen.

»Nein. Ich habe sie unter meine Fittiche genommen. Mittlerweile verfügt sie über ein gewisses Maß an Kontrolle. Aber sie muss trotzdem mit mir zum Bergfried der Magier kommen, damit ich sie lehren kann, mit ihren magischen Kräften umzugehen.«

Perl umklammerte meine Arme. »Du musst mir alles erzählen, was mit dir geschehen ist, seit man dich von uns fortgenommen hat.«

»Ich …« Plötzlich war meine Kehle wie zugeschnürt.

Bavol Cacao kam mir zu Hilfe. »Die Zaltanas sind geehrt, dass Ihr eine von den Unseren als Eure Schülerin ausgewählt habt, Vierte Magierin. Darf ich Euch und Eure Begleiterinnen in Eure Zimmer bringen, damit Ihr Euch vor dem Fest ein wenig frisch machen und ausruhen könnt?«

Ich war erleichtert, wenigstens fürs Erste, obwohl der entschlossene Gesichtsausdruck meiner Mutter keinen Zweifel daran ließ, dass sie mich noch sehr viel fragen würde. Ihr Griff wurde noch fester, als Irys und die drei Mädchen Anstalten machten, Bavol Cacao zu unseren Zimmern zu folgen.

»Perl, du kannst noch sehr viel Zeit mit deiner Tochter verbringen«, sagte er. »Sie ist jetzt zu Hause.«

Sie ließ mich los und trat einen Schritt zurück. »Wir sehen uns heute Abend. Ich bitte deine Cousine Nutty, dir ein paar anständige Sachen für das Fest zu leihen.«

Auf dem Weg zu unseren Zimmern musste ich lächeln. Obwohl ungeheuerliche Dinge an diesem Tag geschehen waren, hatte meine Mutter bemerkt, wie ich gekleidet war.

Das angekündigte Fest begann mit einem ruhigen Abendessen, wurde im Laufe der Nacht aber doch noch zu einer ausgelassenen Feier. Aus alter Gewohnheit hatte ich sämtliche Speisen – die kalten, zur Jahreszeit passenden Fleischgerichte ebenso wie die zahlreichen Gänge mit Früchten – zuerst auf Gift getestet, bevor ich sie verspeiste. Dass ich damit die Gastgeber beleidigt haben könnte, kam mir gar nicht in den Sinn. Seine Gepflogenheiten wird man eben nicht so schnell los.

Der Geruch von brennendem Zitronengras, vermischt mit einem feuchten, erdigen Aroma, durchzog die Nachtluft. Nach dem Essen holten einige Zaltanas ihre Musikinstrumente hervor, die aus Bambus und Ranken angefertigt waren, andere sprangen auf und tanzten oder sangen zur Musik. Den ganzen Abend über turnten kleine pelzige Valmure zwischen den Deckenbalken umher und hüpften von Tisch zu Tisch. Einige meiner Cousins und Cousinen hielten sie als Haustiere. Schwarze, weiße, orangefarbene und braune Büschel saßen auf ihren Schultern und Köpfen. Andere Valmure balgten sich in den Ecken oder stibitzten Speisen von den Tischen. May und die Zwillinge waren hellauf begeistert von den übermütigen Spielen der langschwänzigen Tiere. Gracena versuchte, einen braun- und goldfarbenen Valmur dazu zu bringen, ihr aus der Hand zu fressen.

Meine Mutter saß neben mir. Leif war nicht zum Fest erschienen. Ich trug ein strahlend gelb-rotes, mit Lilien gemustertes Kleid, das Nutty mir geliehen hatte. Nur Perl zuliebe hatte ich dieses unmögliche Ding angezogen.

Ich dankte meinem Schicksal, dass Ari und Janco, meine Freunde aus Ixia, nicht bei mir waren. Die beiden Soldaten würden sich vor Lachen auf dem Boden wälzen, wenn sie mich in dieser schreiend bunten Ausstaffierung sähen. Ach, ich vermisste sie so sehr. Nun wünschte ich doch, dass sie hier wären; das amüsierte Glitzern in Jancos Augen hätte die Peinlichkeit allemal aufgewogen.

»In einigen Tagen müssen wir abreisen«, sagte Irys zu Bavol über das Stimmengewirr und die Musik hinweg. Alle, die sie hören konnten, blickten auf einmal wehmütig oder betroffen drein.

»Warum wollt ihr denn schon so bald wieder gehen?«, fragte meine Mutter bekümmert und legte die Stirn in Sorgenfalten.

»Ich muss die anderen Mädchen nach Hause bringen. Außerdem war ich schon zu lange nicht mehr in der Zitadelle und im Bergfried.«

Müdigkeit und Trauer in Irys’ Stimme erinnerten mich daran, dass sie ihre Familie seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen hatte. Außerdem war sie von dem andauernden Versteckspiel und Spionieren in Ixia ziemlich erschöpft.

Eine Weile lang sagte niemand etwas an unserem Tisch. Plötzlich hatte meine Mutter eine Idee. Strahlend verkündete sie: »Ihr könnt Yelena doch hierlassen, während Ihr die Mädchen nach Hause bringt.«

»Es wäre ein Umweg für sie, zurückzukommen und Yelena zu holen«, wandte Bavol Cacao ein.

Stirnrunzelnd sah meine Mutter ihn an. Ich konnte förmlich sehen, wie es in ihrem Kopf arbeitete. »Natürlich! Leif kann Yelena doch zur Zitadelle begleiten. Er muss ohnehin in zwei Wochen wegen einer geschäftlichen Angelegenheit zum Ersten Magier.«

Widersprüchliche Gefühle kämpften in meiner Brust. Ich wäre gerne geblieben, doch ich hatte Angst, mich von Irys zu trennen. Hier war ich zwar bei meiner Familie, aber sie waren auch Fremde für mich, denen ich misstraute. Dagegen kam ich einfach nicht an. Diese Vorsichtsmaßnahme war mir in Ixia in Fleisch und Blut übergegangen. Außerdem war die Aussicht, in Gesellschaft von Leif zu reisen, alles andere als verlockend.

Ehe jemand zustimmen oder widersprechen konnte, sagte Mutter: »Ja. Das ist die Lösung.« Und damit war das Thema für sie beendet.

Am nächsten Morgen überkam mich plötzlich ein Anfall von Panik, als Irys ihren Rucksack über die Schultern zog. »Lass mich hier nicht allein«, flehte ich sie an.

»Du bist doch nicht allein. Ich habe fünfunddreißig Cousins und Cousinen gezählt und jede Menge Tanten und Onkel.« Sie lachte. »Es tut dir bestimmt gut, ein bisschen Zeit mit deiner Familie zu verbringen. Auf diese Weise wird dein Misstrauen ihnen gegenüber allmählich nachlassen. Wir sehen uns dann im Bergfried der Magier wieder. Du kannst ihn leicht finden – er liegt mitten in der Zitadelle. Übe bis dahin, deine magische Kontrolle zu verbessern.«

»Jawohl, Sir.«

May umarmte mich stürmisch. »Deine Familie ist so lustig. Hoffentlich lebt meine auch in den Bäumen«, sagte sie.

Ich strich ihr über die Zöpfe. »Eines Tages werde ich dich besuchen. Versprochen.«

»Vielleicht kann May mit Beginn der kühlen Jahreszeit auf die Schule in der Zitadelle gehen, wenn sie bis dahin gelernt hat, auf ihre Kraftquelle zuzugreifen«, sagte Irys.

»Das wäre ja fantastisch!«, rief May begeistert. Die Zwillinge umarmten mich kurz.

»Viel Glück«, sagte Gracena lächelnd. »Du kannst es gebrauchen.«

Gemeinsam kletterte ich mit ihnen die Strickleiter hinunter auf den Boden des Dschungels, wo die Luft ein wenig kühler war, um mich von ihnen zu verabschieden. Ich schaute Irys und den Mädchen nach, die sich einen Weg durch den von Pflanzen überwucherten Pfad bahnten. Kaum waren sie aus meinem Blickfeld verschwunden, überkam mich das Gefühl, mein Körper sei wie ein Blatt im Wind und könne jederzeit von der leisesten Böe fortgeweht werden.

Ich wollte ein wenig allein sein, bevor ich wieder nach oben kletterte. Aufmerksam schaute ich mich um. Nichts in den undurchdringlichen Baumkronen des Dschungels deutete auf den Wohnsitz der Zaltanas hin. Üppiger Pflanzenwuchs rings um mich herum versperrte den Blick in alle Richtungen. Über das dröhnende Summen der Insekten hinweg konnte ich das leise Plätschern fließenden Wassers hören. Das dichte Grün machte es mir jedoch unmöglich, die Quelle des Geräuschs zu lokalisieren.

Enttäuscht, verschwitzt und gereizt von den Angriffen Tausender Moskitos, die um mich herumschwirrten, gab ich den Versuch auf und kletterte die Strickleiter hinauf. Oben angekommen, verirrte ich mich prompt im Labyrinth der Räume, die sich im warmen und trockenen Dschungeldach endlos aneinanderreihten.

Fremde Gesichter nickten oder lächelten mir zu. Andere runzelten die Stirn und wandten sich ab. Ich hatte keine Ahnung, wo mein Zimmer lag. Ebenso wenig wusste ich, wie ich mich verhalten sollte, und natürlich wollte ich auch niemanden fragen. Der Gedanke, meiner Mutter die Geschichte meines Lebens zu erzählen, war auch nicht gerade erfreulich. Letztlich, das war mir klar, würde es mir nicht erspart bleiben, aber im Moment war mir die Vorstellung unerträglich. Ich hatte fast ein Jahr gebraucht, ehe ich Valek von meinen Erlebnissen berichtete – wie sollte ich meine Torturen jemandem schildern, den ich gerade erst kennengelernt hatte?

Ziellos lief ich umher, auf der Suche nach dem Fluss, den ich auf dem Grund des Urwalds gehört hatte. Von jedem Aussichtspunkt schaute ich auf Grünflächen, die sich bis in die Ferne erstreckten. Am Horizont zog sich eine glatte, graue Bergkette hin. Irys hatte mir erzählt, dass der Dschungel von Illiais in einem tiefen Tal lag. Versteckt in den Talsenken zwischen den Berggipfeln des Daviian-Plateaus erstreckte sich der merkwürdig geformte Urwald unterhalb der Hochebene, die für Reisende nur zu einer Seite hin offen war.

»Gut zu verteidigen«, hatte Irys gesagt. »Es ist unmöglich, die Wände hochzuklettern, um auf das Plateau zu gelangen.«

Auf einer Brücke aus Seilen probierte ich aus, ob ich das Gleichgewicht noch halten konnte, als ich eine Stimme hörte. Erschrocken hielt ich mich am Geländer fest.

»Was?«, fragte ich, während ich mich bemühte, den Halt nicht zu verlieren.

»Ich hab gefragt, was du da machst.« Nutty stand am anderen Ende der Brücke.

Mit einer ausladenden Armbewegung sagte ich: »Ich genieße die Aussicht.«

Zweifelnd schaute sie mich an. Sie glaubte mir nicht. »Komm mit mir, wenn du eine wirkliche Aussicht sehen willst.« Ausgelassen hüpfte sie davon.

Sie nahm einige Abkürzungen durch die Baumkronen, und ich stolperte ein paarmal, während ich versuchte, mit ihr Schritt zu halten. Mit ihren dünnen Armen und Beinen hangelte sie sich so geschickt und schnell an den Kletterpflanzen entlang, dass sie mich an ein Valmur erinnerte. Als sie in eine von der Sonne beschienene Stelle trat, leuchteten ihr ahornbraunes Haar und ihre Haut golden auf.

Ich musste zugeben, dass der Süden seine Vorteile hatte. Hier war ich mit meiner gebräunten Haut keine Außenseiterin mehr. Endlich sah ich so aus, als ob ich dazugehörte.

Unvermittelt blieb Nutty stehen, und ich hätte sie fast umgestoßen. Wir standen auf der quadratischen Plattform des höchsten Baums im Dschungel. Nichts versperrte uns die Aussicht.

Vor uns lag ein smaragdgrüner Teppich, der an zwei steilen Felsen endete, die rechtwinklig zueinander standen. Dort, wo die gewaltigen Steinwände zusammenwuchsen, stürzte ein breiter Wasserfall in einer mächtigen Nebelwolke zu Tal. Oberhalb der Felswände erstreckte sich eine weitläufige Ebene. Eine Mischung von ockerfarbenen, gelben, goldenen und braunen Tönen färbte die sanfte Landschaft.

»Ist dies das Daviian-Plateau?«, fragte ich.

»Ja. Dort gibt’s nichts außer wildem Präriegras. Da fällt nicht viel Regen. Herrlich, nicht wahr?«

»Das kann man wohl sagen.«

Nutty nickte, und eine Weile standen wir schweigend nebeneinander. Schließlich konnte ich meine Neugier nicht länger bezähmen und unterbrach die Stille. Ich wollte von Nutty alles über den Dschungel wissen und brachte das Gespräch schließlich auf die Zaltana-Familie.

»Warum nennen sie dich Nutty?«, wollte ich wissen.

Sie zuckte mit den Schultern. »Eigentlich heiße ich Hazelnut Palme Zaltana, aber seit meiner Kindheit nennen mich alle nur Nutty.«

»Also ist Palme dein zweiter Vorname?«

»Nein.« Über den Rand der Plattform, die von starken Ästen gehalten wurde, ließ Nutty sich in die Zweige gleiten. Die Blätter raschelten, und nach einer Weile kletterte sie zurück, in der Hand ein paar braune Nüsse, die sie mir gab. »Palme, genau wie der Baum, ist der Name meiner Familie. Zaltana ist der Clan-Name. Jeder, der in unsere Familie einheiratet, muss diesen Namen annehmen, aber innerhalb des Clans gibt es verschiedene Familien. Du musst sie so knacken …« Nutty nahm eine Nuss und schlug sie gegen den nächsten Ast. Ein kleiner brauner Kern kam zum Vorschein.

»Deine Familie heißt Liana, was so viel bedeutet wie Kletterpflanze. Yelena bedeutet ›die Strahlende‹. Jeder wird entweder nach etwas im Dschungel benannt, oder der Name hat eine Bedeutung im Illiaischen. Diese alte Sprache müssen wir alle lernen.« In komischer Verzweiflung verdrehte Nutty die Augen. »Du kannst von Glück sagen, dass dir das erspart geblieben ist.« Sie stieß mir mit dem Finger in die Rippen. »Und zu deinem Glück musstest du dich auch nicht mit widerlichen älteren Brüdern herumschlagen. Ich habe mal ziemlichen Ärger gekriegt, weil ich meinen an Lianen gefesselt und in der Luft habe hängen lassen. Oh, verflixte Schlangenbrut! Das habe ich ja ganz vergessen. Komm schnell.« Sie eilte durch die Bäume zurück.

»Was hast du vergessen?«, fragte ich, während ich hinter ihr herstolperte.

»Ich sollte dich zu deiner Mutter bringen. Sie hat dich den ganzen Morgen über gesucht.« Nutty verlangsamte ihr Tempo nur unwesentlich, als sie über eine Seilbrücke lief. »Onkel Esau ist nämlich von seiner Expedition zurück.«

Noch ein Familienmitglied, das ich kennenlernen musste. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich »zufällig« ihre Spur verlieren sollte. Doch als ich mich an die feindlichen Blicke erinnerte, mit denen mich einige meiner Cousins und Cousinen gemustert hatten, beschloss ich, Nutty zu folgen. Nachdem ich sie eingeholt hatte, packte ich sie am Arm.

»Warte«, keuchte ich. »Ich möchte wissen, warum so viele Zaltanas mich so feindselig ansehen. Ist es der Geruch nach Blut?«

»Nein. Alle wissen, dass Leif in allem und jedem Verderben und Untergang sehen kann. Er giert ständig nach Aufmerksamkeit.« Sie zeigte auf mich. »Die meisten Zaltanas halten dich nicht wirklich für eine von ihnen. Sie glauben, dass du eine Spionin aus Ixia bist.«

3.
Kapitel

»Du machst Witze, oder?«, fragte ich bestürzt. »Die halten mich doch nicht wirklich für eine Spionin.« Nutty nickte. Ihre Zöpfe, die zu beiden Seiten des Kopfes auf und ab wippten, standen in merkwürdigem Kontrast zu ihrem ernsten Gesicht. »Das erzählt man sich jedenfalls. Obwohl es niemand wagen würde, es Tante Perl oder Onkel Esau ins Gesicht zu sagen.«

»Warum sollten die Leute das glauben?«

Ihre hellbraunen Augen weiteten sich, als könnte sie meine Begriffsstutzigkeit nicht verstehen. »Schau dir deine Kleider an.« Sie zeigte auf meine schwarze Hose und mein weißes Hemd. »Wir wissen alle, dass die Nordländer gezwungen werden, Uniformen zu tragen. Und sie sagen, wenn du wirklich aus dem Süden wärst, würdest du nie wieder Hosen tragen wollen.«

Ich starrte auf Nuttys orangefarbenen Rock. Den Saum hatte sie unter ihren braunen Pelzgürtel gesteckt. Darunter trug sie eine kurze gelbe Hose.

Ohne auf meine Blicke zu achten, fuhr sie fort: »Und du hast immer eine Waffe dabei.«

Das stimmte. Ich nahm meinen Streitkolben überall mit hin für den Fall, dass ich eine Möglichkeit zum Üben fand. Leider war der einzige Ort, der groß genug dafür war, der Gemeinschaftsraum, und in dem wimmelte es ständig von Menschen. Von dem Schnappmesser an meinem Schenkel erzählte ich Nutty vorsichtshalber nichts.

»Wer sagt denn solche Sachen?«, erkundigte ich mich.

Sie zuckte mit den Achseln. »Alle möglichen Leute.«

Da ich nichts erwiderte, redete sie schließlich weiter.

»Leif erzählt jedem, dass er in deiner Gegenwart ein merkwürdiges Gefühl hat. So, als ob du nicht wirklich seine Schwester wärst. Die würde er nämlich erkennen.« Sie rollte den leuchtend bunten Baumwollstoff ihres Ärmels auf und ab. »Die Sitianer leben in ständiger Angst vor einem Angriff des Kommandanten. Deshalb glauben wir, dass Spione aus dem Norden hier herumschnüffeln, um Informationen über unsere Verteidigungsfähigkeit zu sammeln. Leif reagiert zwar manchmal etwas übertrieben, aber er hat nun mal diese starken magischen Fähigkeiten. Das ist der Grund, warum dich alle für eine Spionin halten.«

»Und was glaubst du?«

»Ich weiß es nicht. Ich will erst einmal abwarten.« Sie betrachtete ihre nackten Füße. Sie waren braun und schwielig.

Ein weiterer Grund, warum ich bei den Zaltanas auffiel: Ich trug noch immer meine Lederstiefel.

»Das ist sehr vernünftig«, sagte ich.

»Meinst du wirklich?«

»Ja.«

Nutty lächelte. Ihr hellbraunen Augen leuchteten, und mir fiel auf, dass ihre Stupsnase von Sommersprossen übersät war. Schließlich drehte sie sich um und lief weiter, um mich zu meiner Mutter zu bringen.

Während ich ihr folgte, dachte ich über die Vorwürfe gegen mich nach. Nein, ich war gewiss keine Spionin im Dienste Ixias, aber ich konnte auch nicht von mir behaupten, eine echte Südländerin zu sein. Außerdem war ich mir gar nicht sicher, ob ich überhaupt als Sitianerin bezeichnet werden wollte. Es gab zwei Gründe, warum ich in den Süden gegangen war: um meiner Hinrichtung zu entgehen und zu lernen, meine magischen Fähigkeiten zu benutzen. Außerdem wollte ich endlich meine Familie kennenlernen. Auf jeden Fall hatte ich nicht vor, mir meinen Aufenthalt durch ein paar hässliche Gerüchte verderben zu lassen. Deshalb beschloss ich, fürs Erste alle scheelen Blicke zu ignorieren.

Was ich jedoch nicht ignorieren konnte, war der Zorn meiner Mutter, als Nutty und ich bei ihr eintrafen. Anspannung und Nervosität waren ihr förmlich ins Gesicht geschrieben, und sie bebte am ganzen Körper.

»Wo bist du gewesen?«, herrschte sie mich an.

»Nun ja, ich habe mich von Irys verabschiedet, und dann …« Ich verstummte, denn in Anbetracht ihrer Wut konnten mich meine eigenen Worte nicht überzeugen.

»Vierzehn Jahre lang warst du nicht bei mir, und uns bleiben gerade zwei Wochen, ehe du wieder gehst. Wie kannst du nur so egoistisch sein?« Unvermittelt ließ sie sich in einen Sessel fallen, als ob sämtliche Energie aus ihrem zierlichen Körper gewichen sei.

»Es tut mir leid …«, begann ich.

»Nein, mir tut es leid«, unterbrach sie mich. »Deine Sprache und deine Manieren sind so … fremd. Außerdem ist dein Vater zurückgekommen und kann es gar nicht erwarten, dich zu sehen. Leif hat mich fast verrückt gemacht, und ich möchte nicht, dass meine Tochter, wenn sie uns wieder verlässt, immer noch das Gefühl hat, eine Fremde zu sein.«

Wie um ihre Worte abzuwehren, schlang ich die Arme um meinen Leib. Ich fühlte mich schuldig und der Situation nicht gewachsen. Sie verlangte so viel von mir, dass ich sie bestimmt auf irgendeine Weise enttäuschen würde.

»Dein Vater wollte dich mitten in der Nacht aufwecken. Ich konnte ihn gerade noch davon abhalten. Und jetzt sucht er schon den ganzen Morgen in allen Räumen nach dir«, erzählte Perl. »Schließlich habe ich ihn nach oben geschickt, damit er sich mit irgendetwas beschäftigt.« Sie breitete die Arme aus. »Du musst uns vergeben, wenn wir dich überfordern. Deine Ankunft war so unerwartet, und vergangene Nacht hätte ich darauf bestehen sollen, dass du bei uns bleibst. Aber Irys hat uns davor gewarnt, dich unter Druck zu setzen.« Sie holte tief Luft. »Diese Situation ist für mich unerträglich. Ich möchte dich immer nur in die Arme schließen.« Stattdessen ließ sie die Arme in ihren Schoß sinken, wo sie reglos auf dem blau-weißen Stoff ihres ärmellosen Kleides liegen blieben.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Irys hatte recht gehabt – ich brauchte Zeit, um mich in diesem Familiengefüge wohlzufühlen. Andererseits konnte ich auch meine Mutter verstehen. Jeden Tag vermisste ich Valek ein wenig mehr als am Tag zuvor. Ein Kind zu verlieren musste viel schlimmer sein.

Nutty stand an der Tür und spielte mit ihren Zöpfen. Jetzt erst schien meine Mutter ihre Anwesenheit zu bemerken. »Nutty, könntest du Yelenas Sachen aus den Gästezimmern holen und hierherbringen?«

»Aber sicher, Tante Perl. Sie sind schneller hier, als eine Curari-Fledermaus braucht, um ein Valmur zu töten.« Wie ein orangefarbener Wirbelwind fegte sie davon.

»Du kannst unser Extrazimmer haben.« Meine Mutter fasste sich an den Hals. »Es ist sowieso dein Zimmer.«

Mein Zimmer. Es klang so vertraut, obwohl ich noch nie einen Platz ganz für mich allein gehabt hatte. Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich ihn eingerichtet hätte, um ihn mir zu eigen zu machen, aber alles, was ich sah, war ein weißer Fleck. In meinem Leben in Ixia war kein Platz gewesen für besondere Dinge wie Spielzeug, Geschenke oder Kunst. Ich unterdrückte ein freudloses Lachen. Das einzige Zimmer, das ich für mich alleine hatte, war mein Verlies gewesen.

Perl sprang von ihrem Stuhl auf. »Yelena, setz dich doch bitte. Ich hole uns etwas zu essen. Du hast ja kaum Fleisch auf den Knochen.« Während sie hinauseilte, rief sie zur Decke hinauf: »Esau, Yelena ist hier. Komm herunter zum Tee.«

Nachdem sie verschwunden war, schaute ich mich im Wohnzimmer um. Ein schwacher Duft von Äpfeln lag in der warmen Luft. Das Sofa und die beiden Sessel sahen aus, als seien sie aus Seilen geflochten, und doch fühlten sie sich hart an, wenn man sie berührte. Das Mobiliar wirkte ganz anders als die Sessel von Zaltana, die ich bisher gesehen hatte und die alle aus zusammengebundenen Zweigen und Stöcken gefertigt waren.

Ich machte es mir in einem Sessel bequem. Die roten, blattförmigen Kissen raschelten unter meinem Gewicht, und ich fragte mich, womit sie wohl gefüllt sein mochten. Mein Blick fiel auf eine schwarze hölzerne Schale auf der Glasplatte eines kleinen Tisches vor dem Sofa. Die Schale sah aus wie handgemacht. Gerade wollte ich es mir bequem machen, als eine lange Anrichte an der hinteren Wand meine Aufmerksamkeit erregte.

Darauf waren mehrere merkwürdig geformte Flaschen aufgebaut, die durch geschwungene Glasröhren miteinander verbunden waren. Unter einigen der Gefäße befanden sich unangezündete Kerzen. Beim Anblick der Versuchsanordnung musste ich an Reyads Laboratorium denken. Die Erinnerung an seine Sammlung von Glasgefäßen und metallenen Instrumenten verursachte mir eine Gänsehaut. Schweiß rann mir in den Nacken, und mein Herz krampfte sich zusammen, als vor meinem inneren Auge Bilder auftauchten, in denen ich an ein Bett gefesselt war, während Reyad sich die perfidesten Foltermethoden ausdachte. Ich schalt mich selbst für meine lebhafte Fantasie. Es war geradezu lächerlich, dass der Anblick von ähnlichen Objekten mir noch zwei Jahre später Angst einjagen konnte.

Zögernd trat ich näher. In einigen der Flaschen brodelte eine bernsteinfarbene Flüssigkeit. Ich nahm eine davon in die Hand und schüttelte sie. Ein intensiver Geruch nach Äpfeln stieg mir in die Nase. Erinnerungen an Schaukeln und Lachen stiegen in mir hoch, doch die Bilder verschwammen, als ich mich darauf zu konzentrieren versuchte. Enttäuscht stellte ich die Flasche zurück.

In den Regalen hinter dem Tisch waren weitere Flaschen und Röhren aufgebaut. Der Apparat sah aus wie ein Destillierkolben zur Herstellung von Alkohol. Vielleicht handelte es sich bei der Flüssigkeit um Apfelschnaps wie jenen, den General Rasmussen vom Militärdistrikt 7 in Ixia zur Versammlung der Generäle beim Kommandanten mitgebracht hatte.

Ich hörte meine Mutter zurückkommen und drehte mich um. In der Hand hielt sie ein Tablett mit klein geschnittenen Früchten, Beeren und Tee. Sie stellte das Mittagessen auf den schmalen Tisch vor der Couch und bedeutete mir, mich zu ihr zu setzen.

»Du hast also meine Destillieranlage entdeckt«, sagte sie beiläufig, als ob jeder in Zaltana eine solche Vorrichtung in seinem Wohnzimmer hatte. »Riechst du etwas, das dir bekannt vorkommt?«

»Brandy?«, riet ich.

Ihre Schultern sanken ein bisschen tiefer, aber sie lächelte weiter. »Versuch’s noch einmal.«

Ich hielt meine Nase über eine der mit der bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllten Flasche und atmete tief ein. Das Aroma umgab mich wie eine Hülle aus Behaglichkeit und Sicherheit; es schnürte mir allerdings auch die Kehle zu und nahm mir einen Moment lang die Luft. Bilder schossen mir durch den Kopf. Mal sprang ich umher, mal lag ich auf dem Rücken, und ich konnte kaum atmen. Doch plötzlich wurde mir ganz leicht im Kopf.

»Yelena, setz dich hin.« Meine Mutter packte mich am Ellbogen und führte mich zu einem Stuhl. »Du darfst es nicht so tief einatmen. Es ist sehr intensiv.« Beruhigend legte sie die Hand auf meine Schulter.

»Was ist es denn?«, wollte ich wissen.

»Mein Apfelparfüm.«

»Parfüm?«

»Du erinnerst dich also nicht.« Ihr Lächeln erstarb, und ihre Enttäuschung war nicht zu übersehen. »Ich habe es immer benutzt, als du ein Kind warst. Es ist mein meistverkauftes Parfüm. Sehr beliebt bei den Magiern im Bergfried. Nachdem du verschwunden warst, habe ich es nicht mehr über mich gebracht, es zu benutzen.« Wieder berührte sie ihren Hals, und es sah aus, als versuchte sie, ihre Worte oder ihre Gefühle zurückzuhalten.

Bei dem Wort »Magier« wurde meine Kehle eng. Wieder erinnerte ich mich an meine Entführung beim Feuerfest im vergangenen Jahr. Sie hatte zwar nicht lange gedauert, aber dennoch lange genug, sodass ich mich ganz genau an die Zelte, die Dunkelheit, den Geruch von Äpfeln, den Geschmack von Asche und das Bild von Irys erinnerte, die vier Männern befahl, mich zu erdrosseln.

»Benutzt Irys deine Parfüms?«, fragte ich.

»Aber ja. Apfel ist ihr Lieblingsduft. Sie hat mich übrigens gestern Abend gebeten, noch ein wenig für sie zu machen. Erinnert dich der Geruch an sie?«

»Ich glaube, sie hat es benutzt, als wir uns das erste Mal begegnet sind«, antwortete ich ausweichend. Wäre Valek nicht rechtzeitig aufgetaucht, wäre Irys’ Mordversuch geglückt. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, dass ich zu Beginn meiner Bekanntschaft sowohl mit Irys als auch mit Valek nur schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

»Ich habe festgestellt, dass bestimmte Gerüche mit bestimmten Erinnerungen verbunden sind. Leif und ich haben es gemeinsam herausgefunden; es war Teil seines Projekts mit dem Ersten Magier. Wir haben verschiedene Düfte und Aromen komponiert, die den Opfern von Verbrechen dabei helfen sollen, sich die Tat mit möglichst vielen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen. Diese Erinnerungen sind sehr intensiv, und sie helfen Leif dabei, ein besseres Bild von dem zu bekommen, was den Opfern zugestoßen ist.« Sie ließ mich los, setzte sich hin und verteilte das Obst in drei Schalen. »Ich hatte gehofft, dass das Apfelparfüm deinen Erinnerungen an uns auf die Sprünge helfen könnte.«

»Es hat auch etwas bewirkt, aber …« Ich unterbrach mich, weil ich einfach nicht in der Lage war, die flüchtigen Eindrücke in Worte zu fassen. Es bekümmerte mich immer mehr, dass ich mich nicht an irgendetwas aus den sechs Jahren, die ich hier gelebt hatte, erinnern konnte. Stattdessen fragte ich: »Machst du viele Parfüms?«

»Oh ja«, antwortete sie. »Esau bringt mir herrliche Blumen und Pflanzen mit, die ich verarbeiten kann. Ich liebe es, neue Parfüms und Düfte zu kreieren.«

»Und sie ist die Beste im ganzen Land«, sagte eine dröhnende Stimme hinter mir. Ich drehte mich um. Ein kleiner, stämmiger Mann betrat das Zimmer. Seine Ähnlichkeit mit Leif war nicht zu übersehen.

»Meister-Magier haben ihre Parfüms benutzt, selbst die Königin und die Prinzessin von Ixia, als sie noch lebten«, verkündete Esau stolz. Er packte mich bei den Handgelenken und zog mich hoch. »Yelena, mein Kind. Wie groß bist du geworden.« Er schloss mich in die Arme und drückte mich fest an sich.

Ein starker, erdiger Geruch stieg mir in die Nase. Noch ehe ich etwas sagen konnte, löste er sich wieder von mir, ließ sich auf einen Stuhl fallen, setzte sich eine Schale Obst auf den Schoß und griff nach einer Tasse Tee. Perl reichte mir die andere Schale, während ich ebenfalls Platz nahm.

Esaus ungekämmtes graues Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Während er aß, bemerkte ich, dass die Linien seiner Handfläche dunkelgrün gefärbt waren.

»Esau, hast du deine Finger wieder nicht vom Blattöl lassen können?«, fragte Perl streng. »Kein Wunder, dass es so lange gedauert hat, bis du heruntergekommen bist. Bestimmt hast du versucht, es abzuwaschen, um nicht überall Flecken zu hinterlassen.«

An der Art, wie er den Kopf einzog, konnte ich erkennen, dass dies ein Dauerstreit zwischen ihnen war. Esau sah mich schweigend an, blinzelte und wackelte mit dem Kopf hin und her, als ob er eine Entscheidung treffen müsste. Seine Gesichtsfarbe erinnerte mich an Tee ohne Milch. Tiefe Linien durchfurchten seine Stirn und breiteten sich fächerförmig um seine Augen aus. Er hatte ein freundliches Gesicht, dem das Lachen offensichtlich ebenso vertraut war wie das Weinen.

»Jetzt möchte ich aber endlich erfahren, was du die ganzen Jahre über getan hast«, sagte Esau.

Ich unterdrückte einen Seufzer. Nun gab es kein Entkommen mehr. Da ich im Norden daran gewöhnt worden war, Befehlen zu gehorchen, erzählte ich ihnen, wie ich im Waisenhaus von General Brazell im Militärdistrikt 5 aufgewachsen war. Die unangenehmen Jahre, als ich in die Pubertät gekommen und Reyads und Mogkans Laborratte geworden war, streifte ich nur flüchtig. Denn allein schon bei der Erwähnung der Tatsache, dass Reyad und Mogkan die magischen Kräfte ihrer Opfer dazu benutzen wollten, um Brazell beim Sturz des Kommandanten zu helfen, wechselten meine Eltern besorgte Blicke. Deshalb verschwieg ich die grausamen Einzelheiten und erzählte ihnen nicht, wie sie die Seelen der entführten Kinder aus Sitia nach und nach abgetötet hatten.

Auch als ich von meiner Tätigkeit als Kommandant Ambroses Vorkosterin berichtete, erwähnte ich mit keinem Wort, dass ich in dessen Kerker wegen des Mordes an Reyad auf meine Hinrichtung gewartet hatte. Überraschenderweise wurde ich dann nach einem Jahr vor die Wahl gestellt, entweder durch den Strick zu sterben oder die Stellung als Gifttesterin anzunehmen.

»Ich wette, du warst die beste Vorkosterin, die sie jemals hatten«, sagte mein Vater.

»Wie kann man nur so etwas Schreckliches sagen«, tadelte Perl ihn. »Stell dir vor, sie wäre vergiftet worden?«

»Wir Lianas haben ein feines Gespür für Gerüche und Geschmäcker. Ich glaube nicht, dass sie so lange gelebt hätte, wäre sie nicht so gut darin, Gift im Essen zu entdecken. Und jetzt ist sie ja bei uns und in Sicherheit.«

»Es ist ja nicht so, dass man andauernd versucht hat, den Kommandanten zu vergiften«, entgegnete ich. »Eigentlich nur ein einziges Mal.«

Perl fuhr sich mit der Hand an den Hals. »Oje. Ich wette, es war sein Lieblingsmörder, der ihn zu vergiften versucht hat. Diese widerwärtige Kreatur.«

Verständnislos sah ich sie an.

»Kennst du seinen Spion Valek nicht? Jeder aus Sitia würde den Kopf dieses Mannes liebend gern auf einem Spieß sehen. Er hat fast die gesamte königliche Familie ermordet. Nur ein Neffe hat überlebt. Ohne Valek wäre dieser Thronräuber niemals an die Macht gelangt, und die guten Beziehungen zwischen Sitia und Ixia wären nie zerstört worden. Denk nur an diese armen Kinder aus dem Norden, die mit magischen Fähigkeiten zur Welt kamen. Valek hat sie in ihren Bettchen getötet.«

Mir blieb der Mund offen stehen, während sie sich entsetzt schüttelte. Meine Finger tasteten nach der Kette an meinem Hals und spürten den Schmetterling, den Valek für mich geschnitzt hatte. Ich drückte den Schmuck an meine Brust und beschloss, ihnen nichts von meiner Beziehung zu Valek zu erzählen. Ebenso wenig klärte ich sie über die Politik des Kommandanten gegenüber Ixianern mit magischen Fähigkeiten auf. Sie war zwar nicht ganz so grausam wie das Töten von Babys, hatte aber in der Regel den Tod des unglückseligen Mannes oder der Frau zur Folge. Valek war kein Freund dieser Methode, doch er würde sich niemals einem Befehl des Kommandanten widersetzen. Vielleicht würde er dem Kommandanten eines Tages doch noch vor Augen führen können, wie vorteilhaft es war, Magier in den eigenen Reihen zu haben.

»Valek ist nicht so schlimm, wie ihr denkt«, versuchte ich eine Ehrenrettung seines schlechten Rufs. »Er war maßgeblich an der Enttarnung von Brazells und Mogkans Plänen beteiligt. Er war es sogar, der ihnen das Handwerk gelegt hat.« Ich wollte noch hinzufügen: »Und zwei Mal hat er mein Leben gerettet«, aber die angewiderten Mienen auf den Gesichtern meiner Eltern hielten mich davon ab.

Meine Bemerkungen hatten sie also nicht überzeugen können. Für Sitia war er der Schurke schlechthin, und es brauchte mehr als Worte, um die vorherrschende Meinung über ihn zu ändern. Dabei konnte ich meinen Eltern nicht einmal einen Vorwurf machen. Als ich Valek kennengelernt hatte, fürchtete ich seinen Ruf ebenfalls, da ich nichts wusste von seiner unbedingten Loyalität, seinem Sinn für Gerechtigkeit und seiner Bereitschaft, sich für andere zu opfern – Eigenschaften, die von dem Bild, das man sich in der Öffentlichkeit von ihm machte, vollkommen überschattet wurden.

Ich dankte meinem Schicksal, als Nutty mit meinem Rucksack hereinstürzte.

Esau nahm ihn ihr aus der Hand. »Danke, Nut«, sagte er und zog liebevoll an einem ihrer Zöpfe.

»Gern geschehen, Es.« Sie versetzte ihm einen leichten Stoß in den Bauch und tänzelte außer Reichweite, als er sie packen wollte. Bevor sie zur Tür hinauslief, streckte sie ihm die Zunge heraus.

»Beim nächsten Mal, Nut, krieg ich dich.«

Ihr Lachen hallte nach. »Du kannst es ja versuchen.« Und dann war sie verschwunden.

»Komm, ich zeig dir dein Zimmer«, sagte Esau zu mir.

Als ich ihm folgen wollte, hielt Perl mich zurück. »Warte, Yelena. Erzähl mir, was aus Brazells Plänen geworden ist.«

»Gar nichts ist daraus geworden. Und jetzt liegt er im Kerker des Kommandanten.«

»Und Reyad und Mogkan?«

Ich holte tief Luft. »Tot.« Ich wartete auf ihre Frage nach ihren Mördern und überlegte bereits, ob ich ihr erzählen sollte, welche Rolle ich bei ihrem Sterben gespielt hatte.

Aber sie nickte nur zufrieden. »Gut.«

Esaus und Perls Wohnbereich erstreckte sich über zwei Etagen, doch statt einer verbindenden Leiter oder Treppe benutzte Esau einen, wie er es nannte, »Lift«. Eine solche Vorrichtung hatte ich noch nie gesehen. Wir standen in einem schrankgroßen Raum. Zwei dicke Seile kamen durch zwei Löcher im Dach und verschwanden durch zwei weitere im Boden. Esau zog an einem der Stricke, und der hölzerne Raum glitt aufwärts. Obwohl die Bewegung sehr langsam war, hielt ich mich vorsichtshalber an der Wand fest. Nach kurzer Zeit erreichten wir die obere Etage.

Esau steckte den Kopf zurück in den Lift, als ich ihm nicht sofort folgte. »Gefällt’s dir?«, fragte er.

»Es ist fantas...

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