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Magic of Moon and Sea. Die Diebin der vielen Gesichter

hier erhältlich:

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Diebische Gesichtwandlerin kommt dunklen Geheimnissen auf die Spur

In den nebligen Gassen von Shelwich steigt und fällt die Magie mit Ebbe und Flut. Für die meisten ist ihre magische Fähigkeit nur eine nette Spielerei, die mit ansteigender Flut zutage tritt. Sie können plötzlich ihre Augenfarbe ändern oder einen Löffel vor ihrer Nase herumtanzen lassen. Aber Ista Flit besitzt eine mächtige Gabe, die sie zur Meisterdiebin der Stadt hat werden lassen. Dabei ist Ista nur auf der Suche nach ihrem verschollenen Vater. Doch er ist nicht der Einzige, der in dieser Stadt verschwunden ist. Mit Nat und Ruby an ihrer Seite taucht Ista ab in die dunklen Geheimnisse einiger Bewohner und stellt fest, dass in Shelwich manches mehr Schein als Sein ist.

Erster Teil eines rasanten Fantasy-Abenteuers mit mutigen Heldinnen und Helden

Eine Geschichte, die einen nicht mehr loslässt: spannnend, magisch und außergewöhnlich



  • Erscheinungstag: 04.04.2025
  • Aus der Serie: Magic Of Moon And Sea
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 288
  • Altersempfehlung: 10
  • Format: Hardcover
  • ISBN/Artikelnummer: 9783505151446

Leseprobe

Für Mum,
die mir schon Geschichten erzählt hat,
bevor ich überhaupt geboren wurde.

Und für Ed,
der mir immer Snacks gebracht hat,
während ich dieses hier schrieb.

1

Die wandelnde Gasse

Die Straße wurde Wandelgasse genannt, weil man niemals genau wusste, wo sie sich befand. Manche Menschen behaupteten, sie wären von einer seltsamen leisen Melodie zu ihrem Eingang geführt worden. Andere meinten, um sie aufzuspüren, müsse man sich lediglich an die Ecke zwischen Glockenstraße und Backhausgasse stellen und darauf warten, dass der Wind dreht.

Aber Ista Flit war vollkommen klar, dass keiner dieser Menschen die Gasse je betreten hatte.

Die Glücklichen, dachte sie und wandte sich vom Fluss ab, der sich durch das nachmittägliche Sonnenlicht schlängelte wie eine breite graue Zunge. Selbst im besten Fall erwartete einen nichts Gutes bei einem Besuch der Wandelgasse, und die heutige Aufforderung zu erscheinen war zeitlich alles andere als ideal. Denn die Flut hatte eingesetzt, prickelte über Istas Arme und säuselte ihr in den Ohren. Noch dazu zog Nebel auf.

Ein Schauer lief ihr über den Körper, und er hatte nichts mit der kühlen Luft zu tun.

Starke Magie, Nebel und Dunkelheit – genau das lockte die Ungeheuer an.

Wenigstens hatte Ista noch eine gute halbe Stunde, bis die Flut ihren Höchststand erreichte, und bis zum Einsetzen der Abenddämmerung blieb sogar noch etwas mehr Zeit. Hätte Ista frei entscheiden können, wäre sie trotzdem schleunigst nach Hause gelaufen, bevor die Magie weiter anstieg. Doch am Vordach der Aalhütte war ein blaues Stofftaschentuch befestigt gewesen, und für sie war das eine eindeutige Aufforderung zu kommen. Also schlängelte sie sich nun durch das Labyrinth der Straßen südlich vom Schiffsbauerplatz und blieb alle paar Schritte stehen, um einmal tief durch die Nase einzuatmen. Die Luft war so kalt, dass Ista trotz der Dicke ihres zu großen Mantels fröstelte.

Die Wandelgasse war ziemlich hinterlistig, aber irgendwo hier musste sie sein. Ista konnte sie bereits riechen – rauchig und brackig zugleich, so, als hätte jemand neben einem schlickigen Gezeitentümpel eine Geburtstagskerze ausgeblasen. Einen guten Riecher hast du, hatte ihre Tante vor gar nicht allzu langer Zeit mal zu ihr gesagt, als in Istas Leben noch so unkomplizierte Dinge wie Tanten und Geburtstage existiert hatten. Und zwar für Schwierigkeiten. Selbst deine scharfe Zunge hilft dir nicht dabei, dich aus denen wieder rauszuwinden. Was wahrscheinlich stimmte. Tatsächlich war es Istas etwas überdurchschnittlich langer Riechkolben – durch den sie zusammen mit ihren abgenutzten Kleidern und den dünnen Gliedmaßen wie ein aufgeschreckter Reiher aussah –, der sie in letzter Zeit zu allerhand Schwierigkeiten führte.

Nun ja, sowohl ihre Nase als auch die Gabe, mit der die Flut sie gesegnet hatte.

Ista machte noch einen Schritt. Atmete noch einmal durch die Nase ein. Da. Ganz am Rand ihres Gesichtsfeldes – wo sich einen Sekundenbruchteil zuvor nichts weiter befunden hatte als eine Reihe unscheinbarer Kaufläden – erschien plötzlich und auf erstaunliche Art und Weise eine Straße, wie eine sich öffnende dunkle Mundhöhle. Der Eingang war in Schatten gehüllt, und ganz hinten in Istas Kopf flüsterte eine Stimme – wie jedes Mal, wenn sie die Wandelgasse gefunden hatte –, dass das alles eine ganz, ganz schlechte Idee war.

Ein anderer, eher praktisch veranlagter Teil von ihr wusste jedoch, dass sie keine andere Wahl hatte. In ihrem Leben gab es nicht mehr viele Dinge, die ihr wichtig waren, aber eines davon befand sich dort unten, genauso wie die Person, die es in Gewahrsam genommen hatte.

Ista straffte die Schultern und ging in die Finsternis hinein. Der Weg verbreiterte sich; unter ihren Füßen tauchten Pflastersteine auf, und von beiden Seiten der Straße bedrängten sie Gebäude mit schwarzen Dachbalken. Neben ihr wurde knarzend eine Tür geöffnet und mit einem Klick wieder geschlossen, als sie nachsehen wollte, wer sich dort befand.

Am Ende der Gasse stand das Gasthaus Zum Kreischenden Aal. Gezeitenlaternen erhellten den Weg und leuchteten mit jeder Sekunde heller, in der auch die Magie stärker wurde. Sie gossen ihren bläulich-wässrigen Schein über die schiefen Holzbalken und weiß getünchten Wände des Gebäudes. Über dem Vordach quietschte das rostige Namensschild an seiner Stange, so, als würde es von einer unsichtbaren Hand geschaukelt. Die Eingangstür war vollkommen kahl: kein Griff, keine Glocke, kein Türklopfer, kein Briefkastenschlitz. Kein versteckter Riegel, keine verborgene Kordel und nicht mal ein Schlüsselloch. Jeder, der es nicht besser wusste, musste annehmen, dass sie sich nur von innen öffnen ließ.

Doch Ista wusste es besser. Sie legte eine Hand auf das Holz. Augenblicklich erschien über ihren Fingerspitzen eine schwache Linie, wie der Kratzer einer sehr scharfen Klaue. Die Linie wurde länger und beschrieb eine Kurve, sodass sie einen gezackten Kreis um Istas Hand bildete. Als der Kreis vollständig war, schwang die Tür nach innen auf, und eine leise Stimme knurrte zur Begrüßung:

»Willkommen, Wanderer. Tritt ein und triff deine Wahl.«

In der mit Steinboden ausgelegten Eingangshalle warteten zwei Liftkabinen, deren Türgitter aus kunstvoll gewundenen Metallstäben bestanden, die aussahen wie wallendes Flussgras und sich windende Tentakel. Neben den Liften war je ein Messingschild angebracht: Auf dem einen waren ein abwärts zeigender Pfeil und das Wort Geschäfte eingraviert; auf dem anderen befanden sich ein aufwärts deutender Pfeil und das Wort Vergnügen.

Der einzige weitere Gegenstand in dem Raum war ein lederner Portierssessel mit einer Art Baldachin an der Rückenlehne. Ein großer weißer Kater döste auf dem Sitz. Er öffnete sein grünes Auge – er besaß nur das eine – und blinzelte Ista an, die sich für eine Streicheleinheit zu ihm hinunterbeugte.

»Hallo, Maunz der Schreckliche«, begrüßte sie ihn, denn so hieß der Kater, und Ista glaubte, dass es ihm gefiel, wenn man ihn mit Namen ansprach. »Nicht schwer zu erraten, für welche Richtung ich mich entscheide.«

Maunz der Schreckliche hob das Kinn, damit sie an das dichte Fell an seinem Hals herankam. Ista gönnte sich seine schnurrende Wärme für ein paar Sekunden, dann richtete sie sich auf und wandte sich den Liften zu. Noch nie hatte sie einen Fuß in die ins obere Stockwerk führende Kabine zu ihrer Rechten gesetzt, wo es Gerüchten zufolge Essen und Musik und auch Zimmer für müde Nachtschwärmer gab.

In der Kabine auf der linken Seite gab es keine Knöpfe, die man hätte drücken können. Das Gitter und die Türen glitten zu, schlossen sie ein. Man musste entweder verzweifelt oder verwegen sein, um für geschäftliche Angelegenheiten ins Gasthaus Zum Kreischenden Aal zu kommen – da waren sich in Shelwich alle einig.

Ich bin verwegen, dachte Ista entschlossen, während die Liftkabine nach unten ratterte. Ich bin verwegen. Ich bin verwegen!

Sie trat hinaus in einen Gang, der nur von einer einzigen flackernden und an einer Kette baumelnden Gezeitenlaterne erhellt wurde. Am Ende des Ganges befand sich eine Tür. Ich bin verwegen, sagte sie sich noch einmal. Doch tief in ihrem Inneren war ihr bewusst, dass eigentlich die Verzweiflung sie hierhergeführt hatte.

Bevor sie klopfen konnte, brauste ein Luftzug heran, stieß die Tür auf und trug sie so mühelos über die Schwelle, wie eine Welle ein Stück Seetang an den Strand spült. Den Raum, in dem sie landete, hätte man als Arbeitszimmer, Bibliothek oder sogar Werkstatt bezeichnen können, je nachdem, wer die Benennung vornahm. Unter anderen Umständen hätte Ista vielleicht behauptet, dass er heimelig anmutete. Jeder verfügbare Platz war vollgestopft mit antik aussehenden Büchern, bunt zusammengewürfelten Möbelstücken und unzähligen Regalen voll mit Dingen, die sie als Kuriositäten bezeichnete und die unterschiedlichsten Arten von Kinkerlitzchen und Gerätschaften waren: von Chutney-Löffeln über Mikroskope bis hin zu einer ganzen Menagerie mechanischer Tiere.

Ista schlängelte sich vorsichtig durch das Wirrwarr, gab dabei acht, nichts umzuwerfen. »Du hast mich herbeordert.«

In solchen Augenblicken kam es ihr vor, als übernähme jemand anderes ihren Mund. Jemand Älteres und viel, viel Mutigeres. Dieser Jemand schien auch ihre Hände zu steuern, denn sie wischte weder ihre feuchten Handflächen am Mantel ab, noch glättete sie den Schopf kurzer brauner Haare, die ihr vom Kopf abstanden – sosehr es sie auch in den Fingern juckte.

Die Antwort drang aus den Schatten auf der anderen Seite des Raumes zu ihr. »Hallo, kleine Diebin. Ich habe einen Auftrag für dich.«

An Alexo Rokis selbst war nichts heimelig. Er hatte ein Gesicht wie ein Fuchs und Augen wie ein Wolf; überall spitze Ecken und Kanten, insbesondere am Kinn und an den Ellbogen. Alles Weitere – angefangen bei seinem Alter bis hin zu der Frage, wie lange er schon in der Stadt lebte – war ungewiss. Man war sich lediglich einig, dass er auf jedem Schwarzmarkt in Shelwich seine Finger im Spiel hatte und es meisterlich verstand, ein Schweigen unangenehm in die Länge zu ziehen – so wie jetzt gerade.

Sein Grinsen brannte Ista auf der Haut. Ihr Gesicht blieb jedoch ausdruckslos – zumindest hoffte sie das –, und nachdem die Uhr ein paarmal langsam getickt hatte, wogte seine Stimme wieder zu ihr herüber.

»Ich möchte, dass du ein Teleskop für mich stiehlst. Nur ein ganz kleines. Es ist in der Mondwarte ausgestellt. Im Kartensaal.« Er stieß sich von der Wand ab, und sein Grinsen wurde nun breit und hämisch. »Gouverneurin Hettler hält dort morgen Abend eine Rede. Im Großen Saal, nur ein paar Korridore weiter. Du wirst als Gast dort erscheinen.«

Ista lächelte nicht zurück. Sie vertraute ihm am allerwenigsten, wenn er in einer solchen Stimmung war und Anweisungen verteilte, als wären sie Eintrittskarten zu tollen Abenteuern.

»Und als wer?«, fragte sie. Sie hoffte, dass der Gast diesmal ungefähr in ihrem Alter war. Sich wie ein Erwachsener zu verhalten war nämlich gar nicht so einfach. Sie sagten fast nie, was sie wirklich meinten.

Alexo grinste immer noch, als er vor sie trat. Er streckte eine Hand aus, die Innenfläche nach oben gerichtet.

Ista spürte, wie Magie ihr Rückgrat hinunterkroch.

Da tauchte zwei Zentimeter über seinen Fingern eine murmelgroße Blase auf. Sie hing in der Luft wie ein kleiner Mond. Dann begann sie zu wachsen, die Oberfläche nun trübe, schwoll immer weiter und weiter an, bis sie so groß war wie der Globus, der bedenklich schräg auf einem Bücherstapel neben ihnen balancierte. Blätterförmige Umrisse wirbelten durch den trüben Schleier, fügten sich dann zur Silhouette eines Menschen zusammen.

Alexo ballte die Hand zur Faust. Die Blase wurde durchsichtig. Der Mensch war ein Junge, detailgetreu abgebildet, so, als betrachtete sie ihn durch ein Fenster.

»Oh«, machte Ista. Einen Augenblick lang war sie zu nichts weiter imstande. »Aber das ist ja Jarmak Hettler!« Vor Fassungslosigkeit quietschte ihre Stimme ein bisschen.

Alexo nickte. »Der Sohn der Gouverneurin. Wer sonst wäre eine bessere Tarnung?«

Nein. Das Wort bildete sich in Istas Kehle. Ganz als hätte Alexo es gehört, hob er eine Augenbraue und schaute dann zu einer Vitrine neben dem Kamin.

Ista wollte dem Drang widerstehen, seinem Blick zu folgen, doch es gelang ihr nicht. Hinter der Glasfront, weggesperrt mit einem Schlüssel, den Alexo am Gürtel trug, stand ein Klarinettenkoffer. Er gehörte Istas Vater – und seine Klarinette befand sich ebenfalls darin. Mehr war Ista von ihrem Pa nicht geblieben.

Sie schluckte. »Wenn ich erwischt werde …«

»Dann ketten sie dich am Schiffsbauerplatz an und überlassen dich den Grilks zum Fraß? Ja, wahrscheinlich.« Alexos grinste erneut. »Aber du wirst ja nicht erwischt.«

Ista unterdrückte ein Schaudern. Normalerweise vermied sie es, an das eine Mal zu denken, als sie einen Grilk aus nächster Nähe gesehen hatte, doch jetzt überwältigte die Erinnerung sie. Flügel wie zerrissene Segel, Zähne so scharf wie ein Schwert und dahinter der Schlund der Kreatur, der sich wie ein ausladendes schwarzes Loch öffnete. Am schlimmsten war allerdings das schreckliche Gefühl gewesen, als würde alle Magie aus ihr herausgesaugt.

Das war an ihrem ersten Abend in der Stadt passiert – und ohne Alexo wäre sie niemals entkommen. Sie erinnerte sich nur noch verschwommen an ihre Rettung, sodass sie gar nicht beschreiben konnte, was genau geschehen war. Aber irgendwie hatte seine Ankunft den Grilk verscheucht, und Alexo hatte sich dabei die Klarinette von ihrem Pa geschnappt. Erledige ein paar Aufträge für mich, hatte er gesagt, nachdem sie die Klarinette in seiner Hand bemerkt und ihn aufgefordert hatte, sie ihr zurückzugeben. Damit kannst du sie dir zurückverdienen.

Er hatte sie gerettet und dann bestohlen, beinahe im selben Atemzug. Und Ista, ganz zittrig vor Angst und Erschöpfung, hatte keinen anderen Ausweg gesehen, als seine Hand zu schütteln. Erst danach kam ihr der Gedanke nachzufragen, was er mit »ein paar« meinte. Sagen wir zwanzig, hatte er schulterzuckend geantwortet. Wahrscheinlich plante er, die Klarinette zu verkaufen, falls Ista sich nicht als nützlich erweisen würde. Denn damals hatte er noch nicht gewusst, wozu sie fähig war.

»Und?«, sagte er nun.

Ista richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Jungen in der Blase. Sie hatte Jarmak Hettler schon mal aus der Ferne gesehen und wusste, dass er ungefähr so groß war wie sie, wenn auch um einiges breiter, doch nun konnte sie ihn zum ersten Mal aus der Nähe betrachten. Seine Gesichtszüge waren weich, und er hatte etwas längere Haare als Ista, die er aus dem Gesicht nach hinten gegelt trug. Die Haut war hell und rosig, und ein kleines Muttermal zierte seine rechte Wange.

Nicht, dass diese Einzelheiten eine Rolle spielten. Magie pochte in ihren Fingerspitzen und rauschte in ihrem Blut. Die Flut steuerte auf ihren Höhepunkt zu. Sie würde die Arbeit für sie übernehmen.

Ista schloss die Augen – und verwandelte sich.

Wie immer begann die Verwandlung mit einem Prickeln in ihrem Nacken und mündete in ein Zucken ihrer Zehen. Als sie vollendet war, fühlte sich ihr Kopf zu schwer und die Füße zu platt an, und Ista wusste, dass ihr bei einem Blick in den goldgeränderten Spiegel an der Wand ein haargenaues Ebenbild von Jarmak Hettler entgegensehen würde.

»Das sollte genügen«, winkte Alexo ab.

Er könnte ruhig ein klitzekleines bisschen beeindruckter klingen, dachte Ista und warf ihm während der Rückverwandlung einen finsteren Blick zu.

Eine Gezeitengabe, so nannten die Leute es – jede Art von Fähigkeit, die mit der Flut stärker wurde.

Und ihre verschaffte ihm einen hübschen Gewinn in Form von gestohlenen Kostbarkeiten.

Sie betrachtete ihre Nägel. »Ich brauche schicke Kleidung.«

»Die lasse ich dir zukommen.« Alexo wandte sich ab.

Die Blase schrumpfte in sich zusammen und verschwand, ließ nichts weiter zurück als einen schwachen Dufthauch von ausgeblasenen Kerzen und Salzwasser.

Damit bin ich wohl entlassen, dachte Ista, und ihr Blick traf ihre eigenen braunen Augen im Spiegel, bevor er noch einmal zu dem Klarinettenkoffer wanderte, nur für einen Moment, bevor sie den Raum verließ.

Zwanzig Aufträge. So viele hatten sie ausgemacht. Morgen war Nummer neunzehn.

Ista hoffte inständig, dass Alexo zu seinem Wort stehen würde.

2

Eine gute Tat

Das Knifflige bei der Vortäuschung, jemand anderes zu sein, lag darin, zu jeder Zeit den Aufenthaltsort der echten Person zu kennen. Glücklicherweise war Gouverneurin Betrika Hettler die Pünktlichkeit in Person. Während das Glockengeläut zum Sonnenuntergang über die Stadt schallte, surrte ein schwarzes Solarmobil, auf dessen Dach die Sonnenkollektoren im schwindenden Licht der winterlichen Sonne leuchteten, die breite Hauptallee des Parks hinauf.

Ista, in der Astgabel eines Kastanienbaums kauernd, beugte sich ein Stück nach vorne, um besser sehen zu können. Vor langer Zeit, bevor die Gezeitenmagie aufgekommen war, hatten sich Fahrzeuge wie dieses durch die ganze Stadt geschlängelt. Doch heutzutage waren Ersatzteile so rar, dass sich nur die reichsten Leute Technologien dieser Art leisten konnten. Ganz zu schweigen von den Anpassungen, die notwendig waren, um die Motoren beim Anschwellen der Magie am Laufen zu halten. Alle anderen Menschen nutzten daher Karren, Fahrräder und Rikschas – oder die Rollbahn, wenn man genügend Münzen in der Tasche hatte, was bei Ista nie der Fall war.

An einem Abend wie diesem war sie ohnehin besser zu Fuß unterwegs. Der Park lag an einem steilen Hang und die Mondwarte auf dem Gipfel des Hügels. Sie zeichnete sich wie eine schiffbrüchige Galeone gegen den Himmel ab. Unzählige Wege führten nach oben, doch der schnellste ging über eine schmale Treppe. Ista sprang leichtfüßig vom Baum herunter und hüpfte in großen Sätzen über das Gras zu der Treppe hinüber, während der Beutel, den sie über ihrer Schulter trug, bei jedem Schritt gegen ihre Hüfte stieß.

Als sie den Gipfel erreichte, trudelten gerade die ersten Gäste ein – manche in Kutschen, andere von der nahe gelegenen Rollbahnhaltestelle. Das Solarmobil sauste vorbei und hielt hinter dem Haupttor an. Durch den Zaun beobachtete Ista, wie die Gouverneurin ausstieg und ihr hochgeschlossenes Abendkleid auf dem Weg ins Gebäude hinter ihr herwogte.

Jarmak Hettler trottete seiner Mutter hinterher und sah dabei hochgradig gelangweilt aus. Vermutlich musste er an vielen solcher Veranstaltungen teilnehmen – besonders in dieser Zeit, da doch die Wahlen bevorstanden. Ista fragte sich, was wohl seine Gezeitengabe sein mochte. Jedem war bekannt, dass die Gouverneurin ihre Augenfarbe ändern konnte – von Hellgrau zu leuchtend Blau –, aber Ista hatte noch nie jemanden über Jarmaks Magie sprechen hören.

Nicht, dass das eine Rolle spielte. Viel wichtiger war, dass seine Abendrobe aus genau demselben purpurroten Stoff gefertigt war wie die in ihrem Beutel. (Alexo unterhielt gute Kontakte zu jedem Schneider in der Nadelgasse.)

Trotzdem mutmaßte sie gern, welche Gabe die Menschen besaßen, deren Gesichter sie ausborgte. Pa hatte ihr beigebracht, respektvoll und nicht zu neugierig über die Gedanken und Körper der von ihr imitierten Menschen zu sein, aber es machte einfach Spaß, Spekulationen über ihre Magie anzustellen. Die Flut bedachte fast jeden mit irgendetwas. Der Fähigkeit, einen besonders hohen Ton zu singen oder ein ganz klein wenig über dem Boden zu schweben. Die Leute sagten, dass die Gezeitenmagie jedes Jahr stärker wurde und der jüngeren Generation sehr viel mächtigere Gaben bescherte als ihren Eltern oder Großeltern. Allerdings hatte Ista noch nie jemanden mit einer Fähigkeit wie ihrer getroffen.

Alexo zählte nicht. Sein Einfluss erstreckte sich zwar über die gesamte Stadt, aber seine Magie war an die Wandelgasse gebunden. Deswegen brauchte er Ista. Ihre Magie war überall gleich stark. Sie war wie ein Summen und Trommeln und ein schrilles Heulen in ihr drin. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie würde sie entzweibrechen.

Ista wandte sich von der Mondwarte ab und blickte über die Stadt. Es ist wunderschön hier, hatte Pa in seinem letzten Brief geschrieben. Und das war es auch, insbesondere an Abenden wie diesem, wenn die untergehende Sonne orange und rosarot durch den Nebel leuchtete und sich die hoch aufragenden Ruinen auf der Glasinsel wie uralte Riesen über der Flussmündung abzeichneten. Wunderschön, aber kalt. Istas Atem bildete Wölkchen in der Luft, und sie war dankbar für ihre vielen Schichten Thermokleidung. Pa hatte sie nicht vorgewarnt, wie viel kälter die Winter in Shelwich im Vergleich zu den Wintern zu Hause waren.

Er hatte sie auch nicht vor den Ungeheuern gewarnt. Vermutlich hatte er sie nicht verängstigen wollen.

»Noch eine gute halbe Stunde bis zum Tidehöchststand.«

Eine Stimme lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Turm der Mondwarte. Durch das Haupttor strömten die Gäste hinein. Die meisten gingen schnurstracks auf die mit Säulen bestückte Eingangshalle zu, doch einige hielten an, um sich einen Aushang mit den Gezeitentabellen der aktuellen Woche anzuschauen. Innerhalb von vierundzwanzig Stunden stieg und fiel die Magie zweimal, und ihre Höchst- und Niedrigstände verschoben sich jeden Tag ein wenig nach hinten. Daher waren überall in der Stadt Tabellen wie diese ausgestellt, sodass jeder wusste, was ihn wann erwartete.

Ista brauchte keinen Gezeitenkalender. Sie war in der Lage, das Ansteigen und Absinken der Magie fast so mühelos zu verfolgen, wie die Zeit an einer Uhr abzulesen. Im Augenblick sprudelte die Kraft nur so durch ihre Adern.

»Und heute Nacht ist auch noch Mondflut«, murmelte ein weiterer Gast stirnrunzelnd. »Ich weiß nicht, was sich die Gouverneurin gedacht hat. Wir wären alle zu Hause in unseren Betten besser aufgehoben.«

Insgeheim stimmte Ista ihm zu. Zweimal im Monat stieg die Flut besonders hoch, bei Neumond und bei Vollmond – daher der Name Mondflut. In einer solchen Nacht war es besonders riskant, sich draußen aufzuhalten. Nicht, weil die Magie die Stadt überflutete und auch der Fluss so stark anschwoll, dass er über die Gehsteige im Hafen schwappte. Sondern weil … nun ja, jeder in Shelwich kannte den Reim:

Wenn die Magie Funken sprüht auf deiner Haut,

wenn der Nebel aufzieht und das Licht ergraut,

bleib daheim und verschließ die Tür,

sonst bist du schon bald nicht mehr hier.

Istas Gedanken schwirrten zurück zu ihrer ersten Nacht in der Stadt, zu dem Gefühl, dass ihre Magie sich wie eine Garnrolle abwickelte, als dieses abscheuliche Wesen über ihr aufragte. Niemand wusste irgendetwas über die Grilks, außer dass sie bei Dunkelheit und Nebel auftauchten, stets um den Höhepunkt der Magie herum, und dass man nie wieder gesehen wurde, sobald sie einen erwischt hatten. Sie selbst war der einzige Mensch, den sie kannte, der ihnen hatte entkommen können.

Was Pa anging …

Doch darüber durfte sie jetzt nicht nachdenken. Durfte nicht trödeln, denn schließlich war sie gerade während einer Mondflut draußen unterwegs, und das Licht schwand rapide. Bald würde nur noch der Nebel fehlen, und der zog oftmals ohne Vorwarnung auf.

Ista hielt sich auf der Parkseite des Metallzauns und lief daran entlang bis zum nächsten Tor. Hier hinten lag der Personaleingang. Eine kleine, streng aussehende Frau hakte Namen auf einer Liste ab. Sie starrte Ista über ihre Halbmondbrille fragend an.

»Ich bin von der Wäscherei Grebe und Gimlet.« Istas Stimme klang ruhig, doch das Herz pochte ihr bis zum Hals. Alexos Pläne bestanden stets aus einem feingliedrigen Netz von Details. Sie fürchtete, irgendwann durch eine Masche zu rutschen und Hals über Kopf in Schwierigkeiten zu stürzen.

Argwöhnisch beäugte die Frau den Beutel, dann die Liste, dann erneut den Beutel. Ihre Fingernägel wechselten immer wieder die Farbe, von Violett zu Rot, dann zu Gold und schließlich zu Grün, so, als würde ein unsichtbarer Pinsel sie ständig neu lackieren. »Du bist ganz schön spät dran. Tischtücher, richtig?«

Ista nickte. Für den Ernstfall lag eine Tischdecke oben auf der Kleidung.

Die Frau kniff die Augen zusammen, trat jedoch beiseite. »Dann mal rein mit dir.«

Hinter dem Tor befand sich ein kleiner Innenhof, von Moos und Efeu überwachsen. Die Steinfliesen waren mit Salz ausgestreut worden, sodass Istas Stiefel bei jedem Schritt knirschten. Die Mondwarte diente nicht nur als Sternwarte und Stadtarchiv, sondern beherbergte auch viele prunkvolle Räume, die für alle möglichen Arten von Konzerten, Ausstellungen und feierlichen Veranstaltungen genutzt wurden. Pa hatte erwähnt, dass er mal hier gespielt hatte. Bestimmt hatte er das Gebäude auf demselben Weg wie Ista betreten. Sie konnte ihn förmlich vor sich sehen, den Klarinettenkoffer in einer Hand, das Haar (welches genau wie ihres dazu neigte, in widerspenstigen Büscheln vom Kopf abzustehen) mit Pomade eng an den Kopf geschmiegt.

»Es dauert nicht mehr lange«, hatte er versprochen. »Ich muss nur noch ein bisschen mehr Geld sparen, dann suche ich uns eine passende Wohnung, und du kannst Tante Abgill in Frieden lassen und hierher zu mir kommen.«

Ein neues Leben. Das war der Plan gewesen. Stattdessen waren plötzlich keine Briefe mehr von Pa gekommen. Und dann traf schließlich die Klarinette ein, zusammen mit einer ganz anderen Art von Brief – verfasst von Mikkela, Pas Trompete spielender Freundin, die schrieb, dass Pa verschwunden war. Verschwunden, als wäre er eine eigensinnige Katze oder eine verloren gegangene Socke. Und Istas Tante hatte das einfach so hingenommen, hatte gemeint, dass Pa sich in ihrer Jugend öfter mal davongemacht hatte und sicher bald wieder auftauchen würde. Bei der Erinnerung daran platzte Ista immer noch förmlich vor Wut – als ob Pa sie jemals im Stich lassen würde. Sie hatte Tante Abgill angefleht, angefleht, sie nach Shelwich zu bringen, damit sie gemeinsam nach Pa suchen konnten.

Als sich ihre Tante weigerte, hatte Ista die Sache selbst in die Hand genommen. Doch Pa war tatsächlich verschwunden, so vollkommen, als wenn jemand ihn von der Straße gepflückt und ins Weltall geschleudert hätte. Nach einhundertvier Tagen der Suche blieben Ista lediglich die Erinnerungen an ihn – und die Klarinette, falls sie sie zurückbekam.

Nicht falls. Wenn. Bald.

Ista konzentrierte sich wieder. Der Duft eines fein gewürzten Schmorgerichts waberte zu ihr herüber. Geh an der Küche vorbei nach drinnen, lautete Alexos Anweisung, die zusammen mit der Abendrobe eingetroffen war.

Zwei Mädchen blockierten den Eingang, da sie sich mit einem schwerfälligen Radkarren abmühten. Anscheinend Schwestern, jedenfalls ihren ähnlich verzerrten Gesichtsausdrücken und identischen Flechtfrisuren nach zu urteilen.

»… kommen so was von zu spät«, sagte die Ältere gerade, die aussah, als wäre sie etwa so alt wie Ista. »Schieb noch mal ordentlich, Saf.«

Das jüngere Mädchen – Saf, wie Ista vermutete – funkelte sie an. »Ich schiebe doch schon. Du ziehst nicht feste genug. Das hier ist doch totaler Quatsch, Ruby. Die Magie steht hoch. Ich verstehe nicht, warum du mich nicht meine G–«

»Gabe« wollte sie wahrscheinlich sagen, doch bevor sie das Wort aussprechen konnte, fuhr Ruby dazwischen: »Willst du, dass sie dich kriegen? Als wäre deine Nummer vor ein paar Tagen nicht schon schlimm genug gewesen.«

»Das war zur Mittagszeit!«, feuerte Saf zurück. »Es hat noch nie auch nur einen einzigen Angriff mitten am Tag gegeben.«

»Jetzt ist es aber schon fast dunkel, oder etwa nicht?«, entgegnete Ruby mit routinierter Geduld. »Die Gouverneurin hat anscheinend beschlossen, dass ihr Wählerstimmen wichtiger sind als die Sicherheit der Bevölkerung, denn die Wahl ist ja schon in vier Tagen.« Da bemerkte sie, dass Ista hinter ihnen herumlungerte, und setzte ein reserviert-höfliches Lächeln auf. »Ja, bitte?«

Schulterzuckend deutete Ista auf den Karren. »Braucht ihr Hilfe? Ist einfacher zu dritt.« Wenn sie nichts unternahm, würden sie womöglich die ganze Nacht hier draußen feststecken.

»Ja«, antwortete Saf rasch. »Ja, bitte.«

Zunächst schien Ruby protestieren zu wollen, lenkte dann aber ein. »Na gut«, sagte sie und warf einen Blick zurück zu der Frau am Tor. »Aber wir sollten uns beeilen. Heilige Gezeiten, ist das kalt hier draußen.«

Doch der Karren hatte andere Pläne.

»Was habt ihr denn da drin?«, schnaufte Ista angestrengt. Irgendwas aus Glas, dachte sie, denn unter der Wachstuchabdeckung klimperte es.

»Gewürzgurken«, antworteten die Schwestern gleichzeitig, während sie sich gemeinsam abrackerten.

»Und anderes Eingemachtes«, fügte Saf hinzu, als eine Ecke des Tuchs verrutschte und reihenweise Einweckgläser mit einem auf den Deckel gestempelten Enten-Logo offenbarte. »Wir füllen alles, was du möchtest, in Flaschen und Einmachgläser. Nach den Rezepten unserer Granny, und die hat sie schon von der Großmutter ihrer eigenen Großmutter bekommen. Unsere Pfeffersoße ist die beste in ganz Shelwich. Komm doch mal zu uns in den Laden und probier sie.«

»Bei ihr brauchst du die Werbetrommel nicht zu rühren.« Ruby verdrehte liebevoll die Augen, während sie einen langen Arm machte, um die Tür zu öffnen. »Die Bestellung für heute Abend kam ganz kurzfristig rein«, erklärte sie Ista, als die Wärme von drinnen sie wohlig umspielte. »Nicht ganz der Mühe wert, wenn du mich fragst.«

Sie betraten einen mit Steinboden ausgelegten Gang. Aus der Ferne drangen Geräusche von der Feier zu ihnen vor, und Küchengerüche und Geklapper kamen aus einer Tür zu ihrer Rechten. Eine Reihe uniformierter Kellner trat heraus, Karaffen mit Reneklodenwein und Servierplatten mit winzigen Fischspießen und mit Käse überbackenen Törtchen in den Händen. Ista ließ die Schwestern ohne ein weiteres Wort stehen, reihte sich in die Prozession ein und lief mit, bis der Korridor auf einen vornehmeren Gang stieß, der die Grenze zwischen dem Teil des Gebäudes für Personal und dem für die Öffentlichkeit bildete.

Gegenüber befand sich eine Tür, die mit derselben creme- und mintfarbenen Tapete beklebt war wie die Wände und damit praktisch unsichtbar war für alle, die nicht danach suchten. Laut Alexo eine ungenutzte Abstellkammer.

Ista huschte hinein, ohne den Lichtschalter zu betätigen. Bei Mondflut funktionierten die Generatoren sowieso nicht. Selbst Öllampen gaben manchmal den Geist auf, weshalb heute Abend überall im Gebäude Gezeitenlaternen aufgestellt waren. In der Dunkelheit krabbelte die Magie über ihre Haut, kribbelte ihr in den Kniekehlen und unter den Armen, während sie die Abendrobe über ihre eigenen Kleider zog. Die Magie war fast zu stark. Normalerweise glich ihre Gabe einer Bogensehne, gespannt und abschussbereit, wann immer sie es wünschte. Heute Abend schien der Vollmond ihr beinahe die Kontrolle zu nehmen, sodass die Verwandlung einen Sekundenbruchteil früher begann, als sie beabsichtigt hatte. So als wenn ein Musiker einen Taktschlag zu früh einsetzen würde. Was schließlich dazu führte, dass sie sich in der Kleidung verhedderte und sich eine Haarsträhne in dem kunstvoll bestickten Kragen verfing.

Da es aber Jarmaks Haar war, legte es sich zum Glück von selbst wieder an seinen Platz, nachdem sie es befreit hatte. Seine Füße passten erfreulicherweise so gerade eben in ihre Schuhe. Trotzdem klopfte Istas Herz wie wild, als sie die Tür einen Spalt öffnete. Der nächste Teil des Plans bestand aus sollte und eigentlich. Ein einziger Fehltritt würde ihn zunichtemachen. Die Gäste, unter ihnen auch Jarmak, sollten sich eigentlich für die Rede der Gouverneurin im Großen Saal aufhalten. Sie selbst sollte in die andere Richtung gehen – und das tat sie auch, zunächst mit ein paar vorsichtigen Schritten, während sie sich an Jarmaks zusätzliche Körpermasse gewöhnte.

So weit, so einfach. Niemand versperrte ihr den Weg. An einer Seite befand sich die geschwungene Haupttreppe, genau wie beschrieben, die sich immer im Kreis bis hinauf zur Mittelkuppel des Mondwartenturmes wand. Lauf den Südflügel entlang, hatte Alexos Anweisung gelautet. Da, wo sich der Himmel an den Wänden befindet.

Und tatsächlich verdüsterte sich die Tapete im nächsten Korridor zu einem tiefdunklen Nachtblau, das übersät war mit hellblauen Gezeitenperlen, die wie winzige Sterne strahlten. Geh bis ganz zum Ende. Sie konnte Alexos Stimme förmlich in ihrem Kopf hören.

Doch vor ihr ertönten weitere Stimmen. Echte, die um die Ecke herum zu ihr drangen: die erste aufsässig und empört, die anderen beiden strotzend vor hämischem Vergnügen.

»Das ist meins! Gebt es mir zurück.«

»Oooch, gebt es mir zurück, sagt er.«

»Was sollen wir dir denn zurückgeben? Das hier? Bist du nicht ein bisschen zu alt für Spielzeug?«

Jungen aus den noblen Häusern oben bei der Heide, vermutete Ista aufgrund der vornehmen Aussprache der Vokale. Bestimmt waren sie zusammen mit ihren Eltern eingeladen worden, was bedeutete, dass sie sich eigentlich – sie spürte, wie dieses eigentlich gerade zersplitterte – mit ihnen im anderen Teil des Gebäudes aufhalten sollten. Und doch waren sie nun hier. Kamen ihr in die Quere.

Sie könnte den Rückzug antreten. Es gab einen zweiten, etwas umständlicheren Weg zum Kartensaal (es gab immer einen zweiten Weg, wenn Alexo etwas plante). Der ganze Sinn ihrer Tarnung als Jarmak bestand ja darin, dass sie sich frei bewegen konnte, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.

»Gebt es mir zurück«, wiederholte die erste Stimme, als Ista sich schon zum Gehen wandte. »Bitte.«

Ista hielt inne. Sie sollte sich nicht einmischen. Für »Jarmak« würde es sich sicherlich nicht schicken, in Schwierigkeiten zu geraten. Doch etwas an dem Bitte brachte eine Saite tief in ihr zum Klingen, wie ein Mollakkord auf einer Vespalin. Sie wusste nur zu gut, wie es sich anfühlte, wenn einem etwas Kostbares weggenommen wurde und man nicht sicher war, ob man es zurückbekam.

»Oh, jetzt auch noch bitte?«, keckerte einer der Diebe. Sein Komplize lachte mit, tief und lang, als hätten sie alle Zeit der Welt für solche Spielchen.

Los jetzt, dachte Ista. Ich bin verwegen. Verwegen!

Die Wiederholung machte es nicht unbedingt wahrer, doch es war ohnehin zu spät für Zweifel, denn Ista hatte Jarmaks Beinen bereits befohlen, um die Ecke zu laufen.

3

Ein Junge ohne Gabe

»So, so, so«, sagte Ista, und Jarmaks Stimme erklang mit derselben kieselsteinglatten Aussprache wie die der drei schick gekleideten Jungen, die angesichts der Störung auseinanderstoben.

Dieser Teil des Korridors war breit, aber fensterlos, die dunkelblaue Tapete mit noch mehr Splittern der Gezeitenperlen besetzt. Die drei Gestalten hoben sich gespenstisch davor ab. Zwei von ihnen waren groß und breitschultrig, schattenhafte Hünen im Halbdunkel. Die dritte, ein kleinerer, staksig gebauter Junge, wich gerade vor den anderen beiden zurück, während er gleichzeitig finster zu ihnen aufblickte.

Zwei Krähen und ein verletzter Zaunkönig, dachte Ista. Pa hatte ihr die Namen aller Garten- und Waldvögel beigebracht. Er hatte sich immer geärgert, wenn die Krähen herabgeschossen kamen und die Zaunkönige von den Nüssen und Körnern wegjagten, die er ihnen hingestreut hatte. Schlussendlich hatte er eine besondere Futtervorrichtung mit Löchern gebaut, die für die Schnäbel der Krähen zu klein waren – und dann noch mehr Futter ein Stück entfernt auf dem Gras verteilt, damit auch die Krähen keinen Hunger leiden mussten.

Sie wünschte, dass Pa jetzt bei ihr wäre. Er hätte einen Weg gefunden, um auch diese Situation zu schlichten. Doch sie war auf sich allein gestellt.

»Oh, hallo, Hettler«, sagte der größere Krähenjunge schleppend. Er lächelte, aber in seinen Augen krabbelte etwas nervös, wie ein Krebs. Er und Jarmak waren keine Freunde, das war für Ista eindeutig. Nicht so richtig jedenfalls. Rivalen, vielleicht.

»Was ist hier los?« Sie versuchte, auch zu lächeln, allerdings schien das Jarmaks Mund nicht zu gefallen.

Der zweite Krähenjunge zuckte die Achseln. »Nichts, eigentlich. Wir haben Shah beim Herumschleichen erwischt.«

»Ich bin nicht herumgeschlichen«, verteidigte sich der kleinere Junge.

»Natürlich bist du das, du flutverlassener Zwerg.« Der Anführer fügte seinem spöttischen Tonfall noch ein höhnisches Grinsen hinzu. »In der Schule schleichst du auch immer so rum, begaffst Leute und kritzelst irgendwas in dein kleines Notizbuch.« Aktuell befand sich das Büchlein natürlich in seinem Besitz. Er hielt es hoch und schrammte mit dem Daumen über die Seitenränder. »Du solltest ihn im Auge behalten, Hettler. Dein Name steht auch hier drin.«

Der kleinere Junge warf Ista einen Blick zu. Er hatte zweifellos etwas im Schilde geführt, aber wollte, dass sich diese kleine Versammlung so schnell wie möglich auflöste. Und Fragen würden den Prozess nur verlängern.

»Wie spannend«, entgegnete Ista mit einem gelangweilten Achselzucken. »Aber jetzt sollten wir mal langsam zurückgehen, sonst vermissen die uns noch.«

Der kleinere Junge schob entschlossen den Unterkiefer vor. »Nicht ohne meine Sachen.«

Ista bemerkte nun, dass der andere Krähenjunge eine Hand hinter dem Rücken versteckt hielt. Als sie nun laut seufzte, streckte er sie aus, und zum Vorschein kam eine völlig abgewetzte Stoffmaus, bei der ein Knopfauge fehlte und sich ein Ohr an der Naht abzulösen begann. Mit einer schnellen Handbewegung warf er die Maus in hohem Bogen durch die Luft.

Der kleinere Junge stürzte vor, wollte sie auffangen, doch einer der anderen beiden benutzte seine Magie – Ista spürte sie über ihre Haut knistern –, um die Maus abrupt in der Luft verharren zu lassen. Der Kleine streckte sich nach ihr. Doch wieder bewegte sie sich, und er griff ins Leere.

»Sag noch mal bitte«, verlangte der Hüne mit dem Notizbuch. Er blickte nicht einmal auf, während er träge durch die Seiten blätterte, obwohl er die Eintragungen offensichtlich nicht las.

Es war seine Magie, die die Maus schweben ließ. Sein selbstgefälliges Grinsen sprach Bände. Ista ballte die Hände zu Fäusten. Da war er mit einer so raffinierten Gabe gesegnet und nutzte sie nur, um andere zu quälen. Sie spürte, wie schmerzlich die Demütigung den kleineren Jungen traf.

»Nein.« Sie starrte dem mit dem Notizbuch geradewegs in die Augen. »Das reicht. Gib ihm sein Zeug zurück.«

Er klappte das Buch zu, die Augen zu Schlitzen verengt. Unbehagen krabbelte Ista den Rücken hinunter. Plötzlich lag Gefahr in der Luft, ein elektrisiertes Knistern neben dem Rauschen der Magie. Jarmak mochte ein leichtes Leben führen, trotzdem schlängelte sich Stärke durch seine Muskeln wie eine Zündschnur, die nur darauf wartete, entfacht zu werden. Sie pulsierte am heftigsten zwischen seinen Schulterblättern, kribbelte seltsam kalt, während die Flut mit jeder Welle näher schwappte.

»Wie du willst, Hettler.« Der große Junge rollte mit den Augen, und alle Anspannung verpuffte. »Kein Grund, sich so aufzuspielen«, fügte er hinzu, was ihm ein Kichern von seinem Freund einbrachte. »War doch nur Spaß.«

Nicht für diesen Jungen, dachte Ista.

Der zuckte zusammen, als die Stoffmaus auf dem Parkettboden auftraf. Dann segelte auch das Notizbuch durch die Luft und landete mit einem Klatschen neben ihr.

Die Krähenjungen schlenderten davon, ein gleichförmiges Grinsen auf dem Gesicht.

»Danke«, murmelte der Kleine, nachdem ihre Schritte verhallt waren.

Flutverlassen hatten sie ihn genannt. Von der Magie unberührt. Ista hatte noch nie jemanden ohne eine Gabe getroffen – und dieser Junge war so alt, dass die Flut ihn längst gesegnet hätte, falls das ihr Plan gewesen wäre. Er sah völlig unscheinbar aus, eher wie eine Eule als wie ein Zaunkönig, wie sie jetzt bei näherer Betrachtung feststellte: bräunliche Haut, weit auseinanderstehende dunkelbraune Augen und dichte, mürrisch geneigte Augenbrauen. Wie musste es sich anfühlen, eine solche Leere in sich zu tragen? 

Aber das konnte sie ihn wohl kaum fragen. Er starrte sie bereits an, als wäre schon dieses winzige bisschen Freundlichkeit völlig untypisch für Jarmak gewesen. Ihr Herz zog sich zusammen. Der anführerische Krähenjunge hatte angedeutet, dass sie alle auf dieselbe Schule gingen. Hoffentlich gab es dort auch ein paar andere, freundlichere Schüler.

Doch jetzt musste sie weiter. Sie deutete mit einem Arm in die Richtung, in die die anderen verschwunden waren. »Bitte sehr. Und jetzt ab mit dir.«

Der Junge nickte, als entspräche diese Verabschiedung viel mehr dem von Jarmak erwarteten Verhalten, und eilte davon.

Auch Ista beeilte sich, lief jedoch in die entgegengesetzte Richtung. Der Korridor verbreiterte sich, genau wie der Fluss an der Mündung ins Meer. Noch mehr Gezeitenperlen verzierten nicht nur die Wände, sondern auch Decke und Boden, sodass sie durch einen Tunnel voller Sterne zu laufen schien. Am anderen Ende war ein Torbogen ohne Tür zu sehen.

Du kannst den Kartensaal gar nicht verfehlen, hatte Alexo versprochen.

Und er hatte nicht gelogen. Ein riesengroßer Raum öffnete sich vor ihr. Über ihm wölbte sich eine mächtige Glaskuppel hoch in den Himmel, sodass die künstlichen Sterne an den Wänden nahtlos in die echten übergingen. Der Effekt machte Ista ganz schwindelig. Sie hielt inne, atmete den Geruch von Poliermittel ein, suchte Halt in den kleinen Details des Raums. Auf einem Podest in der Mitte stand ein gewaltiges Teleskop – viel zu groß, um ihr Zielobjekt zu sein –, dessen Linse ausdruckslos gen Himmel blickte. Dahinter befand sich eine Armada von Schränken mit Messingknäufen, die sicherlich die Landkarten beherbergten. Ein langer Tisch, vermutlich zum Anschauen der Karten, erstreckte sich bis zu einer schmalen Tür, dem einzigen anderen Eingang.

Bei dieser Tür, auf einem Ständer und geschützt durch eine eigene Glaskuppel, stand ein weiteres, viel kleineres Teleskop.

Du wirst es auf den ersten Blick erkennen, hatte Alexo geschrieben. Es ist etwa so lang wie dein Arm.

Anders ausgedrückt: perfekt, um es im losen Ärmel einer Abendrobe zu verstecken.

Bei ihrer Ankunft in Shelwich vor über drei Monden war Ista tollpatschig gewesen. Inzwischen lief sie jedoch wie auf Samtpfoten. So war das einzige Geräusch beim Durchqueren des Raumes das Seufzen der Flut in ihrem Hinterkopf.

Normalerweise verlangte Alexo nach Kuriositäten, die er auseinandernehmen und wieder zusammenbauen konnte, als wollte er vor dem Weiterverkaufen verstehen, wie sie funktionierten. Die Genialität der Menschen ist ein Rätsel, dem lediglich die Gefühlswelt des menschlichen Herzens gleichkommt, hatte er einmal erklärt, als Ista ihn umgeben von den Schrauben und Federn einer Schreibmaschine angetroffen hatte, die er gerade auseinandernahm. Allerdings glaubte sie nicht, dass dieses Teleskop ihn lange beschäftigen würde. Denn es war eher schäbig und wenig beeindruckend: drei in ihrem Durchmesser zunehmende Holzrohre, die man wahrscheinlich ineinanderschieben konnte. Andererseits schützte die Glaskuppel es sicher nicht ohne Grund, es musste einen gewissen Wert besitzen.

Die Glaskuppel war mit einem Haken an dem Ständer befestigt. Ista streckte die Hand aus … und erstarrte. Halb versteckt hinter der Metallöse befand sich eine Gezeitenperle. Ein dünner schwarzer Streifen verlief durch ihre Mitte, zwinkerte ihr wie ein winziges Katzenauge zu. Ista starrte sie an, versuchte, die aufsteigende Panik zu unterdrücken.

Das hier war schließlich nur eine Gezeitenperle. Nur ein winziges mit Magie gesegnetes Stück Kiesel- oder Schotterstein, vom Fluss angespült und von der abebbenden Flut zurückgelassen. Immer wenn die Magie anstieg, verströmten die Perlen einen bläulichen Schimmer, und man konnte sie für alles Mögliche nutzen. Perlenschürfer sammelten eimerweise davon bei Ebbe ein und verkauften sie an Lampenmacher, die daraus Gezeitenlaternen und Dekorationen wie das nachgeahmte Sternenlicht an den Wänden des Korridors fertigten. Manche Leute trugen sie auch als Schmuck. Einige behaupteten sogar, die Perlen würden bei Hautkontakt die Gezeitengabe verstärken. Istas Ansicht nach war die Wahrscheinlichkeit dafür allerdings genauso hoch, wie wenn man dasselbe durch Trinken von Flusswasser erreichen wollte. Es gab genug Dummköpfe, die erst auf die harte Tour lernen mussten, dass einem das nur den Magen verdarb.

Aber eine Gezeitenperle mit einem schwarzen Streifen in der Mitte … Alexo hatte sie gewarnt, sich von genau solchen fernzuhalten, insbesondere wenn sie sich unter einem Griff oder Verschluss befanden. Das ist ganz alte Magie, kleine Diebin. Man nennt so etwas Gezeitenschloss. Nur der Hersteller kann es öffnen.

War dies so eins? Hatte sich nach neunzehn Aufträgen nun ein Fehler in Alexos sonst unfehlbare Pläne geschlichen?

Bei Ebbe, so hatte er ihr erklärt, würde einem das Gezeitenschloss »bloß« die Finger verbrennen oder ein lautes Geräusch verursachen, um einen Wachmann zu alarmieren. Als sie gefragt hatte, was passieren würde, wenn die Magie stark war – und gerade war sie sehr stark, klingelte und kribbelte ihr zwischen den Ohren –, hatte er ihr einen düsteren Blick zugeworfen und gesagt: Wenn die Flut hoch steht, sieh zu, dass du dich so weit wie möglich von der Perle entfernst, bevor sie auf dem Boden aufkommt. Falls jemand anderes ihr näher ist, umso besser. Dann geht sie auf die andere Person los.

Und was passiert dann?, hatte Ista gefragt.

Vertrau mir, kleine Diebin, das willst du gar nicht wissen.

Doch wenn sie die Mondwarte ohne das Teleskop verließ … Ihre Gedanken wanderten zu Pas Klarinette. Nur noch diesen Auftrag und einen weiteren. Sie war so nah dran. Es musste einen Weg geben. Vielleicht konnte sie die Kuppel abnehmen, ohne das Schloss zu zerstören.

Da knarzte etwas hinter ihr.

Ista zuckte zusammen und fuhr herum. Dort stand der Junge von vorhin. Der ohne Gabe. Ihre, oder vielmehr Jarmaks, untypische Freundlichkeit musste ihm so verdächtig vorgekommen sein, dass er ihr gefolgt war. Und sie war unvorsichtig gewesen, so in Gedanken versunken, dass er es geschafft hatte, sich bis zu den Kartenschränken an sie heranzuschleichen. Nun deutete er mit einem zitternden Finger auf sie, wie ein Wachmann, der gleich einen Verdächtigen gefangen nahm.

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