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Love at First Knight. Eine königliche Liebeskomödie

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Eine royale Liebe im Tower of London

Die 23-jährige Daisy Hastings ist schüchtern, hat Angst vor der Welt und gibt sich gern ihren Träumen hin. Daher nimmt sie nur zögerlich die Stelle im Tower of London an, wo sie Kindern das Ritterleben näherbringen soll. Ihr arroganter Kollegen Theodore macht ihr außerdem das Leben schwer. Teddy hat nichts anderes im Sinn, als Unruhe zu stiften, weshalb Daisy immer wieder durch ihn in Schwierigkeiten gerät. Doch schon bald merken sowohl Daisy als auch Teddy, dass sie auf die Hilfe des anderen angewiesen sind. Und wenn aus Feinden möglicherweise Freunde und noch mehr werden könnte – dann hat Daisy am Ende womöglich ihren Prinz fürs Leben gefunden.


  • Erscheinungstag: 19.11.2024
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008171

Leseprobe

Für alle,
die sich so lange hinter einer Maske verstecken mussten, dass sie nicht länger unterscheiden können, was real ist und was nur vorgespielt.

1. Kapitel

»Macht ihn fertig, Lady Alenthaea!« Mums dröhnende Stimme trägt problemlos übers Schlachtfeld. Die Spitze meines Schwerts streift die freigelegte Kehle meines Zwillingsbruders. Sein Brustpanzer, der sich bei jedem seiner heftigen Atemzüge hebt und senkt, ist mit demselben Blut besprenkelt, das nun auch eine dunkle Kruste um seine Nasenlöcher herum bildet. Seine waffenlosen Finger krallen sich in die aufgewühlte Erde zu meinen Füßen. Augen, die den meinen bis ins letzte Detail gleichen, suchen mein Gesicht nach einer Schwäche, einem Anflug von Mitleid ab. Doch dergleichen wird er bei mir nicht finden. Vielmehr wird er dafür bezahlen, was er mir angetan hat.

»A…aufhören!«, stimmt Dad in die Schlachtrufe ein. Seine Stimme zittert schwächlich, seine Worte beben vor kindischer Emotion. Für einen kurzen Moment wende ich den Blick von meiner verwundeten Beute, um ihn anzuschauen. Er umklammert den Kragen seiner Tunika und lässt die breiten Schultern hängen.

»Herrje, um Odins willen, Simon.« Um ihm in Erinnerung zu rufen, wo er ist, hinterlässt Mum einen Abdruck ihres gekrümmten Stabs auf seinem Bauch – eine Maßnahme, die ihn dazu zwingt, sich wieder zu seiner vollen, beeindruckenden Größe aufzurichten. Nervös nippt er an der Tasse Tee in seiner Hand, und sein Blick flattert unruhig von einem zum anderen. Offensichtlich fühlt er sich hin- und hergerissen zwischen der Pflicht, seine Kinder in ihrem Kampf zu unterstützen, und dem Bedürfnis, sich ins Innere des Gemeindesaals zurückzuziehen, weil er das Ganze nicht länger mit ansehen kann.

Sam nutzt diese Gelegenheit zur Gegenwehr. Er schlägt mit seinem schweren Panzerhandschuh gegen meinen, um mir das Schwert aus der Hand zu schleudern, holt mich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung von den Beinen und überlässt es der Schwerkraft, mich rücklings in den lehmigen Rasen zu pflügen. Niedergedrückt vom Gewicht meiner Rüstung, bleibt mir nichts übrig, als meines weiteren Schicksals zu harren. Ich harre nicht lange. Wie der grimmige Sensenmann ragt Sam über mir auf, ohne sich die Mühe zu machen, mich am Boden zu fixieren. Ich spüre, wie ich weiter in den weichen Boden sinke, immer tiefer in mein eigenes Grab, während sich sein schmutziges Gesicht weiter und weiter von mir entfernt. Er ist der Gott des Todes, herabgestiegen aus den Wolken, um mein Ende zu besiegeln. Ich kann nicht sehen, wie er sich die Rüstung vom Leibe reißt, höre aber, wie sie scheppernd irgendwo hinter meinem Kopf landet. Dann kehrt er zurück, tritt gegen meine Schultern und bringt erneut sein Schwert ins Spiel.

»Du hast hart gekämpft, süße Schwester, doch Zögerlichkeit war schon immer deine Schwäche.« Damit schwingt er das Schwert nach oben und drückt die Klinge an meine Kehle. »Gute Nacht.«

Vereinzelter Applaus von der Veranda des Gemeindesaals beendet mein ersticktes Husten und Krächzen.

»Das war verdammt geil, Daisy.« Sam streckt eine Hand aus, um mir beim Aufstehen zu helfen. Stöhnend rappele ich mich hoch und starre auf die Daisy-förmige Delle im Gras. Eins meiner Elfenohren hat sich gelöst und ragt wie ein Grabstein aus Latex in die Höhe.

»Nicht diese Ausdrücke, Samwise«, rügt Mum und versetzt ihm mit ihrem knorrigen Stab, an dem sie definitiv zu viel Gefallen gefunden hat, eine sanfte Kopfnuss. »Aber du hast trotzdem recht. Gut gemacht, Kinder.« Sie drückt jedem von uns einen Kuss auf die dreckverkrustete Stirn oder versucht es zumindest; ihre falschen Reißzähne hinterlassen einen feuchten Fleck.

Als mein Adrenalinpegel sich endlich wieder normalisiert hat, wende ich mich zwecks Nachbesprechung an meinen Bruder. »Nächste Woche sollten wir wirklich mehr an unserer Nahkampftechnik arbeiten, Sam – die muss perfekt sein für die Schlacht um Helm’s Geek. Du musst deine Hemmungen ablegen, mir ins Gesicht zu schlagen. Hau einfach …«

»Ach, ich hasse es, wenn ihr euch so brutal aufeinanderstürzt«, fällt Dad mir ins Wort. Seine Augen sind immer noch geweitet vor Besorgnis, während wir anderen mit den unseren rollen. »Es ist nicht echt, Dad«, versichere ich. »Genauso wenig, wie Mum im wahren Leben ein hässlicher Goblin auf Steroid ist.« Unwillkürlich mustern wir sie von oben bis unten. Je mehr man über ihre Verwandlung nachdenkt, desto komischer kommt sie einem vor. Unter der Woche ist unsere Mutter eine erfolgreiche Steuerberaterin im perfekt sitzenden Business-Outfit, am Wochenende mutiert sie zu einem von Tolkiens Orks. Heute morgen ist sie um vier Uhr aufgestanden, um aus ihrem Gesicht mithilfe von verdammt viel Silikon eine grässliche Fratze zu formen. Schönheit ist das Letzte, woran sie in solchen Momenten denkt. Ihre Haare bringt sie unter einer Perücke mit wenigen wilden und fettigen Strähnen zum Verschwinden, das eine Auge ist durch eine dunkle Kontaktlinse geschwärzt, und aus ihrer gewaltigen Unterbiss-Prothese ragen wuchtige Reißzähne auf. Mit ihren gerade mal einen Meter fünfzig ist sie die furchterregendste, imposanteste Kreatur auf dem Spielfeld – von Kopf bis Fuß ein abstoßendes, bösartiges Kunstwerk.

Tatsächlich sah sie genau so aus, als sie in der Schlacht von Gibraltar meinen Dad kennenlernte. Damals war er keineswegs der ängstliche Knappe von heute. Nein, bevor er Kinder hatte, war mein Vater der coolste Paladin aller Zeiten. Mit stolzen zwei Metern Körpergröße überragte sein Heiliger Ritter alle anderen und schlug mit der Stärke von zehn Männern eine Schneise durchs Böse. Doch er wurde durch meine Mutter korrumpiert, diesen garstigen Ork, den im Dienste seiner frommen Mission niederzumähen er einfach nicht über sich brachte. Also hängte er den Umhang des Kreuzritters an den Nagel, wurde Mums Knappe und heiratete sie im wahren Leben, genau hier, auf diesem alten Kohlacker vor der Dorfhalle – und zwar in voller Montur.

Momentan macht er einen Riesenwirbel um Samwise – und ja, mein Bruder wurde tatsächlich nach dem Hobbit benannt und ich nach dessen Hobbit-Schwester. Wir hatten nie eine Chance, irgendwas anderes zu werden als unglaubliche Nerds, daher war es eine glückliche Fügung, dass wir uns praktisch schon im Geburtskanal gegenseitig zum Duell gefordert haben. Unserer jüngeren Schwester war das Schicksal nicht so gewogen.

»Das hier ist aber echt.« Dad zückt ein Taschentuch, leckt daran und wischt damit über Sams blutige Nase, sehr zum Entsetzen meines erwachsenen Bruders.

Aber er hat recht. Es ist echtes Blut. Möglicherweise habe ich mich zu Beginn unseres Kampfs etwas zu ambitioniert meiner Ellbogen bedient und dabei vergessen, dass meine Gummirüstung nicht nur viel härter ist als mein Arm, sondern auch jedes Mal, wenn sie auf nackte Haut trifft, ein schmerzhaftes Brennen hinterlässt. Mit einem Anflug von Schuldgefühlen schaue ich zu, wie Dad an Sams Nase herumtupft. Aber immerhin hat Sam mir vor ein paar Wochen mit einem ziemlich wilden Schwerthieb einen Finger gebrochen, daher hält sich mein schlechtes Gewissen in Grenzen.

Beim Live Action Role Playing oder kurz »LARPen« tut man zwar nur so als ob, aber ein Kinderspiel ist es trotzdem nicht. Mein Schwert kann keine Häupter fällen, ist aber durchaus dazu in der Lage, ein paar Nasen und eventuell auch einige Rippen zu brechen. Die Schlacht um Helm’s Geek im August ist jedes Mal ein regelrechtes Blutbad. Wir arbeiten das ganze Jahr daran, unsere Waffen und Gewandungen zu perfektionieren. Ich verbringe Stunden damit, das Kohlefaserskelett meines Schwertes erst mit Schaumstoff, dann mit Latex, dann mit Farbe und Lack zu umhüllen. Alles muss perfekt gewichtet und genau vermessen sein. Nicht dieser Papp- und Klebeband-Blödsinn. Man sollte niemals unterschätzen, wie ernst ein Nerd die Gelegenheit nimmt, seine Fantasien bis aufs i-Tüpfelchen genau auszuleben.

Nachdem mein 23-jähriger Bruder damit fertig ist, von seinem Dad das Gesicht abgewischt zu bekommen (und sich zum Abschluss das Haar zerzausen zu lassen), gehen wir zurück zum Rest unserer Gruppe. Zugegeben, im Moment bieten unsere Mitstreiter keinen besonders beeindruckenden Anblick. Rein optisch bewegen sie sich auf dem schmalen Grat zwischen historisch akkuraten Mittelalter-Reenactors und Leuten, denen man zwanzig Pence geben würde, wenn sie zu lange vor dem Tesco herumlungern. Dennoch ist das, was sich hier in der feuchten und muffigen Dorfhalle versammelt hat, die Friskney Fellowship – die angesehenste Gruppe von LARPern diesseits des Humber (wahrscheinlich).

Unsere Fellowship besteht aus zwölf Mitgliedern: Wir vier, das versteht sich von selbst, plus meine jüngere Schwester Marigold (die das mit ihren siebzehn Jahren natürlich megapeinlich findet). Außerdem sind da noch unser schon recht ältlicher Nachbar Richard, ein Zauberer, der seine Magie meist von einem bequemen Sessel aus wirkt und fast ausschließlich Beleidigungen von sich gibt, und Hazel und Terry, ein Pärchen mittleren Alters, das das Ganze höchstwahrscheinlich als abgefahrenes Sex-Ding benutzt. Jedenfalls mimen sie abwechselnd hilflose Adelige oder erotisch aufgeladene schurkische Abenteurer aus der Unterschicht, die einander ständig retten. Nicht zu vergessen unser achtzehnjähriger Barde Callum, der Gitarre, Laute und manchmal auch Horn spielt und der einzige Grund ist, warum Marigold ihre Sonntagnachmittage immer noch mit uns verbringt. Die letzten drei sind die O’Neills: Violet, Bernard und ihre Tochter Flora, eine perfekt koordinierte Familie von Heilern, die meine Mum regelmäßig in orkische Rage versetzen.

Richard schläft zusammengekauert in seinem üblichen Sessel, das bis auf den letzten Sandwichkrümel geleerte Lunchpaket vor sich. Zu seinen Füßen verteilen sich die Spuren eines kleinen Kinderfests übers Linoleum – ich kann erkennen, wo er versucht hat, das bunte Konfetti wegzukicken, bevor er sich auf seinen angestammten Platz niedergelassen hat. In der Ecke sitzt Callum und spielt leise auf seiner Gitarre. Vom Tisch gegenüber beobachtet ihn eine rehäugige Marigold. Sich direkt neben ihn zu setzen, ist keine Option für sie, es sei denn, sie würde erklären wollen, warum ihr Gesicht plötzlich dieselbe Farbe hat wie ihr scharlachroter Kapuzenumhang – das einzige Kostüm, das sie zu tragen bereit ist.

Sams Gesicht nimmt den exakt gleichen Rotton an, als Flora O’Neill zu uns herüberkommt, um ihm zu seinem Sieg zu gratulieren. Ich muss seinem Kettenhemd einen Stoß versetzen, bevor er ein knappes Dankeschön über die Lippen bringt. Eigentlich kommt Flora, die eine Ausbildung zur Krankenschwester macht, hauptsächlich als Ersthelferin zu unseren Treffen, aber sie passt wunderbar ins Ambiente mit ihrem eleganten, feengleichen Gesicht, das von weichen, honigblonden Strähnen umrahmt wird, die sich anmutig aus ihrem Pferdeschwanz lösen. Ihr weißes Kleid ist mit gestickten Blumen übersät und so strahlend hell, dass ich mich unwillkürlich frage, ob Flora wirklich über magische Kräfte verfügt, die dafür sorgen, dass ihre Sachen makellos sauber bleiben. Angesichts meines eigenen schlammbedeckten Outfits überlege ich sogar ernsthaft, sie darum zu bitten, es ebenfalls mit einem Reinheits-Zauber zu belegen. Jedenfalls strahlt diese Frau eine sanfte Vollkommenheit aus. Wenn das Blütenblatt einer Pfingstrose laufen und sprechen könnte, würde es Flora O’Neill heißen, und Samwise Hastings ist bis über beide Ohren in sie verliebt.

Auch wenn sie jeden Sonntag hier aufläuft, ist die fehlerlose Flora noch immer ein bisschen zu normal, um etwas anderes in meinem Bruder zu sehen als einen überenthusiastischen Geek, der ständig Verbände oder Pflaster braucht. Und da ist es natürlich auch eher kontraproduktiv, dass Samwise, sobald er mal den Mut zusammenrafft, mehr als zwei Worte am Stück an sie zu richten, mitten im Satz ins Klingonische wechselt. Denn sie ist definitiv nicht nerdig genug, um das zu verstehen, und auch in der Realität zu weltfremd, um zu kapieren, dass er mit ihr flirtet.

»Guter Kampf, Zwillinge.« Terry, der heute die Rolle des geilen Schurken innehat, klopft uns kräftig auf die Schultern, während Sams waidwunder Blick Flora folgt, die quer durch den Raum zu ihren Eltern zurückschwebt.

Heute haben Terry und Hazel schon nach rund fünfzehn Minuten begonnen, auf dem Schlachtfeld herumzuknutschen. Ich nutzte die Gelegenheit, beide in einem Streich mit meinem Breitschwert aufzuspießen, doch sie waren so abgelenkt, dass sie es erst nach weiteren zwölf Minuten bemerkten.

»Danke, Terry«, antwortet Sam für uns beide, auch wenn seine gesamte Aufmerksamkeit noch immer den Heilern gilt, die gerade dabei sind, ihre leeren Thermoskannen im Picknickkorb zu verstauen. Ich schenke Terry ein knappes Lächeln und kaschiere einen erleichterten Seufzer, als er endlich seine Hände von unseren Schultern nimmt. Hastig wickele ich ein paar Haarsträhnen um meine Finger und versuche, den getrockneten Schlamm von meinem Hinterkopf abzuschütteln.

»Du musst mir unbedingt zeigen, wie man das macht«, sagt Hazel und starrt auf die komplexen Zöpfe, die ich über meinem Scheitel zu einer kupferroten Krone aufgesteckt habe. Der Rest meiner Haare schlängelt sich über meinen Rücken (beziehungsweise tat es, bevor mein Bruder beschloss, mir ein Schlammbad zu gönnen), gerade lang genug, um meinen Nacken vor feindlichen Attacken zu schützen, aber doch zu kurz, um von irgendeiner trotteligen Bestie im Kampf gepackt zu werden. Praktisch.

»Und auch dein Ding mit dem Speer, du weißt schon, dieses Dreh-Ding …« Sie macht meinen Spezial-Trick nach, indem sie so tut, als würde sie einen Sponton über ihrem Kopf herumwirbeln, und stößt dann die unsichtbare Waffe in den Bauch ihres Mannes. Terry spielt mit, krümmt sich keuchend zusammen und sinkt, vom Fake-Schmerz gefällt, auf die Knie. Dann steht er wieder auf und küsst seine kichernde Frau auf die Stirn. Ich bin immer unsicher, wie ich mich verhalten soll, wenn ich in ihrer Nähe bin. Es kommt mir vor, als ob ich bei den beiden ständig in irgendwelche intimen Momente hineinplatze, und ich weiß einfach nicht, wohin ich gucken soll. Also stimme ich Hazels Wunsch rasch zu. Wenn sie und Terry sich mal entschließen, die Hände voneinander zu lassen, sind sie die nettesten und loyalsten Freunde, die man sich wünschen kann, daher wäre es kein Problem, ihnen ein paar neue Fertigkeiten beizubringen. »Nächste Woche um dieselbe Zeit, ja?« Terry richtet seine Frage an Mum, die wortlos nickt, woraufhin er und Hazel ihre Waffen einsammeln. Natürlich ist das Prunkstück in ihrem Arsenal eine Peitsche, die sie definitiv schon besaßen, bevor sie sich diesem Hobby zuwandten. Sie verschwinden, begleitet von einem Chor aus »Bis bald«, »Macht’s gut« und einem Grunzen von Richard, den das allgemeine Geschwätz offensichtlich aus dem Schlaf gerissen hat. Ein weiteres Grunzen signalisiert, dass er nun auch zum Aufbruch bereit ist, was bedeutet, dass unser Treffen jetzt offiziell beendet ist und wir ihn nach Hause bringen müssen.

Beim Anblick unseres Hauses bekäme jeder gestandene Handwerker einen Herzinfarkt, sofern meine Mum jemals einen über die Schwelle lassen würde. Ich bin nicht sicher, ob sie überhaupt eine Wasserwaage im Werkzeugkasten hatte, als sie sich um die Inneneinrichtung gekümmert hat. Jede Oberfläche des kleinen weißen Cottage ist so uneben, dass eine auf der Anrichte platzierte Seifenblase durch einen Schwindelanfall platzen würde. Doch Mum mag es so. Das übrige Lincolnshire sei dermaßen flach, gerade und gleichförmig, sagt sie, dass es vollkommen in Ordnung sei, im eigenen Heim ein bisschen Schieflage zuzulassen, selbst wenn das bedeutet, dass man seine Fotos mit Klebeband am Kaminsims fixieren muss, damit sie nicht runterrutschen. Bei Lichte betrachtet, ist sogar der Hund ein wenig schief – auf der rechten Gebisshälfte fehlen ihm einige Zähne, weshalb seine große Zunge immer dort aus dem Maul raushängt. Damit sie nicht austrocknet, taucht Sam sie regelmäßig in den letzten Rest Tee in seiner Tasse. Früher hieß das Tier mal Sméagol, aber mittlerweile ist es eher ein Gollum.

Wenn ich die Holztreppe hochsteige, knarren die Stufen unter meinem Gewicht. Zum Glück bin ich kein Mensch, der gern herumschleicht, denn das wäre in diesem Gebäude unmöglich. Jeder Schritt ist so, als würde man die Tasten eines maroden Klaviers drücken, und die Melodie der eigenen Bewegungen tönt durchs ganze Haus.

Ich lasse den Plan ruhen, fürs Abendessen in den Pyjama zu wechseln, und kuschele mich stattdessen in das Kissen auf der oberen Fensterbank, um den meilenweiten Ausblick zu genießen. Die Landschaft besteht nur aus Feldern und Bauernhöfen, Hügel oder Täler sucht man hier vergebens. Die wenigen Bäume stehen vereinzelt, verstreut über das weitläufige Ackerland, nie in Reichweite der eigenen Art. Es ist eine Landschaft der Einsamkeit. Nach Sonnenuntergang kann man drüben in der Stadt die schummrige Beleuchtung der Boston Stump sehen, die letzten Lichter leisten der Kirche bis Mitternacht Gesellschaft, bevor sämtliche Straßenlaternen erlöschen und uns alle in erzwungene Dunkelheit stürzen. Von mitternächtlichen Abenteuern wird dringend abgeraten.

Doch genau hier und dann würden Lady Alenthaeas Eskapaden beginnen, wenn dieses Haus ein Elfenpalast wäre und die Landschaft dort draußen ein magisches Königreich. Lady A ist mein LARP-Alter-Ego, aber unsere Beziehung geht weit über das Schlachtfeld hinaus. Sie ist praktisch mit mir identisch oder könnte es sein, wenn ich all das wäre, was ich nicht bin. Lady A ist eine schöne Elfenadlige, selbstbewusst und von ihrem Volk geliebt. Sie weiß ganz genau, was sie will, und sie bekommt es auch. Einst führte sie ein friedliches, perfektes Leben in einem von ihrer Mutter matriarchalisch regierten Reich und ist von klein auf darauf vorbereitet worden, irgendwann den Thron zu übernehmen. Doch dann ereignet sich die Tragödie: Ihre Mutter wird auf dem Weg zu einem Staatsbesuch im Druiden-Königreich von Orks überfallen und kehrt nicht mehr zurück. Da sie weiß, dass es ihre Bestimmung ist, erhebt sich die untröstliche Alenthaea im Angesicht ihrer Trauer und schreitet zum Thronsaal, um ihre Pflicht zu erfüllen – nur, um dort ihre jüngere Schwester bereits gekrönt und mit Alenthaeas Zwillingsbruder an der Seite vorzufinden. Der Versuch, ihre eigenen Anhänger um sich zu scharen, geht schrecklich schief, und Alenthaea erkennt, dass sie verraten wurde – nicht nur von ihrem eigenen Blut, sondern auch von ihren vermeintlichen Unterstützern. Sie wird aus dem Palast gejagt und zieht fortan allein durchs Land, nur auf ihr Schwert und ihr Können bauend, bis sie dereinst nach Hause zurückkehren und ihre Krone einfordern kann. Doch zuvor muss sie ihre Mutter rächen. Was können Orks und Monster schon gegen den Zorn einer betrogenen Frau ausrichten? Wann immer Daisy in Schwierigkeiten steckt, übernimmt Lady A – doch statt sich für mich mit Fabelwesen herumzuschlagen, sagt sie der alten Dame im Café des Gartencenters, dass sie mir den falschen Kaffee gebracht hat, oder ruft den Zahnarzt an, um einen Termin zu vereinbaren.

»Daisy?« Mums Stimme reißt mich aus meinem Tagtraum, und ich finde mich unter den Blicken der gesamten um den Esstisch versammelten Familie wieder. Offenbar war ich, tief in meiner Fantasiewelt versunken, wie auf Autopilot von meinem Fensterplatz zum Abendbrottisch gegangen – ohne wirklich zu registrieren, dass ich mich nicht in meinem Elfenkönigreich befand. Keiner der Anwesenden wirkt jedoch überrascht von meiner Geistesabwesenheit. Marigold verdreht nur die Augen, und jetzt erst fällt mir auf, dass ich den Griff meines Buttermessers mit eiserner Faust umklammere und die Spitze kraftvoll in mein Platzset gerammt habe.

Grinsend tippt Sam mir an die Schläfe. »Da hast du dich wohl etwas von deinen Racheplänen mitreißen lassen, was?«

Errötend befreie ich mein Besteck aus der Tischplatte und widme mich wieder dem längst vergessenen und mittlerweile eiskalten Sonntagsbraten auf meinem Teller.

Doch ich komme nicht weit. »Entschuldigt mich bitte einen Moment. Nur ein paar Minuten.« Neue Gedanken zu Alenthaeas Geschichte wirbeln durch meinen Kopf, und ich versuche sie festzuhalten, damit sie nicht wieder verschwinden. Überwältigt von Ideen für ihre nächsten Abenteuer lasse ich Messer und Gabel fallen und springe auf. »Ich muss was aufschreiben. Damit ich es nicht vergesse.« Mum, die meine Kapriolen seit Langem gewohnt ist, entlässt mich mit einem Kopfschütteln und einem leisen Lachen, in das der Rest der Runde einstimmt.

2. Kapitel

»So kann ich nicht sterben«, unterbricht eine jammernde Stimme mein tägliches Staubwischen. »Bitte lassen Sie mich noch mal würfeln.«

»Bilde dir bloß nicht ein, dass mir entgangen ist, wie du deinen Rettungswurf wiederholt hast, als du das letzte Mal auf einer Zwei gelandet bist, Willow«, neckt Dad seine junge Stammkundin. »Außerdem solltest du dich jetzt schleunigst wieder Richtung Schule begeben, die Mittagspause ist gleich vorbei.«

Beide Spieler erheben sich vom mit Würfeln und Minifiguren bedeckten Tisch, und mein Vater ringt dem murrenden Schulmädchen einen versöhnlichen Händedruck ab.

Dad betreibt einen kleinen Hobbyladen bei uns in der Stadt. Früher war es mal eine Boutique, die von einer exzentrischen alten Frau geführt wurde. Auch lange nach ihrem Tod riecht es hier noch gespenstisch nach nassem Hund und abgestandenem Zigarettenqualm. Aber die Miete ist niedrig, was sich gut trifft, da Dad es nicht über sich bringt, für irgendwas den vollen Preis zu berechnen.

Die Klientel ist, gelinde gesagt, überschaubar. Ab und zu kommen ein paar Eltern vorbei, die Materialien für Schulprojekte kaufen wollen und nicht ahnen, dass sie hier nicht Plakatfarbe und Pappe vorfinden, sondern Tausende Miniaturen von Fantasy-Bestien – und den extrem verwunderten Blick meines Vaters, wann immer ein neuer Mensch den Laden betritt (und seine Tabletop-Kriege stört).

Der Rest besteht aus Stammkunden: Leuten, die Energydrinks des Geschmacks wegen schlürfen, Menschen, die Discord-Accounts haben, Mitgliedern der Fellowship und Schülern, die an Sam und mich zu unserer Schulzeit erinnern und nach einem sicheren Hafen für Nerds suchen. In der Mittagspause und nach dem Unterricht verwandelt der Laden sich praktisch in einen Jugendclub für Kinder, die aus jedem anderen Jugendclub rausgemobbt werden würden.

Dad verbringt Stunden mit ihnen, zeigt ihnen, wie man Miniaturfiguren bemalt, spielt Tabletop-Spiele mit ihnen und hört ihnen zu, wenn sie über Dinge reden, bei denen andere nur die Augen verdrehen würden. Der Laden mag jedes Quartal rote Zahlen schreiben, aber solange er diesen Kids einen geschützten Ort bietet, an dem sie sie selbst sein können, ist er für Dad ein voller Erfolg.

Verärgert schnaufend, greift Willow zu ihrer Schultasche. Die anderen Spieler folgen ihrem Beispiel, mit dem Unterschied, dass sie beim Einpacken ihrer Charakterbögen und Notizen deutlich weniger aggressiv zu Werke gehen. Obwohl sie definitiv keine gute Verliererin ist, bedankt Willow sich auf dem Weg nach draußen noch mal ausdrücklich bei Dad, der sie und ihre Mitschüler lächelnd verabschiedet, bevor er sich hinter den Tresen zurückzieht, um ein paar seiner eigenen Figuren zu bemalen.

Mit einem Staubwedel bewaffnet, gehe ich durch den Raum und kitzele Dads dargebotene Kostbarkeiten, von Dracheneiern über magische Tränke bis hin zu Stapeln von Büchern, die erklären, wie man einen Kraken tötet. Wie von Zauberhand scheint der Staub sich in dicken Lagen überall zu verteilen, sodass der ganze Laden irgendwie verhext wirkt, als wäre man in ein uraltes Kaufhaus geraten. Manchmal frage ich mich, ob Dad seine Abende womöglich damit verbringt, diese Staubschichten immer wieder neu aufzutragen, vielleicht, um die Atmosphäre anzureichern, vielleicht auch, um sicherzustellen, dass ich hier immer etwas zu tun habe, eine sinnvolle Beschäftigung.

Die Wände hier sind nicht tapeziert, sondern von dicken Gobelins bedeckt, manche mit dunklen Paisleymustern, andere mit Karten von verlorenen oder erfundenen Ländern, auf denen Mum und ihr Schweißbrenner Löcher hinterlassen haben, obwohl die Anschaffung drei Monatsmieten gekostet hat.

Ich streiche mit dem Staubwedel über die Schwerter, die an einer der Wände hängen, gekreuzt hinter einem Schild mit dem Familienwappen, das Dad an einem Tag für uns entworfen hat, als im Laden noch weniger los war als sonst. Mum und Marigold sind natürlich durch ihre jeweiligen Blumennamen repräsentiert. Die Blüten ziehen sich über das gesamte Wappen. Ich zeichne sie mit den Fingern nach. Als Zwillinge werden Sam und ich durch einen zweiköpfigen Drachen symbolisiert. Sams Seite zeigt ein zähnefletschendes Lächeln, meine hält ein zartes Gänseblümchen zwischen den scharfen Klauen. Dad wusste nicht so recht, wie er sich selbst darstellen sollte, also hat er einen zwanzigseitigen Würfel in die untere Ecke gesetzt und Feierabend gemacht.

»Dais«, unterbricht Dad meine Arbeit, als ich gerade dabei bin, ein paar Regale aufzuräumen, die nicht mehr angerührt worden sind, seit ich mich vor ein paar Tagen daran zu schaffen gemacht habe. »Hast du in letzter Zeit mal mit deiner Schwester gesprochen?«

Ich schaue zu ihm herüber. Seine Brille sitzt auf der Nasenspitze, während er hoch konzentriert an den Flügeln eines winzigen Drachen aus dem 3D-Drucker herumpinselt. Mir wird klar, dass dies die Art Gespräch wird, bei der wir uns beide unwohl fühlen, denn Dad wartet auf meine Antwort, ohne den Blick zu heben.

»Nein«, antworte ich leicht verlegen. Ich dachte immer, es verstünde sich von selbst, dass Schwestern beste Freundinnen sind, als wären ihre Seelen in einer Art schwesterlicher Zuneigung miteinander verbunden, aber so war es bei Marigold und mir nicht, jedenfalls nicht in den letzten paar Jahren. Man könnte sagen, sie ist das weiße Schaf in einer Familie voller schwarzer Schafe. Sie fügt sich so mühelos in die Gesellschaft ein, wie es keiner von uns je getan hat. Ich bin neidisch auf sie. Und sie schämt sich für mich.

»Sie bewirbt sich an Unis«, sagt Dad, und ein weiterer Anflug von Eifersucht durchzuckt mich. Ich verachte mich für meinen Egoismus.

»Das habe ich mir schon gedacht.« Ich drehe ihm den Rücken zu und beschäftige meine zuckenden Finger damit, das Regal mit den Farbtöpfen neu zu arrangieren.

Ich habe es nie zur Uni geschafft. Tatsächlich habe ich es noch nie aus dieser Grafschaft herausgeschafft, abgesehen von irgendwelchen Wochenendfestivals in Begleitung meiner gesamten Familie. Und die einzige Person, die mich davon abhält, bin ich selbst. Ich und mein dummes Gehirn, das meinem Körper die falschen dummen Signale sendet und nur dann zufrieden ist und aufhört Zeter und Mordio zu schreien, wenn ich über die Schwelle des Hauses trete, in dem ich mein ganzes bisheriges Leben verbracht habe.

»Du könntest es noch mal versuchen«, schlägt er vor. Als ich nicht antworte, rudert er zurück. »Natürlich nur, wenn du das möchtest. Ich habe neulich mitgekriegt, wie du und dein Bruder darüber gesprochen habt, dass du mehr vom Leben willst und bereust, nicht weggegangen zu sein, als du die Chance dazu hattest …« Er unterbricht sich, weil er merkt, dass er sich ins Abseits argumentiert.

Ich reiße mich zusammen und lächele, um seine überraschend emotionale Attacke abzuwehren. »Du weißt aber schon, dass du mir mehr Lohn zahlen musst, wenn ich einen Abschluss habe.«

Endlich schaut Dad von seiner Miniatur auf. Zwar stellt er noch immer keinen Blickkontakt her, aber er gibt immerhin seinen Versuch auf, ernsthaft zu sein. »Ich würde den Job einfach auslagern – vielleicht würde ja einer der Jungs von der Griffin Academy gratis für mich arbeiten, wenn ich ihm verspreche, dass er vor all seinen Kumpels die neuen Sondermodelle kriegt.«

»Kann sein, aber ich habe dreiundzwanzig Jahre gebraucht, um die perfekte Tasse Tee für dich hinzukriegen. Glaubst du wirklich, einer der Griffin-Jungs wäre dazu imstande, exakt eineinviertel Teelöffel Zucker abzumessen?«

Übertrieben nachdenklich zieht er die Brauen zusammen, als ob er sich meine Frage ernsthaft durch den Kopf gehen lassen würde. »Nein, nein«, sagt er dann. »Da hast du recht. Touché.« Erschaudernd wendet er sich wieder seiner Malerei zu.

Ich beobachte ihn einen Moment und denke darüber nach, wie lange ich schon in diesem Laden herumtändele und Regale umräume, deren Bestand niemals abnimmt. Ich denke an die vielen Male, die ich mich schon hinter Bushäuschen geduckt habe oder hastig in Läden verschwunden bin, in die ich gar nicht gehen wollte, um die Begegnung mit ehemaligen Mitschülerinnen zu vermeiden, die stolz ihre Babykugel vor sich herschoben oder so penetrant mit der linken Hand wedelten, dass man den Klunker am Ringfinger beim besten Willen nicht übersehen konnte. Fast noch mehr verletzt es mich aber, wenn ich besagte Ex-Mitschülerinnen nicht sehe, denn dann weiß ich, dass sie unser winziges Städtchen verlassen und jenseits der Buslinie sechsundfünfzig eine aufregende neue Welt entdeckt haben.

Von Panik überwältigt, hatte ich mit achtzehn vergessen, dass dieser gigantische Planet, auf dem wir Steuern zahlen, um unsere Existenz zu rechtfertigen, sich weiter alle vierundzwanzig Stunden um die eigene Achse dreht und auch keine Anstalten macht, seine Umlaufbahn um die Sonne zu verlassen, nur weil jemand Angst davor hat, einfach nur zu leben. Und nun hat mich meine kleine Schwester, die sechs Jahre jünger ist als ich, eingeholt.

Bevor ich noch weiter über dem Thema brüten kann, zieht die Türglocke unsere Aufmerksamkeit auf sich. Statt sich, wie jedes andere Geschäft, für den üblichen Ding-Dong-Klang zu entscheiden, hat Dad seinen eigenen Jingle aufgenommen, oder zumindest so was in der Art. Und so dröhnt nun jedes Mal, wenn jemand den Laden betritt, seine theatralisch tiefe Stimme durch den Raum: Seid willkommen, müder Reisender, in Hastings’ Wunderladen der Orks und Kreuze, dem bestgehüteten Geheimnis des Reichs. Betretet ihn auf eigene Gefahr …

»Also, ich finde es immer noch ein bisschen …«

Kleiner Scherz, wir sind hier alle freundlich. Keiner beißt, außer dem Goblin da hinten und dem siebten Buch im sechsten Regal …

»… langatmig, Dad.« Sam muss beinahe schreien, um die gottgleich von allen Wänden widerhallende Stimme zu übertönen, der er soeben durch die Tür gefolgt ist. »Und vielleicht ein bisschen laut?« Er verzieht gequält das Gesicht, als die Begrüßungsbotschaft mit einem leicht quietschenden Rückkopplungseffekt endet.

»Mir gefällt’s«, erwidert Dad ungerührt und zuckt lässig mit den Schultern, die Nase immer noch dicht an seinem Drachen, der endlich Gestalt annimmt.

Sobald mein Zwillingsbruder vor mir steht, verändert sich sein Auftreten. Seine Züge spannen sich an, die heitere Miene weicht tiefem Ernst. Er beugt den Kopf und beginnt in gewichtigem Ton zu sprechen. »Schwester, ich nähere mich dir auf diesem neutralen und heiligen Boden …« Seine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen, und der lückenhafte Schnurrbart, den er versucht, wachsen zu lassen, grinst mit. »… um dir etwas ganz Großartiges zu zeigen.«

Sam holt sein Handy aus der Tasche und zeigt mir ein Werbefoto mit der fett gedruckten Aufschrift »Ritterschule«.

»Das hat einer der Jungs aus dem LARP-Forum rumgeschickt.«

»Ist aber für Kinder gedacht, oder?« Ich überfliege den Rest der Anzeige, die verspricht, Sechs- bis Dreizehnjährige in tapfere Ritter zu verwandeln, und das innerhalb der Mauern des Königlichen Palasts Seiner Majestät und der Festung des Tower of London. Lernt, wie man mit dem Schwert umgeht, wie man Turniere kämpft und vor allem, wie man sich edel und ritterlich benimmt.

Ich muss lachen. »Wie cool wäre es, wenn die auch einen Kurs für Erwachsene hätten. Das wäre endlich mal eine Lektion, bei der du aufpassen würdest.«

Mein Bruder schüttelt wissend lächelnd den Kopf. »Mag sein, aber guck dir doch bitte das mal an.« Er wischt über sein Telefon und hält es mir dann wieder vor die Nase, damit ich lesen kann, was da steht. Wir stellen jetzt fahrende Ritter ein, die auf der Suche nach dem nächsten Abenteuer sind, damit sie ihre Weisheit an die nächste Generation weitergeben. (Auf zehn Wochen befristete Stelle, dienstags bis samstags, Vollzeit, zehn Pfund pro Stunde, polizeiliches Führungszeugnis erforderlich, Kostüm wird gestellt.)

Sam schaut mich erwartungsvoll an. Er muss direkt von der Arbeit gekommen sein, seine Anzughose wirft an den Knien noch diese typischen Sitzfalten. »Ich hätte ja selbst Lust, glaube aber kaum, dass sie so lange im Büro zurechtkommen, ohne dass ich ihnen jedes Mal, wenn ihr Computer ›kaputt ist‹ sage, dass sie ihn aus- und wieder einschalten sollen, daher bin ich leider aus dem Rennen. Aber was ist mit dir?«

»Mit mir?« Keine Ahnung, warum mich sein Vorschlag so überrumpelt. Warum sonst hätte er mir die Anzeige zeigen sollen? Nun, vermutlich habe ich einfach angenommen, dass er mir irgendwas zeigen wollte, das ich auf distanzierte Art interessant finden könnte, wie etwa das Line-up für ein Musikfestival in Japan, und zu dem ich dann so was sagen könnte wie »echt super«, ohne dass einer von uns tatsächlich in Erwägung ziehen würde, jemals dorthin zu gehen.

»Na ja, ich dachte halt, dass Lady Alenthaea mehr als qualifiziert für den Job ist. Und ich wette, dass die gute alte Daisy Hastings ihre Sache auch nicht schlecht machen würde.«

»Ganz allein?« Kennt er mich überhaupt? Seit dreiundzwanzig Jahren verbringen wir praktisch jede wache Minute miteinander, da sollte er eigentlich wissen, dass jegliche Kapriolen und Abenteuer für mich auf den Seiten eines Notizbuchs beginnen und enden.

»So gerne ich meinen Job schmeißen würde, um mich einen Sommer lang dafür bezahlen zu lassen, Ritter zu spielen – ich brauche den Lohn, den diese seelenlose Arbeit mir bringt, sonst habe ich nie die Chance, mir dieses Apartment zu leisten.«

Bei diesen Sätzen wird mir mulmig zumute. Als Sam seinen Plan erwähnte, von zu Hause auszuziehen und sich eine eigene Wohnung zu nehmen, mit einem zweiten Zimmer nur für seinen Computer, nahm ich an, dass es sich um eine seiner üblichen Spinnereien handelt. Mit genauso wenig Substanz wie damals, als er sagte, dass er das Piratenwesen reanimieren und die Weltmeere befahren wolle, um nach all den Schätzen zu suchen, die die Seeräuber in den Jahrhunderten zuvor verloren hatten. Tatsächlich habe ich kaum einen Gedanken auf diese neueste Idee verschwendet, in der Hoffnung, dass die Begeisterung von selbst verpuffen würde, wenn ich nicht weiter daran rühre. Doch jetzt stehe ich hier wie vor den Kopf geschlagen.

Bei Marigold habe ich immer damit gerechnet, dass sie irgendwann erwachsen wird und das Nest verlässt. Schon jetzt wirkt sie jeden Abend beim Essen so, als wäre sie lieber woanders. Aber nie hätte ich erwartet, dass auch Sam weggehen könnte. Während ich zugeschaut habe, wie die Welt an mir vorüberzog, war mir nie, nicht ein einziges Mal, der Gedanke gekommen, dass auch meine Familie, mein einziges Glück auf Erden, eines Tages ohne mich weiterziehen würde.

Als Sam meine betroffene Miene sieht, rudert er zurück. »Aber bis dahin dauert es ohnehin noch eine Weile. Ich dachte nur, es wäre toll für dich, so etwas zu machen«, fährt er vorsichtig fort, »und dein Talent auch mal mit anderen Leuten als den Mitgliedern der Fellowship zu teilen.« Er schaut mich eindringlich an und lächelt traurig.

»Aber … aber das ist in London.« Heftig schüttele ich den Kopf und versuche dabei, das selbstsüchtige Gefühl von Verrat zu verdrängen, das erneut in mir aufgestiegen ist, und mich auf den eigentlichen Grund seiner Anwesenheit zu konzentrieren. Auch wenn es mir momentan schwerfällt, etwas anderes wahrzunehmen als das Rauschen des Bluts in meinen Ohren.

Zum ersten Mal an diesem Tag hat Dad sein Modell aus der Hand gelegt. Seine Miene ist ebenso erwartungsvoll wie die meines Bruders. »Zeig mir das mal, Sam.« Er nimmt das Handy, das Sam ihm hinhält, scrollt durch die Anzeige und nickt lächelnd, während er mir das Telefon quer über den Tisch zuschiebt. »Es ist wie für dich gemacht, Daisy.«

»Wie könnt ihr nur so dumm sein. Das ist in London.« Angespannt laufe ich hin und her. Mir wird immer enger um die Brust. Das normalerweise unaufdringliche Rinnen des Wassers durch die Leitungen wird bedrohlicher. Der Klang meiner eigenen Schritte dröhnt mir durchs Hirn. Das Schaben, mit dem meine Hosenbeine aneinanderreiben, schwillt zum beunruhigenden Tosen an. Obwohl ich weiß, dass Dad und Sam nicht anders sprechen als an jedem anderen Tag der vergangenen zwei Jahrzehnte, scheinen ihre beiden Stimmen und die eine in meinem Kopf immer lauter zu werden und sich zu vervielfältigen, bis ich den unwiderstehlichen Drang empfinde zu fliehen.

»Ich weiß nicht, was dein Problem ist«, sagt Sam. »Du wirst dafür bezahlt, um genau das zu machen, was wir schon unser ganzes Leben lang tun. Man erwartet nichts anderes von dir, als es ein paar Kindern beizubringen, und das ist definitiv keine größere Herausforderung, als Rich sonntags von seinen Sandwiches loszueisen und zum Mitspielen zu motivieren.«

»Samwise. Wann hast du mich das letzte Mal außerhalb von Lincolnshire gesehen? Wann hast du das letzte Mal gesehen, wie ich irgendwas mit meiner Zeit angestellt habe, außer, sie mit einem von euch zu verbringen?« Ich will ihn nicht anschreien, aber die Welt ist so laut geworden, dass ich sie, wenn ich mich verständlich machen will, übertönen muss.

»Dais, ich dachte ja bloß …«

»Du dachtest überhaupt nicht, Sam«, falle ich ihm ins Wort, schiebe das Telefon wieder Dad zu und gehe ruhigen Schrittes ins Hinterzimmer.

Endlich ihren bohrenden Blicken entkommen, kann ich ungehemmt hin und her laufen, oder zumindest so ungehemmt, wie man sich durch einen knapp vier Quadratmeter großen, mit Kisten und einer gewaltigen Teemaschine vollgestopften Lagerraum bewegen kann. Ich halte mir die Ohren zu, schließe die Augen und versuche, all die Geräusche auszusperren, aber das bringt nichts, wenn in meinem Kopf krachend die Gedanken explodieren, so schnell, dass ich keine Zeit finde, sie zu verarbeiten.

Ich presse die Handflächen noch fester auf die Ohren, kneife die Lider noch fester zusammen, flehe, bete um Ruhe. Gedanken, Gefühle, weißes Rauschen schleudern durch meinen Schädel, den ich am liebsten aufbrechen würde, um mein Gehirn wegzuwerfen. Schwer atmend bohre ich die Fingernägel in meine Kopfhaut, nach irgendeiner Form der Erleichterung suchend.

Er meint es gut, das weiß ich. Er meint es immer gut. Aber dies alles macht mir nur wieder einmal bewusst, dass ich mich nie weiterentwickelt habe, dass ich fast jeden Tag in der Komfortzone dieses Ladens, im Schutz meiner Familie verbringe, zu ängstlich, um mich in tiefere Gewässer zu wagen. Sam und Marigold schwimmen sich frei, lassen mich am Ufer zurück, weil ich es nicht schaffe, den Kopf lange genug über Wasser zu halten, um zu ihnen aufzuschließen.

»Hey, hey, ist ja okay. Schau mich an, Daisy, schau mich an.« Sam ist mir in den Lagerraum gefolgt und umfasst jetzt sanft meine Ellbogen. Schon der bloße Anblick seines Gesichts, das meinem so sehr gleicht und doch so entspannt wirkt, mit diesem albernen Dauerlächeln auf den Lippen, reduziert den Lärmpegel mindestens um die Hälfte. Aber erst, als er meine Hände an seine Brust legt und mich seine tiefen Atemzüge spüren lässt, stellt sich mein inneres Gleichgewicht wieder ein.

»Alles in Ordnung?«, fragt er einen Moment später.

Ich nicke und löse mich aus seinem Griff. »Danke«, murmele ich leicht verlegen.

Eine Weile schaut er mich einfach nur an, wortlos, aber ich weiß, wonach er in meinem Gesicht sucht.

»Marigold geht an die Uni«, beantworte ich seine stumme Frage nach der Ursache meines Schmerzes. Ihm ist klar, dass eine dämliche Werbeanzeige allein mich nicht so aus der Bahn werfen würde.

Seine Stirn glättet sich. »Ich weiß«, sagt er mitfühlend.

»Was stimmt nicht mit mir?«

»Du meinst, abgesehen von deiner ewigen Tagträumerei bei den Mahlzeiten, die dazu führt, dass du anfängst, wie eine Kuh zu essen?«

Als ich ihn aus schmalen Augen anstarre, gibt er seine halbherzige Witzelei auf. »Ich mache nur Spaß. Mit dir ist alles in Ordnung, Daisy. Kein interessanter Charakter entsteht dadurch, dass man alles auf Anhieb perfekt und genau zu dem Zeitpunkt hinkriegt, den die Welt für die gesamte Bevölkerung vorschreibt. Glaubst du wirklich, dass Lady A so stark und mächtig wäre, wie sie jetzt ist, wenn sie sofort den Thron bestiegen hätte?«

Ich lege den Kopf an seine Schulter; er weiß, dass es nicht ratsam ist, den Arm um mich zu legen, wenn ich so bin wie jetzt, und lässt stattdessen seinen Kopf gegen meinen sinken. »Vergiss einfach das ganze Zeug von eben. Ich hätte dich mit der Idee nicht so überfallen sollen.« Er lächelt besänftigend.

»Und du versprichst mir, niemals mehr davon zu reden, dass ich mutterseelenallein auf die andere Seite des Landes ziehen soll?«

»Ich schwöre.« Sein Gesicht strahlt eine Aufrichtigkeit aus, die so tief in ihm verankert ist, dass es ihm schwerfallen würde, jemals ein Versprechen zu brechen. Ich vertraue ihm mehr als mir selbst.

»Ich wünschte, du könntest mich überallhin begleiten.«

»Äh, nein danke. Das Klo ist schon schlimm genug verpestet, wenn ich es nach dir benutzen muss. Auf gar keinen Fall will ich da mit dir reingehen.«

»Du bist ekelhaft.« Ich versetze ihm einen Kopfstoß gegen die Schulter und richte mich auf. Er grinst von einem Ohr zum anderen, und ich danke es ihm mit einem kleinen Lächeln.

»Jetzt komm schon. Die Jungs im Forum haben uns von diesem neuen Dolchstoß-Trick erzählt, bei dem man irgendwie so …« Beim Versuch, sein imaginäres Messer zu schwingen, stößt er eine der Schachteln aus dem Regal. »Und ich brauche jemanden, mit dem ich das trainieren kann.«

»Und definitiv kein Wort mehr über London?« Ich hebe warnend den Zeigefinger, und er bekräftigt sein Versprechen, indem er ein Kreuz auf seine Brust zeichnet. Befriedigt folge ich ihm aus dem Lagerraum, während ich mir verschiedene Strategien überlege, wie ich ihn mit seinem eigenen Dolch aufschlitzen werde.

3. Kapitel

In einer verblüffenden Wendung der Ereignisse werde ich am nächsten Morgen statt von Sams nebelhornartigen Duschgesängen vom Klingelton meines Handys geweckt. Zu verschlafen, um darüber nachzudenken, das Klingeln zu ignorieren, und in der Annahme, dass es höchstwahrscheinlich nur Dad ist, mit der Bitte, ihm sein Lunchpaket in den Laden zu bringen, melde ich mich mit einem mürrischen »Hallo«.

»Guten Morgen, kann ich bitte mit Daisy Hastings sprechen?«

Die tiefe Stimme gehört keinem meiner vier gewohnten Anrufer. Ich schieße kerzengerade im Bett hoch. »Äh … ähm, ja, ich bin’s«, stammele ich.

»Super. Hi, Daisy, tut mir leid, dass ich Sie so früh störe. Mein Name ist Westley Graham, ich bin amtierender Turnier-Champion von Somerset, aber das nur nebenbei, und koordiniere die Ritterschule im Tower von London. Ich habe mir gestern Abend Ihren Lebenslauf angeschaut und wollte mich so schnell wie möglich melden, um Ihnen den Job anzubieten.«

Lebenslauf? Job? Mein Gehirn schaltet ab, und ich kann nicht mehr tun, als stumm ins Telefon zu atmen.

»Die Bewerbungsfrist ist zwar seit zwei Tagen abgelaufen«, fährt die Stimme fort. »Aber gestern hat uns einer unserer üblichen Leute überraschend hängen gelassen, daher war Ihre Bewerbung eine Riesenerleichterung. Wenn ich mir so angucke, was Sie an Erfahrungen mitbringen, würde ich sagen, dass Sie die perfekte Kandidatin sind. Normalerweise müssten wir ein Bewerbungsgespräch führen, reine Formalität für die Personalabteilung, aber ich fürchte, dafür bleibt keine Zeit mehr – die Vorbereitungen auf die Kurse beginnen nächste Woche, und nur eine Woche später öffnen wir unsere Rundzelte für die Schüler. Das Ganze ist natürlich ziemlich unkonventionell, aber wir würden Ihnen anstelle des Bewerbungsgesprächs eine vierwöchige Probezeit geben, um Ihre Fertigkeiten einzuschätzen und sicherzustellen, dass Sie tatsächlich die Richtige für den Job sind. Probezeit bedeutet, dass wir Sie nach den vier Wochen wieder entlassen können, falls sich herausstellen sollte, dass es aus irgendeinem Grund doch nicht funktioniert. Könnten Sie am zehnten Juli anfangen? Das wäre in genau einer Woche. Ihre E-Mail-Adresse habe ich, ich kann Ihnen umgehend alle notwendigen Infos zuschicken.« Mein unsichtbarer Gesprächspartner lässt mir keine Zeit zum Nachdenken. Völlig überrumpelt gebe ich einen annähernd zustimmenden Grunzlaut von mir, und er legt auf.

Nachdem ich ein paar Sekunden damit verbracht habe, zu verarbeiten, was gerade passiert ist, springe ich aus dem Bett und renne die Treppe hinunter, allerdings nicht, ohne mir zunächst den Kopf an der Dachschräge zu stoßen. In der Küche erwische ich meinen Bruder noch, bevor er zur Arbeit aufbricht. Er ist gerade dabei, seinen benutzten Teller abzuspülen, als ich ihn beim Kragen packe und zu mir herumwirbele.

»Was hast du getan? Was hast du verdammt noch mal getan? Ich habe dir gesagt, dass ich das nicht will! Ich habe es dir verdammt noch mal gesagt«, brülle ich.

Verwirrt und ein bisschen verschreckt starrt er mich an.

»Hey, hey, hey.« Er löst meine Hände von seinem Kragen und drückt sie nach unten. »Wovon um alles in der Welt redest du, Daisy?«

»Du hast es mir versprochen! Du hast geschworen, dass du es nicht mal mehr erwähnen wirst, und dabei schon die ganze Zeit deinen bislang schwersten Verrat geplant! Ist es, weil ihr mich alle verlassen wollt? Ist es das? Nach dem Motto, lass uns erst Daisy, das Nervenwrack, irgendwohin abschieben, dann brauch ich nicht so ein schlechtes Gewissen zu haben, wenn ich sie allein zurücklasse?«

Von meinem Geschrei angelockt, kommen Mum und Dad in die Küche geeilt. Erstere erkundigt sich in strengem Ton nach der Ursache des Tumults.

»Er hat mich für dieses verdammte Ritterschulen-Ding angemeldet, von dem er gestern gesprochen hat. Und jetzt haben sie mir einen Job in London angeboten.«

»Einen Job? Das ist doch großartig, mein Schatz«, erwidert meine Mutter in offensichtlicher Missachtung meines Gesichtsausdrucks.

»Hörst du mir eigentlich zu? Ich sagte, das ist in London«, fahre ich sie an und bereue meinen scharfen Ton sofort, als ich sehe, wie ihre Miene sich eintrübt. »Entschuldige, ich wollte nicht …« Ich trete einen Schritt von Sam zurück und atme ein paarmal tief durch, um mich wieder einzukriegen.

»Dais, ich habe dich nirgendwo angemeldet«, beteuert Sam. »Ich hab’s dir versprochen, und ich halte meine Versprechen, immer. Das solltest du eigentlich wissen.« Er klingt aufrichtig, was die in mir aufsteigenden Schuldgefühle wegen meines Wutausbruchs nur noch verstärkt.

»Ich war’s«, erklärt Dad zaghaft von seinem Platz in der Ecke aus. Mir klappt die Kinnlade runter, und ich kann ihn nur stumm anstarren. Den anderen geht es offenbar ähnlich. »Dieser Job ist wie für dich geschaffen, Daisy«, fährt er fort. »Ich sehe dich jeden Tag aus diesem Fenster da oben starren, und ich weiß, dass du weißt, dass es mehr im Leben gibt als meinen kleinen Laden. Ein Studium mag nicht das Richtige für dich gewesen sein, aber der Job im Tower dauert nicht mal drei Monate, und diese paar Wochen könnten zum Wendepunkt für dich werden.«

»Aber ich bin glücklich hier.« Ist das der wahre Judaskuss? Ausgerechnet von dem Menschen betrogen zu werden, auf den man sich unter allen Umständen verlassen zu können glaubte, der sich in Todesgefahr, ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken, vor einen werfen würde?

Ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Sam ist ein leichteres Ziel für meinen Zorn. Ihn zu beschimpfen ist so, als würde ich mich selbst beschimpfen, auch wenn ich das nur höchst ungern zugebe. Aber Dad ist jemand, der auf Zehenspitzen über unsere Vortreppe huscht, um die im Strohdach nistenden Rotkehlchen nicht zu stören. Die einzigen Entscheidungen, die er je trifft, dienen dazu, anderen etwas Gutes zu tun. Seine Familie ist sein Ein und Alles, warum also ist er so willig, mich wegzuschicken, noch dazu jetzt, wo all seine kleinen Vögel flügge werden und doch jeder weiß, dass er sich, wenn er könnte, für immer an uns klammern würde?

»Natürlich«, erwidert er. »Und wir sind überglücklich, dich hier zu haben. Glaub nicht, dass ich dich loswerden will. Ich dachte nur, dass du es irgendwann bereuen wirst, wenn du es nicht machst – nur weil es ein paar Meilen entfernt ist.«

»Ein paar Hundert Meilen, Dad.«

»Was sind schon ein paar Hundert Meilen, wenn es Autos und Züge gibt? Es ist ja nicht so, als müsstest du, um nach Hause zu kommen, zu Fuß bis Mordor und zurück gehen.«

»Und an den Wochenenden könnte ich dich besuchen kommen«, wirft Sam vorsichtig ein, offenbar darauf bedacht, nicht die ruhige Atmosphäre des Nachdenkens zu stören, die sich um uns gebildet hat.

»Ich auch«, verkündet Mum eifrig. »Du weißt doch, dass ich öfter mal für diese grässlichen Firmenmeetings hinfahren muss.«

»Wirst du wenigstens drüber nachdenken?« Dad hatte schon immer ein Gesicht, dem man nichts abschlagen kann – und nicht etwa deshalb, weil er streng oder gar furchterregend dreinschaut. Nein, man bemitleidet ihn beinahe. Mit seinen angelitfarbenen Augen blickt er derart rein und unschuldig in die Welt, als hätte er noch nie im Leben einen schlimmen Gedanken gehabt.

Ich nicke. Der Rest der Anwesenden stößt einen kollektiven Seufzer der Erleichterung aus.

»Oh, Mist. Ich komme zu spät zur Arbeit.« Hastig sammelt Sam seine in der Küche verstreuten Sachen zusammen und saust los – jedoch nicht, ohne mich im Vorbeigehen mit einem angetäuschten Schlag ins Gesicht und einem jungenhaften Kichern aus dem Gleichgewicht zu bringen. »Bis später!«, ruft er und stürmt aus der Haustür, die mit einem Klingeln des davor angebrachten Windspiels hinter ihm zufällt.

»Das ist auch mein Stichwort.« Mum küsst mich und Dad auf die Wange und bringt dann ebenfalls das Windspiel vor der Haustür zum Singen.

Dad schaut mich prüfend an. »Ich bin so stolz auf dich, Daisy«, sagt er leise. »Egal, was du machst. Vergiss das nicht. Okay?«

Als ich lächelnd nicke, verschwindet die letzte Sorgenfalte zwischen seinen Brauen, dann geht er ebenfalls aus der Küche.

Ich schaue durchs Fenster in den Garten und folge mit dem Blick einer Hummel, die vom Rosmarin zu den Dahlien schwirrt und sich dann im Fingerhut versenkt. Sie wirkt so zufrieden, wie sie durch den ganzen Garten fliegt und von jeder angebotenen Blüte kostet. Keine Entfernung ist diesem winzigen Geschöpf zu weit. Die kleine Hummel weiß, was sie will, und schwelgt darin, es sich zu besorgen. Was für ein erhebendes Gefühl muss es für sie sein, später trunken von Pollen, von purer Freude am Dasein zu ihrem Nest, zu ihrer Familie zurückzukehren. Vielleicht summen Hummeln ja deshalb – sie summen einfach vor Leben.

Nachdem ich die Stufen zu meinem Zimmer erklommen habe, hole ich den Laptop aus der Schublade und öffne meinen Posteingang. Ganz oben findet sich die Nachricht von einem gewissen SirWestley.Grahamton@knightschool.co.uk.

Am liebsten würde ich sie ungelesen löschen, mein Versprechen vergessen, über das Angebot nachzudenken, und einfach behaupten, dass sie ihre Meinung geändert haben und mich nun doch nicht mehr wollen. Beim Gedanken daran, wie ich mich vor fast sechs Jahren gefühlt habe, am Tag, bevor ich mit meinem Studium beginnen sollte, wird mir wieder genauso übel wie damals. Ich erinnere mich an Mums Schweigen, nachdem sie eine Stunde vergeblich im Auto gewartet hatte, das bis zum Dach vollgepackt war mit all den Dingen, die ich in mein neues Abenteuer mitnehmen wollte, und sie mich schließlich in Sams Zimmer vorfand, wo ich mich im Schrank eingeschlossen hatte wie ein ängstliches Kind. Damals war die Welt einfach zu laut für mich gewesen, genau wie jetzt.

Aber was hatte mich davon abgehalten, an die Uni zu gehen? Die Vorstellung, dass jeder, auf den ich dort treffen würde, genauso wäre wie meine ehemaligen Mitschüler? Die Angst, dass ich ganz und gar allein sein würde? Die Angst, dass ich kläglich versagen und meine Familie enttäuschen würde? Die Befürchtung, dass das Abenteuer, das mich erwartete, niemals an das heranreichen könnte, das ich mir in meiner Fantasie ausgemalt hatte, sodass Enttäuschung und Niederlage quasi programmiert waren? Alles zusammen? Alles zusammen.

Lady Alenthaea würde sich niemals vor etwas so Unbedrohlichem wie einer E-Mail fürchten. Die könnte sie schließlich weder erstechen noch vergiften. Nun ja, tatsächlich wäre sie wohl etwas beunruhigt, wenn plötzlich eine magische Box auf ihrem Schreibtisch auftauchte, die binnen Sekunden Nachrichten von einem Ende des Königreichs zum anderen verbreiten könnte, und das ganz ohne Einsatz speziell dressierter Raben, aber das tut jetzt nichts zur Sache. Was würde Alenthaea tun, wenn sie eine Nachricht erhielte, die ihr Leben verändern könnte – und alles durcheinanderbringen, womit sie bislang so zufrieden und bequem existiert hatte? Lady Alenthaea, die großartige Elfenprinzessin, die jederzeit bereit war, es allein mit einer Horde Orks aufzunehmen, nur um Vergeltung für das Schicksal ihrer Mutter zu üben, würde sich niemals von einem schäbigen Stück Pergament ins Bockshorn jagen lassen. Sie würde das verdammte Ding öffnen und verbrennen, wenn der Inhalt ihr nicht gefiel.

Ich reibe mir mit beiden Händen übers Gesicht und wünsche, ich könnte alles einfach wegwischen, jeden Gedanken in meinem Gehirn, der mir Angst macht – vor Supermärkten, vor der Begegnung mit Bekannten auf der Straße, vor dem Leben selbst. Doch Alenthaea würde mir, angewidert von so viel Feigheit, ins Gesicht spucken. Also öffne ich, getrieben von einem Funken ihres Feuers, die E-Mail, etwas enttäuscht, dass es nicht denselben befriedigenden Effekt hat wie ein wächsernes Siegel aufzubrechen und einen Brief aufzufalten, aber mit derlei Gefühlen kann ich mich jetzt nicht weiter aufhalten. Denn vor mir poppt in großen Goldbuchstaben Folgendes auf:

Was für ein Aufwand! Abgelenkt von meinen Grübeleien muss ich unwillkürlich lächeln. Ich gebe es nur ungern zu, aber Dad könnte recht haben. Dieser Job klingt geradezu beängstigend perfekt. Ich lese die E-Mail wieder und wieder, versuche, einen Haken daran zu entdecken, einen klein gedruckten Zusatz oder irgendeinen Hinweis, dass es sich um einen gut gemachten Streich handelt. Aber ich finde nichts, keinen Fehler, keinen Vorwand, mich um die Sache zu drücken.

Das Einzige, was von mir übrig bleibt, ist der rasende, einer wilden Jazz-Improvisation gleichende Rhythmus meines Herzschlags. Ansonsten übernimmt Alenthaea das Ruder, befeuert von dem durch das Öffnen der E-Mail ausgelösten Adrenalinkick. Konfrontiert mit der Aufgabe, einem gebannten Publikum ihre Schwertkunst vorzuführen, würde sie keine Sekunde zögern, mit der Planung ihrer Kampfstrategie zu beginnen. In meinem Kopf überschlagen sich die Ideen, und mir jucken die Finger, während ich innerlich jeden Schwung und jeden Hieb durchspiele. Bevor mein Geist sich anderen Dingen zuwenden kann, habe ich mich bereits zu der Hummel in den Garten gesellt und schwitze unter Lady Alenthaeas Rüstung und der Anstrengung eines Schwertkampfs ohne Gegner.

Ich könnte es niemals fertigbringen. Ich könnte niemals nach London ziehen und alles, was ich kenne, hinter mir lassen, um mit wildfremden Menschen für drei Monate neu zu beginnen. Eher schließe ich mich auf ewig in den Kleiderschrank meines Bruders ein und verrotte zusammen mit dem Strohdach dieses Hauses. Aber ich mag mich nicht; ich will nicht ich sein. Ich will die Frau sein, die es genießt, wenn ihre Muskeln vor Anspannung brennen, die sich nach Herausforderungen sehnt und nach Abenteuern verzehrt. Ich will Lady Alenthaea sein, die Kriegerin, die nicht vor dem Unbekannten flüchtet, sondern ihm mit gezücktem Schwert entgegenstürmt, ihrer selbst so sicher, dass sie nicht mal innehält, um ihren Schild zu heben. Daisy Hastings ist ein Feigling. Lady A ist, wer ich wirklich sein will.

Ich höre erst auf, als ich vollkommen erschöpft bin. Der Himmel explodiert in Rot- und Pinktönen, und die Sonne macht Anstalten, sich für eine weitere Nacht zurückzuziehen. Als ich zum Haus schaue, sehe ich die Gesichter meiner Eltern am Küchenfenster. Mum hat den Kopf an Dads Brust gelegt, er schlingt einen Arm um ihre Taille. Offenbar haben sie mich schon eine Weile beobachtet. Als sie sehen, dass ich sie bemerkt habe, lösen sie sich voneinander, um zu applaudieren. Ich erhebe das Schwert zum Salut und fühle mich … erfüllt.

»Ich mache es!«, schreie ich. Ein paar verschreckte Tauben flattern aus dem nahen Apfelbaum auf. Meine Worte überraschen mich selbst. Sie sind mir direkt über die Lippen gekommen, ohne Boxenstopp in meinem Gehirn. 

Mum und Dad starren angestrengt durch die Scheibe und wenden sich dann mit verwirrten Mienen einander zu. Erstere formt lautlos das Wort »Was?« und deutet auf ihr rechtes Ohr.

»Ah. Doppelverglasung«, murmele ich.

Dad öffnet das Fenster. »Was hast du gesagt, Schatz? Wir haben dich nicht richtig verstanden.«

»Ich sagte, ich mache es. Den Job.« Ein Teil der Energie geht durch die Wiederholung verloren, aber das erhebende Gefühl ist immer noch da.

Beide Eltern kommen aus der Küche gestürmt, mit weit geöffneten Armen.

»Vorsicht.« Ich wedele abwehrend mit einer behandschuhten Hand, und sie wechseln einen betroffenen Blick. Ich nutze die kleine Pause, um mich meines Dolchs und meines Sgian-Dubh-Messers zu entledigen, dann lade ich Mum und Dad zu einer seltenen Umarmung ein. Während ich in der Wärme ihrer Berührung schwelge, glaube ich zum ersten Mal tatsächlich, dass das Ganze funktionieren könnte.

4. Kapitel

»Bist du sicher, dass du alles hast?« Dad zappelt hektisch auf der Türschwelle, als Sam und ich ins Auto steigen, dicht gefolgt von Mum. »Du hast doch daran gedacht, Sniffles mitzunehmen, nicht wahr? Ohne Sniffles kannst du nicht einschlafen!« Er spricht von meiner uralten Schmusepuppe, die früher mal auffallend rosige Wangen und eine derart gerötete Nase hatte, dass sie aussah, als wäre sie permanent erkältet und würde jeden Moment losniesen. Inzwischen sind all ihre Farben verblasst, und sie liegt ganz unten in meinem Koffer.

»Das war das Erste, was ich eingepackt habe«, versichere ich ihm, woraufhin er nervös den Blick schweifen lässt, als wäre er auf der Suche nach einem neuen Quell der Sorge.

Heute ist der achte Juli. Während der vergangenen fünf Tage habe ich mich sechs Mal in Sams Kleiderschrank versteckt, zwei Mal eine Absage-E-Mail formuliert und den Großteil meiner Besitztümer in Mums Toyota verstaut. Es ist uns gelungen, auf den letzten Drücker einen WG-Platz in Swiss Cottage zu finden, zu einem Preis, der Schlimmes bezüglich des Zustands befürchten lässt.

Mum hat vorges...

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