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Little Secrets - Schuldige Freunde

hier erhältlich:

Drei Mädchen. Drei Jungs. Ein Traumhaus an der Küste Floridas.

Ein halbes Jahr nach dem Einzug in die WG herrscht Ärger am paradiesischen Venice Beach. Die Hausgemeinschaft der Teenager wird immer brüchiger. Ein gefährlicher Flirt läuft aus dem Ruder. Ein dunkles Geheimnis könnte alles entscheiden. Und ein tödlicher Unfall verstrickt sie enger, als sie es je für möglich gehalten hätten. Nur wer sich gegen die anderen verschwört, kann sich schützen. Aber wie weit werden sie gehen, um die Lügen für alle Zeiten zu verschleiern?

"Ich bin ein großer Fan von M.G. Reyes! Sie hat großes Talent!" Michael Grant über Little Secrets - Lügen unter Freunden


  • Erscheinungstag: 07.08.2017
  • Seitenanzahl: 384
  • Altersempfehlung: 14
  • Format: E-Book (ePub)
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959676731

Leseprobe

WIDMUNG

Für meine Tochter Lilia, den ersten Teenager, der Little ­Secrets – Lügen unter Freunden gelesen hat. Möge deine Schriftstellerei dir immer Herausforderung, Aufregung und Freude bedeuten.

Auszug aus dem Gesetzbuch zum Familienrecht von Kalifornien, California Family Code, Abschnitt 7120-7123

MÜNDIGKEIT

a)

Jeder Minderjährige darf beim zuständigen Amtsgericht des Landkreises, in dem er wohnt oder vorübergehend untergebracht ist, einen Antrag auf vorzeitige Erklärung der Mündigkeit einreichen.

b)

Der Antrag muss folgende Punkte erfüllen:

 

(1)

Der oder die Minderjährige ist mindestens 14 Jahre alt.

(2)

Der oder die Minderjährige lebt freiwillig von den ­Eltern oder Personensorgeberechtigten getrennt; die Eltern oder Personensorgeberechtigten haben dem zugestimmt.

(3)

Der oder die Minderjährige verfügt über eigene finanzielle Mittel und regelt seine bzw. ihre finanziellen Angelegenheiten selbstständig.

GRACE

El Matador State Beach – Sonntag, 31. Mai

Zwischen den Mitbewohnern lief alles schief. Grace hatte beschlossen, die Dinge zu klären. Aber es waren nicht alle in der Stimmung, mitzuspielen.

„Ist das dein Ernst?“ Candace schaute von dem Klippenweg am El Matador State Beach nach unten. „Einen volleren Strand konntest du wohl nicht finden, was?“, sagte sie mit höchster Ironie.

Bestürzt beäugte Grace den bevölkerten Sand. „Es leert sich bestimmt bald, du wirst schon sehen. Es ist gleich halb fünf. Es muss einfach.“ Die anderen fünf Mitbewohner blieben hinter ihr auf dem Weg stehen. Sie trugen Strand- und Kühltaschen, und Maya und Candace hatten sich Surfbretter unter den Arm geklemmt.

„Wir hätten später kommen sollen“, murmelte John-Michael. „Wer bricht schon um vier Uhr nachmittags zu einem Grillabend am Strand auf?“

Grace hatte ihre Mitbewohner davon überzeugt, dass es an der Zeit war, einen Tagesausflug zu machen und ihr Haus am Venice Beach zur Abwechslung mal zu verlassen, da sie in der letzten Zeit nichts anderes getan hatten, als zu viele überbackene Käsesandwiches zu essen und vor der Glotze abzuhängen. Sie mussten mal raus und sich an einem Ort versammeln, dessen Natur und Ruhe ihre Wirkung entfalten konnten. Wo die Ablenkungen des Alltags nicht dazu führten, dass die Mitbewohner aufeinander losgingen oder auseinanderstoben wie die Billardkugeln beim Eröffnungsstoß.

Sie hatte sogar John-Michael und Candace rumgekriegt, das Picknick mit ihr vorzubereiten. Einige hatten herumgemurrt, warum sie denn „nur zu irgendeinem anderen Strand“ gehen sollten. Na und? Sie brauchten einfach eine Luftveränderung und einen Tapetenwechsel. Einen Ort zum Durchatmen, frei von dem Schleier von Unsicherheit und Verdacht, der sich seit Kurzem über sie gelegt hatte. Hierbei ging es ums Zusammensein. Mit seinen Buchten, die von den Klippen des Pacific Coast Highways umgeben waren, dem kristallklaren Wasser und dem feinen, goldenen Sand schien El Matador das ideale Ausflugsziel zu sein.

Grace biss sich auf die Unterlippe. Das Gemecker ihrer Mitbewohner war echt nervig. Aber so leicht würde sie sich nicht unterkriegen lassen.

Zu ihrer Erleichterung fing Paolo ihren Blick auf. Er bemerkte ihren Frust und warf ihr ein tröstendes halbes Grinsen zu. „Ich find’s gut, dass wir im Hellen hergekommen sind. Ich gucke nämlich gern den Kitesurfern zu.“

Grace schenkte Paolo ein dankbares Lächeln, und sogleich verknotete sich ihr Magen. Das geschah definitiv zu oft. Irgendwann würden sich ihre Gefühle in ihren Augen zeigen oder im Zucken ihrer Lippen, und was dann? Dann wäre sie das dumme Mädchen, das sich in den übertrieben gut aussehenden, unerreichbaren Typen verknallt hatte.

„Kitesurfing? An diesem Strand?“, fragte Maya skeptisch. „Wer das riskiert, muss lebensmüde sein.“

Paolo zuckte mit den Schultern. Er sah mindestens ein knallpinkes Segel, das ungefähr hundert Meter vor dem Strand einen Surfer übers Wasser zog. „Es ist doch gar nicht so windig.“

„Wegen der Klippen“, erwiderte Maya und zeigte auf die Felswand, die die Bucht säumte. „Dich braucht nur ein kräftiger Windstoß zu packen und schon knallst du gegen eine Klippe und wirst zerschmettert.“

„Hier wird niemand zerschmettert“, widersprach Paolo, und in seiner Stimme schwang Bewunderung mit. „Sieh doch selbst: Der Typ ist mindestens eine Meile weit draußen!“

Diesmal konnte sich Grace ein warmes Lächeln nicht verkneifen. Paolo gab sich wenigstens Mühe. Er war zwar auch ein bisschen down, nachdem Lucy ihm einen Korb gegeben hatte, und hatte beim Gedanken an ein Picknick nicht gerade Luftsprünge gemacht. Aber seitdem sie unterwegs waren, hatte sich seine Laune stetig gebessert.

Sie blieb einen Moment stehen und beobachtete Paolo, der zwei Stufen auf einmal nahm. Er sah genauso gut aus wie immer. Es ist zwecklos, sagte sie sich. Du musst Jungs wie Paolo einfach aus dem Weg gehen. Er war einfach zu süß und wusste es auch. Es war besser, einfach nur mit ihm befreundet zu sein.

Als Grace aufblickte, bemerkte sie, dass Lucy sie neugierig und nachdenklich ansah. „Hmm“, murmelte Lucy mit einem wissenden Nicken.

„Was?“, entgegnete Grace. Sie spürte, wie sie rot wurde, konnte es aber nicht verhindern.

Lucy lächelte milde. „Keine Sorge. Jungs sind zwar dämlich, aber irgendwann kapieren selbst sie es.“

Für einen kurzen Moment war Grace zu verblüfft, um sich zu rühren. Mindestens eine ihrer Mitbewohnerinnen fiel nicht auf ihr Theater herein. Mit mechanischen Bewegungen folgte sie ihren Freunden zum Strand hinunter.

Candace und Maya glitten auf ihren Surfbrettern in die Wellen, während Paolo in der Nähe schwamm. Für alle, die nicht zu den Abgehärteten gehörten, war das Meer noch viel zu kalt, aber Paolo schien das nicht zu stören. Das Wasser war so klar wie eine Süßwasserquelle mitten im Wald. Weiter draußen bewegten sich zwei Kitesurfer im Zickzack über die blauen Weiten, wobei ihre Boards mit hoher Geschwindigkeit über das Wasser hüpften.

Grace blieb am Strand zwischen den Felsblöcken und Klippen. Die meiste Zeit starrte sie stumm aufs Meer. John-Michael saß schweigend neben ihr.

So konnte es sein, wenn zwei Menschen aufs Wasser blickten. Ihr ganzes Leben hatte Grace in San Antonio in Texas gelebt, mehr als hundert Meilen von der Küste entfernt. Sie hatte keine Ahnung davon gehabt, wie beruhigend sich der Ozean auf ihren Geist auswirken konnte. Und in den letzten fünf Monaten hatte die unmittelbare Nähe zum Wasser sie gelehrt, wie gut man Stille teilen konnte.

Grace bezweifelte, dass sie jemals zurückgehen könnte.

Sie dachte an die ersten Tage zurück, die sie in dem Haus am Venice Beach verlebt hatte, in dem sie mit Maya, Lucy, John-Michael, Paolo und ihrer Stiefschwester Candace wohnte. Es hatte ein paar Monate gedauert, aber inzwischen waren sie zusammengewachsen; eine künstliche Familie am Venice Beach. Keiner von ihnen hielt dies für selbstverständlich. Und dennoch gab es in letzter Zeit Spannungen.

Das war im Grunde keine Überraschung, wenn man bedachte, was einige von ihnen in dieses Haus getragen hatten: Geheimnisse, Betrug, Verbrechen. Grace beobachtete Candace dabei, wie sie sich die Arme mit Sonnenschutz eincremte, und ein vertrautes Schuldgefühl durchzuckte sie. Erst vor Kurzem hatte sie John-Michael ein Geheimnis anvertraut, das sie vor ihrer eigenen Stiefschwester noch immer zurückhielt.

Grace hatte ihr die wahre Identität ihres leiblichen Vaters, Alex Vesper, über Jahre verschwiegen. Wie würde Candace reagieren, wenn sie wüsste, dass ihre Stiefmutter früher mit einem verurteilten Mörder verheiratet gewesen war? Einem Mann, der in der Todeszelle saß? Würde die Beziehung zwischen ihr und Candace es überleben, wenn diese Wahrheit jemals ans Licht käme? Grace war sich ziemlich sicher, dass es ihr ohne Candace nicht gelingen würde, so zu tun, als ob die Sache mit der vorzeitigen Mündigkeit tatsächlich so einfach wäre, wie alle gern glaubten. Da half es auch nicht, dass sich ihre Mitbewohner alle mehr oder weniger bereit erklärt hatten, ihre Eltern auf Abstand zu halten.

Wenn Candace die Wahrheit über Graces Vater von jemand anderem erführe als von Grace, würde sie sich verraten fühlen. Vielleicht würde sie sogar in ihrem Gedächtnis kramen und überlegen, über welche Dinge Grace sie womöglich noch angelogen hatte. Grace konnte sich ihre eigene Reaktion genau vorstellen. Sie würde ihre Stiefschwester anflehen, ihr zu glauben, dass es keine weiteren Geheimnisse gab, und dass auch dieses nicht ihre Entscheidung gewesen sei, sondern die ihrer Mutter.

Sie senkte den Blick, bevor Candace es bemerkte. Nein. Das konnte sie nicht riskieren, so verlockend ein Geständnis manchmal auch sein mochte. Wie ihre Mutter immer sagte: „Es ist nicht nur dein Geheimnis, Grace.“

Vor einer Woche, am Memorial Day, hatte sie sich John-Michael anvertraut. Grace war sich noch immer nicht sicher, wie das geschehen konnte. Wenn ein Mensch etwas Persönliches preisgibt, fühlt es sich richtig an, ebenfalls etwas zu verraten. Zumindest redete sie sich das ein. Aus diesem Grund hatte sie John-Michael in ihr Geheimnis eingeweiht – ihm die Wahrheit über ihren Vater erzählt. Über den Todeszelleninsassen, mit dem sie sich seit Jahren schrieb. Den „Dead Man Walking“.

John-Michael aber hatte ihr ebenfalls ein Geheimnis verraten. Über seinen Vater und dessen Tod, der wie ein Damoklesschwert über seinem Kopf schwebte. Die Polizei hatte John-Micheal wegen Mordverdachts eingesperrt, doch dann war er ohne offizielle Anklage freigelassen worden. Vor einer Woche hatten sich die Dinge zugespitzt. Anstatt sich noch einen Tag länger an dem Auto zu erfreuen, dem ganzen Stolz seines Vaters, hatte John-Michael das Mercedes-Benz-Cabrio von den Klippen des Pacific Coast Highways in die Tiefe stürzen lassen. Nur Grace kannte den wahren Grund dafür.

Zwar hatte sie moralische Einwände dagegen, wenn jemand seinem eigenen Vater Beihilfe zum Selbstmord leistete – vor allem, wenn man ihm dabei ein Kissen aufs Gesicht drückte, bis er aufhörte zu atmen. Sie selbst wäre niemals in der Lage dazu gewesen, so endgültig die medizinische Diagnose auch sein mochte. Aber John-Michael war ihr Freund, und er hatte ihr die Wahrheit anvertraut. Sie würde niemandem davon erzählen, und sie wusste, dass er dasselbe für sie täte.

Nach Sonnenuntergang fingen Mütter und Väter, Großeltern und Kleinkinder an, ihre Sachen zusammenzupacken und zu gehen. Im nachlassenden Tageslicht glommen die ersten Einweggrills auf. Grace nahm Baumwolltupfer aus der winzigen Plastiktüte in ihrer Erste-Hilfe-Tasche und zog einzelne Fäden heraus, damit John-Michael sie als Anzünder benutzen konnte. Er zündete ein Streichholz an, und wie so oft war Grace von seinem Pragmatismus überrascht und beeindruckt.

„Als ich auf der Straße gelebt habe“, sagte er, „gab es Nächte, in denen ich derbe gefroren hätte, wenn ich nicht gewusst hätte, wie man ein Feuer macht.“

Als die Anzündhilfe Feuer gefangen hatte, warf er einen brennenden Baumwolltupfer auf das Tipi aus Stöcken, das er sorgfältig aufgebaut hatte. Er legte sich auf den Bauch und begann – den Mund keine fünfzehn Zentimeter von der aufflackernden Flamme entfernt – zu pusten. Binnen einer Minute hatten auch die Stöcke Feuer gefangen. Sie fingen an zu knistern und zu glühen. Eine weitere Minute später loderte schon ein richtiges Lagerfeuer.

Candace kam zu ihnen herüber und trocknete sich die Schultern und den Kopf mit einem Handtuch ab. Sie kniete sich zwischen Lucy und Grace auf den Boden. Nach einem Moment legte sie den Kopf an Graces Schulter. „Das ist so toll. Warum haben wir das nicht schon viel früher gemacht?“

Paolo setzte sich auf eine zusammengerollte Strohmatte und sah zu ihr hoch. „Du bist doch diejenige, die an den Wochenenden immer fürs Fernsehen arbeitet.“

„Candace hat recht“, schaltete Maya sich ein. „Das macht wirklich Spaß. Es ist echt schon eine Weile her, dass wir einfach zusammen rumgehangen haben.“ Sie griff nach der Kühltasche und holte kalte Softdrinks und in Folie gewickelte mit Frikadellen und Käse belegte Baguettes heraus. Paolo nahm die Cola light, die sie ihm hinhielt, und wandte sich John-Michael zu. „Hey, hast du den Rum und die Limetten dabei? Ich will einen Cuba Libre machen.“

Grace spürte, wie sich in ihrem Innern ganz langsam eine glühende Wärme ausbreitete. Die lockere Stimmung, die am Anfang zwischen den Mitbewohnern geherrscht hatte, war zwar noch nicht wieder ganz hergestellt, aber vielleicht war es eine gute Sache, dass sich die Geheimnisse zwischen ihnen einen Weg nach draußen bahnten. Sie konnte spüren, wie sich die sechs Freunde, die rings um das Feuer saßen, in der von den Flammen erhitzten Luft näherkamen.

Vielleicht würde Lucy endlich auch ihre Geheimnisse offenbaren. Oh bitte.

Lucy ahnte es zwar nicht, aber sie hatte die Macht, Graces Leben mit nur einer einzigen Tat komplett zu verändern. Sie brauchte nur die Wahrheit über den Mord zu erzählen, den sie als Kind beobachtet hatte.

Es musste irgendeinen Weg geben, Lucy zum Reden zu bringen. John-Michael hatte Lucy bereits von Graces Vater erzählt, wie Grace wusste – sie hatte es selbst vorgeschlagen, um herauszufinden, ob es Lucy zu einem Geständnis bewegen könnte. Bislang hatte Lucy jedoch nichts gesagt. Die Frage war: Hatte sie eine Verbindung zwischen Graces Vater und dem Ereignis hergestellt, das sie als Kind beobachtet hatte?

Grace war sich nicht sicher. Nein, sie musste anders an die Sache herangehen. Sie würde mit Lucy zuerst ihre Version der Wahrheit teilen müssen. Sie musste ihr sagen, dass Alex Vesper, der Mann, der wegen des Mordes an Tyson Drew in der Todeszelle saß, ihr Vater war.

Grace seufzte. Dann würde Candace erfahren, dass sie die ganze Zeit über angelogen wurde.

Wenn es doch nur einen anderen Weg gäbe.

PAOLO

„Malibu Lawn“-Tennisclub – Dienstag, 2. Juni

Paolo King saß mit einer seiner Tennisschülerinnen an der Bar des Country Clubs, so wie er es nach den Trainingsstunden häufig tat. Es war später Nachmittag. Im Hintergrund spielte seichte Jazzmusik. Paolo kannte den Song nicht. Außerhalb des Clubs hörte er solche Musik nur selten.

Diese Schülerin war ein bisschen älter als die Frauen, die normalerweise auf ihn standen. Sie bewegte sich irgendwo in den Vierzigern und hatte perfekt gestylte blonde Haare, die ihren schlanken Hals betonten. Ihr Tennisrock gab den Blick auf gebräunte, durchtrainierte Beine frei, die sie an den Knöcheln überschlagen hatte.

Er kannte sie nur als „Jimmys Mom“.

Paolo hatte einmal mit Jimmy, ihrem idiotischen minderjährigen Sohn, um Geld gespielt. Man hatte ihn reingelegt, damit er dem Jungen seine vierzigtausend Dollar schwere Corvette abluchste. Obwohl Paolo nur bei dem Betrug mitgemacht hatte, weil er von einem Typen, der sich inzwischen aus dem Staub gemacht hatte, erpresst worden war, gab Jimmys Mom ihm die Verantwortung für die Sache. Sie war einverstanden gewesen, die Polizei aus der Angelegenheit rauszuhalten – allerdings nur, wenn sie und Paolo sich richtig gut miteinander stellten.

Es war ihm gelungen, den Schein zu wahren – bis auf ein winziges Detail. Irgendwie war ihm ihr Name entfallen. Sie hatte ihn schon mal genannt, aber er hatte ihn vergessen. Und nun, nachdem sie intim miteinander geworden waren, wäre es unhöflich, sie danach zu fragen. Paolo hatte gehofft, er würde sie niemals wiedersehen. Aber nein. Heute hatte sie vor dem Club auf ihn gewartet.

„Deine Haare sehen toll aus“, sagte Paolo, als Jimmys Mom seine Sprite light gegen den Tom Collins tauschte, den sie sich bestellt hatte. Er nahm seinen neuen Drink in die Hand. „Sicher, dass du den nicht willst?“

„Besser nicht.“ Sie schmunzelte. „Ich muss noch fahren.“

Genau wie Paolo. Doch er hütete sich davor, in Gegenwart dieser Frau irgendetwas zu sagen, das sie am Ende noch verärgern würde. Sein Alter – sechzehn – war zwischen ihnen nie so richtig thematisiert worden, obwohl sie miteinander geschlafen hatten. Theoretisch war das illegal, aber für Paolo war es nicht das erste Mal mit einer älteren Frau gewesen. Er war sich ziemlich sicher, dass sie die Namen aller Frauen aus dem Tennisclub herausfinden würde, mit denen er ins Bett gestiegen war, wenn er versuchen würde, ihre Beziehung gegen sie zu verwenden. Und das wollte er nicht.

Er nahm einen Schluck und versuchte nochmals, sich an ihren Namen zu erinnern. Es würde sie ärgern, dass er ihn nicht mehr wusste.

„Es hat mir Spaß gemacht, mir dein Match gegen deinen Trainer anzusehen.“ Sie lächelte. „Aber das war auch ganz schön aufreibend, mein Süßer. Ich war mir sicher, dass er dich schlagen würde.“

Paolo stimmte in ihr Geplänkel ein. „Der Sieg schmeckt besser, wenn man ihn den Klauen der Niederlage entreißt.“

Das hätte Jimmys Mom gewusst, wenn sie geblieben wäre und sich das ganze Match zwischen ihm und ihrem Sohn angesehen hätte. Darius, der an jenem Nachmittag Paolos Doppelpartner und Initiator des Betrugs gewesen war, hatte dafür gesorgt, dass sie bis kurz vor Spielende zurücklagen. Die klassische Abzocke. Jimmy war darauf reingefallen und hart gelandet.

Sie warf ihm einen langen, nachdenklichen Blick zu. Paolo spürte plötzlich das volle Gewicht des Altersunterschiedes und vermied es, den Blick zu erwidern. Er dachte an ihre letzte Begegnung zurück. Er fühlte sich bereits unwohl in seiner Haut, wie wenn ein Mädchen auf einen zukam und man wusste, dass man sie am Ende zurückweisen würde. So machte er es andauernd mit den Mädchen aus der Schule, die ihn offenbar für so etwas wie eine Trophäe hielten, die es zu ergattern galt.

„Bist du ganz sicher, dass du deine Stunde nicht auf einen anderen Abend verschieben kannst?“, fragte sie fordernd.

Paolo hielt sein Glas fester. „Das geht wirklich nicht. Meine Schülerin ist schon hier – ich habe gesehen, wie sie mit dem Auto vorgefahren ist.“

Sie zog einen Schmollmund. „Zu schade.“ Nach einem leichten Zögern, so als ob auch sie Skrupel hätte, ihre einmalige Affäre zur Sprache zu bringen, senkte sie die Stimme. „Ich musste viel an dich denken.“ Sie versuchte, ihm in die Augen zu sehen, doch es gelang ihr nicht. Plötzlich wirkte sie beinahe verletzlich.

Paolo bemühte sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. Er wusste genau, dass sie ein ähnliches Geständnis von ihm hören wollte. Als es nicht kam, verzog sie die Lippen zu einem Lächeln.

„Komm schon, Paolo, sei nicht so schüchtern. Wir sind schließlich nicht Mrs. Robinson und Benjamin.“

Er kniff irritiert die Augen zusammen. „Und die wären?“

„Hast du nie Die Reifeprüfung gesehen?“

Die Reifeprüfung?“ Er schüttelte den Kopf und trank einen Schluck. „Nein.“

Jimmys Mom seufzte geduldig, als hätte sie es mit einem langsamen, aber auf liebevolle Art geschätzten Schüler zu tun. „Das ist ein fantastischer Film, ein Klassiker. Mrs. Robinson ist eine gelangweilte reiche Hausfrau und Benjamin der Sohn eines befreundeten Ehepaares, der gerade seinen Collegeabschluss gemacht hat. Sie kommen zusammen. Anfangs ist Benjamin extrem schüchtern, aber allmählich findet er Gefallen an der Sache. Genau wie du, Paolo, an dem Nachmittag, den wir zusammen verbracht haben.“

„Wie geht es aus?“, fragte Paolo, obwohl er sich vor der Antwort fürchtete.

Sie zuckte mit den Schultern. „Nicht besonders gut. Benjamin brennt mit Mrs. Robinsons Tochter durch.“

Paolo suchte nach Worten. Diese Unterhaltung nahm einen ziemlich bizarren Verlauf. Er war sich nicht sicher, was er sagen sollte. „Bist du … nicht glücklich mit … Jimmys Vater?“

Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und betrachtete ihn. „Glücklich? Paolo, du denkst doch nicht wirklich, dass eine glücklich verheiratete Frau mit einem sechzehnjährigen Tennistrainer ins Bett geht, oder?“

„Ich schätze, ich weiß nicht besonders viel über verheiratete Leute.“

Sie berührte zärtlich seine Hand. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu der Stelle, wo ihre Finger leicht auf seinen ruhten.

„Warum solltest du auch? Du bist noch ein Kind. Ein Kind, das vor Testosteron übersprudelt, aber das wird sich irgendwann legen. Ich schätze mal, du hast keine Freundin?“

„Wie kommst du darauf?“ Die Worte klangen viel zu defensiv und waren draußen, bevor er sie herunterschlucken konnte.

Sie lächelte ihn neugierig an.

„Ich habe keine Freundin, weil das Mädchen, das ich will, sich nicht für mich interessiert.“

In ihren Augen flammte aufrichtiges Interesse auf. „Ah. Also eine unerwiderte Liebe?“

„Ich weiß nichts von der Liebe.“ Paolo konnte kaum glauben, dass er mit dieser raubtierhaften Fremden über seine Gefühle sprach. Es war, als ob sie ihn mit einer ihrer Freundinnen verwechselt hatte, mit jemandem, dem sie etwas anvertrauen konnte. Trotzdem versuchte er, ihr eine Antwort zu geben. Jimmys Mom konnte ihm nach wie vor eine Menge Ärger bereiten. Es war besser, sie auf seiner Seite zu haben.

„Ich mag dieses Mädchen sehr. Wir haben ein einziges Mal ein bisschen rumgemacht, aber sie war nicht richtig bei der Sache. Ich dachte eigentlich, so etwas würde mich wütend machen. Aber ich weiß nicht. Irgendwie hat das nur dazu geführt, dass ich sie noch mehr will.“

Jimmys Mom lächelte zufrieden. „Oje. Das klingt ganz danach, als ob deine kleine Freundin dich genau da hätte, wo sie dich haben will.“

„So ist das nicht.“ Diese Beschreibung wurde Lucy Long ganz und gar nicht gerecht. Er hatte ausreichend Erfahrung mit Frauen, um sagen zu können, wann ein Mädchen ihn wirklich wollte. Lucy hatte eigentlich keinerlei Anzeichen dafür gezeigt. Jedenfalls nicht, bis sie ihn geküsst und den Anschein erweckt hatte, dass sie ihm endlich näher kommen wollte … um sich dann doch in letzter Minute zurückzuziehen.

„Ich denke“, sagte er vorsichtig, „dass sie mich einfach nicht mag. Jedenfalls nicht so. Sie wollte mich nur abschleppen, um alles andere zu vergessen, was in ihrem und meinem Leben gerade passiert. Das Timing war einfach beschissen.“

„Tja dann“, murmelte Jimmys Mom offensichtlich überrascht. „Das ist ungewöhnlich einfühlsam von dir.“

Die Kellnerin brachte die Rechnung, und Jimmys Mom zog ihre Kreditkarte heraus. Paolo reckte den Hals, um einen Blick auf den Namen zu erhaschen, der auf der Karte stand.

Meredith Erikson.

Sie hieß Meredith. Dieser Name hatte nicht mal unter den Top Ten seiner Vermutungen rangiert. Paolo ließ sich in seinen Stuhl sinken und konnte nur mit Mühe einen Seufzer der Erleichterung unterdrücken.

„Vielleicht musst du das Mädchen aus deinem Kopf löschen“, fuhr sie fort. „Du kennst doch das Sprichwort: Eine alte Liebe kuriert man am besten durch eine neue Liebe.“

Aber du und ich, wir können niemals zusammen sein, hätte Paolo am liebsten gesagt. Das war eine einmalige Sache gewesen, um keine Schwierigkeiten zu bekommen, und nicht mehr. Er nickte leicht und nahm einen nervösen Schluck von seinem Tom Collins, während er darüber nachdachte, wie er sie möglichst schnell loswerden könnte. „Meredith“, begann er und sprach ihren Namen zögerlich aus. „Hast du Töchter? Vielleicht könnten wir die Geschichte wie bei Mrs. Robinson enden lassen.“

„Wenn du dich noch einmal in die Nähe meines Hauses wagst, ist es mit deiner Tenniskarriere aus und vorbei“, sagte sie so streng, dass es sich wie eine Ohrfeige anfühlte. „Und was dein Jurastudium angeht: Ein paar Anrufe bei einigen meiner Anwaltsfreunde würden dem ebenfalls ein Ende setzen, Mister King.“

Paolo spielte mit und tat so, als ob sie einen Witz gemacht hätte. Doch er wusste, dass dem nicht so war. „Das werde ich bestimmt nicht vergessen“, brachte er nach einer Weile hervor.

„In Ordnung“, erwiderte sie knapp. Sie klang nun viel förmlicher. „Paolo, wo stehen wir deiner Meinung nach jetzt?“

Er sah verblüfft auf. „Wir? Ich dachte, du hast gesagt …“

„Ich weiß, was ich gesagt habe, aber ich erwarte natürlich eine gewisse Flexibilität. Ich meine, im Hinblick auf das Ausmaß deines Vergehens. Die Gesamtkosten deines kleinen Betrugs.“

„Ich war das nicht alleine“, widersprach er reumütig.

„Dann eben du und Darius“, sagte Meredith und machte dabei große Augen. „Allerdings war Darius besser darin, sich schnell aus dem Staub zu machen.“ Sie beugte sich zu ihm hinüber und lächelte. „Außerdem ist er weitaus weniger attraktiv.“

Da war er wieder, der kalkulierte verlangende Blick, bei dem Paolo sich wie eine Erdbeere auf einer Sahnetorte fühlte.

„Du hast mich mehr als vierzigtausend Dollar gekostet, Paolo King. Und so unvergesslich, wie unser Nachmittag war, muss ich bei nochmaliger Betrachtung sagen, dass ein einziges Mal das Soll nicht ganz erfüllt.“

Paolo schluckte seinen Ekel herunter. Er war sich alles andere als sicher, ob er in der Lage wäre, diese Vorstellung zu wiederholen.

„Was schwebt dir vor?“, fragte er widerstrebend.

„Ich habe deine Nummer. Wenn mich die Stimmung packt, werde ich dich anrufen, Paolo.“ Meredith stand auf. „Keine Sorge, es ist nur zu deinem Besten. Ich nehme an, dass du noch viel lernen kannst, was junge Frauen angeht. Wir zwei werden nur ein bisschen Spaß haben, aber ich wäre nicht abgeneigt, dir dabei zu helfen, das Mädchen deiner Träume zu erobern.“

Sie berührte nachdenklich seine Wange. Nach einer oder zwei Sekunden ging die Berührung in ein Streicheln über. „Schau nicht so betrübt. Ich verspreche dir, dass es dir gefallen wird.“ Sie beugte sich zu ihm hinüber, als ob sie ihn küssen wollte, dann fiel ihr aber offensichtlich ein, wo sie sich gerade befanden. Also brachte sie stattdessen den Mund nahe an sein Ohr und flüsterte: „Lass dir die Haare wachsen und benutze ein bisschen Gel. Du siehst so gut aus, Paolo, dass ich schreien könnte.“

CANDACE

Culver Studios – Donnerstag, 3. Juni

„Candace Deering? Hier entlang bitte.“

Es war zu einfach, nicht so wie die anderen Male. Keine Schlange, keine Mädchenmenge, bei deren Anblick sie sich fragte, ob sie ein Klon sei. Jemand, der tatsächlich ihren Namen kannte, hatte sie in den Vorsprechraum geführt, und als sie eintrat, warteten dort nur zwei Typen.

Einer von ihnen stand hinter einem Tisch, auf dem eine Videokamera auf einem kurzen Stativ stand. Der Zweite lehnte ruhig am Türrahmen. Er war Mitte dreißig, etwa eins fünfundachtzig groß und hatte dunkle Haare und grünblaue Augen. Die Stoppeln auf seinem Kinn verliehen ihm ein leicht verwahrlostes Aussehen. Candace erkannte ihn sofort.

Betont lässig drehte er sich um und sah sie an. Sein Blick wanderte kurz nach oben und dann nach unten. Eine Musterung mit zwei Blicken. „Danke, dass du zum Vorsprechen gekommen bist. Ich bin Ricardo Adams.“

Candace lächelte. „Ich weiß, wer Sie sind“, erwiderte sie und vermutete, dass sie mit Schmeicheleien bei ihm weiterkam. „Ich gucke regelmäßig Deadbeat.“

„Immer wieder nett, einem Fan zu begegnen“, entgegnete er mit einem künstlichen Grinsen. Er trat beiseite, um Candace durchzulassen. Sie wollte die Tür hinter sich schließen, doch Ricardo fasste sie an der Kante und hielt sie auf. „Wir sind noch nicht komplett.“ Aus jeder einzelnen Pore seines Körpers drang kühle Professionalität.

Candace hielt praktisch den Atem an, bis sie im nächsten Moment einen fröhlichen Ruf vom anderen Ende des Flures hörte. „¡Oye, asere!“

Ein junger Typ kam in ihr Sichtfeld – etwa eins achtzig groß, um die zwanzig Jahre alt und afrikanischen Ursprungs. Er war schlank, bewegte sich geschmeidig und hatte ein stufiges Muster in die kurzen dunkelbraunen Haare rasiert. Seine Gesichtszüge waren fein: hohe Wangenknochen, mandelförmige dunkelbraune Augen mit geschwungenen Wimpern und ein perfekt geformter Kiefer. Er sah schon fast lächerlich gut aus. Mit einem breiten Strahlen in seinem Gesicht, das so süß war wie sein Körper perfekt, schlenderte er in den Raum, begrüßte Ricardo mit einem komplizierten Ritual und lehnte sich dann zu Candace hinüber, um sie mit einem freundlichen Kuss auf die Wange zu überraschen.

„Yoandy“, stellte er sich mit tiefer, samtiger Stimme vor. Er drückte ihre rechte Hand. „Encantado.“

Sein Akzent. Leicht und dennoch eindeutig Latino. Kam er aus der Dominikanischen Republik? Aus Kuba? Aus Kolumbien?

„Candace Deering“, sagte Ricardo förmlich. „Das ist Yoandy Santiago.“

Sie nickte und gab sich Mühe, nicht auf die Muskeln zu schielen, die unter der makellos glatten, braunen Haut von Yoandys Schultern spielten. Sein enges, ärmelloses Shirt verhüllte seinen Oberkörper nur ungenügend. Dazu trug er eine verblichene Jeans und cremefarbene Chucks mit offenen Schnürsenkeln und locker herausgezogenen Laschen. Sie sah weder ein Tattoo noch irgendeine andere Markierung an seinem Körper. Nur seinen Hals schmückte eine doppelreihige Kette aus kleinen roten und weißen Perlen. Sein Körperbau glich dem eines Sportlers oder vielleicht eines Tänzers.

Candace war sich ziemlich sicher, dass sie ihn wiedererkannt hätte, wenn er schon mal im Fernsehen zu sehen gewesen wäre.

„Deine Serie gefällt mir“, sagte Yoandy amüsiert. „Du bist Gina! Die ist echt heiß.“

„Du hast Downtowners gesehen? Das wurde doch noch gar nicht gesendet.“ Candace sah Ricardo nach Bestätigung suchend an.

„Ich habe Yoandy Auszüge deiner Arbeit gezeigt“, erwiderte Ricardo. Irgendetwas an der knappen Art, mit der er den Satz herauspresste, gab Candace zu denken. War Yoandys Anerkennung von Bedeutung? Sogar notwendig? Wie war noch gleich sein Name? Yoandy Santiago. War er bereits ein größerer Star als sie?

Als sie sich wieder auf die Situation konzentrierte, bemerkte sie, dass Yoandy sie mit aufrichtigem Entzücken anstarrte. „Ich fand es großartig, als du diesen Typen mit bloßen Händen umgebracht hast.“

Candace straffte die Schultern, fand ihre Haltung wieder und lächelte Yoandy ruhig an. „Er hat gekriegt, was er verdient hat.“

Yoandy fing laut an zu lachen. „Dieses Mädchen gefällt mir. Ricardo, gib ihr die Rolle.“

„Gib ihr die Rolle?“, äffte Ricardo ihn verärgert nach. „Du hast die Rolle ja noch nicht mal selbst, also halt am besten einfach die Klappe.“

„Dana wird dir eine verpassen, wenn ich den Sebastian nicht spielen darf“, erwiderte Yoandy und lächelte selbstgefällig. „Und ich sage: Gib Candace die Rolle der Annika.“

Wenn jemand anderes so etwas gesagt hätte, wäre sie empört gewesen. Aber sie war auch noch nie jemandem wie diesem Typen begegnet. Er verströmte einen geradezu magischen Charme.

„Äh, Moment – wer ist Dana?“, fragte Candace und tat, als hätte sie nicht längst das Internet nach Informationen zu Ricardo Adams’ Privatleben durchforstet.

„Dana Alexander“, erklärte Yoandy. „Ricardos Frau. Der britische Filmstar?“

„Natürlich“, erwiderte Candace. „Ich stehe total auf ihre Werke, vor allem die Rolle von Lady Macbeth. Ich bin verrückt nach Shakespeareverfilmungen.“

„Yoandy ist ein sehr guter Freund von Danas Schwester Kay“, sagte Ricardo. „Und Kay hat Dana davon überzeugt, dass Yoandy der nächste Jaden Smith ist. Die Latinoversion von Jaden Smith. Deshalb hat sie Dana darauf festgenagelt, dass ich ihm eine Rolle in meiner Serie gebe. Und darum wirst du mit diesem elenden Arsch klarkommen müssen – zumindest, wenn du bei Prepped mitspielen willst.“

Yoandy warf Candace noch ein strahlendes Lächeln zu. „Siehst du, wie er mit mir spricht? Und das, obwohl wir fast zur gleichen Familie gehören.“

Fast zur gleichen Familie. Ein sehr guter Freund.

Candace bemühte sich ernsthaft, ein Stirnrunzeln zu unterdrücken. Da stand sie kurz davor, einen riesigen Fernsehdeal zu besiegeln, und hatte ein ungutes Gefühl. Lag es an Ricardos Bemerkung, dass Yoandy ein „guter Freund“ von Kay Alexander war? Konnte „gute Freunde“ mehr bedeuten? Und war die Tatsache, dass sie das störte, ein Anzeichen dafür, dass sie eifersüchtig war? Aber das passierte Candace niemals. Die Typen verknallten sich in sie – nicht andersrum.

Das war echt ätzend. Mit jeder Sekunde, die verstrich, kam sie mehr zu der Schlussfolgerung, dass Yoandy der attraktivste Typ war, den sie je in ihrem Leben gesehen hatte.

„Hi, ich bin Lowell, einer der Regisseure.“ Die Stimme des anderen Mannes unterbrach ihre Gedanken. Er hatte höflich mit einem Klemmbrett in der Hand an der Seite gestanden und die Interaktion zwischen Ricardo, Candace und Yoandy beobachtet. Nun aber ergriff er mit fester Stimme das Wort. „Zwei Fragen. In Ihrem Lebenslauf steht, dass Sie mündig sind. Aber Sie gehen noch zur Highschool, ist das richtig?“

„Oh, äh, ja. Ich gehe zur Hearst Academy. Ende der Woche fangen die Sommerferien an.“

„Ausgezeichnet. Unser Plan ist es, nächsten Monat zu drehen, dann um den vierten Juli herum drei Wochen zu pausieren und im August weiterzumachen. Sie hätten mehr Text. Der Drehplan wäre also kompakter als bei Downtowners.“

Candace nickte. Mehr Arbeit, mehr Geld, sie wäre länger im Fernsehen zu sehen … mehr Yoandy.

Der Regisseur ließ das Klemmbrett sinken. „Wenn Sie bereit sind, Miss Deering, möchte ich Sie bitten, eine Kampfszene mit Mr. Santiago zu improvisieren. Im Anschluss daran werden wir die zweite Szene proben.“

Yoandy zwinkerte ihr ermutigend zu. Er war rund zehn Zentimeter größer als sie und bestimmt zwanzig Kilo schwerer. Praller Bizeps. Und unter seinem gerippten Shirt zeichnete sich deutlich ein Sixpack ab.

„Bist du mein Kampfpartner?“, fragte sie.

„Keine Sorge, nena linda, das ist genauso wie tanzen“, erwiderte Yoandy einfühlsam. „Und alle Kubaner können gut tanzen.“

„Du kommst aus Kuba?“, fragte sie und überlegte, was nena linda bedeuten mochte.

Ricardo lachte in sich hinein. „Ich schätze, sie hat noch nie von dir gehört, Lover Boy.“

Ohne ihn zu beachten, nahm Yoandy ihre Hand, als wolle er sie zu der Übungsmatte auf der anderen Seite des Raums führen. Die Haut seiner Handfläche war staubtrocken, glatt und weich, und sein Griff hatte genau die richtige Mischung aus Kontrolle und Sanftheit. Leicht benommen folgte Candace ihm. Sie war sich nicht ganz sicher, was hier gerade geschah. Ihr Atem ging auf einmal schneller. Sie konzentrierte sich darauf, irgendwo anders hinzusehen als in Yoandys Gesicht oder auf seinen Körper, doch ihr Blick wurde wie durch eine unwiderstehliche Kraft von ihm angezogen.

Als sie die Trance schließlich mit purer Willenskraft brach, sah sie, wie der Regisseur eine Notiz in sein Smartphone eingab. Dann blickte er hoch zu Candace. „Könntet ihr von vorne anfangen, die Szene spielen und direkt in den Kampf einsteigen?“

„Einen Kampf improvisieren?“, fragte sie und machte große Augen.

„Ich habe so etwas auch noch nie gemacht.“

„Aber du bist immerhin ein Tänzer.“

„Man braucht nur Vertrauen.“ Yoandy legte ihr eine Hand auf die Schulter und sah ihr fest in die Augen. „Candace, ich habe gesehen, was du in Downtowners alles gemacht hast. Du bist eine fantastische Schauspielerin, und zwar auch in den Kampfszenen. Du kannst das. Versprochen.“

Candace schüttelte die Anspannung aus ihren Händen. So verwirrend ihre Gefühle für Yoandy auch waren, sie war ein Profi. Sie setzte eine ernste, entschlossene Miene auf. „Lass uns anfangen.“

„Ich gebe euch ein paar Basic-Moves zum Üben“, sagte Lowell. „Wie Yoandy schon gesagt hat, haben wir wirklich großartige Sachen in deiner Rolle gesehen. In deiner Rolle als …“ Er suchte nach dem Namen ihrer Figur in Downtowners.

„Gina“, half Yoandy ihm auf die Sprünge. Er und Candace tauschten ein vielsagendes Lächeln.

„Genau. Zeig uns etwas von Gina, aber mit ein bisschen innerer Reife. Annika ist nicht nur eine hübsche Kämpferin, sie ist auch Wissenschaftlerin. Denk daran, dass die Serie kurz nach der Apokalypse spielt. Vor Kurzem wurde ein Virus in die Wasserversorgung eingespeist, das die Menschen jünger macht. Du bist eine sechsunddreißigjährige Frau, die sich plötzlich wieder im Körper eines Teenagers befindet. Du musst uns einen Hinweis auf deine Lebenserfahrung und dein Fachwissen geben.“

„Versteckte Tiefe.“ Candace nickte. „Verstanden.“

„Mach dir keine Gedanken, weil du eine Frau im mittleren Alter spielst, die wie siebzehn aussieht“, flüsterte Yoandy verschwörerisch. „Der Typ, den ich spiele, ist ungefähr fünfzig.“

„In Ordnung“, sagte der Regisseur. „Lasst uns über die Choreografie sprechen. Yoandy schlägt als Erster zu, einen linken Haken. Sie ducken sich, kommen wieder hoch, treten zu, parieren einen Schlag und lassen sich dann von ihm über seinen Rücken rollen.“

„Ducken, treten, parieren, über den Rücken rollen.“ Candace nickte wieder. „In Ordnung.“ Sie wippte leicht auf den Fußballen. Was zum Teufel ist das hier? Niemand hatte ein Wort darüber verloren, dass der Kampf schon beim Vorsprechen gezeigt werden würde. Niemand hatte sie gewarnt, dass sie beim Vorsprechen auf Ricardo Adams treffen würde, den Star der neuen Serie. Oder dass er auf den Rat seiner Filmstar-Ehefrau hin bereits andere Rollen besetzte. Entweder war ihr Agent völlig inkompetent, oder das Studio stand auf Psycho-Spielchen.

Yoandy lächelte Candace immer noch an. Ein ganz natürliches, sexy Lächeln. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln, als ob sie versuchte, während einer Sonnenfinsternis einen Blick auf die Sonne zu erhaschen. Vermutlich hätte sie es gruselig finden sollen, dass dieser Typ, der vermutlich eine feste Beziehung hatte, sie so offensiv anmachte. Aber irgendwie spürte sie, dass er das gar nicht wirklich tat. Es war einfach nur sein natürlicher Charme, seine ungeschützte Reaktion auf Candace. Oder vielleicht verfügte er über zu viel Charisma, um es zu kontrollieren – trotz der Fesseln, die ihm das, was auch immer er mit dieser Kay am Laufen haben mochte, anlegte.

Kay Alexander. Zwar wusste Candace überhaupt nicht, wer das Mädchen war. Aber sie konnte sie schon jetzt nicht leiden.

PAOLO

Chevy Malibu – Freitag, 5. Juni

Wie sich herausstellte, wartete Meredith mit ihrem nächsten Zug nicht besonders lange.

Der Anruf erreichte Paolo, während er seine Mitbewohnerin Candace zu einem TV-Studio in Culver City fuhr. Sie hatte ihr eigenes Auto an Grace verliehen, deren Team ein Beachvolleyballspiel hatte. Paolo warf nur einen kurzen Blick auf sein Handy, ehe er es wieder in seine Hemdtasche steckte. Es hatte ausgereicht, um zu sehen, wer anrief.

Meredith.

Er wandte sich an Candace. „Fändest du es sehr scheiße, wenn ich dich einfach nur dort absetze? Könnte dich vielleicht jemand anderes nach Hause bringen? Einer der Tennistrainer musste einem Schüler absagen und fragt, ob ich die Stunde übernehmen kann. Aber dann müsste ich dich hängen lassen.“

Candace stöhnte. „Na schön, von mir aus. Aber wenn du mich auf meinem Weg nach oben nicht unterstützt, darfst du auch nicht mit mir auf den roten Teppich.“

„Du ohne Begleitung auf dem roten Teppich?“, erwiderte er. „Wird nie passieren.“

„Hmm“, machte sie nachdenklich. „Der Punkt geht an dich.“ Er fuhr den Wagen auf den Parkplatz des Fernsehstudios. Während Candace den Sicherheitsgurt löste, stöhnte sie. „Hau ab und gib deine Stunde.“ Doch dann lächelte sie. „Ich wette, bei den Freitagabendschülerinnen bist du total beliebt. Danach führst du vielleicht eine von ihnen zu einem Drink aus, habe ich recht? Vielleicht schlagen sie ein Hotel vor?“

Normalerweise hätte Paolo laut aufgelacht. Doch in Candaces Beschuldigung steckte ein kleines bisschen zu viel Wahrheit. Wenn es bei der Anfrage wirklich um eine Tennisstunde gegangen wäre – egal von wem –, hätte er abgesagt. Aber bei Meredith hatte Paolo das Gefühl, dass ein Nein nicht zur Debatte stand. Deshalb sagte er nichts. Candace öffnete die Beifahrertür. Ihr belustigter Gesichtsausdruck war verschwunden. Sie sah leicht besorgt aus.

„Hey, King, alles okay? Du wirkst irgendwie nervös.“

Er zwang sich zu einem Lächeln. „Ich möchte Zeit mit dir verbringen. Aber die Wahrheit ist, dass ich das Geld brauche.“

„Verstanden. Guter Deal.“ Candace entfernte sich vom Auto und winkte zum Abschied. „Komm nicht allzu spät nach Hause, hörst du?“

Paolo war bereits dabei, den Wagen zu wenden. Er schnappte sich sein Handy und stöpselte die Kopfhörer ein. Dann tippte er auf den Touchscreen und rief den letzten eingehenden Anruf auf.

„Hallo, mein Schöner“, erklang die samtige Stimme von Meredith. „Wo bist du? Ich bin in der Stimmung für einen Ausflug.“

„Einen Ausflug? Wohin?“

„Wir haben eine wunderschöne kleine Hütte in den Pinienwäldern oben in Malibu Creek. Mein Mann ist über Nacht weg. Ich würde gern mit dir dorthin fahren.“ Er hörte die Vorfreude in ihrer Stimme. „Oder besser, mich von dir dorthin fahren lassen. Ich hatte ein bisschen zu viel Pinot. Es ist besser, wenn du fährst.“

„Du willst, dass ich über Nacht bleibe?“

„Es ist total sicher, Paolo. Die Hütte liegt mitten im Nirgendwo. Mein Mann ist bis Sonntag in Sacramento. Jetzt hör auf, dich wie ein Baby zu benehmen, und hol mich am Club ab.“

Paolo presste die Lippen zusammen und drückte das Gespräch weg. Er fuhr zurück auf den Venice Boulevard Richtung Norden. Zehn Sekunden später klingelte das Telefon erneut. Er ging dran, ohne aufs Display zu gucken. Was wollte sie denn jetzt noch?

„Was gibt’s?“

„Entschuldigung“, hörte er Lucy am anderen Ende der Leitung und fuhr unwillkürlich zusammen. „Ist wohl kein guter Zeitpunkt.“

„Oh, tut mir leid. Ich sitze nur gerade im Auto. Entschuldige, was ist los?“

Lucy hatte seit Wochen keinen Schritt auf ihn zu gemacht. Sie hatte kaum mit ihm gesprochen. Paolo war derjenige, der sich seit dem Tag vor zwei Wochen, an dem sie fast miteinander geschlafen hatten, um ein gutes Klima bemühte. Sie hatten nicht noch mal über die Sache gesprochen, und solange sie das Thema mieden, kamen sie gut miteinander aus. Paolo fragte sich, warum Lucy ihn jetzt anrief.

„Was denkst du, wann du zu Hause bist?“

„Spät.“

Einen Moment lang sagte Lucy nichts. „Oh. Ich hatte gehofft, wir könnten zusammen rumhängen. Ich … Ich möchte mit dir über etwas sprechen. Oder vielmehr über jemanden.“

Bei ihren Worten sank Paolo tiefer in seinen Sitz, doch er versuchte, seine Überraschung zu verbergen. „Aha, klingt ja geheimnisvoll. Über wen? Kannst du mir das jetzt schon verraten?“

Eine Pause. Dann: „Nee. Das mache ich lieber persönlich. Außerdem …“ Noch ein Zögern. „Ist zwischen uns alles gut, Paolo? Ich meine, seit …“

Seit wir fast irgendwie was miteinander gehabt hätten, dann aber doch nicht? „Natürlich. Wir sind Freunde.“ Paolo wollte um keinen Preis, dass Lucy auch nur eine Ahnung davon bekäme, wie weh ihm ihre Zurückweisung getan hatte. Sie sollte lieber denken, es wäre alles nur unbeschwert und lustig gewesen. „Natürlich mit gewissen Vorzügen, wenn du magst. Ich meine, das Angebot steht immer …“

„Ja, in Ordnung. Ich bin froh, dass zwischen uns alles okay ist“, sagte sie mit brüchiger Stimme. „Nicht, dass ich das Angebot nicht zu schätzen wüsste“, fügte sie mit einem Hauch Sarkasmus hinzu.

„Ich kann kaum erwarten, was du mir erzählen wirst.“

„Du stirbst vor lauter Spannung? Wir sprechen morgen.“

„Ich werde definitiv wegen irgendetwas sterben, so viel steht fest“, sagte er lachend, bevor Lucy auflegte.

Als er auf den Parkplatz fuhr, wartete Meredith auf dem Beifahrersitz ihres silbernen BMW auf ihn und zog sich gerade im Spiegel den Lippenstift nach. Paolo parkte neben ihrem Auto. Schweigend beobachtete er sie. Einen Moment später drehte sie sich zu ihm um, warf ihm einen Luftkuss zu und lächelte. „Steig ein“, sagte sie. „Du fährst.“

Von Weitem sah sie wie eine superattraktive Mutter aus, die nett zu einem Freund ihres Sohnes war. Paolo musste daran denken, wie ihm zum ersten Mal aufgefallen war, dass die erwachsenen Frauen ihn anders ansahen. Das war irgendwann um seinen fünfzehnten Geburtstag gewesen. Eine subtile Veränderung. Nichts, worauf er mit dem Finger hätte zeigen können. Nur etwas Grüblerisches in der Art, wie die Mütter anderer Kids und sogar einige Lehrerinnen ihn musterten.

Paolo stieg aus seinem Auto aus und nahm auf dem Fahrersitz ihres BMW Platz.

Sie küsste ihn auf beide Wangen. „Hallo, Paolo.“

Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sie sich Mühe gab, gut für ihn auszusehen. Sie trug ein schlichtes, puderblaues Kleid aus Seide, das ihre schlanke, sportliche Figur unter einer engen, indigofarbenen Jeansjacke betonte. Ihre blonden Haare waren frisch gewaschen und geföhnt, ihre Augen mit dunkelgrauem Lidschatten geschminkt, was ihr eine wissende, selbstbewusste Ausstrahlung gab.

Als sich ihre Blicke trafen, konnte er schon ihr Verlangen sehen. Gegen seinen Willen spürte er den dumpfen Schmerz seines eigenen Interesses erwachen.

Das ist schräg, dachte er grimmig, ich bin schräg.

Er versuchte, sich abzulenken. „Warum diese Hütte?“

„Hotels sind niemals ganz sicher. In den guten könnte man mich erkennen. Und in den schäbigen sind die Wände zu dünn.“ Mit einem sinnlichen Lächeln auf den Lippen fixierte sie ihn. „Ich würde lieber die Möglichkeit nutzen, ganz und gar hemmungslos zu sein.“

Paolo setzte den Wagen zurück. Mit einem gewissen Unbehagen fragte er sich, wie viel hemmungsloser sie überhaupt noch werden konnte.

Sie fuhren ein Stückchen weiter Richtung Norden auf der Küstenstraße entlang, bevor sie auf die Malibu Canyon Road abbogen. Meredith wählte eine Madonna-Playlist aus, schob ihren Sitz zurück und lehnte sich zu Paolo hinüber. Sie wirkte entspannt, da sie Wein getrunken hatte.

Sie griff nach dem Handschuhfach, wühlte ein paar Sekunden darin herum und lächelte zufrieden, als sie fand, wonach sie gesucht hatte: einen halb gerauchten Joint. Mit dem Zigarettenanzünder steckte sie ihn sich an. Sie atmete tief ein – das Geräusch klang wie ein Seufzen. Paolo warf ihr einen Blick zu. Er fragte sich, ob sie wohl lange genug wach bliebe, um ihm den Weg zu ihrer Hütte zu zeigen.

Die Straße begann, sich durch den Canyon zu winden, und rings um sie herum tauchten Hügel auf. Zur ihrer Rechten floss unterhalb der Straße ein kleiner Bach. Die Dunkelheit brach herein. Die untergehende Sonne tauchte die Hänge der Hügel und Berge in ein tiefes Ockergelb, das einen kräftigen Kontrast zu dem tiefblauen Himmel bildete. Dann und wann passierten sie Kurven mit verwilderten Parkbuchten, in denen gelegentlich Autos standen, die angehalten hatten, damit die Passagiere den Ausblick bestaunen konnten. Anderswo kamen sie an improvisierten Ständen vorbei, die Feuerholz, Erdbeeren und Bonsaibäumchen verkauften.

Zwischen ihnen entstand eine friedliche Stille. Meredith nahm einen letzten Zug von dem Joint, öffnete das Fenster einen Spaltbreit und ließ den Wind fortwehen, was übrig war. Wenige Minuten später sah Paolo wieder zu ihr hinüber. Sie war kurz davor, einzuschlafen. Er streckte die Hand aus, um auf dem Touchscreen die Musikauswahl zu ändern. Für den Bruchteil einer Sekunde nahm er den Blick von der Straße. Das Nächste, was er hörte, war das Dröhnen einer Hupe. Seine Finger gefroren mitten in der Luft. Ein riesiger Truck näherte sich und blendete wild auf. Paolo stellte entsetzt fest, dass er sich halb auf der anderen Spur befand und direkt auf den Gegenverkehr zufuhr. Er riss das Lenkrad herum und konnte dem Truck gerade noch ausweichen.

Der Truck raste mit einem Abstand von nur wenigen Zentimetern links an ihm vorbei. Zitternd wurde Paolo langsamer, fuhr mit einem scharfen Schlenker an den Straßenrand und kam schließlich vollständig zum Stehen. Sein Herz klopfte wie verrückt, und er konnte einen frischen Schweißfilm unter seinen Armen spüren. Allmählich beruhigte sich sein Atem. Er sah zu Meredith hinüber. Sie war wach, hatte die Augen weit aufgerissen und starrte vor sich hin.

„Oh mein Gott …“, murmelte sie und fummelte am Türgriff herum.

Paolo streckte die Hand aus, um sie zurückzuhalten. Sie warf ihm einen ungläubigen Blick zu und schob seine Hand energisch weg. Sie öffnete die Beifahrertür. Meredith wankte dagegen und fiel beinahe auf die Straße.

„Alles gut, komm wieder ins Auto“, versuchte er ihr zu sagen. Doch sie hörte ihn nicht. Stattdessen schwankte sie einen Moment lang, ehe sie sich auf den Weg zur Fahrerseite machte. Sie klopfte mit den Fingerknöcheln gegen die Scheibe und schrie: „Steig aus, du Irrer. Ich fahre. Du hättest uns beinahe umgebracht.“

Paolo hielt die Tür verschlossen. Meredith starrte ihn wütend an.

„Das ist doch Wahnsinn“, sagte er. „Du bist doch total breit. Würdest du jetzt bitte wieder einsteigen?“

Sie straffte die Schultern, und auf ihrem Gesicht spiegelte sich Wut. Langsam stieß Paolo die Fahrertür auf. Er musste sie zurück ins Auto bugsieren. Sie standen keine zwanzig Meter von einer nicht einsehbaren Kurve entfernt. Als seine Tür aufging, wich sie ein Stück auf die Straße zurück.

Ein weißer SUV kam um die Kurve.

Er raste in Meredith hinein, sodass ihr Körper nur so durch die Luft flog. Paolo hörte das Kreischen von Bremsen. Das Geräusch schien mehrere Sekunden zu dauern. Doch das Fahrzeug hielt nicht an. Als er aus dem Auto ausstieg und auf die Straße lief, war der weiße SUV bereits in der Ferne verschwunden. Kaum in der Lage, hinzusehen, drehte sich Paolo zu Meredith um. Wie ein zerknautschtes Häufchen lag sie ein Stück weiter auf der Fahrbahn. Der goldene Braunton ihrer Beine, die unnatürlich über den Straßenrand hingen, bot einen deutlichen Kontrast zu dem grauen Asphalt.

Er eilte an ihre Seite. Ihre Augen waren noch immer geöffnet und starrten leer in den Himmel. Paolo sank auf die Knie. Seine Finger fühlten sich taub an. Entlang seiner Wirbelsäule schienen sich Eiskristalle gebildet zu haben. Er versuchte, ihren Namen zu sagen, doch nicht ein Wort wollte seinen Mund verlassen.

Rings um ihren Kopf sammelte sich Blut wie ein weinfarbener Ölteppich. Paolo blickte nach unten. Er stand unter Schock und zitterte. Die rechte Seite ihres Kopfes war zerschmettert – er konnte das entsetzliche Loch sehen. Er schaffte es nicht, sie zu berühren.

Meredith war tot.

Verzweifelt starrte er auf die Straße. Auf dem Asphalt waren zwei saubere Reifenspuren zu erkennen, schwarze Schlieren, die zu einem leblosen Körper und von ihm weg führten. Ein Hauch von verbranntem Gummi lag in der Luft. Zögernd stand er auf und wich zurück. Allmählich ergriff ihn die Panik. Teile eines abscheulichen Puzzles setzten sich rings um Paolo zusammen. Polizei. Jimmy. Jimmys Vater. Schließlich vielleicht sogar der Betrug, den Paolo zusammen mit Darius abgezogen hatte. Er war davon überzeugt, dass man ihm die Schuld an ihrem Tod in die Schuhe schieben würde, wenn irgendjemand auch nur die kleinste Verbindung zwischen ihm und Meredith herstellte.

Auf einmal traf ihn die gleißende Erkenntnis, dass das Gesetz ihn heute nicht beschützen würde. Wenn er nicht schleunigst von hier verschwand, würde ihn mit Sicherheit eine Welt aus rechtlichen Konsequenzen heimsuchen.

MAYA

Venice Boardwalk – Freitag, 5. Juni

Einen Moment lang musterte Maya den blonden Typen auf ihrer Türschwelle. Er trug eine verwaschene blaue Levi’s und unter einer schäbigen braunen Lederjacke ein mintgrünes Poloshirt, das lässig über den Hosenbund fiel. Er sah besser zurechtgemacht aus als der typische Caltech-Student. Er lächelte zurück, ein überraschtes kleines Grinsen, als hätte er ebenfalls jemand anderen erwartet und würde sich nun über die plötzliche Wende der Ereignisse freuen.

„Ich bin Jack“, sagte er mit einem britischen Akzent und hielt ihr die rechte Hand hin. Mit einem gewissen Selbstbewusstsein fügte er hinzu: „Jack Cato, dein neuer Nachhilfelehrer.“

Sie hatten verabredet, sich im Strandhaus zu treffen, doch nach wenigen Minuten wurde ihr klar, dass das keine gute Idee war. Der offene Wohn- und Essbereich war neben dem Balkon der einzige Gemeinschaftsraum, und es fühlte sich nicht richtig an, einen davon für sich alleine zu beanspruchen. Genauso falsch fühlte es sich an, Jack mit in das Zimmer zu nehmen, das sie sich mit Grace und John-Michael teilte. Stattdessen schlug sie vor, in ein Café in der Nähe zu gehen.

Eine warme Brise empfing Maya und Jack, als sie das Haus verließen. Salz und feiner Sandstaub lagen in der Luft. Sie atmete zufrieden ein. An Tagen wie diesem liebte sie es, in dem Haus zu leben. Wenn sie es doch nur schaffen würde, Ordnung in ihre Schulsituation zu bringen – sie wäre megaglücklich.

Vor zwei Tagen hatte sie einen Anruf von ihrer Klassenlehrerin Mrs. Geary erhalten. Mathe und Chemie waren offensichtlich ein Problem. Ihre Lehrer bezweifelten, dass Maya sich die lange Pause leisten konnte, die die bevorstehenden Sommerferien mit sich brachten. Sie war in beiden Fächern schwach, und Chemie war die einzige Naturwissenschaft, die sie belegt hatte. Physik bedeutete nur noch mehr Mathe, und weil Maya nicht unbedingt darauf stand, Tiere aufzuschneiden, war Biologie keine Alternative.

Geary hatte gefragt: „Denkst du, die Schwierigkeiten, die du mit Mathe und Chemie hast, könnten von deiner Legasthenie herrühren?“

Ach, was Sie nicht sagen! Maya hatte nur lieblich gelächelt. „Gut möglich.“ Oder vielleicht lag es auch daran, dass ihr bei der ganzen Programmiererei einfach nicht genug Zeit zum Lernen blieb. Doch es war wohl besser, das nicht zu erwähnen. Für Schüler mit Legasthenie gab es ein zusätzliches Budget. Nicht aber für Schüler, die ihre gesamte Freizeit mit der Entwicklung von Apps verbrachten.

„Ich habe gehört, du bist eine begabte Computerprogrammiererin?“

Der Kommentar hatte Mayas Alarmglocken schrillen lassen. Abgesehen von Lucy wusste niemand in der Schule, wie viel Freizeit Maya mit dem Programmieren verbrachte.

„Ich nehme an, du möchtest auf ein gutes College gehen? Wenn deine Leistungen etwas besser werden, ist das durchaus möglich.“

Sie erinnerte sich, wie sie darauf reagiert hatte – indem sie konzentriert auf das Muster des gelbblauen Plaids ihres Rockes gestarrt und so getan hatte, als wäre sie tief in Gedanken versunken.

Die Lehrerin hatte nicht locker gelassen. „Google, Facebook, sämtliche Top-Unternehmen aus dem Silicon Valley – sie alle rekrutieren ihre Leute aus den besten Colleges. Es würde nicht schaden, wenn du dich dort ins Spiel bringst. Deine Mathe- und Chemielehrer sind der Meinung, du müsstest nur etwas mehr lernen. Vielleicht in den Sommerferien, mit einem Nachhilfelehrer?“

Das hatte eine blitzschnell abgefeuerte, ungläubige Erwiderung provoziert. „Ich muss in den Sommerferien in die Schule kommen?“

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