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Liebe und all das Theater

Als Buch hier erhältlich:

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Die große Liebe hat immer eine Zugabe verdient!

Die Theaterszene in Brighton steht Kopf: Viktor de Ruiter gibt sein Comeback auf einer der renommiertesten Bühnen in seiner Heimatstadt. Schon bei der ersten Pressekonferenz trifft er auf die Journalistin Hannah, die ihn am liebsten nie wieder begegnen würde, denn die beiden verbindet eine nicht gerade glückliche Vergangenheit. Obwohl es Jahre zurückliegt, hat Hannah nichts vergessen. Und jetzt soll sie die Proben für das Kulturereignis des Jahres begleiten – eigentlich die Karriere-Chance, auf die sie hingefiebert hat. Je mehr Zeit sie mit Viktor verbringt, desto stärker fühlt sie sich wieder zu ihm hingezogen. Ob es für die beiden doch noch ein Happy End gibt?


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Aus der Serie: Chestnut Road
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 288
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365007396

Leseprobe

1
Hannah

»Sag mir noch mal, warum ich das hier tue.«

»Weil du eine ambitionierte Journalistin bist? Und dieses Theaterprojekt das Kulturereignis des Jahres sein wird?«

Ich schnaube, während ich das Handy dichter an mein Ohr presse. Der Verkehr auf der Kings Road ist verrückt heute Morgen, er rauscht an mir vorbei wie eine Riesenwelle. Der prasselnde Regen multipliziert die Geräuschkulisse noch, ich kann Julie kaum verstehen.

»Was hast du gesagt?«, rufe ich über den Lärm hinweg ins Telefon.

»Ich habe gefragt, wo du steckst, ich kann dich kaum hören«, gibt Julie ebenso laut zurück. »Sollte die Pressekonferenz nicht schon um 9 Uhr beginnen?«

»Oh, Mist.« Ich löse das Smartphone von meinem Ohr, um nach der Uhrzeit zu sehen, brülle ein hysterisches »Bye, melde mich später« in Richtung desselben und beende hastig das Gespräch.

Drei nach neun. Ich bin jetzt schon zu spät, dabei liegt das Grand Brighton noch etwa fünf Minuten Fußweg von mir entfernt, und dann muss ich erst mal den Raum finden, in dem die Pressekonferenz abgehalten wird.

Ich hetze über den nassen Asphalt. Meine gelben Wildleder-Stiefeletten färben sich dunkel vom Regen, die Feuchtigkeit kriecht in meine Strumpfhose. Ausgezeichnet, denke ich. Absolut grandios. Bis ich in der Hotelsuite ankomme, werde ich aussehen wie ein Waschbär und hecheln wie ein Collie, die perfekte Voraussetzung also, um Viktor de Ruiter zu begegnen.

Viktor de Ruiter.

Selbst wenn ich den Namen nur denke, zucke ich zusammen, während mein Körper von Adrenalin geflutet wird, welches wiederum einen dringenden Fluchtmechanismus auslöst. Was albern ist. Absolut lächerlich. Ich habe Viktor seit Jahren nicht gesehen. Über das, was war, sollte ich längst hinweg sein. Spätestens in fünf Minuten wäre toll, wenn ich ihm bei dieser vermaledeiten Pressekonferenz zum ersten Mal wieder gegenüberstehen werde.

Fünf nach neun. Sicher ist die Konferenz schon in vollem Gange. Die wichtigsten Fragen sind bereits gestellt worden. Ich werde die Einzige sein, deren Artikel die wesentlichen Fakten vermissen lässt, und das ausgerechnet jetzt, wo Richard, mein Redaktionsleiter, fest damit rechnet, eine exklusive Story von mir zu bekommen. Mindestens eine.

Ich erinnere mich genau, wie er vor einigen Wochen die geplante Produktion von Jane Austens Überredung am Theatre Royal Brighton das erste Mal in der Redaktionskonferenz erwähnte. »Muss aus irgendeinem Grund ne große Sache sein«, hatte er genuschelt, während er einigermaßen gelangweilt durch seine Aufzeichnungen scrollte, denn Richard Keene ist ein Nachrichtenmann, wie jeder anständige Journalist – seiner Meinung nach. Für Kultur hat er wenig übrig. »Ah, da ist es«, erklärte er schließlich, fast schon triumphierend. »George Branston inszeniert das Ganze – kennt den jemand? Und die männliche Hauptrolle spielt ein Viktor de Ruiter. Soll irgendwas mit Brighton am Hut haben. Weiß irgendwer mehr darüber?«

Das war der Augenblick, in dem ich, Hannah Lewis, die Kontrolle über mich selbst verlor, »Was zur Hölle?« ausrief, während ich aufsprang, nur um mich sofort wieder auf meinen Stuhl fallen zu lassen, schwer atmend, mit weit aufgerissenen Augen. Es hatte keinen Sinn, anschließend zu behaupten, der Name Viktor de Ruiter sage mir gar nichts, ich sei lediglich über eine Spinne in Panik geraten, die natürlich niemand finden konnte. Weshalb ich gezwungen war, zuzugeben, dass ja – ich Viktor kannte, und ja, ganz gut, hm-hm, schon seit dem Kindergarten. Dass ich mit ihm geschlafen hatte, nur einmal, in einem anderen Leben quasi, behielt ich für mich.

Natürlich wurde ich dennoch mit der Berichterstattung beauftragt, sehr zu meinem Bedauern und zum Neid einiger Kolleginnen und Kollegen, insbesondere dieser Ex-Praktikanten-Bazille Fred Millan, der für eine gute Geschichte ganz sicher keine Leichen scheut. Ich selbst wäre unter normalen Umständen ebenfalls absolut aus dem Häuschen darüber, über eine Theaterproduktion dieses Kalibers zu schreiben. Initiiert von einem »Oscar«-Regisseur, besetzt mit einem weiblichen Hollywoodstar (was wegen meines kleinen Anfalls in der Themenkonferenz leicht untergegangen war), der ganz sicher über die Grenzen unseres beschaulichen Städtchens hinaus für Furore sorgen wird. Aber die Umstände waren nun mal nicht normal. Nichts, was Viktor de Ruiter betraf, würde je normal für mich sein.

Ich biege in das Halbrondell ein, in dessen Mitte der Hoteleingang liegt, doch anstatt hineinzusprinten, was ich definitiv tun sollte, bleibe ich stehen.

Mist.

Mist, Mist, Mist.

Mein Herz rast, und das hat nichts damit zu tun, dass ich die vergangenen fünf Minuten gelaufen bin.

Ich kann das nicht.

Ich denke ehrlich nicht, dass ich das kann.

Hätte ich Viktor wiedersehen wollen, hätte ich es bestimmt in den vergangenen neun Jahren schon einmal getan.

Habe ich aber nicht.

Da ich mein Telefon ohnehin noch in der Hand halte, rufe ich Julies Kontakt auf. Sie nimmt das Gespräch an, noch bevor ich das Handy am Ohr habe.

»Du kannst das«, sagt sie, »geh jetzt in dieses verdammte Hotel, Hannah.«

»Woher … egal. Julie, ich glaube wirklich nicht, dass ich …«

»Erinnerst du dich an deine eigenen Worte?«, unterbricht sie mich streng.

Ich klappe den Mund zu. Öffne ihn wieder. »Über welche Worte genau sprechen wir hier? Ich meine, ich bin nicht gerade dafür bekannt …«

»Die über den kleinen, erfolglosen Schauspieler ohne jegliche Begabung oder Perspektive, mit dem du zufällig geschlafen hast, was nichts weiter zu bedeuten hatte? Woran du dich kaum erinnern kannst, er hat es sicher längst vergessen? Weshalb du deinen professionellen Journalistinnenhut aufsetzen wolltest, um mit der Situation umzugehen, wie Profis es eben tun? Professionell?«

»Richtig.« Ich nicke. Es fühlt sich beinah enthusiastisch an. »Genau.«

Julie lacht mir ins Ohr. »Okay, ernsthaft, Hannah. Ihr seid beide erwachsen. Vielleicht wird es nett, wenn ihr euch wiederseht. Vielleicht könnt ihr sogar anknüpfen an …«

»Okay. Julie? Ich muss jetzt wirklich los. Danke. Ehrlich, danke, dass du dich ständig von mir nerven lässt. Du bist die beste und geduldigste Freundin …«

»Beeil dich, Hannah.«

»Okay.«

Wir verabschieden uns voneinander, und noch bevor wir das Gespräch beendet haben, fällt mir wieder ein, weshalb es niemals nett sein kann zwischen mir und Viktor de Ruiter, weshalb wir niemals dort anknüpfen können, wo wir vor neun Jahren aufgehört haben.

Weil er mir so, so wehgetan hat. Mehr als jeder andere Mensch davor oder danach.

2
Viktor

»Erklär mir noch mal, weshalb ich das hier tue.«

»Weil du genug hast von Sonntagabend-Schmonzetten? Weil du es als Schauspieler endlich wissen willst? Weil dich George-freaking-Branston höchstpersönlich angerufen hat, um dir die Rolle in seiner Theater-Schmonzette anzubieten? Warte mal – von einer Schmonzette in die nächste? Wenn du mich so fragst, de Ruiter, habe ich keine Ahnung, weshalb du das hier tust.«

Ich schnaube, während ich das Smartphone ans andere Ohr halte, um mir mit der rechten Hand den steifen Nacken zu massieren. Leider gehöre ich zu den Menschen, die Druck sehr körperlich spüren, gerne im Nacken, wahlweise in der Magengegend. Im Augenblick ist es beides. Ich fühle mich, als säße ein Sumoringer auf meinen Schultern, während zur gleichen Zeit meine Innereien Karussell fahren. Als Schauspieler bin ich es gewöhnt, in der Öffentlichkeit zu stehen, es gehört zum Job. Es mag nicht der beste Teil davon sein, aber er ist zu überwinden. Was mich hier, in Brighton, erwartet, ist eine ganz andere Nummer. Das, was hier vor mir liegt, ist neu und aufregend und gleichzeitig das Angsteinflößendste, das ich je getan habe.

»Okay, Vik, ich muss los. Du machst das schon, ja?«

»Klar.« Ich nicke. »Danke für deine aufmunternden Worte.«

Diesmal ist Matt derjenige, der schnaubt. »Ich weiß ganz genau, dass dir gerade sowieso nichts weiterhilft, egal, was ich sage. Du bist ein brillanter Schauspieler, weshalb du auch durch diese Pressekonferenz kommen wirst. Stell dir einfach vor, sie sei Teil des Stücks.«

»Das macht es nicht gerade leichter.«

»Was auch immer sie dir entgegenschleudern, du wickelst sie mit links um deinen kleinen Finger, wie du es immer tust. Ich kenne keinen anderen Schauspieler, der seine Mitmenschen quasi killen kann mit seinem Charme.«

»Ja, genau«, spotte ich. »Neben all dem anderen Unsinn, der in diesem Satz steckt, kennst du ja auch wahnsinnig viele Schauspieler, richtig?« Matt ist Mathelehrer an einem Londoner College. Als wir uns kennenlernten, kurz, nachdem ich von Brighton in die Hauptstadt zog, hatte er keine Ahnung, wer ich war – was sich ziemlich positiv auf unsere Freundschaft auswirkte, elementar sogar. Der gehypte Kinderstar und der einsame Nerd, der seine Zeit lieber über einem Programmierbuch als vor dem Fernseher verbrachte. Zwei Außenseiter, die Freunde wurden, aus der puren Notwendigkeit heraus, und es bis heute geblieben sind. Weshalb er weiß, wie sich die bevorstehende Pressekonferenz auf meinen Gemütszustand auswirkt. Er weiß das besser als jeder andere, weil er der einzige Mensch ist, dem ich nichts vorzumachen brauche, niemals.

»Danke für deinen Anruf«, sage ich schließlich. »Ich weiß, dass du es gut meinst.«

»Immer. Wie deine Mutter.« Matt lacht hysterisch, und ich verdrehe die Augen. Wenn es nicht so bitter wäre, würde ich womöglich mitlachen.

»Bye, Matt.«

»Bye, Superstar. Melde dich, ok?«

»Klar.«

Ich warte, bis er die Verbindung beendet, dann lasse ich das Telefon sinken und starre nach draußen. Von hier oben hat man einen großartigen Blick auf den Brighton Beach mit seinen Strandcafés und Sportplätzen, die gerade durchnässt und verlassen daliegen, genauso wie der West Pier, dessen Gerippe sich schwarz gegen das kaum hellere Meer abhebt. Ein Scheißtag in jeder Hinsicht, denke ich, nur um mich in der nächsten Sekunde für meine Undankbarkeit zu schämen. Ich bin ein kleiner britischer Schauspieler, der einmal ein Kinderstar gewesen ist und dann zum Schnulzen-Toni mutierte, bevor ein echt toller Regisseur auf die Idee kam, ihn als Love Interest in einem Jane-Austen-Stück für die Bühne zu casten. Warum auch immer. Ich sollte froh und glücklich darüber sein. Absolut. Das sollte ich.

Und tatsächlich bin ich dabei, in meinem Kopf positive Gedanken zu formulieren, als das Telefon in meiner Hand vibriert und alles wieder zunichtemacht, so treffsicher, wie es nur die Nachrichten meiner Mutter vermögen.

VALERIE DE RUITER: Gleich neun. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe.

Womit sich zu meinem allgemeinen Unwohlsein auch noch Ärger hinzumischt. Ich sollte es dabei belassen. Ihr gar nicht mehr antworten. Wir haben vor einer halben Stunde telefoniert, sie hat gesagt, was sie zu sagen hatte, irgendwann muss es auch mal gut sein. Aber das ist es ja nie. Für Valerie de Ruiter ist nichts gut genug. Erst recht nicht das, was ich tue.

VALERIE DE RUITER: Hörst du, Viktor? Es ist extrem wichtig, wie du heute auf diesem Podium wirkst. Du bist ein Star. George Branston hat dich auserwählt, in der ersten Theaterproduktion seiner Karriere die männliche Hauptrolle zu übernehmen. Niemand darf das infrage stellen, in dem er dich infrage stellt. Verstehst du? Erst recht nicht diese Kultur verachtenden Kretins in dieser unwichtigen Kleinstadt.

»Mr. de Ruiter, sind Sie so weit?«

Ich hebe den Blick von meinem Handy zu einer der Pressedamen, die die Betreuung des Stücks übernommen haben.

»Wir würden jetzt anfangen«, fügt sie hinzu, und ich nicke, während ich das Telefon in die Innentasche meines Jacketts gleiten lasse. »Mein Name ist Joana Hendricks. Ich leite die Konferenz.«

»Viktor. De Ruiter.« Ich versuche ein Lächeln. Sie lächelt ebenfalls. Es sieht um einiges echter aus, als meines sich anfühlt.

Ich straffe die Schultern. Tief durchatmen. Du schaffst das, de Ruiter!

Noch einmal vibriert das Handy an meiner Brust, doch um Punkt neun hört es auf. Meine Mutter mag vom Ehrgeiz zerfressen sein, aber sie ist alles andere als dumm.

Das Wesentliche, das meine Mutter mir gleich nach dem Aufstehen mitzuteilen hatte, war, dass dieser Termin heute Morgen meine Karriere in eine völlig neue und spektakuläre Richtung lenken könnte und ich das tunlichst nicht zu vermasseln habe. Wenn es um meine schauspielerische Laufbahn geht, ist sie so zielstrebig wie ein Biber beim Bau eines Damms. Weil sie für mich ihre eigene Karriere aufgeben musste, wie sie nicht müde wird, zu betonen. Und weil sie möchte, dass ich all das bekomme, von dem sie immer geträumt hat. Dass ihre Träume eventuell nicht meine sein könnten, spielt dabei überhaupt keine Rolle.

Und doch sehe ich es ein, das tue ich wirklich. Die Schauspielschule hatte gerade begonnen, als sie schwanger wurde, die Beziehung zu meinem Vater stürzte sie von einer Depression in die nächste. Bis sie sich getrennt und all ihre Sinne wieder unter Kontrolle hatte, war ich sechs und durch Zufall in einen Werbefilm für Toilettenpapier geraten, für den meine Mutter sich eigentlich hatte casten lassen wollen. Bis heute weiß ich nicht, was ihr damals durch den Kopf ging, als sich ihr eigener Sohn praktisch dazu aufschwang, ihr Konkurrenz zu machen. Vielleicht dachte sie, wenn es so einfach war, Rollen für mich an Land zu ziehen, sollte sie sich womöglich darauf konzentrieren, statt von einem Vorsprechen zum nächsten zu hetzen, ohne wirklich je Erfolg damit zu haben. Sie hielt es mir jedenfalls nie vor, nicht mit einem einzigen Wort. Aber sie legte seither all ihre Energie, mit der sie zuvor erst meinen Vater vertrieben und dann ihre Karriere verfolgt hatte, in die Entwicklung meiner.

Ich erspielte mir die Hauptrolle in einer Verfilmung von »Oliver Twist« im Weihnachtsprogramm der BBC, weshalb ich mit zwölf quasi über Nacht landesweit bekannt wurde und im Rückblick ein gefeierter Kinderstar. Und im Gegensatz zu einigen anderen jugendlichen Überfliegern landete ich hinterher nicht einmal in Therapie oder, noch schlimmer, in irgendeinem zwielichtigen Hinterhof, um mir weiß der Himmel was einzuschmeißen. Ich blieb beim Fernsehen, auch wenn mit den niedlichen Pausbäckchen auch die herausstechenden Rollenangebote verschwanden. Ich liebe, was ich tue, ob ich den stürmischen Liebhaber oder den schmachtenden Nebenbuhler gebe. Und ja, mein Portfolio beherbergt nicht gerade die Charakterrollen der Branche, aber was soll’s? Ich bin noch keine dreißig, was nicht ist, kann noch kommen, und diese Chance hier, sie ist das Beste, das mir seit Jahren passiert ist. Weshalb meine Mutter richtig liegt, egal welche Motive hinter ihren nicht allzu subtilen Anweisungen stecken. Teil dieses Stücks zu sein, an der Seite eines Hollywoodstars, unter der Regie einer angehenden Filmlegende, ist meine Chance auf einen echten Karrieresprung. Vielleicht die beste und einzige Chance, die ich je bekommen werde.

Joana führt mich in einen bestuhlten Saal, dessen Breitseite ein Podium füllt, mit einem langen Tisch und einer Handvoll Stühle davor.

Ich straffe die Schultern. Schüttle George Branston die Hand, bevor ich Betty Lane, »Golden Globe«-Gewinnerin und hollywoodgestählte Partnerin in diesem Stück, auf ihre blassen Wangen küsse.

So lasset die Spiele beginnen.

»Mr. de Ruiter, wie überrascht waren Sie, als George Branston Ihnen die Hauptrolle in Überredung anbot?«

»Und Mr. Branston, wie sind Sie ausgerechnet auf Mr. de Ruiter gekommen? Wäre es nicht naheliegender gewesen, jemanden zu casten, der bereits Erfahrungen mit Charakterrollen gesammelt hat?«

Ich stecke die unterschwellige Beleidigung weg wie ein Champ, setze ein gespieltes Lächeln auf und will gerade antworten, als mein Regisseur mir zuvorkommt.

»Was denken Sie denn, wen Mr. de Ruiter in den vergangenen Jahren dargestellt hat, wenn nicht Charaktere?«, fragt er, und die Gruppe von Journalisten bricht in wohlwollendes Gelächter aus. George Branston ist bekannt für seinen jungenhaften Charme und seinen Humor und dafür, keine Lebenden am Set zu hinterlassen, wenn etwas nicht so läuft, wie er es sich vorstellt. »Viktor hat bewiesen, dass er insbesondere emotionale Tiefe auf die Leinwand bringen kann, und wenn ihm das dort gelingt, will ich gar nicht wissen, wie eindringlich er erst das Theaterpublikum treffen wird.«

Von der Seite werfe ich ihm einen dankbaren Blick zu, und er grinst mich an. »Abgesehen davon, dass ich unbedingt einen Einheimischen auf der Bühne haben wollte, mindestens einen. Lokalkolorit, Sie wissen schon.«

Richtig. Mein Lächeln gefriert um eine Nuance. Vermutlich hatte er unter den Schauspielern um die dreißig, die aus Brighton stammen, keine wirklich große Auswahl.

»Und wie fühlen Sie sich, Mr. de Ruiter, nach all den Jahren wieder in Ihrer Heimatstadt?«

»Nun …« Seltsam. Sentimental. Traurig, aus nicht ganz einleuchtenden Gründen. »Ich bin gerade erst angekommen.«

Ausweichen, lächeln, umlenken. Nicht zu privat werden. Ihnen nichts geben, was sie in irgendeiner Form gegen dich und deine Professionalität verwenden können.

»Es scheint sich nicht sonderlich viel verändert zu haben, so auf den ersten Blick«, füge ich hinzu.

Innerlich stöhne ich auf. Eloquent, de Ruiter, richtig gut. Ich lasse den Blick über die fünfzig bis sechzig Reporter gleiten, bevor ich nach meiner Wasserflasche greife und mir einzuschenken beginne. Fürchte ich die Presse? Nicht wirklich. Komme ich sehr gut ohne sie klar? Absolut.

Die Tür zum Konferenzraum öffnet sich und fällt mit einem lauten Rumms zurück ins Schloss. Ich sehe gerade noch, wie sich eine verhuschte Gestalt auf einen der hinteren Plätze fallen lässt, bevor mich die nächste Frage trifft, und die danach. Und dann noch eine.

Ich setze mich ein Stück aufrechter hin. Wappne mich, um im Kreuzfeuer zu bestehen. Kehre den Viktor heraus, an dem alles abprallt, das nicht an ihm haften bleiben soll.

3
Hannah

Ich höre ihn, bevor ich ihn sehe, bevor ich es gewagt habe, aufzublicken.

»Wie lange sind Sie nicht mehr hier gewesen?«, ruft eine Kollegin in den Raum, und Viktor-mein-persönlicher-Albtraum-de-Ruiter erwidert: »Seit beinah zehn Jahren nicht.«

Ein Schauer bebt durch meinen Körper. Gott, diese Stimme!

Es ist nicht so, dass ich sie über die Zeit hätte vergessen können, dafür ist Viktors Fernsehpräsenz unglücklicherweise zu groß, und ich bin offenbar zu schwach, um nicht einzuschalten. Doch ihr hier ausgesetzt zu sein, auf diesem relativ kleinen Raum, verstärkt durch Mikrofone, ist, als würde sie direkt durch mich hindurchschießen, auf ihrem Weg sämtliche meiner Eingeweide streifen, um sich dann mit voller Wucht in meinen Magen zu graben. Ich höre sie meinen Namen flüstern, dicht an meinem Ohr.

Hannah. Gott, Hannah, Hannah.

Ich schüttle den Kopf und die Erinnerungen ab. Ja, Viktors Stimme ist ganz okay, denke ich trocken. Er sollte Hörbücher einsprechen und nichts anderes tun, dann müsste ich wenigstens sein hübsches Gesicht nicht mehr sehen. Ganz abgesehen davon sind es neun Jahre, denke ich, er war seit neun Jahren nicht mehr hier. Aber klar. Wer wird schon mitzählen, stimmt’s?

»Neun, um genau zu sein«, fügt er hinzu, und ganz kurz nur bleibt mir das Herz stehen. Und weil ich ohnehin schon gegen Schwindel und alle möglichen seltsamen Turbulenzen in meinem Inneren ankämpfe, die seine bloße Anwesenheit in mir hervorrufen, wage ich einen Blick zwischen den Schultern vor mir hindurch in Richtung Podium. Fünf Menschen sitzen dort oben, drei davon erkenne ich: Betty Lane, eine preisgekrönte Charakterdarstellerin, nicht schön im Hollywoodsinn, eher markant, mit einer unwirklichen Ausstrahlung, selbst hier, in dem kalten Neonlicht des Konferenzraums. Sie ist kaum geschminkt, doch ihre großen, dunklen Augen stechen auch so mühelos aus ihrem schmalen Gesicht hervor. Ihre Haare sind kurz und schwarz, ihre Stimme rauchig wie die eines Kerls.

Auf Bettys linker Seite sitzt George Branston, ebenfalls mit dem »Golden Globe« und dazu mit dem »Oscar« dekoriert. Er ist klein und breitschultrig, mit wirrem grauen Haar und nicht gerade bekannt für seine romantischen Werke. Auch nicht dafür, am Theater zu inszenieren, weshalb er mit seinem Plan, sich Jane Austens Überredung als Bühnenstück anzunehmen, in der Branche für einigen Wirbel sorgte. Die Entscheidung, damit nicht an eines der renommierten Theater nach London zu gehen, sondern an ein weitaus kleineres in Brighton, tat ihr Übriges, um das Projekt in aller Munde zu bringen. Es mutete an wie ein Affront, den Branston bisher bei jeder Gelegenheit weglächelte, aber ich bin mir sicher, irgendjemand in der Hauptstadt muss ihn gründlich verärgert haben, anders ist die ganze Sache hier nicht zu erklären.

Mist. Die Frage nach dem »Warum« wurde sicher schon gestellt. Richard wird mich umbringen, wenn die Hälfte des Inhalts dieser Konferenz in meinem Text fehlt.

»Mr. Branston, Sie arbeiten mit rein britischer Besetzung. War es Ihnen wichtig, hier eine Art Statement zu setzen?«

Was für eine Frage, denke ich, die Antwort versteht sich ja wohl von selbst. Weshalb ich sie ausblende, tief einatme und zum ersten Mal meinen Blick voll und ganz auf Viktor lenke. Und mir sofort wünsche, ich hätte es nicht getan.

Die Sache zwischen Viktor de Ruiter und mir, sie ist kompliziert und einfach zugleich. Kompliziert, weil wir Jahre brauchten, um da zu landen, wo es endete. Und einfach, weil besagtes Ende so klinisch rein durchgeführt wurde, dass es keine Wunden hinterließ. Zumindest keine sichtbaren.

Wir kannten uns bereits im Kindergarten. Viktor war ein schüchterner, eher sanfter Junge, und ich war … immer schon ich, nehme ich an. Unbedarft, ein bisschen wild und aus mir unerklärlichen Gründen darauf bedacht, mich mit unverdrossener Zuversicht der Schwächeren anzunehmen. Viktor war nicht schwach, aber er war auch nicht sonderlich integriert, was ich bei jeder Gelegenheit zu ändern versuchte. Das Fundament unserer Freundschaft begründete auf meiner puren Aufdringlichkeit, aber es hielt. Wir wurden gemeinsam eingeschult, wir besuchten dieselbe Klasse. Mein fünfjähriges Ich hätte sich ein Leben niemals ohne Viktor vorstellen können, wurde aber ziemlich schnell darin belehrt, dass ihm gar nichts anderes übrig blieb.

Ich weiß nicht genau, was exakt im Hause de Ruiter passierte, doch mit einem Mal war Viktors Vater ausgezogen, und kurz darauf begann seine Mutter, ihn von einem Kindercasting zum nächsten zu schleppen. Viktors Fehlzeiten nahmen zu, für die Dreharbeiten zu »Oliver Twist« wurde er privat unterrichtet. Da waren wir zwölf. Und immer noch Freunde. Doch dann kam Viktor an die Schule zurück, und alles war mit einem Mal anders.

Im Nachhinein denke ich, wer so jung so großen Erfolg hat, muss sich zwangsläufig verändern, es geht gar nicht anders. In Viktors Fall geschah es schnell und gründlich. In einem Moment war er noch der liebenswerte, schüchterne Junge, den ich schon mein ganzes Leben lang kannte. Im nächsten der Typ, der sich auf der Straße von Fremden ansprechen ließ und Autogramme verteilte, sich von seinen Freunden jedoch immer mehr distanzierte. Ein Jahr später, als er mit seiner Mutter von Brighton nach London zog, weil sie dort bessere Karrierechancen für ihren Sohn sah, waren wir uns längst nicht mehr nah.

Ich hatte nicht gewusst, dass ich in Viktor verliebt war, bis ich in einer Sommernacht fünf Jahre später das erste Mal in seinen Armen lag.

»Haben Sie heute noch darunter zu leiden, dass Sie ein Kinderstar waren?«

»Wer sagt, dass ich je darunter gelitten habe?«

»Trifft es Sie, dass Sie als Erwachsener nie an den Erfolg Ihrer frühen Karriere anknüpfen konnten?«

»Ich bin mit meiner Karriere durchaus zufrieden.«

»Wie hoch schätzen Sie den Sprung von Ihren jüngsten TV-Filmen auf die Bühne ein? Niveautechnisch gesprochen?«

»Niveautechnisch gesprochen?«

Ich konzentriere mich auf den Schlagabtausch zwischen Viktor und den Journalisten, versuche, alles zu notieren und nur so selten wie möglich aufzublicken. Er sieht älter aus als damals, aber trotzdem noch wie der Junge von nebenan, und er wirkt selbstsicherer denn je. Ich habe keine Ahnung mehr, wer Viktor de Ruiter ist, schießt mir durch den Kopf. Und trotzdem habe ich mehr als eine Ahnung davon, wie es sich anfühlt, von ihm im Arm gehalten, von ihm geküsst zu werden.

Und da wären wir wieder.

»Was setzt Sie am meisten unter Druck, Mr. de Ruiter?«

»Wie kommen Sie darauf, dass ich unter Druck stehe?«

»Sie sehen nicht gerade entspannt aus.«

»Und Sie sehen nicht so aus, als würde es Sie etwas angehen, ob ich entspannt bin oder nicht.«

Er sagt es mit einem Lächeln, das Granit schneiden könnte, und Himmel, haben die sich auf ihn eingeschossen. Was mich auf der einen Seite nicht verwundert, immerhin ist Viktor aus Brighton, wir sind hier in Brighton, und dennoch. George Branston, Betty Lane – sie sind über unsere Landesgrenzen hinaus von Interesse, was sich unschwer an dem großen internationalen Presseaufgebot erkennen lässt. Wieder fällt mir ein, dass ich mich verspätet und womöglich schon einige Fragen verpasst habe, doch so gelangweilt, wie dieser Weltklasse-Regisseur gerade auf dem Podium sitzt, scheint er schon länger nicht mehr ins Gespräch einbezogen worden zu sein.

Ich würde es ja tun. Allerdings möchte ich lieber nicht die Aufmerksamkeit auf mich lenken.

»Miss Lane, Sie haben sich in den vergangenen Jahren hauptsächlich durch die Verkörperung starker, unabhängiger Frauenrollen einen Namen gemacht. Was hat Sie dazu bewogen, das Angebot anzunehmen, hier als doch eher zahme Anne Elliot auf der Bühne zu stehen?«

Na, also. Ich notiere die Frage in groben Zügen, doch leider die Antwort nicht mehr. Ein versehentlicher Blick in Viktors Richtung genügt, um alles um mich herum auszublenden. Gott, diese Überheblichkeit! Dieses Lächeln! Es macht mich zu gleichem Maße wahnsinnig, wie es mich wütend macht, und das am meisten auf mich selbst. Nach all den Jahren müsste es verdammt noch mal möglich sein, seinen Hormonhaushalt so weit im Griff zu haben, dass der Verstand die Oberhand gewinnt, damit man zumindest seinen Job machen kann. Dieser Mann ist nicht mehr der Junge, mit dem du im Kindergarten Händchen gehalten hast. Er ist nicht der Freund, der mit dir für Schulaufgaben gelernt und dich als Erste in seine Mannschaft gewählt hat. Er ist nicht einmal mehr der Kerl, der dich, nachdem ihr euch fünf Jahre nicht gesehen hattet, dazu überredete, eine Party sausen zu lassen, um die Nacht mit ihm zu verbringen. Eine einzige, traumhafte, grauenvolle, ewig präsente Nacht.

Das hier ist Viktor de Ruiter, Schauspieler, Charmeur, Herzensbrecher. Er ist derjenige, der dein Herz gebrochen hat, Hannah Lewis, wieso nur vergisst du das dauernd?

Ich riskiere einen weiteren Blick, und nun ist es so weit, in diesem Moment macht mich Viktors unverschämt selbstgefälliges Grinsen einfach nur rasend. Seine Antworten, so von oben herab. Es ist nicht fair, dass er hier aus dem Nichts auftaucht, Erinnerungen weckt und mich aus der Bahn wirft, die ich seit Jahren in aller Ruhe und ohne großartige Turbulenzen befahre. Es ist nicht fair, dass ich hier unten sitze und darüber schreiben soll, wie wundervoll talentiert er ist. Es ist nicht fair, wie er der armen Journalistin vier Reihen weiter erklärt, er sei nicht gekommen, um Fragen zu seiner Karriere als Kinderstar zu beantworten, der er immerhin schon länger entwachsen sei, als sie ihren Job ausübe.

Weshalb ich spontan aufspringe, wider besseren Wissens, und rufe: »Und wir sind nicht hier, um uns Fragen in den Block diktieren zu lassen!«

Und Viktor, ohne auch nur Luft zu holen, zurückschmettert: »Das wäre ja auch überhaupt nicht nötig, wenn Ihre Fragen nur ein kleines bisschen interessanter wären.«

4
Viktor

Zum ersten Mal an diesem Morgen könnte man eine Stecknadel fallen hören, so ruhig ist es in dem Saal, dann kracht zum zweiten Mal die Tür mit einem lauten Rumms ins Schloss und Hannah ist verschwunden.

Hannah. Hannah Lewis.

Gott, das war … Hannah.

»Wenn sich die Gemüter jetzt wieder beruhigen würden.« Neben mir klopft Joana mit dem Finger an ihr Mikrofon, während in der Reportermenge vor uns Gemurmel laut wird und ich einen leichten Stoß gegen mein Schienbein spüre. Die Pressereferentin wirft mir einen auffordernden Blick zu.

»Natürlich.« Ich räuspere mich, und dann fange ich mich wieder, immerhin hat Branston die Rolle nicht umsonst mir gegeben. »Entschuldigen Sie. Das war nicht ernst gemeint. Machen wir bei der letzten Frage weiter. Nein, meine Bühnenerfahrung ist noch nicht sonderlich ausgeprägt, aber ich habe keinen Zweifel daran, dass das Zusammenspiel mit …« Bla, bla, bla. Bla. Mental verlasse ich meinen Körper, während ich Antwort um Antwort formuliere, in Gedanken ganz woanders.

Der Rest der PK zieht sich wie Kaugummi, und auch dann dauert es noch ewig, bis ich mich aus den Fängen der Journalisten befreit habe. Hannah. Das ist alles, woran ich denken kann, seit die junge Frau mit dem blonden Pferdeschwanz und dem knallroten Regenmantel aus dem Saal stürmte, als sei dies der letzte Ort, an dem man sein sollte, und ich der letzte Mensch, dem man begegnen will. Das war Hannah!

Es ist sicher nicht das erste Mal, dass mir ihr Name durch den Kopf geistert, seit ich gestern Abend in Brighton angekommen bin. Ganz sicher nicht. Hannah ist der Inbegriff von allem, was ich hier zurückgelassen habe, sie ist das personifizierte Brighton sozusagen, und eine Erinnerung, die man niemals abschütteln kann.

Und sie ist hier. Jedenfalls war sie das. In diesem Hotel, in diesem Raum. Mit mir.

»Entschuldigen Sie mich«, falle ich dem Journalisten ins Wort, der nach wie vor hartnäckig auf mich einredet, dann jogge ich in Richtung Tür. Natürlich ist Hannah nicht mehr auf dem Gang, und auch als ich zu den Fahrstühlen laufe, sehe ich sie nirgends. Selbstverständlich nicht. Sie hat wohl kaum hier draußen auf mich gewartet. Trotzdem ist das Gefühl der Enttäuschung geradezu niederschmetternd und trifft mich völlig unvorbereitet. Bis gestern habe ich kaum mehr an Hannah gedacht, zumindest habe ich versucht, es nicht zu tun. Um ehrlich zu sein, habe ich Jahre gebraucht, nicht mehr andauernd an sie zu denken, und dennoch bedarf es offenbar nur einer flüchtigen Begegnung, um all meine Bemühungen zunichtezumachen.

Hannah war hier. Und das Erste, das sie von mir sieht, ist die überheblichste, hässlichste Version von mir; die Maske, die ich in der Öffentlichkeit aufsetze immer dann, wenn ich denke, mich schützen zu müssen.

Shit.

»Viktor? Ist alles in Ordnung? Brauchen Sie etwas?« Joana ist ein paar Schritte hinter mir stehen geblieben, während ich vor den Fahrstühlen auf und ab laufe, die Hände im Nacken verschränkt.

»Wie?« Ich bleibe ebenfalls stehen. »Oh, ich … ja! Ja, tatsächlich, ich könnte Ihre Hilfe gebrauchen. Sie wissen noch, die Journalistin, die wegen meiner … die eben einfach … Bei der ich mich dringend entschuldigen sollte?«

Joana runzelt die Stirn.

»Hannah. Ihr Name ist Hannah Lewis.«

»Hannah Lewis.« Einen Augenblick noch sieht die Pressereferentin mich prüfend an, dann greift sie in ihrer Aktentasche nach einem Schnellhefter. »Lewis«, murmelt sie, während sie die Seiten überfliegt. Nicht schnell genug, wie ich finde, am liebsten würde ich ihr die Liste aus der Hand reißen.

»Da haben wir’s: Hannah Lewis, Reporterin beim Argus. Das ist nicht gerade die Times.« Ihr missbilligender Tonfall weckt sofort das Gefühl in mir, Hannah verteidigen zu müssen. »Und ich denke nicht, dass Sie sich bei ihr entschuldigen sollten. Es sah aus, als hätte sie ein bisschen überreagiert.«

Ich ignoriere den Einwand und erkläre stattdessen: »Der Angus ist eine ziemlich wichtige Lokalzeitung hier in Brighton.« Und ich hatte keine Ahnung, dass Hannah dort arbeitet. Aber was weiß ich schon von Hannah Lewis? »Steht eine Telefonnummer dabei? Kann ich sie haben?«

»Sicher, aber ich könnte auch noch mal einen Interviewtermin für Sie vereinbaren, wenn Sie das möchten. Wenn Sie da die Gelegenheit nutzen wollen …«

»Danke, nein. Es ist …« Privat. »Ich werde selbst anrufen, vielen Dank.« Ich ziehe mein Handy aus der Sakkotasche, ignoriere die Nachrichten meiner Mutter und rufe meine Kontakte auf. Joana diktiert mir die Nummer, die Miene stoisch. Erst jetzt fällt mir auf, wie das hier womöglich aussehen muss.

»Ich kenne Hannah von früher«, erkläre ich schnell. »Wir sind zusammen zur Schule gegangen.« Ich schüttle den Kopf, wie um die Erinnerungen an damals in die richtige Reihenfolge zu bringen. »In den Kindergarten eigentlich auch schon.«

»Ach, wirklich?« Jetzt breitet sich ein ehrliches Lächeln auf Joanas Gesicht aus, ehrlich und erleichtert, irgendwie. »Ich wusste gar nicht, dass Sie aus Brighton sind, bis ich mich auf diese PK hier vorbereitet habe. Bislang war immer nur von London die Rede.«

»Ja …« Ich räuspere mich. Was soll ich dazu sagen? Dass meiner Mutter viel daran gelegen war, genau diesen Eindruck zu erwecken, weil London einfach besser klingt als Brighton? Cooler, erfahrener? »Ich lebe schon lange in London. Mehr als die Hälfte meines Lebens.«

»Ah, natürlich, deshalb.« Sie lacht.

Ich bin dafür zu angespannt. »Ich werde mal eben …«, beginne ich und halte mein Telefon hoch.

»Ja, sicher. Wir sehen uns später noch.«

Ich gehe ein Stück den Gang entlang und finde eine Nische, in der zwei Sessel stehen und ein niedriger Tisch dazwischen. Die bodentiefen Fenster gewähren beinah eins zu eins die Aussicht, die ich heute Morgen schon einmal in mich aufgesogen habe: Brighton Beach, West Pier, Kings Road, grauer Himmel, nur deutlich heller jetzt, der Regen hat offenbar nachgelassen.

Einige Sekunden lang starre ich auf mein Handy, bevor ich das Display aufwecke, Hannahs Kontakt aufrufe und die Verbindung herstelle. Ich halte mir das Telefon ans Ohr. Mein Herz schlägt etwa fünfmal so schnell wie das Freizeichen, bevor Hannahs Stimme ertönt.

Hi, Hannah hier. Jetzt bist du dran. Bye.

Ich presse das Smartphone an mein Ohr, öffne den Mund, schließe ihn wieder. Ich habe keine Ahnung, was ich Hannah sagen soll, also lasse ich die Hand wieder sinken. Immerhin fällt mir jetzt die Antwort auf die Frage ein, wie es ist, nach all den Jahren wieder in Brighton zu sein.

Es ist ganz genau wie damals, als ich weggezogen bin. Und wie das eine Mal, an dem ich zurückgekommen bin. Und wie all die Male, die ich daran dachte, heimzukehren.

Es ist gefährlich. Sehr, sehr gefährlich.

Vor allem für mein Herz.

5
Hannah

Ich hasse Mobiltelefone. Insbesondere an Tagen, an denen sie nicht stillstehen. So wie heute. Dauernd will jemand was von mir, es ist zum Verrücktwerden. Als wäre der Vormittag nicht schon anstrengend genug gewesen. Als hätte die Begegnung mit Viktor de Ruiter nicht gereicht, um meine Stresshormone in Karussellmodus zu katapultieren. Als wäre das Treffen mit Eves Mathelehrerin im Anschluss nicht zum Haareraufen gewesen. Als hätte … Das Handy verstummt in dem Augenblick, in dem ich es aus der Tasche ziehe. Nummer unterdrückt. Pech gehabt.

Ich stecke das Telefon ein, krame stattdessen meinen Schlüssel aus der Tasche und blicke in dem Moment auf, in dem Orlando aus der Tür seines Restaurants tritt. Es ist das hübscheste Lokal der ganzen Straße, wenn man mich fragt, mit seinen rot-weiß gestreiften Fensterläden, der passenden Markise und den schnörkligen Gartenstühlen, die allerdings jetzt, Mitte Oktober, nur noch selten zum Einsatz kommen. Seit ich in dem Haus in der Chestnut Road wohne, in dessen Erdgeschoss sich das Little Italy befindet, ist das Restaurant zu einem zweiten Wohnzimmer für mich geworden, in dem ich wahlweise Freundinnen treffe oder als Bedienung aushelfe, je nachdem, ob Orlando mich braucht, weil wieder einmal einer seiner beiden Söhne sich aus dem Staub gemacht hat.

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