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Liebe im kleinen Brautladen am Strand

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Es ist ohne Frage der romantischste Tag des Jahres! Und doch sind die Vorbereitungen auf den Valentinstag und eine neue arbeitsreiche Hochzeitssaison im Brides by the Sea in diesem Jahr beinahe zweitrangig. Denn noch viel wichtiger ist, dass der kleine gemütliche Brautladen an der Küste Cornwalls sein zehnjähriges Jubiläum feiern darf.
Natürlich plant die Inhaberin Jess dafür die Party des Jahrhunderts, und selbstverständlich werden bei prickelndem Champagner und köstlichen Cocktails die Funken sprühen – und das nicht nur während des Feuerwerks!


  • Erscheinungstag: 23.03.2021
  • Aus der Serie: Wedding Shop
  • Bandnummer: 5
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749901272

Leseprobe

»Manchmal bricht etwas Gutes entzwei, damit etwas Besseres zusammenfinden kann.«
Marilyn Monroe

1. Kapitel

Frühaufsteher und Nachbeben

Freitag, Valentinstag

Am Hafen von St. Aidan

Es ist ein Junge!

Es gibt diese gewissen Momente im Leben, von denen man weiß, dass man sie immer wieder durchleben wird. Als mir diese vier kleinen Wörter auf meinem Handydisplay ins Auge springen und wie ein Echo durch meinen Kopf hallen, stehe ich mit Poppy, einer meiner ältesten Freundinnen, am Rand einer riesigen Menschenmenge. Trotzdem könnte ich mich kaum einsamer fühlen. Der beißende salzige Wind auf meinen Wangen wird sich mir ins Gedächtnis einprägen, das tiefschwarze Wasser, das gegen den Kai platscht, die Bootsmasten, nur als dunkle Linien gegen den Himmel abgezeichnet. Die Lichter, die in einem großen Bogen den Rand der Bucht säumen.

Selbst wenn man weiß, dass eine metaphorische Flutwelle auf einen zurollt, ist es immer noch schwer vorherzusagen, wie sehr sie einen zerstören wird. Ich habe erwartet, dass es mir das Herz zerreißt, aber in Wirklichkeit trifft es mich viel härter. Ich habe mich eher auf einen Tritt in die Magengrube vorbereitet als auf die tausend winzigen Glassplitter in meiner Brust.

Trotzdem ist es besser, Bescheid zu wissen.

Wenn die engste Freundin und Geschäftspartnerin sich versehentlich mit deinem Verlobten – sprich, meinem Verlobten – einlässt, und sie dann beide meinen, es habe immer so sein müssen, und wenn sie das Ganze dann mit einem Baby krönen …

Diesem Baby eben.

Sagen wir mal, was Lucy, unsere Büroassistentin in Schwangerschaftsvertretung, mir in ihrer Nachricht mitteilt, ist der neueste Schock in einem Jahr voller seismischer Erschütterungen.

Für diejenigen von euch, die es nicht schon vermutet haben – dieser Moment hier spielt sich im winzigen St. Aidan am äußersten Rand von Cornwall ab, wo Land und Meer aufeinandertreffen, wo die urigen Cottages sich von der Kopfsteinpflastergasse hinter mir aus in einer dunklen Reihe wie aufgestapelt den Hang hinaufziehen. Es ist irgendwie ironisch, dass wir in dieser eiskalten Februarnacht draußen stehen und warten, dass uns ein Feuerwerk vorgeführt wird, und dieses winzige Baby, das in den letzten Monaten schon mein Leben umgekrempelt hat, jetzt auch noch die Valentinstagsfeier von »Brides by the Sea« für sich in Beschlag nimmt.

Poppy steht neben mir, zieht ihre Barbour-Jacke gegen den Wind zu und stampft mit den Füßen, während wir warten. »Alles in Ordnung, Milla? Du hast Glück, dass du hier unten überhaupt Empfang hast.«

Ich schaue zu, wie die Lichterketten in der Ferne entlang der Promenade vom Wind gepeitscht werden, stecke mein Handy wieder in die Tasche und sage: »Phoebe hat einen Jungen bekommen.«

»Was, das Baby ist schon da?« Poppys Augenbrauen schnellen vor Entsetzen in die Höhe, eine ihrer typischen Gesten, die ich schon an ihr kenne, seit wir als Kinder im Dorf Rose Hill, ein paar Kilometer landeinwärts von hier, zusammen spielten. »Aber das erste Kind kommt praktisch nie pünktlich! Die letzten zwei Wochen, wenn man wie ein gestrandeter Wal darauf wartet, bereiten einen doch erst auf all das vor, was auf einen zukommt.«

Sie hat ihren Sohn Gabe vor zwei Jahren bekommen, ist also Expertin. Heute genießt sie selbst einen ihrer seltenen Ausgeh-Abende, aber da sie die Kuchen- und Tortenbäckerin von »Brides by the Sea« ist, zählt das eher als Arbeit denn als Vergnügen.

»Phoebe duldet keine Verspätungen, schon gar nicht von einem Baby.« Realistischerweise hätte sie es auch sich selbst niemals erlaubt, die Größe eines Elefanten zu erreichen. Selbst bei etwas so Unvorhersehbarem wie einer Geburt ist sie die Art von Mensch, die gewissenhaft plant und in jeder erdenklichen Lage nach Rosen duftet. Das hat sie wirklich drauf. So etwas, wie ein Baby am Valentinstag zur Welt zu bringen, auf den Tag genau ein Jahr nachdem sie und mein Ex Ben zusammenkamen – dafür muss man schon ein besonders engagierter Kontrollfreak sein.

»Verflixt aber auch, so war das wohl nicht geplant, oder?«

Ich schüttle den Kopf. »Ich hab noch nicht mal das Klappbett in meinem Airbnb aufgebaut.« Okay, zugegeben, ich war schon im Hochzeitsladen und hab alle getroffen, nachdem ich heute Nachmittag hier ankam. Aber irgendwie hatte ich damit gerechnet, dass mir mehr Zeit zum Einleben bleiben würde, um mich auf alles vorzubereiten, mir einen Schutzhelm aufzusetzen …

Es ist seltsam, wenn ich daran denke, dass ich letztes Jahr um diese Zeit noch einen Verlobten hatte, mit dem ich mir die Wohnung teilte. Gegen Mitternacht geriet dann mein ganzes Leben irgendwie in Vergessenheit – in einem waschechten Titanic-rammt-den-Eisberg-Moment. Ich werde mir die schlimmsten Details für später aufheben, aber genau wie der Eisberg habe auch ich es nicht kommen sehen. Ich war Phoebes erste Brautjungfer, als sie sechs Jahre zuvor geheiratet hatte, und unser Unternehmen ergab sich daraus, dass wir ihre Hochzeit organisierten hatten, also war es ganz klar, dass ich auch für sie da war, als ihr Mann Harry sie verließ. Und als sie plötzlich ohne Partner für den Black-Tie-Valentinsball dastand, nachdem wir schon ein Vermögen bezahlt hatten, damit sie hingehen konnte, dachte ich nicht lange darüber nach, ihr meinen Verlobten Ben auszuleihen. Sie waren die beiden Menschen, denen ich am meisten vertraute, geschäftlich wie privat. Das Letzte, was ich mir vorstellen konnte, war, dass sie miteinander im Bett landen würden, nachdem Phoebe mir so minutiös die getrennten Zimmer auf der Reservierung vorgewiesen hatte.

Wie sagt man doch gleich? Manchmal reicht ein einziger Kuss. Zugegeben, es war ein bisschen mehr als das. Viel mehr. Genug, um eine Abrissbirne durch meine Beziehung mit Ben zu schleudern. Aber wir waren alle sehr erwachsen dabei. Oder zumindest waren die beiden das. Wie sehr ich auch um mich trat und schrie, es half nichts – der Schaden war angerichtet, und das, was mir gehört hatte, war verloren. Er trug seine Sachen einen Block weiter in ihre Wohnung. Und alles andere blieb beim Alten.

Aber nach all den Jahren, in denen ich jeden Tag damit verbracht hatte, unser Hochzeitsunternehmen »Brides Go West« zum Erfolg zu führen, und Kredite bis zum Äußersten aufgenommen hatte, konnte ich es mir nicht leisten, das Geschäft schleifen zu lassen und es womöglich auch noch zu verlieren. Und es steckte noch mehr dahinter. Denn als mein Leben implodierte und mein Selbstwertgefühl mit sich riss, wurde »Brides Go West« zu meiner einzigen Zuflucht. Ich mag mich in jedem anderen Bereich wie ein Wurm fühlen, aber durch mein preisgekröntes Geschäft kann ich mit erhobenem Haupt dastehen. Phoebe und Ben mögen mir vielleicht jeden anderen metaphorischen Teppich unter den Füßen weggezogen haben, aber ich lasse es nicht zu, dass sie sich auch noch mit dem Geschäft davonmachen.

Folglich habe ich in den letzten neun Monaten zugesehen, wie Phoebes Babybauch wie in einem Horrorfilm in Zeitlupe über den Bürotisch wuchs. Am Ende war mir klar, dass meine Schreie die aus der Entbindungsstation übertönen würden, wenn ich tatsächlich zur Geburt noch hier wäre. Nachdem ich also ein ganzes Jahr lang so sehr mit den Zähnen geknirscht hatte, dass sie nur noch Stümpfe ihres früheren Selbst sein dürften, verließ ich um den Geburtstermin des Babys herum die Stadt für ein paar Wochen.

Poppy legt mir den Arm um die Schultern. »Du weißt aber schon, dass du mehr wert bist als das«, sagt sie leise, ganz nah an meinem Ohr. »Selbst, wenn es sich gerade wie das Ende der Welt anfühlt …«

Ich habe diesen Satz schon so oft gehört, dass ich ihn mittlerweile selbst beenden kann. »… wird es doch besser werden.« Das Problem ist, dass ich mir tief in meinem Innern nicht vorstellen kann, es je wieder zu schaffen, keinen schweren Stein im Bauch mehr zu fühlen und keine Schmerzen in der Brust. Dass ich ein Hochzeitskleid anschauen kann, ohne den Geschmack von sauren Zitronen im Mund. Was wirklich suboptimal ist, zumal ich an den meisten Tagen auf unserem Blog über die verdammten Dinger schreiben muss.

Poppy seufzt auf. »Entschuldige, es ist nicht das beste Timing, aber du wirst gleich Gary und Ken treffen. Sie verteilen fleißig Flyer für das Cocktail-Event, das ›Brides by the Sea‹ später veranstaltet, aber sie sind auch furchtbar neugierig.« Sie zieht ein Gesicht. »Weißt du noch, wie es im kleinstädtischen St. Aidan zugeht?«

Ich ziehe eine Grimasse. »Wo jeder alles weiß und alle sich kümmern?« Es ist ganz anders als in Bristol, wo ich die letzten zwölf Jahren in glücklicher Anonymität gelebt habe. Während ich als Teenager in St. Aidan aufwuchs, blieb mir das helle Rampenlicht erspart, weil meine Mutter krank war und ich sie pflegte. Wenn man kaum das Haus verlässt, wird man ziemlich unsichtbar. Aber obwohl ich viele der Gesichter in der Menge heute Abend nicht wiedererkenne, bin ich doch vor allem hierher zurückgekommen, um bei meinen ältesten Freundinnen zu sein.

Da Poppy und ich beide in der Hochzeitsbranche tätig sind, stehen wir oft in Kontakt. Und während mein Leben vollkommen aus den Fugen geriet, war Poppy diejenige, die für mich da war und mir Handynachrichten geschickt hat. Und sie war diejenige, die meinen Verstand gerettet hat, als sie mir vorschlug, diesen Urlaub zu nehmen. Wenn Ben der letzte Mensch auf der Welt und mit mir auf einer einsamen Insel wäre, müsste ich ein Boot bauen und damit davonfahren, das ist mir absolut klar, und das heißt schon etwas bei einer Person, die in Holzarbeit immer das Schlusslicht der Klasse war. Aber sosehr ich Ben auch nicht mehr haben will, ist dieser Baby-Moment doch so monumental, dass es eine riesige Erleichterung ist, drei Stunden Fahrt davon entfernt zu sein.

»Also, wer sind Ken und Gary?« Soweit ich sehen kann, haben sie einen großartigen Geschmack, was enge, hauchdünne Shorts angeht, und drängen sich gekonnt durch die Menge, indem sie mit ihren Amor-Kostümen wackeln.

»Sie führen ein hochgepriesenes Bed and Breakfast im Ort, und sie sind auch die Stars der Karaoke-Nächte im Hungry Shark und der Handelskammer.«

Ich schüttle den Kopf. »Na, die lassen sicher keine Valentinstags-Kostüm-Kneipentour in Ruhe passieren.«

Poppy ruft sie, als sie sich in unseren Bereich auf dem Kopfsteinpflaster schlängeln. »Hallo, ihr zwei, ihr seid die einzigen Männer, die es schaffen, dass so wenig rotes Lamé am Körper nicht nur ausreicht, sondern sogar klasse funktioniert.«

Der Kleinere, etwas Beleibtere von beiden macht eine fächelnde Geste vor dem Gesicht. »Danke, Poppy, du bist mal wieder ein Schatz.« Er dreht sich zu mir und klimpert mit den Wimpern, die so lang sind, dass sie zweifellos künstlich sein müssen. »Du bist von ›Brides Go West‹, stimmt’s? Wir haben dich vorhin aus deinem VW-Bulli aussteigen sehen.«

»Auch bekannt als Milla Fenton.« Ich muss gestehen, dass ich den Firmenwagen teils ausgeliehen, teils entwendet habe, obwohl er genau genommen ja mir gehört. Da er siebzig Zentimeter hohe Leuchtbuchstaben auf dem Dach hat, fällt er schon ein bisschen auf.

»Schön, dich kennenzulernen, Milla. Wir sind ziemlich neidisch auf deinen Camper. Wir haben uns schon immer einen Bulli mit rosafarbener Lackierung und unseren Namen in Leuchtschrift gewünscht, oder, Ken?« Er sieht Poppy an. »Raus mit der Sprache, ist das wieder ein Schützling von Jess, der mit ein bisschen Feenstaub von ›Brides by the Sea‹ bestreut werden soll?«

Als hätte er mit seinem paillettenbesetzten T-Shirt und den passenden Flügeln nicht schon genug von meiner Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, packt Ken mich am Arm. »Jess hat den wunderbarsten Laden überhaupt geschaffen, vier Stockwerke voller Brautmodenpracht mit Blick auf das Meer!«

Ich will ihm gerade sagen, dass der Laden auch bei den Followern unseres Blogs »Brides Go West« sehr beliebt ist, aber Gary redet schon weiter. »Poppy ist die Kuchenbäckerin dort. Das süße Zuckerwerk aus fünf Schichten, das sie für uns gebacken hat, war Cornwalls erste ›nackte‹ Hochzeitstorte aller Zeiten. Aber das weißt du ja wahrscheinlich?«

Ken und Gary scheinen pausenlos Fragen zu stellen, ohne Platz für Antworten zu lassen, aber schließlich schaltet sich Poppy ein. »Milla ist für ein paar Wochen hier, um uns mit unserem Social-Media-Auftritt zu helfen und einige spezielle Verkaufsaktionen zum Jubiläum von ›Brides by the Sea‹ zu veranstalten.«

Gary reißt die Augen auf. »Wundervoll und mehr als wundervoll! Zehn Jahre, seit Jess das ganze Gebäude übernommen hat, ist das nicht großartig?«

Ken fährt fort: »Und ein ganzes Jahr voller Geburtstagsfeiern, die mit dem Feuerwerk heute Abend beginnen … Wusstet ihr, dass es eigentlich Jess’ Valentinsgeschenk von ihrem Verlobten Bart ist?«

Verträumt seufzt Gary auf. »Er ist unser Lieblingspirat – gut aussehend und stinkreich, da kann sie nichts falsch machen. Wir hätten ihn doch auch nicht von unserer Bettkante gestoßen, oder, Ken?«

Der schaudert. »Sprich für dich selbst, Gaz, er ist viel zu alt für mich. Aber wer hätte das gedacht? Er bietet ihr Diamanten, und sie wünscht sich stattdessen ein Feuerwerk …«

Wie aufs Stichwort hallt ein riesiger Knall über die Bucht, und eine Kaskade vielfarbiger Sterne wölbt sich übers Wasser, schimmert vom Himmel herab und fällt ins Meer.

Poppy murmelt mir ins Ohr: »Sie starten die Raketen von Pontons, die jenseits vom Hafen vor Anker liegen. Achte mal auf die mit Valentinsbezug.« Ihr Lächeln wird breiter. »Jess und Bart sind da ganz vorn, also, wenn sie das einer Tiffany-Halskette vorzieht, erwartet uns ein spektakuläres Schauspiel.«

Während die Explosionen durch meinen Körper wummern und der Wind die farbigen Reflexionen auf dem Wasser in tausend gespiegelte Fragmente zersplittert, geben die Menschen um mich herum, die sich in ihre wattierten Jacken eingemummelt haben, staunende und bewundernde Laute von sich. Immer wieder bersten die Sternenfontänen vor dem blauen Samthimmel über der Bucht. Und während ich dem Rauschen der Wellen lausche, die unter dem Knallen des Feuerwerks an den Strand schlagen, muss ich daran denken, wie endgültig es sich anfühlte, als ich heute Morgen die Schlüssel zu unserer Wohnung in den Briefkasten des Immobilienmaklers fallen ließ. Es ist, als sähe ich zu, wie sich mein altes Leben hoch über mir in seine Einzelteile auflöst. Vor dem Maklerbüro konnte ich nicht weinen, aber jetzt, in der Dunkelheit, fließen meine Tränen zu schnell, um sie wegzuwischen.

Als ich mir einen Moment Zeit nehme, um ein trockenes Taschentuch aus der Tasche zu nehmen, und dabei zu den Booten im Hafen zurückblicke, sehe ich eine einsame Gestalt, die sich an einen Bootsmast lehnt. Vielleicht bin ich heute Abend doch nicht als einziger Mensch auf der Welt ganz allein. Es fühlt sich nur genau so an.

Poppy stupst mich an. »Es muss bald zu Ende sein, jetzt pass auf, dass du nicht das Beste verpasst.«

Als ich wieder emporschaue, bricht eine Donnersalve über den Wellen los, und der Himmel füllt sich mit roten herzförmigen Umrissen, die funkeln und knistern. Dann ertönt ein letztes Explosionsgeknatter, und die verbliebenen Funken schweben herunter. Als sie am Horizont verglühen und alle jubeln, fühlt es sich für mich eher bitter als süß an.

Mein Handy piept, und dieses Mal beobachtet mich Poppy. »Mehr Neuigkeiten?«, fragt sie.

Ich nicke. Als ich die Nachricht lese, habe ich wieder einen sauren Geschmack im Mund. »Hunter Benedict, 2,8 kg.«

Poppy runzelt die Stirn. »Warum schaltest du es nicht aus, wenn es dich so runterzieht?«

Ich stecke das Handy weg und ziehe ein weiteres Taschentuch aus der Packung. Lautstarkes Schnäuzen zählt zu den Dingen, die Phoebe auf den Tod nicht ausstehen kann, aber im Moment ist mir alles egal. Ich kann auch nichts gegen mein Flennen tun. »Hunter war mein Name, ich hatte ihn mir zuerst reserviert. Ich weiß, ich habe ihn auf ihren Gummistiefeln entdeckt, aber es fühlt sich trotzdem an, als hätte sie ihn gestohlen.« Babynamen sind ein regelrechtes Minenfeld aus Regeln, in das ich erst seit meinem dreißigsten Lebensjahr vorsichtig einen Fuß gesetzt habe, und es scheint, als wäre außer mir unsere gesamte Freundesgruppe plötzlich schwanger geworden. Man kann einem Baby nicht denselben Namen wie irgendeinem anderen Kind geben, das einem entfernt bekannt ist. Aber Leute wie ich, für die ein Kind Lichtjahre entfernt ist, können trotzdem vorab einen Namensanspruch für ihren zukünftigen Nachwuchs abstecken. Zumindest, wenn man nicht völlig respektlose Freunde hat. Es fühlt sich an wie Phoebes letzte mahnende Geste.

Poppy drückt mich wieder. »Deinen Namen zu klauen ist unverschämt.«

»Ja, verdammt.« Ich starre auf die schwarzen Flecken auf dem Taschentuch. In meinem Gesicht sieht es bestimmt noch schlimmer aus. »Ich sollte vielleicht mal kurz zurück zum Wagen gehen.«

Poppy hakt sich bei mir ein. »Keine Sorge, wir haben noch ein paar Minuten, bis wir wieder im Laden sein müssen. Ich bin für die Cocktails zuständig, also wird die Bar geöffnet, wenn wir ankommen.« Wir kehren der Menge den Rücken und machen uns eilig auf den Weg zu meinem VW-Bulli, der versteckt hinter einer Reihe von Fischerhäuschen am Ende des Kais steht.

»Okay, Zeit für eine Generalüberholung.« Ich öffne die Tür, schwinge mich auf den Fahrersitz und blicke in den Rückspiegel.

Als Poppy sich auf der Beifahrerseite zu mir gesetzt hat, schaut sie sich im Wagen um. »Wow, wie cool sieht es denn hier drin aus? Selbst im Dunkeln.«

Als ich meine Panda-Augen wegwische und die Flecken auf meinen Wangen abtupfe, fühle ich mich bereits ruhiger. »Ich bin immer noch in die rosa-weiß karierten Sitze verliebt.«

Poppy reicht mir einen Lippenstift aus ihrer Tasche. »Hier, probier mal den – Fuchsia hebt die Stimmung, das klappt immer.« Sie beißt sich auf die Lippe, während sie mir beim Schminken zusieht. »Ich weiß, heute war ein beschissener Tag, weil du die Schlüssel abgeben musstest und dann auch noch das Baby gekommen ist, aber zumindest hast du jetzt das Schlimmste hinter dir.«

Ich schaue sie im Halbdunkel von der Seite an. »Willst du mir sagen, dass es Zeit für einen Neuanfang ist?«

»Ist doch so. In St. Aidan ist heute richtig was los, und da draußen tobt der Single-Club.« Ihr Gesicht verzieht sich zu einem Grinsen. »Es wäre doch eine Schande, diese Gelegenheit zu verpassen.«

Ich atme zischend aus. »Das Letzte, was ich mir wünsche, ist ein neuer Freund.«

Sie lacht. »Wer redet denn von einer Beziehung? Ich finde einfach, es ist an der Zeit, dass du aufhörst, Trübsal zu blasen, und endlich mal wieder Spaß hast.«

Ich seufze. »Okay, wir wissen beide, dass Ben ein Mistkerl ist und ich ohne ihn besser dran bin. Aber ich glaube kaum, dass ich so weit bin, in die Welt hinauszuspazieren und Party zu machen. Echt nicht.«

Sie zieht die Augenbrauen hoch. »Was hältst du von einer Fünf-Küsse-Challenge für heute Nacht?«

Ich kann nicht fassen, wie unmöglich das klingt. »Als ich mit einundzwanzig zum ersten Mal in Bristol feiern war, hätte ich das in fünf Sekunden geschafft. Jetzt glaube ich, dass ich es nicht mal schaffen würde, wenn ich fünf Jahre Zeit hätte.«

Poppys Augen werden ganz groß. »Das ist ja noch viel schlimmer, als ich gedacht habe. Gut, dann setzen wir dir ein erreichbareres Ziel – wie wäre es mit einem Kuss, und du hast den ganzen Abend dafür?« Sie zwinkert mir zu. »Es ist dunkel, du wirst ihn nie wiedersehen. Und es ist ein Wendepunkt – wenn du einmal diese rote Linie überschritten hast, kannst du dein Leben weiterleben.«

»Oh Mann.« Das klingt alles sehr nach einem altmodischen Junggesellinnenabschied. Jemand sollte ihr mal sagen, dass die Junggesellinnen sich weiterentwickelt haben, heutzutage geben sie sich nicht mehr die Kante, sondern lassen sich pflegen. Hätte sie vorgeschlagen, mein neues Leben mit einem Massage-Nachmittag im Harbourside Hotel zu beginnen, wäre ich sehr viel leichter zu überzeugen gewesen.

Sie wackelt mit den Augenbrauen, was nie ein gutes Zeichen ist. »Da kommt ein Typ auf uns zu, der wie passendes Material aussieht. Lass dein Fenster runter und ruf ihn rüber.« Sie richtet sich im Sitz auf. »Nicht nötig, er kommt direkt auf uns zu!«

Während er in unsere Richtung schlendert, lasse ich meinen Blick über ihn wandern und sehe dunkle Haare, die vom Wind zerzaust werden, definierte Wangenknochen, einen dicken Pulli unter einer offenen Windjacke.

Ich murmele: »Angesichts des Wetters scheint es, als hätte da jemand den Sinn von Windjacken nicht verstanden.«

Poppy zischt zurück: »Du kannst ihn nicht abschreiben, nur weil er seine Jacke nicht zugemacht hat, da brauche ich schon eine bessere Ausrede.«

Ich umfasse den Fensterheber. Bei meinem altmodischen Modell von Auto ist es die passende Do-it-yourself-Kurbel. Bis ich die Scheibe weit genug unten habe, dass ich sprechen kann, bin ich außer Atem von der Anstrengung. »Können wir Ihnen irgendwie behilflich sein?« Zwar kommt er schnurstracks auf uns zu, aber trotzdem hoffe ich, dass es nicht der Fall ist.

Poppy lacht leise neben mir. »Um zu punkten, muss du schon etwas direkter sein.«

Er räuspert sich. »Entschuldigung, ich habe vorhin Ihren Wagen bemerkt, als Sie ihn hier geparkt haben.«

Ich bin an solche Kommentare gewöhnt, wir bekommen sie ständig. »Das Pink war Absicht, um schmutziges Weiß und einen alten Cremeton zu umgehen und dabei dennoch auf geschmackvolle Weise ›Braut‹ auszusagen.«

Er blinzelt mir zu. »Sorry, aber ich spreche nicht von der Farbe. Sie haben im Bereich der Bootseigner geparkt – wenn Sie keine Genehmigung auslegen, verpassen Ihnen die Kontrolleure einen Strafzettel.«

Poppy lacht wieder. »Bestechung von Verkehrspolizisten durch Knutschen? Es mag verzweifelt klingen, aber ich würde es gelten lassen.«

Ich ignoriere Poppy und konzentriere mich auf den Kerl. Seit sechs Uhr morgens bin ich auf den Beinen, habe meine letzten Sachen aus der Wohnung geholt und sie ins Lager gebracht. Es war ein beschissener Tag. Und dann stiehlt Phoebe meinen Babynamen. Ich bin einfach nicht in der Verfassung für einen weiteren Streit. »Wenn Sie einen Meter zur Seite gehen, dann verschwinde ich aus Ihrem kostbaren Bootseignerbereich und suche mir einen anderen Parkplatz.« Ich habe nicht die geringste Ahnung, wo, komisch aber auch, dass es hier so voll ist.

Er schüttelt den Kopf. »Sie brauchen nicht umzuparken. Ich habe Ihnen einen Parkausweis für Gäste mitgebracht. Wenn Sie ihn nur zur Schneegans zurückbringen, bevor Sie die Stadt wieder verlassen, können Sie ihn gern behalten.«

»Sie würden mir einen Parkausweis leihen?« Ich weiß gar nicht, wie mir geschieht.

Er hüstelt. »Hier unten heißt es: wir gegen die Kontrolleure. Ich helfe gern aus.« Dann schiebt er mir die Ausweiskarte durch das geöffnete Fenster entgegen, sodass ich sie nur noch annehmen und auf das Armaturenbrett legen muss.

»Vielen Dank. Ich gebe sie zurück, versprochen.« Meine Stimme macht einen Hopser, als Poppy mich in die Seite boxt.

Sie zischt mir ins Ohr: »Los, frag ihn – wenn du es nicht tust, mach ich es.«

»Super, also, nochmals danke. Schneegans, alles klar, ich bring ihn dann zurück.« Damit deute ich das Ende dieser Unterhaltung an, und es funktioniert, denn er winkt und geht davon.

Aber Poppy springt wie der Blitz nach draußen, läuft über das Kopfsteinpflaster und flüstert ihm etwas ins Ohr. So viel zu leichter Beute – als er sich wieder zum offenen Fenster umdreht, gibt es für mich kein Entkommen.

Diesmal lacht er. »Hier braucht jemand einen Valentinskuss? Ich schätze, dass ich auch damit aushelfen kann.«

Es ist eine dieser typischen schnellen Entscheidungen. Würde ich der ganzen Sache jetzt entgehen, wäre es doch nur aufgeschoben. Und hier ist nur Poppy dabei – sofern sie bereit ist, für mich die Parkgenehmigung zurückzubringen, muss ich ihn nie wiedersehen. Also spanne ich die Rückenmuskeln an und kneife Augen und Lippen zusammen für ein schnelles kleines Küsschen.

Aber plötzlich umfasst er mit einer Hand meinen Hinterkopf, und den Bruchteil einer Sekunde, bevor er sich seitlich durch das offene Fenster zu mir beugt, weht sein köstlicher Duft herein. Als seine Lippen meine berühren, sind sie nicht fest und kalt, sondern weich und verlockend wie warme Schokolade. In dem Moment, in dem ich nachgebe und mich darauf einlasse, fühlt es sich an, als würde ein heißer Tornado durch meinen Körper rasen. Es kann nicht länger als dreißig Sekunden gedauert haben – dreißig Sekunden pures, unverdünntes Wohlbehagen. Mit einem lustvollen Beigeschmack, der mich das Lenkrad umklammern lässt, um mich wieder zu fassen. Genug, um mich, als er sich zurückzieht, atemlos und mit offenem Mund zurückzulassen.

»Wow!« Damit wäre jedes einzelne Molekül von Poppys Lippenstift dahin. Und wer eine Bewertung von eins bis zehn hören möchte – hierfür vergebe ich glatte fünfzehn Punkte.

»Vielen Dank dafür.« Er lacht tief und dreht sich um. »Wenn ich sonst noch etwas für Sie tun kann, wissen Sie ja, wo Sie mich finden.«

»Sie haben schon mehr als genug getan.«

Aber Poppy hüpft unruhig herum und reißt die Augen auf. »Wir servieren kostenlos Kuchen und Cocktails im ›Brides by the Sea‹, ungefähr …« Sie blickt auf ihre Uhr. »… jetzt. Den Hügel hinauf und dann rechts in die Mews. Wenn Sie kommen möchten, sind Sie herzlich willkommen.«

»Dem Brautmodenladen?« Für einen Moment leuchten seine Augen auf, aber dann schüttelt er den Kopf. »Tut mir leid, aber ich muss noch woanders hin.«

»Aber – aber – aber – aber …«

Ich kann mir vorstellen, dass Poppy die Sache weitertreiben will, also klinke ich mich ein. »Wir verstehen das vollkommen. Feuerwerk und die Parkwächter betrügen, das ist mehr als genug Aufregung für einen Tag.« Abgesehen davon, dass ich ihn nie wiedersehen will, möchte ich auf keinen Fall Zeuge sein, wie er auf der anderen Seite des Raums literweise Sex on the Beach herunterkippt. Genauso wie Chris Hemsworth und Hugh Jackman durchaus sexy sind, aber wer möchte sie wirklich hackedicht im selben Raum erleben, vor allem, wenn man selbst nicht in der besten Position im Leben ist, um es wenigstens ausnutzen zu können? Ich meine, jede Frau hat ihre Grenzen. Und ich glaube, ich habe meine gefunden.

Seine Lippen verziehen sich zu einem Lächeln. »Wenn das so ist, sage ich nicht bis später.«

Das ist gut für mich. Ich rufe ihm nach: »Okay! Ich dann auch nicht!«

Poppy lehnt ihren Hintern an die Ecke des Wagens und schaut zu, wie er im Schatten verschwindet. »Dem Grinsen in deinem Gesicht nach zu urteilen, kann man wohl davon ausgehen, dass du sehr zufrieden bist?«

Ich lache. »Das kann man wohl sagen. Dieser Besucherausweis ist Gold wert. Mr. Schneegans hat mich gerade vor zwei Wochen Parkhölle bewahrt.«

Poppy schreit mich regelrecht an: »Das meine ich nicht, und das weißt du genau!« Dann senkt sie ihre Stimme wieder. »Aber es ist für dich schon, als würdest du neu beginnen, mit so einem Gefühl von ›Somewhere over the Rainbow‹, oder? Gibs zu.«

Ich schüttle den Kopf. »Pops, es waren zwanzig Sekunden.«

Sie lässt es mir nicht durchgehen. »Es war SO was von näher an einer Minute.«

»Als könnten ein paar Sekunden irgendetwas ändern.«

»Haben sie aber, oder?« Mit ihrem bohrenden Blick scheint sie mir direkt in den Kopf zu schauen. »Was denkst du?«

Phoebe hat mir meinen Verlobten gestohlen, und jetzt haben sie ein Baby. Sicher, mein Herz hat eben so heftig geklopft, dass der Wagen bebte, aber es ist mehr als ein Kuss nötig, um mein kaputtes Leben wieder in Ordnung zu bringen. Nicht, dass ich wieder Kaffee servieren möchte. Es ist nur so, dass jetzt Hochzeiten für mich eher ein Trigger sind als ein Ziel auf dem Weg zum Glück. Auf lange Sicht sollte ich um meines Verstandes willen einen Richtungswechsel in Betracht ziehen, idealerweise eine berufliche Veränderung.

Aber all das berührt mich vorerst nicht. »Ich fürchte, wenn wir uns nicht in den nächsten zehn Sekunden auf den Weg machen, kriegst du es mit einigen sehr ungeduldigen Cocktailtrinkern zu tun.«

Sie lacht. »Und ich denke, etwas Zeit in St. Aidan ist genau das Richtige, um dich aufzurütteln und wieder einzunorden.«

Ich muss zugeben, während wir die steile, kurvenreiche Straße zum Laden hinaufeilen, pocht mein Herz auf eine Weise, hinter der mehr steckt als die Killersteigung, die wir zu bewältigen haben. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so lebendig gefühlt habe.

2. Kapitel

Cranberrys und Campervans

Freitag, Valentinstag

»Brides by the Sea«, St. Aidan

»Also, womit kann ich dich in Versuchung führen? Tie me up, tie me down? Hanky Panky? A Kiss on the Lips?«

Eine halbe Stunde nachdem Poppy und ich im Laden angekommen sind, fülle ich ohne Pause Getränke aus hohen Glaskrügen in Gläser, und jedes innere Heulen in meinem Kopf wird von dem Raum voller Nachtschwärmer übertönt. Und für den Fall, dass jemand denkt, meine innere Sexgöttin sei erwacht – ich schreie heraus, welche Köstlichkeiten an Valentinstags-Cocktails wir anbieten.

Mit jeder Gruppe von Gästen, die sich von den gepflasterten Mews draußen hereinschieben, wehen die salzigen Meeresböen zu uns in den Laden. Sie fangen sich in den Kronleuchtern, lassen deren Kristalle aufblitzen, kräuseln den Chiffon der schneeweißen Kleider inmitten von Girlanden mit Papierherzen und winzigen Lichtern im Schaufenster. Früher hätte das mein Herz schneller schlagen lassen, jetzt verursacht es mir nur noch einen Stich in der Magengrube. Aber natürlich tue ich mein Bestes, das zu verbergen.

Als ein weiterer Schwung von Leuten hereinkommt, die ihre Schals abwickeln, drehe ich mich zu Poppy, die mit mir hinter dem Getränketisch steht. »Wo kommen die bloß alle her?«

Poppy lacht. »Ich hab dir doch gesagt, dass die Veranstaltungen des St.-Aidan-Single-Clubs massenweise besucht sind. Und da heute alles gratis ist, schaut auch wirklich jeder rein. Jess sagt, es ist nie zu früh, eine alleinstehende Person mit Partnerwunsch in einen Hochzeitsladen einzuladen.«

Das überrascht mich nicht. Jess ist äußerst ausdauernd und hartnäckig, wenn es darum geht, Kundschaft zu werben. In ihren Augen ist jeder ungebundene Erwachsene, der heute Abend Poppys Gratis-Cocktails und – Cupcakes zu sich nimmt, eine potenzielle Braut oder ein potenzieller Bräutigam. Mit genau dieser Entschlossenheit kam Jess vor vierzehn Jahren hierher – im Gepäck hatte sie ihre Scheidungspapiere und die Idee, Blumen in einem winzigen Kellerraum zu verkaufen. Und wir wissen alle, wie gut sie damit gefahren ist.

Poppy lacht wieder. »Die Kunden sollen nur so lange hierbleiben, dass sie einen Blick in den Laden werfen können. Keine Sorge, sie ziehen schneller weiter zur nächsten Station, dem Hungry Shark, als du ›Love on the Rocks‹ sagen kannst.«

Ich mache mir auch keine allzu großen Sorgen darüber, was ich von der Getränkekarte auf der Tafel in die Menge rufe, schließlich habe ich diesen Job nur für zwei Minuten übernommen, während Jess sich ein paar Minzezweige schnappt und einige potenzielle zukünftige Bräutigame nach oben scheucht, damit sie einen kurzen Blick in den Ausstattungsraum für Herren werfen können. Meine eigentliche Aufgabe hier ist viel mehr mein Ding – Polaroidfotos von glücklichen Paaren auf dem Loveseat zu schießen, der sich in der Ecke neben der Umkleide befindet. Dann haben die Kunden, wenn sie morgen wieder nüchtern sind, etwas, was sie daran erinnert, zu gegebener Zeit bei »Brides by the Sea« einzukaufen. Und da sie ihre Namen und E-Mail-Adressen auf die Rückseite der Bilder schreiben, die wir aufbewahren, können wir gleichzeitig die Kundenkontaktliste des Ladens erweitern.

So ist es auch immer bei Phoebe und unseren Hochzeitsmessen. Sie ist unser königliches Aushängeschild vor dem Haus, wie der Schwan, der über das Wasser gleitet. Währenddessen schwinge ich die wild paddelnden Schwanenfüße, indem ich außer Sichtweite herumflitze und die Dinge am Laufen halte. Aber – wie Phoebe so schön sagt – wir beide spielen auf diese Weise optimal unsere Stärken aus.

Poppy lässt ihren blonden Pferdeschwanz herumschnellen und rammt Kirschen auf Spieße, als gäbe es kein Morgen. »Für die Cocktails ist Jess verantwortlich, sie hat sich da etwas hinreißen lassen. An jedem anderen Tag gibt es Prosecco bis zum Abwinken, da sieht man nicht, wenn was danebengeht.« Da Poppy seit zehn Jahren die Hochzeitstortenbäckerin des Geschäfts ist, weiß die ganze Stadt, wie köstlich ihre Backwaren sind. Es ist also kein Wunder, dass man sich um ihre Türme aus Cupcakes mit leckeren Toppings aus pastellfarbener Buttercreme und herzförmigen Streuseln reißt.

Ich nicke ihr zu, während ich die Cupcake-Krümel aus meinem Dekolleté fege. »Du kannst mich ruhig bekleckern. Diese Pailletten sind sehr praktisch – ich wische sie einfach nachher ab.«

»Du gibst aber auch ein sehr süßes Engelchen ab, muss ich sagen.«

Ich streiche über den blass aprikotfarbenen Mini-Jumpsuit, den ich mir heute Nachmittag von der Brautjungfern-Kleiderstange geliehen habe. Mit der Engelsverkleidung wollte Poppy mich aufmuntern, und da die Baby-Nachricht zu dem Zeitpunkt noch nicht angekommen war, spielte ich gern mit. Was den Rest meiner Kleidung anbelangt, so geht es von den allgegenwärtigen Pailletten nur noch bergab. Rückblickend war es eine dieser Zeiten, in denen wir es optisch richtig krachen lassen wollten. Ein überdimensionaler Amorbogen hängt quer vor meinen Brüsten. Außerdem trage ich Flügel, einen Beutel voller Pfeile auf den Rücken geschnallt und noch dazu Lorbeerblätter im Haar. Fragt mich bitte nicht, wie der Lorbeer da mit reinpasst.

Ich nehme zwei weitere Krüge und schwenke sie vor dem Meer aus Menschen in dickgefütterten Jacken vor uns. »Möchte jemand ›Screw on the Drive‹ oder ›Heart Attack‹? Und die Cupcakes sind mit Lavendel, weißer Schokolade und Vanillebuttercreme.« Ich schnappe mir selbst noch zwei und murmele an Poppy gewandt: »Kuchen in mundgerechter Größe ist so praktisch, wenn man servieren muss«, während ich mir einen in den Mund stecke.

Sie beugt sich zu mir und wedelt dabei mit einem Taschentuch. »Zwei Dinge – erstens: Du hast Lippenstift im Ohr.«

Ich stöhne auf, während sie ihn abwischt. »Wie zum Teufel kommt der da hin?«

»Wir kennen beide die Antwort darauf.« Sie grinst nur kurz, bevor sie weiterspricht. »Und zweitens – dasselbe Thema – ist der Typ von der Schneegans gerade reingekommen.«

»WAS?!« Ich verschlucke mich so sehr, dass ich beim Abbeißen den ganzen Cupcake inhaliere. Das Papierförmchen trifft auf meinen Rachen, und als Nächstes ersticke ich fast und niese dann alles in Poppys gut platziertes Taschentuch hinein. Sie reicht mir ein zweites, damit ich die letzten Krümel von meinen Augenbrauen wischen kann. Auf Phoebes Fehlverhaltensskala bekäme dies eine ähnliche Punktzahl, als hätte ich mir auf die Füße geko… – gespuckt. Ich schwöre, ich habe das nur zweimal gemacht, und nie vor unseren Hochzeitskunden.

Das Gute am Fauxpas dieses Abends ist, dass es mir im entscheidenden Moment gelang, auf die Knie zu fallen, sodass das Schlimmste hinter der Bar verborgen blieb. Aber nun schaue ich zu Poppy auf.

Sie spricht durch zusammengebissene Zähne zu mir herunter. »Schau jetzt nicht hin«, sagt sie, was völlig unnötig ist, da ich keine Chance habe, irgendwo hinzusehen, »aber er fliegt regelrecht herüber …« Ihre Augen sind so groß wie Blumenkübel. »… und der Adler – äh, die Gans – ist gelandet.«

Ich könnte schweigen und Poppy oben das Schlimmste klären lassen, oder ich stehe auf und ziehe die Sache selbst durch. Hastig fahre ich mir mit den Fingern durch meine herabhängenden Haarsträhnen, um ein bisschen Volumen zu schaffen, hinter dem ich mich verstecken kann, und strecke meinen Kopf über die Tischkante. »Hey! Ich dachte, Sie wollten woanders hin?« Hört ihr das? Ich klinge gerade genauso selbstbewusst wie Phoebe.

Der Typ zieht eine Grimasse. »Zum Glück für Sie bin ich zwei Typen begegnet, die ein Nein als Antwort nicht akzeptieren wollten.« Bei Licht sieht er noch besser aus als im Dunkeln, irgendwie verlebter. Auf eine anziehende Art und Weise. Sein Gesicht ist schmal, und seine markanten Wangenknochen erinnern in Kombination mit den Bartstoppeln an die typischen Aufnahmen der männlichen Vogue-Models. Und irgendwie weiß ich einfach, dass unter der lässig-modischen Denim-Jeans und dem dunklen Handstrick-Pullover ein perfekt dazu passender Körper steckt.

Ich werfe Poppy einen Seitenblick zu und richte mich wieder gänzlich hinter dem Tresen auf. »Ich überprüfe da unten nur den Lagerbestand.«

Er kommt mir ein Stück entgegen, und unsere Blicke treffen sich. »Und ich wollte Ihnen nur sagen, wie schön ich das Feuerwerk fand.«

Sobald die Worte mich erreichen, starre ich auf seine Lippen. Ich stelle mir meine Finger in seinen braunen zerzausten welligen Haaren vor. Ich muss daran denken, wie meine Zunge über seine Zähne geglitten ist. Ich erinnere mich an das prickelnde Feuerwerk in meinem Bauch, das er auch gefühlt haben muss. Mein Mund öffnet sich, aber heraus kommt gar nichts.

Poppy tritt mir auf den Fuß. »Waren die Raketen nicht einmalig schön?«

Raketen? Ach so, die Feuerwerkskörper … Natürlich, das meint er. »Aber klar! Tolle, einfach überwältigende Böller – und die Herzen, die den Himmel heruntergeschwebt sind!« Ich wische mir hektisch die Hände am Hintern ab. Ich muss hier meinen Job tun, bevor ich mich noch mehr zum Deppen mache. »Was darf ich Ihnen einschenken? Irgendwas, was auf der Tafel steht? Wir haben einfach alles.«

Da ist eindeutig ein Funkeln in seinen Augen. »Ich habe mich gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn ich Ihnen einen richtigen Bootseigner-Parkausweis statt einer Besucherkarte angeboten hätte.« Seine Lippen zucken, während er die per Hand geschriebene Getränkekarte studiert. »Wenn das das Angebot ist, kenne ich wohl die Antwort.«

Ich verziehe keine Miene. Stattdessen fixiert mein Blick das Diesel-Logo auf seiner Jacke. »Was darf es sein – ein ›Unleash Your Libido‹ oder ein ›Lovebite‹?«

»Libidoentfacher oder Liebesbiss? Hm. Vielleicht auch etwas ganz anderes? Was würden Sie denn empfehlen?« Er hebt die tiefschwarzen Wimpern, und seine Augen leuchten dunkelgrau, mit einem sanften, neckenden Schimmer darin.

»Ähm …« Als sich unsere Blicke wieder treffen, stockt mein Herzschlag, und ein Schauer läuft mir über den Rücken, weil ich mich an den Rausch erinnere, der mich erfüllt hat, als unsere Lippen aufeinandertrafen. Ein Hauch seines Duftes weht zu mir herüber, und ich bin heilfroh über den Paillettenschild, der meine Brüste bedeckt. Egal, wie dick die Polsterung meines T-Shirt-BHs sein mag, einem solchen dunklen Blick wäre sie nicht gewachsen. Ich öffne und schließe den Mund nur deshalb, weil mich das bisher noch niemand gefragt hat.

Poppy kommt mir zu Hilfe. »Wir trinken alkoholfreien Rhabarber und Rosé.«

»Aber das ist was für Weicheier«, tritt meine Stimme wieder in Aktion, angespornt durch das Funkeln in seinen Augen und die Notwendigkeit, das hier schnell hinter mich zu bringen. »Ich denke, Sie sollten Love Potion Nr. 9 probieren.«

Poppy wendet sich mir zu. »Liebestrank Nr. 9? Haben wir so was?«

Ich rücke den Riemen des Amorbogens auf meiner Schulter zurecht, fülle ein Limonadenglas, werfe eine Gurkenscheibe und einen Löffel Beeren hinein, stecke einen gestreiften Papierstrohhalm dazu und schiebe ihm das Ganze zu. »Jetzt schon. Cheers!« In Gedanken füge ich hinzu: Und dann mach, dass du hier wegkommst.

Diesmal verziehen sich seine Lippen zu einem breiten Lächeln. Und natürlich passen seine perfekten Zähne zum makellosen Rest des Gesamtpakets. Was auch sonst? Schließlich klingt seine dunkle Schokoladenstimme auch genauso, wie er geschmeckt hat. »Ist das also jetzt die Stelle, an der ich Ihnen mein Herz überlasse?«

»Wie bitte?«

Poppy landet einen Stoß in meine Rippen und zischt: »Der Getränkegutschein, den er in der Hand hält – nimm ihn schon an, Milla.«

Ich schlucke heftig, fluche innerlich, wie sehr ich mich hier vorführen lasse, und strahle ihn an. »Besten Dank.« Aber als meine Finger das Papier erreichen, zieht er es weg.

Er lacht leise. »Noch eine Erdbeere, dann gehört es Ihnen, versprochen.«

Ich schüttle den Kopf. Im Hochzeitsgeschäft muss man ausgesprochen höflich sein, absolut jeden Moment. Phoebe hat mir in den letzten sechs Jahren praktisch täglich vorgebetet, dass es so aussehen muss, als hätte man den größten Spaß, aber Zugeständnisse gibt es nicht. Da dieser Abend eher ein nettes Beisammensein für alle ist, leiste ich mir diese eine Verfehlung. »Noch eine Erdbeere? Das nenne ich eine anspruchsvolle Kundschaft!«

Jetzt lacht er richtig, und seine Augen sprühen förmlich Funken. »Ich bin gerade nach einem Monat auf See wieder nach St. Aidan zurückgekehrt und brauche alle Nährstoffe, die ich bekommen kann.«

Unglaublich. Ich Glückspilz habe einen Superman getroffen. »Und ich bin gerade den ganzen Weg von Gloucestershire hergefahren, aber trotzdem verschlinge ich nicht den gesamten Obstvorrat.«

Er grinst immer noch, aber diesmal schaut er mich direkt an, mit der Art von Lächeln, die einen zu geschmolzenem Toffee zergehen lassen. »Was mir die Frage erspart. Ich dachte, ich hätte den Hauch eines Bristol-Dialekts erkannt.«

Ich reiße die Augen auf. »Den habe ich ganz bestimmt nicht, aber trotzdem danke.« Ich bin so verzweifelt, dass ich ihm die ganze Schale mit Erdbeeren hinschiebe. »Nehmen Sie einfach, so viel Sie brauchen. Und wenn Sie wegen Vitaminmangels zusammenbrechen, bringen Sie bitte die Auslagen nicht durcheinander.«

Er schaufelt eine Erdbeere in sein Getränk und schiebt sich eine weitere in den Mund – oh, schon wieder diese Zähne. Dann reicht er mir sein Papierherz mit einem Grinsen. »Mein Herz, bitte passen Sie gut darauf auf. Und schön drauf achten, dass Sie Ihren Köcher nicht fallen lassen.«

Das Beste, was ich zustande bringe, ist, große Augen zu machen, während ich mich frage, wovon zum Teufel er spricht.

Er betrachtet mich mit einer hochgezogenen Augenbraue. »Das, wo Ihre Pfeile drin sind – das nennt man Köcher. Ich bin kein Experte im Bogenschießen, aber es sieht so aus, als würde Ihrer gleich runterfallen.« Dann grinst er noch ein Stückchen breiter. »Wenn Amor seine Munition verliert, haben Sie nicht mehr viele Interessenten für Ihre Fotos.«

Ist es nicht einfach ätzend, wenn Typen so rüberkommen, als wüssten sie so viel mehr als man selbst?

Ich verdrehe die Augen nach oben zum Kronleuchter. »Ich hatte nicht vor zu zielen. Mein Bogen ist reine Dekoration.«

»Wenn das so ist, lasse ich Sie mal Ihre Liebesbisse austeilen.« Er wirkt äußerst amüsiert. Und womöglich lacht er. »Wir sehen uns später.«

Als er in den Schwarm farbenfroher Winterjacken und geröteter Wangen hinausschlendert, wende ich mich Poppy zu. »Der hat sich aber ordentlich Zeit gelassen.«

Poppy grinst wie ein Honigkuchenpferd. »Meinst du nicht, dass er es in die Länge gezogen hat, um zu flirten?«

»Was? Mit mir?!«› Das kann doch nicht ihr Ernst sein? »Was auch immer vorher passiert ist, du weißt, dass ich mit Männern durch bin.«

Sie beißt sich auf die Lippe. »Ihm hat die Kostprobe so gut geschmeckt, dass er gleich wiedergekommen ist, um sich mehr zu holen.« Sie schaut mir in die Augen, als würde sie direkt in meine Seele blicken wollen. »Wenn du die Sache weiterlaufen lassen willst, würde er garantiert nicht ablehnen.«

Für einen Moment breitet sich ein warmes Gefühl in meiner Magengegend aus. Dann bin ich umgehend wieder in der Wirklichkeit und komme zur Besinnung. Natürlich bin ich für so was nicht zu haben. Was denkt sich mein Körper eigentlich? Aber bevor ich meinen Protest hinausschreien kann, kommt Jess in Sicht, in einer weiten, flatternden Leinenhose, und ihre Slipper klappern auf den Bodendielen.

Mit strahlenden Augen kommt sie auf uns zu. »Zwar übertreiben Ken und Gary es etwas mit diesen Hotpants, aber wenn es darum geht, die Massen hereinzubekommen, übertreffen sie sich selbst.« Während sie ihre Aqua-Chiffon-Bluse glatt streicht, richtet sie ihren Laser-Blick direkt auf mich. »Hier, bring deinem reizenden Freund dort drüben etwas Minze. Vier Wochen auf See, er braucht doch etwas Grünzeug.«

Das ist das Komische an Jess – wo immer im Gebäude sie sich aufhält, sie weiß jederzeit, was los ist. Wer sonst würde den Windjackentyp zwei Gänge weiter bemerken?

Aber zum Glück bleibt mir ihr Auftrag erspart, denn Jess klopft sehr laut mit dem Löffel an einen Cocktailshaker. Sobald das Gemurmel im Raum verstummt, räuspert sie sich. »Herzlich willkommen zu unserer ersten Jubiläumsfeier und unserer ersten gemeinsamen Veranstaltung mit dem Single-Club. Wie die meisten von Ihnen wissen, haben wir hier bei ›Brides by the Sea‹ immer die Fahne für die einsamen Herzen hochgehalten …« Sie hält inne und strahlt in die Runde.

Dies ist nicht nur eine Verkaufsmasche, es stimmt tatsächlich. Nach der Eröffnung des Ladens bestand das Team jahrelang aus Leuten, die alleinstehend, unabhängig und glücklich mit dieser Konstellation waren. Erst in den letzten Jahren haben sie eine nach der anderen ganz unerwartet ihre Partner fürs Leben gefunden – sogar Jess.

Sie wirft einen Blick zu ihrem schelmischen und ziemlich zerknitterten Verlobten Bart hinüber, der eine Schulter an die zartgraue Wand lehnt. Er hat ihr nicht nur das Feuerwerk geschenkt, sondern besitzt zufällig auch ein fabelhaftes Herrenhaus in Rose Hill.

Dann fährt Jess fort: »In letzter Zeit hat ›Brides by the Sea‹ wie Amors Pfeile auf Paare gewirkt. Nutzen Sie es also aus, dass Sie an diesem Valentinstag hier sind! Nehmen Sie sich ein Beispiel an mir – seien Sie mutig und geben Sie der Liebe eine Chance!«

Im ganzen Raum wird gejubelt und geklatscht. Jess ist ein Profi, wenn es darum geht, eine Menschenmenge zu begeistern. Sie passt genau den richtigen Moment ab, um weiterzureden. »Bei ›Brides by the Sea‹ möchten wir Ihnen immer etwas Besonderes bieten …« Sie wartet darauf, dass alle ihre Aufmerksamkeit wieder auf sie gerichtet haben. »Jeder, der sich heute Abend von Milla fotografieren und auf unserer Valentinstafel ausstellen lässt, erhält zehn Prozent Rabatt …« Sie macht eine Kunstpause. »… egal, wann Sie zu uns kommen, und unabhängig davon, wen Sie heiraten.«

Poppy grinst und schüttelt den Kopf. »So ist Jess eben. Sie würde nicht zulassen, dass so ein kleines Detail wie der Umstand, dass jemand mit einem anderen Partner zusammen ist, einem Geschäft im Wege steht.«

Jess blickt durch den Raum wie eine Kaiserin, die ihre Untertanen begutachtet. »Wir haben also keine Zeit zu verlieren! Ab auf die Liebesbank und heftet die Fotos an die Tafel!« Sie wirbelt herum und fixiert mich mit ihrem Blick. »Worauf wartest du, Milla? Schnapp dir die Kamera!«

Ich fände es schöner, wenn mein Blick nicht mehr auf die Rückseite einer Diesel-Windjacke treffen würde, die sich immer noch im Raum befindet.

Als die Menschenmenge sich eine ganze Zeit später langsam ausdünnt, habe ich keine Ahnung, wie viele Polaroid-Filme ich verbraucht habe, und die Korktafel an der Ladenwand ist mit niedlichen Retro-Farbfotos bedeckt. Poppy hat mir bis zum letzten Kunden geholfen, was großartig ist. Aber wirklich, auf ihr wildes Augenbrauengewackel könnte ich verzichten, das sie mir nun wieder zuwirft, während sie den Windjackentyp in die Fotoecke scheucht. Als er sich schließlich in einem Winkel des weiß gestrichenen Sitzmöbels niederlässt, hält er seine Jacke über dem Arm. Ich starre seinen dunklen handgestrickten Pullover an und schaue hektisch nach, ob er jemanden bei sich hat.

»Also, sind Sie …« Natürlich will ich Alleinstehende nicht diskriminieren, aber für das Bild muss ich es ja wissen. »… allein hier?«

Hinter ihm hüpfen Poppys Augenbrauen im Schnellgang auf und ab.

Er zieht ein Gesicht. »So war es zumindest, als ich das letzte Mal nachgesehen habe. Bekomme ich den Rabatt trotzdem?«

»Keine Sorge«, mischt sich Poppy ein.

Er lacht. »Wenn ich eine große Ausgabe plane, kann ich so ein Angebot nicht verstreichen lassen.«

Poppys Augen weiten sich. »Vielleicht sollten Sie mal mit Jess sprechen?«

Er zieht die Nase kraus. »Bei mir zeichnen sich zwar einige Hochzeiten ab, aber es besteht keine Eile.«

Diese Prahlerei, die noch gewaltiger ist als die mit seiner Jacht, kann ich unmöglich ignorieren. »Na, dann hoffen wir mal, dass all Ihre Ehefrauen sehr glücklich werden.« Wo das herkam, weiß ich auch nicht, und ich bin so schockiert über meine Worte wie jeder andere in Hörweite auch. Ich warte nicht auf eine Reaktion, stattdessen nicke ich in Richtung Loveseat und hebe die Kamera an. »Dann machen Sie es sich mal bequem. Also, wenn Sie so weit sind – ich bin bereit.« Ich richte gerade den Blickwinkel aus, als von der anderen Seite des Raums jemand herangerauscht kommt und mir die Kamera aus den Händen reißt.

Jess schubst mich aus dem Weg und strahlt auf den Windjackenmann hinab. »Es verdirbt ja die Bildkomposition, wenn wir nicht den ganzen Sitzplatz ausfüllen. Komm, Milla, setz dich doch mal schnell dazu, ja?«

Wenn ich nicht so überrascht wäre, könnte ich ihr tausend gute Gründe nennen. Doch ich schaffe es gerade mal, Poppy zu packen und mit mir nach unten zu ziehen. »Eine auf jede Seite, wie wär das?« Ich werfe Jess ein Lächeln zu. »Drei zum Preis von zwei. Was gibts daran auszusetzen?«

Erst als wir unsere Hüften zwischen die Armlehnen schieben, wird mir mein großer Fehler klar. Zu zweit wäre auf dem Sitz Platz für eine Lücke zwischen uns gewesen. Als wir nun zu dritt hineinplumpsen, knackt es irgendwo unter meinem Hintern dumpf, aber solange der Sitz hält, ist es mir egal. Ich mache mein bestes Selfie-Gesicht, werde aber dabei so fest gegen einen bestimmten wolligen Pullover gequetscht, dass ich nicht nur das Muster der Maschen durch meinen Jumpsuit spüre, sondern auch jeden einzelnen Rumpfmuskel darunter.

»Bitte lächeln!«, schnurrt Jess richtiggehend. »Und weiter so bleiben für ein zweites Bild. Okay, ist im Kasten. Ihr dürft euch entspannen!«

Wie gut, dass ich das letzte Jahr damit verbracht habe, mein Lächeln zu perfektionieren, auch wenn ich jede Sekunde dieses Shootings verabscheue. Schließlich hatte ich mir geschworen, nie wieder zuzulassen, dass ein Mann den Arm um meine Taille legt, auch wenn es immerhin das knarzende Geräusch mindert. Ebenso wenig hatte ich eingeplant, dass Bartstoppeln gegen meine Wange drücken. Was seinen köstlichen Duft betrifft, so werde ich mit einer ganzen Lungenfüllung davon anstatt wie zuvor einer Nase voll gleich ohnmächtig werden. Ich bin ihm nun nah genug, um zu sehen, dass ich nicht die Einzige mit rosafarbenen Flecken am Ohr war.

Poppy ist die Erste, die sich aus der Verkeilung befreit. »Hey, schönes Aftershave. Paco Rabanne?«

Als ich aufzustehen versuche, hält mich ein Widerstand zurück, und es können nicht meine Haarsträhnen sein, die sich in seinem Bart verfangen haben. Statt einer Antwort auf Poppys Parfümfrage ertönt ein lauter Aufschrei. Der Windjackentyp jault und hält sich die Seite, als ich endlich auf den Beinen bin.

Er zeigt auf einen Stock, der aus dem lockeren Gestrick seines Pullovers heraussteht. »Hey, Amor, haben Sie nicht gesagt, Sie schießen nicht?«, protestiert er. »Sie haben bei mir gerade voll ins Schwarze getroffen!«

Oh, Mist. Mir fährt der Schreck so in die Glieder, dass mir schlecht wird. Ich schaue auf meinen Beutel. Die Pfeile sind gesplittert und einer fehlt definitiv. Wenigstens erklärt das, woher das Knackgeräusch kam. Unter dem Strich wäre es vielleicht besser gewesen, wenn der Sitz durch unser Gewicht zusammengebrochen wäre. »Es tut mir so leid! Habe ich Sie aufgespießt? Sind Sie verletzt?«

Er hebt seinen Pullover an und starrt auf seine Rippen. »Keine Sorge, ist nur ein Kratzer.«

Da ist das Sixpack, das ich bereits erahnt habe. Und auch der gebräunte Bauch, auf den ich ebenfalls einen Blick erhasche, ist nur eine weitere Bestätigung meiner Theorie zu seiner absoluten Perfektion. Dann nehme ich einen roten Fleck wahr, der nach unten wandert und sich riesig und hell gegen seine Bräune abhebt. »Oh nein, Sie bluten!«

Kennt ihr das bei Notfällen? Manchmal erstarrt man, und manchmal reagiert man sofort, aber dabei fühlt man sich vollkommen fremdgesteuert. Genau so ergeht es jetzt mir. Ehe ich mich versehe, springe ich auf und schnappe mir eine Handvoll Taschentücher aus der Taschentuchbox mit Brautmutter-Schriftzug. Als ich zurückkomme, fahre ich mit der Hand so weit hoch unter seinen Pullover, um das Blut abzuwischen, dass auch der größte Teil meines Arms verschwindet.

Ich bin mir nicht sicher, ob es an der Wärme in seinem Pullover liegt oder an der Scham, die mich durchströmt, jedenfalls ist mir schrecklich warm, und hinter meinen Pailletten rinnt der Schweiß nur so an mir hinunter.

Sera, die Kleiderdesignerin, kommt herüber, die Daumen hat sie durch die Gürtelschlaufen ihrer zerrissenen Denim-Shorts geschoben, die sie immer trägt. Sie streicht ihre sonnenhellen Locken zurück und sammelt die blutdurchtränkten Taschentücher auf. »Was ist denn hier los? Das sieht aus wie eine Szene aus ›Call the Midwife‹. Wartet mal, ich hol den Verbandskasten.«

Der Windjackentyp schüttelt den Kopf. »Ich bin gerade allein über den Atlantik gesegelt. Ich glaube, ich komme auch ohne Sanitäter zurecht.« Er dreht sich um und schaut grinsend zu mir auf. »Jedenfalls werde ich hier sehr gut versorgt.«

Irgendwie schaffe ich es, mit meiner freien Hand noch mehr Taschentücher zu greifen und sie ihm in die Hand zu drücken. Aber am Ende ist es einfach leichter, ihn sich zurücklehnen und sein Oberteil hochziehen zu lassen, damit ich ihm das größte Pflaster aus Seras Erste-Hilfe-Kasten aufkleben kann.

Er lässt den Pulli wieder fallen und reicht mir ein Stück des zersplitterten Stöckchens. »Sie haben mit einem zerbrochenen Pfeil geschossen, kein Wunder, dass Sie fünfzehn Zentimeter zu tief getroffen haben. Wenn Sie es auf mein Herz abgesehen haben, müssen Sie es noch mal versuchen.«

Ich lächle wie eine Irre, dabei wünsche ich mir nichts sehnlicher, als auf der Stelle vom Erdboden verschluckt zu werden. »Vielleicht nächstes Jahr?« Als ob ich dann hier wäre – natürlich nicht.

Und nein, in seinem Blick liegt bestimmt kein Glühen – das ist nur die Farbe seiner Augen. »Bis dahin bin ich vielleicht schon in den Sonnenuntergang gesegelt.« Ich kann nicht die Einzige sein, der die Breite seiner Schultern auffällt, als er aufsteht und sich mir zuwendet. Seine tief sitzenden Jeans. Die Wölbung unter dem abgewetzten Ledergürtel. »Letzte Chance, zu zielen, während ich stillstehe. Ein bewegtes Ziel zu treffen, ist viel schwieriger.«

Ich schließe kurz die Augen, um die Bilder seines perfekten Körpers auszusperren, und begegne dann seinem Blick. »Erst recht, wenn ich mit Höchstgeschwindigkeit in die entgegengesetzte Richtung fahre.« Hashtag Campervan in Eile, Hashtag ich bin dann mal weg. Ich mein ja nur.

Jess strahlt mich an. »Nur, dass du das wahrscheinlich nicht tun wirst, Milla.«

»Bei Amors Ehre, ich tu es. Da bin ich mir ganz sicher.«

Sie kneift ein Auge leicht zu. »Und ich bin mir ziemlich sicher, dass sich deine Meinung darüber sehr bald ändern wird.«

Der Windjackentyp stimmt auch mit ein: »Wenn Sie hierbleiben, können Sie den Parkausweis behalten, solange Sie wollen.«

Jess dreht sich zu ihm um. »Wenn Sie fertig verarztet sind – also, falls Sie nicht gleich hier jemandem einen Heiratsantrag machen und die Hochzeit ins Rollen bringen möchten, freuen wir uns, Sie wiederzusehen, sobald Sie Ihren Rabatt einlösen kommen. Wir übernehmen schlichtweg alles, was mit Hochzeiten zu tun hat. Denken Sie daran: Uns ist kein Auftrag zu groß oder zu klein.«

Er ignoriert die Herausforderung in Jess’ Werbeeinlage, verzieht die Lippen aber wieder zu einem Grinsen. »Dann sehen wir uns ja sehr bald wieder.« Er zögert. »Es sei denn, ich kann Sie dazu verleiten, später noch bei mir weiterzufeiern? Es ist nicht meine eigene Jacht, aber sie ist groß genug für uns alle. Ich kann Rum- und Bananenpfannkuchen mit Sahne und Toffeesoße zubereiten. Sie sind herzlich eingeladen, an Bord zu kommen.«

Ich sehe, wie Jess abwägt. Obwohl sie mit Bart verlobt ist, kann sie nicht so einfach Angebote, die mit Traumschiffen einhergehen, ablehnen.

Als sie antwortet, klingt sie entschlossener, als ich es erwartet habe. »Leider müssen wir ablehnen, da wir hier nachher eine kleine Privatveranstaltung haben.«

So ist Jess, sie spricht für sich selbst, aber im majestätischen Plural. In Gedanken vertilge ich bereits einen Stapel Pfannkuchen mit einem Berg Schlagsahne. »Na ja, vielleicht könnte ich …«

Jess stößt einen Schrei aus. »Eine private Party mit dir als Ehrengast, Milla!« Sie lacht auf. »In einer halben Stunde im Studio, verstanden? Ich habe ein Angebot für dich.«

Wie jeder weiß, gibt es nichts zu diskutieren, wenn sie diesen Ton draufhat. Ich rüste mich gegen ihre schlagenden Argumente, denn sosehr mir auch missfallen mag, was sie mir anzubieten hat, so sehr bezweifle ich, dass ich stark genug bin, um abzulehnen.

Immerhin habe ich den heutigen Abend ohne allzu viel öffentliches Gejammere überstanden. Ich habe zwar einen Kunden leicht aufgespießt, aber keine Getränke auf irgendjemanden geschüttet. Und wenn ich ein mieser Amor bin, ist es wahrscheinlich besser, dass mein Pfeil nicht direkt ins Herz von Mr. Windjacke getroffen hat. Denn das bereitet mir auch so schon genug Probleme.

3. Kapitel

Champagner und Knaller

Freitag, Valentinstag

Im Studio von »Brides by the Sea«, St. Aidan

»Ich würde liebend gern mit einem Geschäft in unser Jubiläumsjahr gehen, das nicht abwärts, sondern aufwärts strebt, Milla, aber wie jeder andere auch, haben wir in letzter Zeit einigen Druck gehabt.«

Poppy, Jess und ich sind die enge Wendeltreppe hinaufgestiegen, die vom Ausstellungsraum im Erdgeschoss zum Studio führt, haben den knarrenden Holzboden überquert und schauen jetzt aus den kleinen quadratischen Scheiben des Schiebefensters am anderen Ende des Raums. Weit unten weicht dunkel gekräuseltes Wasser den blassen Linien der Wellen, die den Strand hinauf- und hinuntergleiten. Und nach dem mutmachenden Andrang auf die Gratis-Cocktails fühlt sich die Wahrheit wie ein kühler Wind an. Ich weiß, dass Hochzeiten für mich aus einem ganz anderen Grund keinen Spaß mehr machen, aber nachdem die Branche vor sieben Jahren richtig angeheizt wurde, ist jetzt eine Eiszeit angebrochen. Mich überrascht, dass selbst ein grundsolides Unternehmen wie das von Jess die Auswirkungen zu spüren bekommt.

»Willst du damit sagen, dass ›Brides by the Sea‹ Probleme hat?«

Jess hebt eine Augenbraue. »Wir benutzen hier niemals das ›P‹-Wort, Milla. Selbst als eine Bräutigam-Mutter in der Nacht vor der Hochzeit zu viel vom Saum eines schönen Brautkleides abgeschnitten hat, nannten wir es Angelegenheit und nicht Katastrophe.«

Poppy verzieht das Gesicht. »Das muss wirklich die schlimmste Nacht gewesen sein, aber ich hab sie verpasst, weil ich mit Vorwehen im Krankenhaus lag.« Sie dreht sich zu mir um. »Hast du nicht einen Blog-Beitrag darüber geschrieben?«

Ich nicke. »Es kam in meinen Tipps für den Umgang mit Kleideränderungen vor. Heute wäre es weniger prekär, weil die vorausschauendsten Bräute in Bristol Knöchel zeigen.«

Poppy pustet geräuschvoll die Luft aus. »Es geht darum, dass alle an einem Strang gezogen haben, und am Morgen waren alle glücklich und zufrieden.«

Jess nickt. »Und so machen wir es jetzt auch.«

Beim Blick über die weiß gestrichenen Wände des Ateliers schimmern die halb fertigen Kleider an ihren Stangen seidig in den Lichtkegeln der Hängelampen. Spitzenfragmente und Skizzen sind über den Arbeitstisch verstreut, und Ausschnitte von Bildern bedecken die Pinnwand. Mir geht schon durch den Kopf, was für einen tollen Beitrag das Studio für meinen Hochzeitsblog »Brides Go West« abgeben wird. Poppy hatte mir vor ein paar Jahren, als die berühmte Josie Redman ausgerechnet Sera, die Hauptdesignerin von Jess, mit der Anfertigung ihres Hochzeitskleides beauftragte, eine exklusive Einführung für einen Blogbeitrag gegeben. Es ist schon immer eines meiner Lieblingsbrautgeschäfte gewesen.

Vor allem ist der Laden die perfekte Inspiration für die Blogartikel im Winter, wenn es weniger echte Hochzeiten gibt. Ich schreibe alles an Social Media Content für »Brides Go West«, daher bin ich immer auf der Suche nach hübschen Fotomotiven und neuen Perspektiven. Wenn ich alle Ecken und Winkel hier abgeklappert habe, werde ich genug Inspiration gesammelt haben, dass sich unsere Follower durch eine Menge märchenhafter Beiträge klicken können, bis im Frühjahr wieder mehr Hochzeiten stattfinden.

Jess hat mir zwar eine Sektflöte mit Prosecco in die Hand gedrückt, aber wir sind in derselben Branche. Sie schaut zu, wie die Blasen in ihrem Glas aufsteigen, und die Schleife am tiefen Ausschnitt ihrer Chiffonbluse hebt sich, als sie Luft holt. »Es ist kein Geheimnis – in einer weltweiten Konjunkturflaute gehen Hochzeiten als Erstes drauf.«

Solche Gespräche überlasse ich normalerweise Phoebe. Wenn ich über globale Angelegenheiten spreche, habe ich das Gefühl, jemand anders bewegt meinen Mund. »Die meisten haben einfach nicht mehr das Geld, um viel Wirbel zu machen.«

»Kurz und gut, Milla, das ist genau mein Punkt. Grenzenlose Hochzeiten waren eine fabelhafte Sache für den Laden, aber wir müssen uns damit abfinden – die ausufernden Zeiten sind vorbei.«

Ich weiß genau, was sie meint. »Früher haben die Lieferanten um einen Platz auf unseren Hochzeitsmessen gekämpft, aber in letzter Zeit können es sich viele von ihnen nicht mehr leisten. In der Stadt geht es jetzt mehr ums Budget als um Exzesse. Und natürlich darum, freundlich zu unserem Planeten zu sein.«

Jess sieht mich eindringlich an. »Deshalb bist du von unschätzbarem Wert, Milla. Was auch immer die kosmopolitischen Bräute sich wünschen, wird hier in der nächsten Saison Trend.«

Ich muss lächeln. »Meghan hat die Denkweise von Bräuten sichtlich auf den Kopf gestellt, als sie in ihrem klassischen, schlichten Kleid den Gang entlangschritt. Und immer mehr Bräute entscheiden sich für Kleider wie das von Ellie Goulding, mit hohem Halskragen und Statement-Ärmeln.« Als Jess nickt, fahre ich fort: »Aber die Paare von heute denken über jeden Penny nach, bevor sie ihn ausgeben. Und wenn sie es tun, gibt es vegane Menüs, überall tauchen stille Diskotheken auf, und einige Paare heiraten sogar alkoholfrei.«

Poppy nickt. »Stimmt. Wir hatten so eine Hochzeit über Weihnachten auf dem Gutshof von Daisy Hill. Es gab Afternoon Tea und dann Beeren-Cordial bis zum Ende des Abends.«

Jess macht ihr St.-Aidan-ist-so-ätzend-Gesicht und schimpft: »Damit haben wir es zu tun – Pfennigfuchser, spitzenfrei und antialkoholisch! Das ist so langweilig.« Sie schnaubt. »Das Gute ist, dass die Menschen weiter heiraten werden. Wir haben unseren Bräuten immer besonders hochwertige und die verblüffendsten, schönsten und exquisitesten Produkte angeboten. Wenn es weniger Bräute pro Quadratkilometer gibt, müssen wir unsere Reichweite eben ausbauen.« Sie hält inne und wirft mir einen bezeichnenden Blick zu. »Und da kommst du mit deiner Alchemie ins Spiel, Milla.«

»Meiner was?« Gerade als ich mir im Stillen dafür gratuliere, wie gut ich mithalte, meldet sich meine lückenhafte Ausbildung wieder. Ich bin nie ganz darüber hinweggekommen, immer wieder die einzige Person im Raum zu sein, die nicht einen einzigen Abschluss vorzuweisen hat. Die Sache ist die, dass ich damals die Prüfungen verpasst habe, ohne es großartig zu merken. Aber nun habe ich große Wissenslücken. Das Komische ist: Wenn man etwas weiß, ist es oft keine große Sache, aber wenn man es nicht weiß, ist die Kluft zwischen einem selbst und allen anderen enorm.

Als ich ein Teenager war und meine Mum krank wurde, hat sie mich nie darum gebeten, zu Hause zu bleiben. Ihre Krankheit begann mit einem Kribbeln in den Fingern und endete in totaler Lähmung. Zuerst fiel uns nur auf, dass sie stolperte, aber als sich ihr Zustand verschlimmerte, brauchte sie mich, weil jemand für sie sorgen musste, und ich konnte nichts anderes tun. Solange meine jüngeren Brüder zur Schule gingen, war das alles, was für mich zählte.

Heutzutage würden mich sicher irgendwelche Sozialarbeiter einsammeln. Damals jedoch hatten die Lehrer Verständnis für uns und waren zu freundlich, um uns noch mehr Kummer zu bereiten. Ich war ein Totalschaden. Das Wichtigste war, dass meine Mutter mitbekam, wie meine Brüder mit glatten Einsen durchkamen, bevor sie von uns ging.

Dass ich mich um meine Mutter gekümmert habe, hat mich sicherlich gut für die schwierigen Seiten des Lebens abgehärtet. Ihre Krankheit war uns immer zwei Schritte voraus. Da sie immer weniger allein erledigen konnte, hatte ich ständig das Gefühl, zu versagen. Und als alles vorbei war, gingen alle davon aus, dass es eine Erleichterung sei, aber für mich fühlte es sich an, als hätte mir jemand die Brust aufgeschlitzt und mir das Herz herausgerissen.

Irgendwie führte mich mein Weg nach Bristol, und da ich dort nichts weiter tun musste, als fünfundvierzig Stunden die Woche zu arbeiten, und immer schlafen konnte, wenn ich nicht gerade im Club einen draufmachte, fühlte sich das wie ein Teilzeitjob an. Erst nach und nach dämmerte mir, dass es im Leben mehr gibt, als nur zu funktionieren. In der Lage zu sein, eine Bettpfanne und ein Frühstückstablett zu balancieren, während man Morphiumpflaster aufklebt und Krankentransporte regelt, bringt einen aber nur so weit.

Gerade deshalb war es für mich so toll, als ich zufällig auf die Hochzeitswerbebranche gestoßen bin. Alles, was ich mir selbst beigebracht habe, ist, dass ich Photoshop in- und auswendig kenne und fähig bin, eine Website im Schlaf zu erstellen, und beides war für die Blogarbeit von unschätzbarem Wert. Mit dem Wissen über Hochzeiten, das ich mir im Laufe der Zeit angeeignet habe, bin ich gewissermaßen zum Zufallsexperten auf einem Gebiet geworden, das ich liebe. Wenn es um Hochzeiten geht, kann ich mit jedem mithalten, und ich kann gar nicht beschreiben, wie großartig sich das anfühlt. Für Diskussionen wie diese habe ich normalerweise Phoebe als Unterstützung dabei. Wir mögen vielleicht gleichberechtigte Geschäftspartnerinnen sein, aber es steht außer Zweifel, dass sie das Sagen hat. Und deshalb wünscht sich ein Teil von mir trotz allem, dass sie jetzt hier wäre – einfach, weil sie es schafft, jede Geschäftsbesprechung mühelos über die Bühne zu bringen, selbst wenn sie dabei auf dem Kopf stehen müsste.

»Schwere Zeiten erfordern einen erfinderischen Ansatz, Milla.« Jess klopft mit einem Fingernagel gegen ihr Glas. »Aus diesem Grund brauchen wir dringend deinen Input für die Faceplant-Seite.«

Poppy lächelt verhalten. »Das ist Jess’ Kosename für Facebook.«

Ich sehe, wie Poppy mir hinter einer Schneiderpuppe zuzwinkert, und nutze die Gelegenheit, mich wieder in das Gespräch einzuklinken. »Für euren Social-Media-Auftritt kann ich auf jeden Fall einiges machen.« Das ist nicht schwer, weil er kaum existent ist.

Jess nickt. »Und die Jubiläumshochzeitsmessen, bei deren Organisation du uns helfen willst, werden das Geschäft ebenfalls ankurbeln.«

»Absolut.« Das ist eines von Phoebes Lieblingswörtern. Sie sagt es ständig. Und in diesem Moment scheint es genauso für mich zu funktionieren, auch wenn ich mich nicht zu dem verächtlichen Bah durchringen kann, das sie danach immer von sich gibt.

Aber die Messen für Jess auf die Beine zu stellen, liegt ebenfalls in meiner Komfortzone – dank der langen Listen mit fabelhaften Lieferanten und Ausstellern aus dem ganzen Südwesten, die ich seit Phoebes Heirat zusammengetragen habe. Es dürfte nicht allzu schwierig sein, sie zu kontaktieren und genügend von ihnen für die Messen zu gewinnen. Bis ich eine neue berufliche Orientierung gefunden habe, werde ich mit dem Blog aufs Ganze gehen und mich außerdem um Jess’ Messen kümmern.

Jess wirft mir einen fragenden Blick zu. »Poppy hat gesagt, dass Phoebe normalerweise die Frontfrau für eure Messen ist.«

Ich nicke. »Und ich gehe davon aus, dass du und das Ladenpersonal bei diesen Messen an der Front stehen werdet.«

Jess’ Nasenlöcher weiten sich. »Wir sind sehr an einer beruflichen Weiterentwicklung interessiert. Es wird für dich auch gut sein, mal in diese Rolle zu schlüpfen.« Sie hat definitiv keine Ahnung von meiner völligen Unfähigkeit, beeindruckend oder gepflegt auszusehen, sonst würde sie das nicht vorschlagen.

Eigentlich bezweifle ich sogar, dass ich einen ganzen Tag über eine seriöse Miene aufsetzen kann, aber ich bin zu professionell, um das jetzt zu erwähnen. »Super. Alles, was mit Hochzeiten zu tun hat, ist mir eine Herausforderung wert.« So eine Chance bekäme ich bei Phoebe nie, das steht fest. Und wenn ich es als mögliches Sprungbrett für eine neue Karriere betrachte, komme ich mit den Unannehmlichkeiten klar.

Als ich auf mein Handy schaue, sehe ich, dass unsere Tour durch das Studio ganze zwei Minuten gedauert hat. Nicht, dass ich einen besonderen Grund hätte, zu gehen, denn egal, wie oft das Bild von Schlagsahne und Pfannkuchen mir auch durch den Kopf schwirrt – ich werde mit Sicherheit nicht zum Hafen fahren. Vielleicht könnte ich Poppy überreden, mit mir einen Abstecher zum Hungry Shark zu machen. »Also, wenn das alles ist …?«

Jess lacht. »Es tut mir leid, wenn ich dich daran hindere, zu Ende zu bringen, was du mit Nic Trendell angefangen hast, aber ich habe uns eine halbe Stunde reserviert. Das bedeutet, dass wir noch 23 Minuten haben, um zu reden.«

Ich runzele die Stirn. »Ich glaube kaum, dass ich einen Nic Trendell kenne.«

Jess zieht ein Polaroidfoto aus ihrer Hosentasche, auf dem Poppy und ich in die Kamera lachen, den Windjackentypen zwischen uns eingeklemmt. Mich schaudert es. Vor kaum zwei Stunden habe ich ihm das Gesicht abgeknutscht. Auf ein Andenken daran kann ich verzichten.

»Der Mann auf dem Loveseat mit dem Jean-Paul-Gaultier-Parfüm, erinnerst du dich? Nicht viele Männer können so einen extravaganten Duft tragen. Hast du gehört, dass er über den Atlantik gesegelt ist?« Jess strahlt, als sie das Foto in meine Handfläche drückt. »Ich habe eins zusätzlich geschossen, falls du ein Exemplar für dich haben willst.«

Es wäre unhöflich, zu sagen, dass ich es vorziehen würde, meinen eigenen Kopf zu verspeisen, also rümpfe ich nur die Nase in Poppys Richtung, versuche, nicht daran zu denken, wie laut mein Herz vorhin im Bulli geklopft hat, und lasse das Foto in meine Tasche fallen. Um meine Dankbarkeit zu zeigen, stürze ich meinen Prosecco in einem Schluck herunter, um bereit zu sein loszuspurten, wenn der richtige Moment kommt – was keine gute Idee ist, denn bevor mein Glas den Untersetzer auf dem Zuschneidetisch berührt, hat Jess es bereits wieder aufgefüllt.

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