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Letzte Reise

Als Buch hier erhältlich:

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Kriminalkommissar Klaus Hummel wollte eigentlich nur schnell ein Bier trinken gehen. Nach einem Filmriss wacht er im Führerhaus eines Lasters auf. Auf einem Parkplatz mitten im Bayerischen Wald. Und im gekühlten Laderaum liegen neun tote Frauen. Nur mühsam erinnert er sich, dass er zuletzt in einem Puff in München war. Die Münchner Mordermittler erwartet ein perfider Fall an wechselnden Schauplätzen zwischen München und Niederbayern. Auf der Reise ist der Tod ihr ständiger Begleiter.


  • Erscheinungstag: 25.06.2024
  • Aus der Serie: Chefinspektor Mader, Hummel & Co.
  • Bandnummer: 7
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365006436

Leseprobe

Für Patrick

Letzte Reise ist nach Isartod, Die schöne Münchnerin, Heiligenblut, Letzte Halbzeit, Harte Hunde und Kalter Kaffee der siebte Kriminalroman mit dem Ermittlerteam um den Münchner Kriminalrat Karl-Maria Mader und seinen Dackel Bajazzo.

Karl-Maria Mader: Chef der Mordkommission I in München, Mitte fünfzig, Dackelbesitzer, wohnhaft im betonierten Neuperlach, liebt Frankreich und Catherine Deneuve (Fernbeziehung, einseitig). Eigenbrötler, geschieden. Hatte sogar eine Jugend – in Regensburg, wo auch seine erst spät entdeckte Halbschwester Helene lebt.

Klaus »Soulman« Hummel, fantasievoller Kriminalbeamter, Gelegenheitskrimiautor ohne rechten Erfolg, ist immer noch unsterblich verliebt in die Schwabinger Kneipenwirtin Beate.

Hummels Kollege Frank Zankl hat seine großen Testosteronreserven weitgehend aufgebraucht. Zu Hause haben Frau Jasmin und Tochter Clarissa und der jüngste Spross Angelo die Hosen bzw. die Windeln an.

Doris »Dosi« Rossmeier ist nach wie vor die niederbayerische Seele der Münchner Mordkommission: loses Mundwerk, fintenreich. Klein, stark, rothaarig – »das Sams« (Zitat Zankl). Ihr Freund Fränki liebt sie abgöttisch.

Rechtsmedizinerin Dr. Gesine Fleischer kümmert sich auch diesmal hingebungsvoll um Verletzungen und Todesursachen aller Art.

Dezernatsleiter Dr. Günther ist wie immer besorgt um das gute Ansehen der Polizei.

Bajazzo ist und bleibt der klügste Dackel Münchens. Teilt mit Mader so manche Ansicht und auch Brühwürfel. Versteht sein Herrchen blind und zieht die Fäden im Hintergrund.

Was in der letzten Folge geschah

In Kalter Kaffee war Kommissar Hummel verstrickt in den (tiefen) Fall des italienischen Bestsellerautors Sergio Baroli, der Enthüllungsbücher über die Mafia schreibt. Anfangs glaubte Hummel noch, dessen Leben zu beschützen, doch bald merkte er, dass der Journalist und Buchautor nicht mit offenen Karten spielte, und geriet in lebensgefährliche Situationen. Nach einem wilden Finale in Oberitalien ist Hummel wieder glücklich in München und freut sich auf ein paar ruhige Tage. Kalter Kaffee endete mit Hummels Sonntagsspaziergang in seinem Viertel Haidhausen. Genau dort beginnt Letzte Reise.

Giesing, Haidhausen, Au

Bunte Lichter, dunkles Blau

Hier ist mein Revier

Hier trinke ich mein Bier

Zwischen Weißenburger, Ostbahnhof

Silberhorn und Ostfriedhof

Mariahilf und Nockherberg

Gasteig und auch Muffatwerk

Rosenheimer, Orleans und Tela

Alles rechts der Isar

Hier läuft er, mein roter Faden

Döner, Pizza, Handyladen

Tchibo, Boazn, Metzgerei

Für jeden ist da was dabei

Hier komm ich auf meine Kosten

Meine Sterne stehn im Osten

THE RED LIGHT

»Worte paaren sich zu Reimen. Nacht und Tag. Ständig. Einfach so. In meinem Kopf fügt sich zusammen, was ich alles sehe, wenn ich durch meine Hood gehe. Ich nehme alle Entwicklungen wahr, so langsam sie auch passieren. Und manchmal staune ich, wie schnell sich alles ändern kann, manchmal ganz plötzlich. Also die Stimmung oder das Wetter. Da denke ich wie gestern, alles ist in Ordnung, die Sonne scheint, ich schmecke noch das Eis, das ich gerade auf der Parkbank gegessen habe, schaue hoch in die Blätter der Bäume, der Abendhimmel über dem Bordeauxplatz hat ein warmes Blau. – ? – Nein, er ist pechschwarz. Das Licht ist noch da, die Sonne steht knapp unter dem Wolkenrand. Jetzt wird sie von den Gewitterwolken verschluckt. Es gibt einen Riesenschlag, und Hagelkörner schießen durch das Laub. Ich renne über die Wörthstraße und drücke mich in einen Hauseingang, sehe auf den breiten Gehweg. Komisch, in den Straßencafés keine Spuren plötzlicher Flucht. Keine Gläser, Teller, kein Besteck auf den Tischen, auf den Metallstühlen keine Polster. Alle haben das Unwetter kommen sehen. Nur ich nicht. Weil ich ständig mit meinem Kopf irgendwo bin? Nein, stimmt nicht, ich registriere genau, was in meiner Umgebung vor sich geht. Manchmal zu genau. Und dann habe ich keinen Blick für das große Ganze.

Ich schaue in den Vorhang aus grauweißem Hagel, der da vor mir herunterdonnert, sehe die Millionen Kugeln Eis, die auf Autodächern und Autoscheiben tanzen, sich bei den Gullis sammeln und den Weg in den Untergrund nicht finden, die Fugen der Trambahnschienen schließen. Alles ist in dunkelgraue Farbe getaucht, völlig unpassend für einen frühen Sommerabend. Als ob da oben jemand beweisen will, dass das ganz einfach geht – Sonne und Sommer ausknipsen. Kein Verkehr, keine Autos, keine Tram. Das Tosen des Sturms, der schneidende Wind, die zahllosen hüpfenden Hagelkugeln.

In der Schule gegenüber brennt Licht. An einem Sonntag? Ist da ein Schutzraum für Unwetterflüchtlinge? Geöffnet von einem katastrophenerprobten Hausmeister? Oder spielt da einfach eine Volleyballgruppe in der Turnhalle? Ich blicke an den Fassaden der Häuser auf der anderen Straßenseite hoch. Keine Lichter hinter den Fenstern. Doch, da im dritten Stock brennt eine schwache Lampe mit rotem Schirm. Ich sehe das Gesicht einer Frau, lange Haare auf den Schultern. Roxane, you don’t have to put on the red light … Jetzt kommt jemand dazu, die Hände greifen an die Schultern, nein, um den Hals. Was wird das?! Die Hände drücken zu, der Kopf kippt nach hinten. Ich will rüberlaufen, Sturm klingeln, da küssen sich die zwei Personen. Keine Gewalt, sondern Leidenschaft. Die Hände der zweiten Person ziehen der ersten das T-Shirt über den Kopf. Die beiden verschwinden vom Fenster, wahrscheinlich ins warme Bett oder auf den weichen Berberteppich auf dem glänzenden Fischgrätparkett des Altbaus. Meine Fantasie. Immer eine Umdrehung zu viel.

Mir ist kalt. Hoffentlich hat das Unwetter bald ein Ende. Warum laufe ich nicht zum Café Voilà rüber? Wären nur zwanzig Meter. Aber dann bin ich klatschnass. Ich schaue wieder in den Himmel hoch. Immer noch pechschwarz. Nein, da ist ein feiner Riss, durch den gleißende Laserstrahlen auf die Erde schießen, der Himmel platzt auf, das Licht geht wieder an. Hausfassaden glänzen wie frisch gewaschen, Autos blitzen, auch Straßenschilder und Bistrotische. Überall glitzernde Eishaufen. Das Unwetter ist vorbei. Ich trete auf den Gehsteig raus. Meine Schuhsohlen knirschen auf dem Eis. Sonne bricht jetzt vollends durch. Alles dampft in blassem Gold. Leute kommen wieder aus den Hauseingängen, treten unter dem Dach der Tramhaltestelle hervor und staunen über die unwirkliche Umgebung. Sie zücken Handys, ein paar bewerfen sich voller Eiskörner. Eine Tram quietscht an mir vorbei. Kinderhände wischen beschlagene Scheiben frei. Staunende Gesichter hinter Wasserperlenglas. Eis ächzt in den Schienen. Jetzt sind auch die Autos wieder da. Mit eingeschalteten Lichtern. Obwohl die Sonne strahlt. Was mach ich jetzt? Heiße Dusche? Nach Hause sind es fünfzehn Minuten, zum Johannis-Café fünf Minuten. Wenn überhaupt.

Als ich die Tür vom Johannis-Café öffne, schlägt mir eine Warmfront aus Bier, Schweiß und Würstelwasser entgegen. Wohlvertraut, auch wenn ich schon lange nicht mehr hier war. Aus gutem Grund. In der Regel versinken nachfolgende Vormittage in einem schmerzhaften Nebel. Aus der Jukebox schmettert die Spider Murphy Gang: ›Mit am Frosch im Hois und Schwammerl in de Knia …‹ – ›Sitz di her!‹, herrscht mich ein Gast an und zieht mich zu sich auf die Bank runter.

Kurz darauf steht ein Bier vor mir, und ich stoße mit der Tischgesellschaft an. Und weiß schnell mehr, als mir lieb ist, über die zerrüttete Ehe von Franko aus Berg am Laim, von Hansi aus Giesing mit seinen Prostataproblemen oder über Erwin aus Haidhausen, dessen zwölf Katzen in seinem Einzimmerappartement ihr Unwesen treiben. Und dann ist da noch der ›schöne‹ Manni von den Stadtwerken, ein Großmaul mit strammem Ranzen und schwarzem Zwirbelschnauzer, der zur allgemeinen Erheiterung ein erstaunliches Portfolio an Arbeitsvermeidungsstrategien aus seinem Berufsalltag entfaltet. Puh …«

Hummel verstummt und schaut an die Decke, reibt sich das Kinn mit dem Dreitagebart.

»Alles gut, Hummel?«, fragt Dosi.

»Sorry, ich brauch ’ne Pause.«

»Kriegst du.« Dosi drückt den Pausenknopf des Aufnahmegeräts. »Wenn du ins Erzählen kommst, dann klingt das, als wolltest du schon wieder ein Buch schreiben. Es hört sich an, als würdest du dir ständig von außen zusehen.«

»Das ist auch so. Tut mir leid, bis jetzt war das nicht sehr sachlich, aber mir hilft das, wenn ich mich an die vielen Bilder und Stimmungen so konkret erinnere.«

»Alles gut, lass dir Zeit. Hauptsache, du erinnerst dich, was in der Nacht sonst noch alles los war.«

»Ich geh kurz eine rauchen, dann machen wir weiter, okay?«

»Ja, klar.« Dosi steht auf und drückt den Rücken durch.

Als Hummel im Innenhof des Präsidiums in den Abendhimmel sieht und nachdenklich raucht, versucht er, sich an alle Details dieser chaotischen Nacht zu erinnern. Gelingt ihm erstaunlich gut. Trotz der heftigen Kopfschmerzen sind die Bilder hell und klar. Er drückt seine Zigarette aus und murmelt: »Okay, bringen wir es hinter uns.«

Dosi ist mit ihrem Handy beschäftigt, als Hummel den Vernehmungsraum wieder betritt.

»Machen wir weiter«, sagt er.

Dosi nickt und drückt auf record. »Du bist also ins Johannis-Café, was ist als Nächstes passiert?«

»Dann ist da ein Loch. Also erst mal. Ich bin aufgewacht, nein, ich bin ziemlich rüde geweckt worden. Ich war in einem Laster, oben in der Schlafkoje des Führerhauses. Ein Verkehrspolizist hat mich aus dem Schlaf gerissen. Der war voll aggro und hat sich erst beruhigt, als ich ihm meinen Dienstausweis zeigte.«

Hummel stockt.

»Und weiter?«, fragt Dosi.

Hummel schließt die Augen, konzentriert sich, lässt den Film ablaufen und berichtet Dosi in Echtzeit.

»So, der Herr Kollege hält hier ein Schläfchen nach durchzechter Nacht«, meint einer der beiden Polizisten. »Wenigstens können wir uns den Alkoholtest sparen.«

»Ich sitze nicht am Steuer.«

»Und was machen Sie hier?«

Es durchfährt mich wie ein Blitz, warum ich hier bin: »Machen Sie den Laderaum auf! Schnell! Da sind Menschen drin!«

»Das ist der Grund, warum wir den Laster hier stoppen.«

»Wie?«

»Ein anonymer Anruf. Menschenschmuggel.« Der Beamte wendet sich an die beiden Fahrer. »Ist das so?«

Die Angesprochenen schütteln den Kopf.

Der Beamte dreht sich zu mir. »Wie kommen Sie auf die Idee, dass da hinten Leute drin sind?«

»Das ist doch jetzt egal. Ich weiß es. Machen Sie endlich das verdammte Ding auf!«

»Das reicht mir nicht als Erklärung. Also?«

»Ich hab zufällig mitgekriegt, wie mehrere Frauen auf die Ladefläche geklettert sind. Ich bin schnell ebenfalls in den Laster gestiegen. Ich wollte wissen, was da los ist, wohin die zwei Typen mit dem Laster wollten. Leider war ich in keiner guten Verfassung. Bin ich immer noch nicht.«

Jetzt öffnet der Fahrer endlich den Frachtraum. Einer der Polizisten leuchtet mit einer Stabtaschenlampe in den Frachtraum hinein. Aber keine verängstigten Gesichter, keine erschreckten Ausrufe. Stattdessen kalte Luft und Stille – Totenstille. Auf der Ladefläche zusammengekrümmte Leiber.

»Scheiße!«, entfährt es mir. Der Beamte hält mich davon ab, in den Laderaum zu steigen: »Treten Sie zurück. Das kann voller Abgase sein. Oft riecht das Zeug gar nicht.«

Interessiert mich nicht. Ich halte die Luft an und steige auf die Ladefläche, berühre die erste Frau. Eiskalt. Keine Chance, die Frau ist tot. Die anderen auch. Ich springe raus und atme tief durch. Nein, hier geht es nicht um Abgase. Die Kühlung im Laderaum ist an.

»Machen Sie die Scheißkühlung aus«, herrsche ich einen der beiden Fahrer an und schüttele resigniert den Kopf, denn ich weiß, dass es zu spät ist.

Wenig später sitzen die beiden Fahrer des Lasters mit Handschellen im Fond des Streifenwagens. Die eingetroffenen Sanitäter können nur noch den Tod der insgesamt neun Frauen feststellen.

»Die müssen in die Rechtsmedizin«, sage ich.

»Das sehe ich auch so«, meint einer der Streifenbeamten. »Aber jetzt möchte ich von Ihnen noch mal im Detail wissen, was Sie mit der Sache zu tun haben.«

»Ich hab nichts damit zu tun.«

»Erzählen Sie keinen Mist. Waren Sie jetzt in dem Laster oder nicht?«

Mein Kopf schmerzt wie Hölle. Ich zwinge mich nachzudenken, die Geschichte zusammenzubringen: »Johannis-Café. Bier, sehr viel Bier. Bis wir schließlich die letzten Gäste sind und der Wirt uns nach drei Uhr hinauskomplimentiert. Der ›schöne‹ Manni organisiert ein Taxi, das uns in den Münchner Norden kutschiert. Als ich aussteige, sehe ich es. Bin ich wahnsinnig? Ein Puff? Wenn Beate das erfährt! Und schon sind wir drinnen, eine mollige Nackte mit riesigen Brüsten rekelt sich an der Stange, drei Damen setzen sich gleich zu uns. Ich verdrücke mich aufs Klo und husche durch den Notausgang auf den Parkplatz hinterm Haus. So peinlich das alles. Die leeren Augen der Mädchen, nein, Frauen. Oder doch Mädchen? Typen wie ich unterstützen solche Läden! Echt nicht! Ich rauche eine Zigarette, um meine Gedanken zu ordnen. Plötzlich geht die Hintertür auf. Instinktiv ducke ich mich hinter ein geparktes Auto. Frauen, etwa zehn. Mit Taschen. Sie huschen über den Hof und öffnen die Hecktür eines Lasters, steigen auf die Ladefläche. Was wird das? Soll ich einschreiten? Druckbetankt, wie ich bin? Wo ist der Fahrer des Lasters? Ich sehe niemanden. Das Führerhaus hat eine Schlafkabine. Pennt der Fahrer? Ich muss die Polizei rufen.

Ich taste nach meinem Handy. Das ist zu Hause. Ich wollte ja nur eine Runde spazieren gehen. Soll ich zu den anderen zurück und ihnen Bescheid geben? Aber die sind noch besoffener als ich. Die Hintertür des Clubs öffnet sich wieder, und zwei Typen mit Baseballcaps kommen heraus. Gehen zum Heck des Lasters, prüfen den Verschluss. Einer sagt irgendwas, legt den Verschlusshebel um. – Was mach ich? Ich kann sie nicht einfach fahren lassen! Ich öffne leise die Tür der Fahrerkabine, klettere in die Koje, zieh den Vorhang zu. Kurz danach sind die beiden Fahrer an Bord und starten den Motor. Was soll ich machen? Erst mal nichts. Dumpfer Metal dröhnt aus der Stereoanlage. Trotzdem schlafe ich sofort ein in meinem Suff.«

Hummel verstummt, reibt sich die müden Augen, sieht sie ernst an und murmelt schließlich: »Tja, das war ein ziemlich böses Erwachen.«

»Das alles hast du den beiden Polizisten erzählt?«, fragt Dosi.

»Na ja, in Kurzform.«

»Und sie haben dir geglaubt?«

»Keine Ahnung. Doch, ich denke schon. So was denkt man sich ja nicht aus.«

»Und was ist dann passiert?«

»Na ja, da kamen irgendwann noch mehr Polizisten, KTU, Rechtsmedizin. Die Lasterfahrer sind nach München gebracht worden.«

»Und du?«

»Mader ist gekommen und hat mich heimgefahren. Er hat gesagt, dass ich mich hinlegen soll. Und dass du dann abends meine Aussage aufnimmst.«

»Das hätten wir ja jetzt geschafft«, sagt Dosi und schaltet das Aufnahmegerät aus.

Hummel schüttelt den Kopf. »Neun tote Frauen. Weil die Kühlung in Betrieb war. Erfroren. Warum? Dosi, weißt du noch, der schreckliche Fund an der österreichischen Autobahn? Einundsiebzig tote Flüchtlinge in einem verlassenen Kühltransporter! Der Sauerstoff in dem Laster war nach ein paar Stunden restlos verbraucht.«

»Ja, schrecklich. Auch das hier. Neun Personen, auf einer Strecke von vielleicht hundertfünfzig Kilometern, keine zwei Stunden Fahrzeit.«

»Wie schnell erfriert man eigentlich?«

»Ich weiß es nicht. Gesine wird es uns morgen sagen.«

B-WARE

Mader und Zankl sind am nächsten Morgen um halb zehn bereits auf dem aktuellen Stand, denn Dosi hat Hummels detaillierte Aussage gestern Abend noch abgetippt und ihnen das Dokument gemailt.

»Erfroren«, beginnt Dr. Gesine Fleischer, als sie den Bericht der Rechtsmedizin persönlich in der Mordkommission vorbeibringt. »Die Kühlung war auf minus drei Grad eingestellt. Es hätte gar nicht so kalt sein müssen. Wenn die Körperkerntemperatur unter dreißig Grad fällt, liegt die Sterbewahrscheinlichkeit schon bei siebzig Prozent. Unter sechsundzwanzig Grad geht es ganz schnell.«

»Warum haben die sich nicht bemerkbar gemacht?«, fragt Mader.

»Vermutlich haben sie das.«

»Die Typen vorne hatten laute Musik an«, erklärt Hummel.

Gesine nickt. »Die Frauen haben wahrscheinlich nicht lange gegen die Wände geschlagen. Bei Unterkühlung setzt eine starke Reaktionsverlangsamung ein. Der Körper versucht, seinen Temperaturhaushalt zu regulieren, verbrennt dabei viel Glykose. Erst erhöht sich der Herzschlag, dann wird er langsamer, unregelmäßig. Der Körper merkt, dass etwas nicht passt, und schüttet Stresshormone aus. Aber auch Endorphine, Erfrierende werden immer langsamer in ihren Bewegungen, im Denken. Sie spüren das alles nicht mehr, manchmal setzt sogar eine Art Glücksgefühl ein.«

»Kein schöner Tod«, sagt Dosi. »Boh, ist das alles furchtbar.«

»Was ist denn mit der Presse?«, fragt Zankl. »Ich mein, neun Tote ist ja nicht gerade alltäglich.«

»In Niederbayern geht das sicher durch die Medien«, meint Mader. »Ob das auch in München ein großes Thema ist, werden wir sehen. Dr. Günther will heute mit den Medienvertretern sprechen, damit die noch nichts schreiben, bevor wir irgendwelche Fakten haben. Wir wissen nicht, was da wirklich vorgefallen ist. Der Laster kommt zu uns in die KTU

»Die Vernehmung der Fahrer hat leider nichts Brauchbares ergeben«, sagt Zankl. »Das sind zwei Tschechen, die in München wohnen. Die Typen behaupten, sie hätten nicht gewusst, dass da jemand hinten drin war. Die haben Getränke bei dem Laden angeliefert.«

»Ja klar, bei minus drei Grad«, murmelt Hummel.

»Denen war auch nicht klar, dass die Kühlung angeschaltet war. Sagen sie zumindest.«

Dosi sieht Hummel an. »Versuch, dich zu erinnern.«

»Die Typen waren vor der Abfahrt an der Laderaumtür. Haben die Tür zugemacht.«

»Haben die was gesagt?«

»Sorry, Leute, ich weiß es nicht. Nein, ich glaube nicht, dass die mit den Frauen gesprochen haben. Die haben die Verriegelung zugemacht und sind losgefahren.«

»Laut den Streifenpolizisten wollten sie nach Karlsreuth, im Bayerischen Wald«, erklärt Mader. »Da gibt es auch ein Bordell. Das gehört übrigens dem Bruder des Münchner Puffbesitzers. Die Fahrer machen Getränkelieferungen für die Brüder. Spirituosen. Zwei Paletten Getränke standen noch auf der Ladefläche. Aber nichts, was gekühlt werden muss.«

»Hummel, wenn du gleich auf dem Parkplatz in Moosach die Polizei gerufen hättest, wäre das alles nicht passiert«, sagt Zankl.

»Ja, super, Zankl. Danke auch! Ich hatte keine Ahnung, was da abgeht, ich hatte kein Handy dabei. Es war schon kompliziert genug.«

»Na ja, du siehst, dass Frauen einsteigen …«

Dosi haut auf den Tisch. »Zankl, jetzt lass Hummel mal in Ruhe. Der kann doch nichts dafür. Ohne ihn wüssten wir erheblich weniger über den Fall, vielleicht gar nichts. Und wenn wir nicht wüssten, dass die Sache in Moosach begonnen hat, wäre das jetzt vermutlich Sache der Kollegen in Niederbayern.«

»Was ist denn mit dem anonymen Anrufer?«, fragt Hummel. »Der die Polizei über den Transport informiert hat? War das ein Mann, eine Frau?«

»Ein Mann«, sagt Mader. »Mit verstellter Stimme. Er hat gesagt, dass ein Laster mit Frauen auf der Ladefläche von München nach Karlsreuth im Bayerischen Wald unterwegs ist.«

»Der Anrufer hat explizit diesen Bestimmungsort genannt?«

»Ja, die Polizisten haben an der Ortseinfahrt auf den Laster gewartet.«

»Also wollte jemand den Lasterfahrern etwas anhängen?«

»Ja, denen oder ihrem Auftraggeber.«

»Wer soll das sein?«, fragt Zankl. »Der Besitzer von dem Puff in Moosach? Vermisst der denn die Frauen?«

»Ja. Aber vermutlich nur physisch. Der Chef heißt Paschinger«, erklärt Mader. »Er hat bestätigt, dass das seine Angestellten sind. Er meinte, dass er auch nicht weiß, was das alles soll. Offenbar wollten die Frauen abhauen.«

»Und das merkt er nicht?«, fragt Hummel. »Also, wenn auf einen Schlag neun Frauen verschwinden? Diese Typen sind doch voll die Kontrollfreaks.«

»Er war gestern Nacht nicht in seinem Laden.«

»Laut Bericht hatten die Frauen ihre Papiere dabei«, sagt Zankl. »Was ja durchaus erstaunlich ist.«

»Wieso?«, fragt Dosi.

»Weil die Luden ihren Damen die Ausweise immer abnehmen.«

»Jetzt red halt nicht so blöd. ›Luden und Damen‹ …«

»Was soll ich denn sagen? Klingt ›Zuhälter und Prostituierte‹ besser?«

»Nein, Zankl, aber du sagst das so komisch, als wäre das anrüchig. Die Frauen sind Opfer. Sie können nichts dafür.«

Mader klopft mit seinem Kuli auf den Besprechungstisch. »Leute, nicht streiten. Also Zankl, was meinen Sie wegen der Papiere?«

»Na ja, diese Puffbesitzer kassieren doch vermutlich alles ein, was die Prostituierten mobil macht, also ihre Papiere. Ohne Ausweise kommen die nicht weg. Wenn die Frauen ihre Papiere dabeihatten und Reisetaschen mit persönlichen Sachen, dann heißt das doch was. Entweder ging es um eine gemeinsam geplante Flucht, oder aber die Frauen sollten in dem anderen Puff eingesetzt werden. Vielleicht so als B-Ware.«

Dosi stöhnt auf. »Jetzt reicht’s, Zankl, ehrlich!«

»Nein, im Ernst. Wenn die Mädchen jung und unverbraucht sind, dann müssen sie das Großstadtpublikum bedienen. Wenn sie nicht mehr so frisch sind, dann geht es ab in die Provinz und dann vielleicht wieder zurück nach Osteuropa.«

»Mann, Zankl, wie sprechen hier nicht über Sondermüll!«

»Dosi, das ist nicht meine Meinung, das ist die Realität. Das ist moderne Sklavenhaltung. Ich hab auch schon mal bei der Sitte ausgeholfen. Und ich hab die Gesetze zur Prostitution nicht gemacht. Den ganzen Scheiß, als wären die Frauen selbstständige Unternehmerinnen. Nur weil der Staat scharf ist auf die Steuereinnahmen. Die sind wie Leibeigene. Wenn die Frauen ihren Job tatsächlich freiwillig machen, dann würden die doch nie und nimmer bei Nacht und Nebel in einem Scheißlaster auf der Ladefläche abhauen! Das ist doch oberfaul!«

»Warum wollte der Anrufer, dass dieser Transport auffliegt?«, fragt Hummel noch mal. »Hat der von toten Frauen gesprochen?«

»Nein, das hat er nicht gesagt«, sagt Mader.

»Aber vielleicht gemeint. Könnte es sein, dass die Kühlung absichtlich an war?«

»Die Fahrer fallen dann allerdings als Täter aus«, meint Zankl. »Die bringen sich doch nicht selbst in so eine Lage. Aber mal so generell: So was Krasses trau ich niemandem zu. Also, dass man das vorsätzlich macht.«

Hummel schüttelt den Kopf. »Wäre der Ladungsraum schon gekühlt gewesen, dann hätten die Frauen das doch gemerkt und wären gar nicht erst eingestiegen. Also muss jemand das Ding angemacht haben. Und da ist die Auswahl ja nicht allzu groß.«

»Na ja, vielleicht haben die Typen aus Versehen die Kühlung angemacht«, schlägt Zankl vor. »Aus Gewohnheit.«

»Nein«, sagt Mader, »die haben Stein und Bein geschworen, dass sie nicht wussten, dass da jemand drin war, und auch dass sie nicht an der Steuerung für die Kühlung rumgefummelt haben.«

Hummel schnaubt auf. »Ja, das würde ich auch sagen, wenn bei mir auf der Ladefläche neun Menschen erfroren sind. Wir müssen die Typen noch mal befragen. Die sind noch in U-Haft?«

»Nein, die sind wieder auf freiem Fuß. Ein Verstoß gegen die Beförderungsbestimmungen ist kein Kapitalverbrechen.«

»Dass ich nicht lache!«

»Das sollen Sie auch nicht, Hummel«, sagt Mader. »Aber so ist das Gesetz.«

»Aha. Und was ist mit dem Puffbesitzer?«

»Der wurde ebenfalls vernommen und hat ein wasserdichtes Alibi. Natürlich.«

»Natürlich? Das werden wir ja sehen. Den will ich persönlich sprechen. Aber zuerst die Fahrer. Wo wohnen die in München?«

»Ganz in der Nähe von dem Club in Moosach«, sagt Mader. »Hummel, ich weiß nicht, vielleicht sollten Dosi und Zankl das machen?«

»Was soll das? Weil ich in dem Laster war? Ich bin Zeuge! Ich bin nicht in die Sache verwickelt!«

»Na ja, emotional schon.«

»Ja, klar, Mader. Soll mich das kaltlassen? Neun Tote. Junge Frauen. Ich bin bei der Mordkommission, ich kann das trennen.«

»Na, dann hätten wir das auch besprochen«, sagt Dosi.

»Ist das jetzt okay, dass ich dabei bin, Mader?«

»Ja, aber bitte steigt nicht zu sehr aufs Gas.«

BÜRGERLICH

»Einer der Polizisten, die den Laster gestoppt haben, ist ein Bekannter von mir«, sagt Dosi, als sie im Auto sitzen. »Ich hab seinen Namen im Protokoll gelesen.«

Hummel sieht sie erstaunt an. »Aus deiner alten Heimat Passau?«

»Nein, ganz andere Baustelle. Erinnerst du dich an die Bayerwaldgeschichte mit diesem Freizeitpark? Der Stefan Brandner ist der Dorfcop von Grafenberg. Das ist der nächste größere Ort da draußen mit einer Polizeistation.«

»Die Welt ist klein«, sagt Hummel. »Und brutal. Und jetzt fühlen wir den zwei Fahrern noch mal auf den Zahn.«

Die Fahrer bewohnen in Moosach gemeinsam ein Doppelhaus mit ihren Familien. Etwas anders, als es Dosi, Zankl und Hummel erwartet haben. Nicht proletarisch, eher gutbürgerlich. Optisch zumindest. Die Männer sind nicht da. Die Stimmung ist gedrückt, die Ehefrauen sind besorgt. Ihre Männer sind nach der polizeilichen Befragung gestern nicht nach Hause gekommen.

»Was arbeiten Ihre Männer?«, fragt Dosi eine der Ehefrauen.

»Sie fahren Laster. Für Ibo.«

»Und da verdienen sie genug Geld, dass sie die Miete für dieses große Haus zahlen können?«

»Das Haus gehört uns.«

»Oh, na dann.«

»Sie arbeiten sehr hart, sehr viel.«

»Jetzt auch?«

»Wir erreichen sie nicht. Wir machen uns Sorgen.«

Dosi überlegt kurz. Dann nickt sie ernst. »Wir schreiben sie zur Fahndung aus.«

»Dosi, echt jetzt! Du kannst die Typen nicht einfach zur Fahndung ausschreiben«, sagt Zankl, als sie draußen ins Auto steigen.

»Ich klär das mit dem Staatsanwalt. Das ist doch oberfaul. Die verdienen einen Haufen Kohle, in ihrem Laster sterben neun Frauen. Und jetzt, auf dem Heimweg von der Polizei, verschwinden sie vom Erdboden, und ihre Familien wissen nichts.«

»Vielleicht lügen die Frauen uns an. Und die beiden Jungs sind im Hobbykeller und spielen Tischtennis.«

Dosi schüttelt den Kopf. »Zankl, ich hab den leisen Verdacht, dass die nie wieder Tischtennis spielen.«

Zankl zuckt mit den Achseln. »Fahren wir jetzt zu dem Puffheini?«

»Morgen«, sagt Hummel. »Wir müssen die Fahndung nach den zwei Fahrern einleiten.«

FREMDVERSCHULDEN

Die Ehefrauen der Lasterfahrer haben recht mit ihrem schlechten Gefühl. Ihre beiden Ehemänner werden am nächsten Morgen in einer Garage in Feldmoching gefunden. In einem alten Amischlitten, bei laufendem Motor.

»Wenn das jetzt ein Selbstmord sein soll, dann fress ich einen Besen«, sagt Hummel, als sie den Fundort der Leichen begutachten.

»Warten wir die Obduktion ab«, meint Mader, der nicht gerade glücklich ist mit der Entwicklung des Falls. »Neun tote Frauen und jetzt noch die beiden Fahrer des Lastwagens!«

»Auch wenn KTU und Obduktion keine Spuren für Fremdverschulden finden, es ist doch sonnenklar, was hier passiert ist«, findet Hummel. »Das ist nie und nimmer Selbstmord. Vielleicht haben die ein Betäubungsmittel bekommen und dann im Schlaf fleißig die Abgase eingeatmet.«

»Geht das so einfach?«, fragt Zankl. »Ich denke, seit Kat und Rußfiltern geht das nicht mehr?«

»Na ja, wenn die Kiste einen Kat hat, dann fress ich ’nen Besen.«

»Du wiederholst dich. Aber ich hab mal gelesen, dass diese Selbstmordmethode heute nicht mehr klappt.«

»Eigentlich nicht. Du musst dann schon sehr lange die Abgase einatmen, dass es letal wird. Deswegen tipp ich ja auf Betäubungsmittel.«

»Und die sind leider oft schon nach sehr kurzer Zeit im Körper nicht mehr nachweisbar. Liquid Ecstasy zum Beispiel.«

»Haben wir denn die Todeszeit?«, fragt Dosi.

Mader nickt. »Laut Gesine heute am frühen Morgen.«

»Hat sie denn was festgestellt, also im Labor?«

»Noch hat sie uns keinen Bericht geschrieben.«

»Jetzt mal theoretisch«, sagt Zankl. »Das riecht doch nach Rache.«

»So schnell? Und von wem?«, fragt Mader.

»Vielleicht bestraft der Puffbesitzer die beiden Jungs, weil sie seine Girls haben sterben lassen. Wir müssen ihn fragen.«

»Mir ist das echt unheimlich«, sagt Hummel. »Erst die neun Frauen, jetzt die zwei Typen. Mich würde es nicht wundern, wenn da noch mehr Tote dazukommen.«

»Das riecht schon fast nach Bandenkrieg«, meint Dosi.

»Wer überbringt jetzt den Ehefrauen die schlechte Nachricht?«, fragt Mader.

»Das mach ich«, sagt Dosi.

Mader nickt und sieht Hummel und Zankl an. »Und ihr sprecht mit dem Puffbesitzer.«

LE PUFF

Hummel fühlt sich unwohl, als sie auf dem Parkplatz des Puffs in Moosach eintreffen.

»Alles klar?«, fragt Zankl.

»Ungute Erinnerungen. Oder gerade nicht. Ich war so besoffen.«

»Hättest du denn noch einen hochgekriegt?«

»Mann, Zankl! Dein Gelaber geht mir manchmal echt aufn Sack! Wofür hältst du mich?«

»Für Mister Lover-Lover.«

»Ja, genau. Ich sag dir, die große Blonde hatte solche Dinger …« Hummel macht mit den Händen melonengroße Kreisbewegungen.

Zankl seufzt: »Du Glückspilz. Ich bin ja leider verheiratet.«

»Ja, deine arme Frau.«

Sie betreten den Laden in dem unscheinbaren Flachbau. Zwei Reinigungskräfte mit Kopftuch wischen Tische, und ein Mann poliert gerade den pechschwarzen Estrich. Die Luft riecht scharf nach Reinigungsmitteln und Schweiß.

Ein bulliger Glatzkopf mit Bomberjacke taucht hinter der Bar auf. »Was wollt’s ihr?«

»Den Chef.«

»Warum?«

»Freund und Helfer. Wir sind angemeldet.«

Glatze überlegt kurz, dann verschwindet er nach hinten.

Kurz darauf ist der Chef da. Ein sonnenverwöhnter Frühsechziger mit Schmerbauch unter dem grellbunten Hawaiihemd. In seinem lichten Haupthaar steckt eine Pilotensonnenbrille.

»Grüß Gott, Paschinger. Mir gehört dieser hübsche kleine Club.«

»Das ist schön. Auch dass Sie nicht länger bei uns bleiben mussten.«

»So seh ich das auch. Ich verstehe ja, dass ihr eure Arbeit machen müsst. Das ist schrecklich mit den Mädels. Menschlich vor allem. Aber auch geschäftlich. Wobei das im Moment nachrangig ist. Sehr tragisch. Was kann ich noch für euch tun?«

»Uns interessiert vor allem eins: Was haben die Frauen überhaupt in dem Laster gemacht?«

»Das frag ich mich auch. Wir haben einen Kleinbus mit allem Komfort.«

»Geschäftsreisen?«

»Wir machen auch Außentermine. Wenn ein großer Versicherungskonzern zum Jubiläum den Führungskräften etwas Besonderes bieten möchte …« – »Lassen Sie das!«, unterbricht ihn Zankl. »Also haben Sie noch weitere Informationen zur besagten Nacht für uns?«

»Ich weiß nicht, was da vorgefallen ist, ich war an dem Abend nicht im Laden. Die Damen sollten nicht verreisen, zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht.«

»Sie kennen den Saunaclub in Karlsreuth?«

»Ja klar, den betreibt mein Bruder. Sehr erfolgreich. Sorgt für ein hohes Steuereinkommen in dieser strukturschwachen Region. In Zeiten von Überlast greifen wir uns manchmal unter die Arme. Allerdings ist das schon ein bisschen ein Niveauunterschied. Also von den Kunden. Na ja, auch bei den Mädels, aber nur ein bisschen.«

»Ganz toll«, sagt Hummel. »Wenn die Damen bei Ihnen durchgenudelt sind, schicken Sie sie ins Hinterland?«

»Man könnte es charmanter ausdrücken. Aber ja, so ist es. Doch die Damen, um die es hier geht, waren noch nicht so weit. Die hätten das Niveau noch lässig ein Jahr halten können.«

Hummel schüttelt den Kopf.

»Jetzt tun Sie mal nicht so. Wenn ich richtig unterrichtet bin, waren Sie in besagter Nacht in meinem Club und haben es ganz schön krachen lassen.«

»Wenn das Ihre Mitarbeiter sagen. Und wahrscheinlich haben Sie auch kompromittierende Videoaufnahmen von mir. Beim Bieseln zum Beispiel.«

»So arbeiten wir nicht. Wir sind Dienstleister. Ohne Nachfrage kein Angebot. Und hier gibt es keine heimlichen Videoaufnahmen. Unser Geschäft basiert auf Diskretion. Und ansonsten auf Transparenz. Alle Damen sind steuerlich gemeldet und krankenversichert.«

»Und Sie wissen wirklich nicht, warum die Frauen in dem Laster waren?«, fragt Zankl noch mal.

»Nein, ich sagte Ihnen ja bereits: An dem Abend war ich nicht im Haus.«

OBST UND GEMÜSE

»Boh, ich könnt kotzen«, sagt Hummel auf dem Parkplatz zu Zankl. »Was für ein abgefeimtes, aalglattes Arschloch!«

»Na ja, schon interessant, dass er von dem Transport so gar nichts wusste.«

»Das sagt er nur so.«

»Warum sollte er das machen? Vielleicht wollten die Ladys flüchten, hatten einen Deal mit den beiden Tschechen. Sie sollten sie da rausbringen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion. Ist die Katze aus dem Haus, tanzen die Mäuse. Die Frauen hatten alle ihre Sachen dabei: Papiere, Handys, Klamotten.«

Hummel sieht ihn skeptisch an. »Du denkst also, die zwei Tschechen wollten sie aus dem Business rausholen?«

»Ja, vielleicht.«

»Dann wechseln wir jetzt ein paar Worte mit diesem Ibo, dem Chef von dem Fuhrunternehmen. Der hat ein Büro am Großmarkt.«

»Macht der in Obst und Gemüse?«

»Vielleicht. Aber nicht zwingend. Das Büro ist in dem großen Kontorhaus. Da sind alle möglichen Firmen drin.«

»Hey, dann könnten wir ja vorher in der Großmarktgaststätte was essen.«

Hummel sieht auf die Uhr. »Für Weißwürste ist es leider schon zu spät.«

»Dafür ist es nie zu spät.«

»Nie nach zwölf.«

»Ja klar, Mister Bavaria. Und das Bier wird immer noch mit Eisstangen gekühlt.«

»Hä?«

»Beim Pschorr am Viktualienmarkt gibt’s das. Folklore für die Touris.«

»Nix für mich.«

»Ja, du bist eher der Typ fürs Johannis-Café mit einem gepflegten Nachtclub-Besuch hinterher.«

»Ja, wenn ich meine sieben Sachen nicht zusammenhabe, bin ich unberechenbar.« Hummel setzt einen irren Blick auf.

Zankl lacht. »Wenn es doch noch Weißwürste gibt, geb ich welche aus.«

BECHEROVKA

Es gibt keine Weißwürste mehr, die sind schon seit halb elf aus. Das erfahren Zankl und Hummel, als sie sich um ein Uhr an einem der wenigen freien Tische im Wirtshaus auf dem Großmarktgelände niederlassen.

»Glück gehabt«, sagt Hummel.

»Sei mein Gast. Schweinsbraten ist auch okay.«

»Cool, Zankl. Gibt’s was zu feiern?«

»Nein, nur so. Das nächste Mal bist du dran.«

Nach dem Essen besuchen sie Ibo. Der hart arbeitende Spediteur ist schwer getroffen, als er vom Ableben seiner beiden besten Männer hört. Die Tränen in den Augen versucht er mit einem halben Wasserglas Becherovka zu trocknen. Was ihm nicht gelingt. Er schlägt hart mit der Faust auf den Tisch, ein Bilderrahmen mit einem Familienfoto fällt um. Er stellt seine Familie wieder auf und poltert: »Das ist doch nie und nimmer Selbstmord! Wenn ich rauskrieg, wer das war, den bring ich um, die Drecksau!«

»Sie machen gar nichts! Und wir ermitteln im Moment noch gar nicht.«

»Wieso nicht?«

»Weil es auch Selbstmord sein kann.«

Ibo lacht auf.

»Warum waren Ihre Leute in dem Puff?«, fragt Zankl.

»Das weiß ich nicht.«

»Hatten die beiden Nebenjobs?«

»Ja natürlich hatten die Nebenjobs. Wie soll man sonst in München überleben? Wenn ein Lastwagen frei war, durften sie sich was dazuverdienen. Umzüge und solche Sachen. Die beiden haben Geld gebraucht, sie haben sich in Moosach ein Haus gekauft.«

»Woher haben die so viel Geld?«

»Ist ja erst angezahlt. Ich hab ihnen auch ein bisschen was geliehen. Sie haben sehr viel gearbeitet. Meine besten Männer! Was mach ich jetzt ohne die?«

Er beantwortet seine rhetorische Frage mit einem weiteren Becherovka.

»Wann bekomm ich meinen Laster wieder?«

»Das hängt davon ab, was die kriminaltechnischen Untersuchungen ergeben.«

Ibo gießt sich noch einen Becherovka ein.

»Eins noch«, sagt Zankl im Gehen.

»Ja?«

»Sie fahren heute nicht mehr Auto!«

»Hä, warum?«

PRIORITÄT

Teamsitzung mit Mader am Nachmittag. Dosi hat nicht viel Positives zu berichten. Der nochmalige Besuch bei den nun frischgebackenen Witwen war eine Katastrophe. Sie musste Erste Hilfe leisten und einen Krankenwagen rufen, weil eine der Frauen mit Weinkrämpfen zusammengebrochen war.

»Ich habe nicht den Eindruck, dass das Kriminelle waren«, sagt Dosi.

Hummel nickt. »Ihr Chef meint, beide wären ehrliche Malocher. Na ja, vielleicht waren die Jungs nur Kleinkriminelle, ein paar Gefälligkeiten, nicht so genau nachfragen …«

»Um was kümmern wir uns jetzt eigentlich? Um die toten Frauen oder um die zwei toten Männer?«, fragt Zankl.

»Um beides«, sagt Mader.

»Ja, aber was hat Priorität?«

»Die Fälle hängen doch zusammen«, meint Hummel. »Die zwei Fahrer sind gestorben, weil die Frauen ihnen auf der Ladefläche verstorben sind. Da verwette ich meinen Hut drauf.«

»Welchen Hut?«, fragt Gesine, die gerade das Büro betritt.

»Hast du was Neues für uns?«, fragt Mader. »War es Selbstmord bei den beiden Fahrern?« »Na ja, den klassischen Selbstmord in der Garage bei laufendem Motor gibt es eigentlich nicht mehr dank Partikelfilter und Katalysatoren. Und der Treibstoff ist generell schadstoffärmer als früher. Aber wenn es lang genug dauert, kann das durchaus gesundheitsschädlich sein bis hin zum Tod. Bei den beiden Opfern war der Carboxyhämoglobinwert im Blut bedenklich.«

»Was heißt das?«, fragt Dosi.

»Je stärker die Hämoglobinmoleküle, die Sauerstoff durch die Blutbahn transportieren, mit Kohlenmonoxid versetzt sind, desto schlechter. Damit nimmt die Fähigkeit des Bluts ab, den Körper mit Sauerstoff zu versorgen. Das merkt man kaum. Auch wenn die körperlichen Funktionen noch intakt sind und die Menschen noch atmen können, so ersticken sie doch wegen zu wenig Sauerstoff in der Atemluft. Wie gesagt – eigentlich ist es heute kaum noch möglich, sich durch Abgase zu vergiften, aber wenn sie über einen langen Zeitraum eingeatmet werden, kann das durchaus passieren. Zumal dieser Oldtimer offenbar eine echte Dreckschleuder ist. Ich geb euch die Ergebnisse, sobald ich mit meiner Analyse durch bin.«

»Was suchst du denn noch?«, fragt Hummel. »Betäubungsmittel?«

»Ja. Denn freiwillig hält auch der engagierteste Selbstmörder nicht so lange still.«

TAUSEND EURO

Dosi ist unzufrieden, als sie zu Hause eintrifft. Sie haben nicht wirklich viel zu den beiden Fällen rausgekriegt. Sie schaut auf die Uhr. Halb sieben. In einer halben Stunde kommt Fränki heim. Sie setzt Nudelwasser auf und holt eine Fertigtomatensoße aus dem Küchenschrank. Macht sich ein Bier auf. Denkt an die Ehefrauen von heute. Deren Männer nie mehr heimkommen. Furchtbar. Jetzt würde sie gerne eine rauchen. Macht sie nicht. Sie hat mit Fränki eine Wette laufen. Wenn er es schafft, dauerhaft aufzuhören, kriegt er tausend Euro von ihr. Da kann sie jetzt nicht einfach eine Zigarette aus seinem Altbestand nehmen, aus seinem Versteck hinter den Socken in der Kommode. Wäre ein schlechtes Vorbild, sie als Gelegenheitsraucherin. Sie steht am offenen Küchenfenster, riecht das Nudelwasser und die Tomatensauce und sieht in den orangefleckigen Abendhimmel.

»Hallo, Schatz, was machst du da?«, sagt Fränki von der Küchentür aus und stellt seine Laptoptasche ab.

»Ich koche. Das riecht man doch.«

»Vergiss die Nudeln, Dosi. Stadionwurst!«

»Was?«

»Sag bloß, du hast es vergessen? Sechzig gegen Wacker. Die Jungs kommen alle.«

»Die Jungs?«

»Und ihre Frauen. Die ganze Gang von Giesing 75. Unser Stammtisch.«

»Boh, das ist mir heute zu viel. Ich hatte einen anstrengenden Tag.« Sie sieht die Enttäuschung in seinen Augen. »Okay, okay. Aber die Nudeln gibt’s vorher noch.«

»Aber ganz schnell. Wir treffen uns im Sixty Lions zum Vorglühen.«

ALLEINE

Hummel verbringt den Abend alleine. Obwohl er so gerne Beate sehen würde. Aber die Ereignisse der letzten Tage beschäftigen ihn zu sehr, halten ihn davon ab, sie anzurufen oder zu sehen. Klar, er dürfte Beate eh nichts über seine Arbeit erzählen. Aber er fühlt sich wie ein Verräter, dass er mit wildfremden Typen aus dem Johannis-Café in einen Puff gefahren ist. Ganz schwache Aktion. Wie der letzte Proll. Als ob er nach ein paar Bier schon sein Gehirn an der Garderobe abgibt und ohne jeden Skrupel in den nächsten Sexschuppen reinmarschiert. Ich muss weniger trinken, denkt er, als er die Wasserperlen an seiner Flasche Tegernseer betrachtet. Andererseits: Man darf die Ursachen für menschliche Schwächen nicht immer außerhalb von einem selbst suchen, also beim Alkohol. Hui, was für ein abstrakter Gedanke. Nein, das Bier kann nichts für meine Schwächen. Hummel trinkt die Flasche aus und stellt Soul FM im Internetradio ein. Er nimmt sich ein neues Bier aus dem Kühlschrank und zündet sich eine Zigarette an. Bettye LaVette singt: »What I don’t know, won’t hurt me …«

VORURTEILE

Als Dosi im Bett liegt, hat sie einen leichten Fetzen. Stadion ohne Bier – geht einfach nicht. Es war sehr lustig. Auch wenn Sechzig – wie so oft – verloren hat. Sie haben gesungen, ihre Mannschaft angefeuert, den Schiedsrichter ausgepfiffen wegen eines angeblichen Handspiels im Strafraum von Sechzig und dem nachfolgenden Elfmeter. Sie haben heiß diskutiert und ihren Frust ertränkt. Die Arbeit war völlig aus ihrem Kopf verschwunden. Jetzt ist sie wieder da. Begleitet von Fränkis leisem Schnarchen. Sie hat vor allem die weinenden Ehefrauen im Kopf, das Schluchzen im Ohr, das ihr durch Mark und Bein ging. Der Tod der beiden Lastwagenfahrer hat sie weit weniger berührt als die Reaktionen ihrer Frauen. Ja, sie hatte Vorurteile, war davon ausgegangen, dass das Typen sind, die für Geld alles tun. Warum haben die beiden die Prostituierten in ihrem Laster rumgefahren? Wenn die Frauen freiwillig dort eingestiegen sind, dann hat das doch eine Bedeutung. Wollten die Fahrer ihnen helfen, unbemerkt zu verschwinden, zu fliehen? Dosi denkt an die Laster mit Flüchtlingen, die durch Österreich und Deutschland fahren, gesteuert von skrupellosen Schleppern, die auch mal einen Laster einfach auf dem Seitenstreifen stehen lassen, wenn ihnen die Leute im Ladenraum erstickt sind. Grausig. Und sie hat täglich mit so was zu tun. Zum Glück hat Fränki einen ganz anderen Beruf. IT – das wäre nichts für sie. Immer auf irgendwelche Zahlenkolonnen auf dem Bildschirm starren. Tote Materie. Sie lächelt in die Dunkelheit. Wäre ja doch eine Gemeinsamkeit in ihren Berufen.

Morgen wird sie mit Hummel nach Karlsreuth fahren, um den Bruder des Münchner Puffbesitzers zu befragen. Zankl soll hier die Stellung halten. Für sie ist der Trip in den Bayerischen Wald mal wieder ein Heimatbesuch. Dass der Brandner da immer noch arbeitet, als Dorfpolizist aus Grafenberg, erstaunlich! Wollte doch eigentlich weg von da, nach München, raus aus der Enge des Dorfs. Wie hieß noch mal seine Band? Kings of Luck? Nein. Kings of Fuck. Genau. Die waren gar nicht schlecht mit ihrer Mischung aus Metal und HipHop: »Hey, I bin da King of Fuck, I mach euch alle platt …«

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