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Juno Browne und der Tote im Moor

Als Buch hier erhältlich:

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Ein explodierter Transporter, eine Party und ein Toter – Juno Browne ermittelt zum zweiten Mal

Nachdem der Transporter der Hundesitterin Juno Browne in Flammen aufgegangen ist, hat sie sich eigentlich eine gemütliche Gartenfete verdient. Doch einer ihrer Mitarbeiter verschwindet dabei – und nur wenige Stunden später findet Juno ihn tot im Wald. Ein tragischer Unfall, da ist sich die Polizei sicher,aber Juno findet heraus, dass Gavin nicht der erste war, dessen Leben im Moor sein Ende fand. Die Hobbydetektivin nimmt sich des Falles an: Was lauert in Dartmoor?


  • Erscheinungstag: 21.07.2022
  • Aus der Serie: Ein Juno Browne Krimi
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749903498
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Dad, er wäre begeistert gewesen

ANMERKUNG DER AUTORIN

Das Städtchen Ashburton gibt es wirklich. Deshalb werden Menschen, die dort wohnen, Straßen, Läden, Pubs, Cafés und andere in diesem Buch erwähnte beliebte Treffpunkte wiedererkennen. Allerdings gibt es an den Rändern auch so manche Grauzone, wo Dichtung und Wahrheit miteinander verschwimmen, Orte also, die auf keiner Landkarte auftauchen. Für diese künstlerischen Freiheiten möchte ich mich entschuldigen.

1

Eine Woche vor dem Mord ging mein Transporter in Flammen auf.

Als ich morgens mit der Meute rausfuhr, schien die Welt noch in Ordnung zu sein. An diesem Tag musste ich nur drei Hunde ausführen, und wie immer holte ich einen nach dem anderen mit dem Transporter ab, ehe ihre Herrchen und Frauchen zur Arbeit aufbrachen. Ich kutschierte sie in den Wald am Rand unseres Städtchens, wo sie sich nach Herzenslust austoben konnten.

Im kühlen Schatten zwischen den Bäumen rannten sie vor mir her, beschnupperten die von winzigen Nachtgeschöpfen hinterlassenen Spuren und beschnüffelten Fußabdrücke im weichen, dunklen Morast. Ich folgte ihnen, als sie durch das Unterholz tollten, aus der Dunkelheit hinaus aufs sonnenbeschienene Gras stürmten und dabei die umherstolzierenden Krähen aufscheuchten, die schimpfend davonflatterten. Hier auf den Wiesen warf ich Stöcke, hinter denen sie herjagten, und genoss den weiten Blick über das Tal, wo sich Felder hinauf bis zum Moor erstrecken, an deren Rändern sich das grüne Gras allmählich fahlgelb färbte. In der Ferne konnte ich eine dieser für das Dartmoor typischen Felsformationen – Tor genannt – ausmachen, die sich ganz unvermittelt hoch aus dem sonst eher flachen Land erheben. Es würde wieder ein schöner Tag werden.

Als die Hunde müde wurden, brachte ich sie wieder zurück. Zwei von ihnen konnte ich mit den Zweitschlüsseln, die ich von meinen Kunden bekommen hatte, ins Haus lassen.

Für EBs Zuhause besaß ich keinen Schlüssel, weil seine Mama ihn stets in Empfang nahm. Doch als wir uns der Haustür näherten, fand ich daran angeklebt einen hastig bekritzelten Zettel. Juno, stand da, Alan mit Schmerzen in der Brust ins Krankenhaus eingeliefert. Bin im Krankenwagen mitgefahren. Könnten Sie auf EB aufpassen, bis ich zurück bin? Ich rufe Sie an. Entschuldigen Sie die Umstände, Elaine x.

Während ich die Nachricht las, wartete EB geduldig zu meinen Füßen, seine steil gebogenen Augenbrauen zuckten ratlos. Er hatte nichts dagegen, wieder in den Transporter zu steigen. Ausnahmsweise durfte er neben mir auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, anstatt in den Stauraum hinter das Gitter gesetzt zu werden, wohin ich die Hunde normalerweise verfrachte. Als ich auf gewundenen Straßen zwischen üppig grünen Hecken zurück nach Ashburton fuhr, schmiegte er seinen kleinen Körper an mich.

Der Sommer war lang und warm gewesen und schien gar nicht mehr enden zu wollen. Den ganzen September schon lachte die Sonne von einem blauen Himmel. Aber die Schwalben waren fort, und obwohl das sommerliche Wetter anhielt, wiesen die Baumkronen die ersten bronzenen und goldenen Farbkleckse auf. Das Laub begann sich zu verfärben.

Plötzlich musste ich kräftig auf die Bremse treten. Mitten auf der Straße stand völlig reglos eine Frau. Unter ihrem langen blauen Morgenmantel lugte der Zipfel eines geblümten Nachthemds hervor. Ihr Haar umgab ihr Gesicht wie ein silberner Heiligenschein, war jedoch hinten angeklatscht, als habe sie es nicht gebürstet, nachdem sie am Morgen den Kopf vom Kissen erhoben hatte. Ich zog die Handbremse, stieg aus und knallte dem neugierigen EB die Tür vor der Schnauze zu. Obwohl mein Transporter nicht gerade leise war, nahm die Frau mich überhaupt nicht zur Kenntnis. Stattdessen starrte sie hinauf zum in den Baumwipfeln flackernden Licht und den tanzenden Schatten, dabei murmelte sie leise vor sich hin.

»Hallo!«, rief ich. »Ist alles in Ordnung?« Beim Klang meiner Stimme wandte sie sich um, allerdings nicht indem sie den Kopf drehte. Stattdessen vollführte sie eine Reihe winziger Trippelschritte, bis sie mir ihre gesamte Frontpartie zukehrte. Sie hatte blaue Augen, ihre Haut mit Tausenden winzigen Fältchen erinnerte mich an zerknautschte Rosenblätter. Sicher war sie früher einmal hübsch gewesen. »Brauchen Sie Hilfe?«

Ihre Antwort bestand nur aus einem strafenden Blick. Wenige Hundert Yards die Straße hinauf befand sich Oakdene, ein Pflegeheim für Menschen mit Demenz, wahrscheinlich war die Frau von dort ausgebüxt.

»Falls Sie einen Spaziergang machen wollen, brauchen Sie, glaube ich, Schuhe.«

Sie betrachtete ihre in wollene Bettsocken verpackten Füße und wackelte wie zur Probe mit den Zehen, bevor sie mir wieder ins Gesicht blickte. Der Ausdruck ihrer Augen war arglos und unschuldig wie der eines Kindes, so als habe ihr jemand alle Mühen und Plagen sanft von den Schultern genommen. Sie streckte den Arm aus, und im ersten Moment dachte ich, sie wolle mich schlagen, doch sie fasste mir nur in die Haare und betastete sie sacht. »Solche Locken.« Sie schnappte freudig nach Luft. »Und rot!«

Solche Locken und rot war eine treffende Beschreibung meiner Haarpracht.

»Du bist nicht Samantha«, teilte sie mir mit, schien sich jedoch nicht sicher zu sein.

»Nein, ich bin Juno. Und wie heißen Sie?«

»Marianne«, verkündete sie nach einer kurzen Bedenkzeit. »Fahren wir mit dem kleinen Bus da?«

Ich schaute in Richtung Transporter. Er war gelb und an den Seiten schwarz beschriftet. Vermutlich sah er wirklich aus wie ein Kleinbus, nur dass EB hinter dem Lenkrad saß und uns mit strenger Miene musterte.

»Warum nicht?«

Sie ließ sich von mir zur Beifahrertür führen und auf den Sitz bugsieren, obwohl sich das wegen EB, der beschloss, dass eine Freundin von mir auch seine Freundin war, ein wenig schwierig gestaltete. Zum Glück störte es Marianne nicht, dass er ihr begeistert das Gesicht ableckte, und sie streichelte ihn ausgiebig, untermalt von Jubelrufen. Irgendwie gelang es mir, sie und mich anzuschnallen, und wir steuerten auf Oakdene zu, wobei ich ein Stoßgebet zum Himmel schickte, dass Marianne tatsächlich dort zu Hause war. Denn wenn nicht, hatte ich keine Ahnung, wohin ich sie sonst bringen sollte. Vermutlich wusste sie selbst es auch nicht.

Zum Glück kamen hinter der nächsten Kurve zwei Damen in blauen Schwesternkitteln in Sicht, die besorgt in die Hecken spähten und hin und her hasteten, als hofften sie, zwischen Dornengestrüpp und Brombeerbüschen jemanden aufzuspüren. Ich hielt an, ließ die Scheinwerfer aufblitzen und hupte. Beim Anblick meiner Beifahrerin schrie die eine erleichtert auf. »Oh, Gott sei Dank! Judith!«

Judith? Was war denn aus Marianne geworden?

Die Frau kam näher und fing an zu reden, während ich noch die Scheibe herunterkurbelte. Laut Namensschild an ihrer ausladenden Büste hörte sie auf den Namen Barbara. Sie war klein und pummelig und ein wenig außer Atem. »Vielen, vielen Dank! Wo haben Sie sie denn gefunden?«

»Nicht weit von hier«, antwortete ich, als Judith-Marianne unterstützt von der zweiten Schwester aus dem Transporter kletterte. Die Frau war jünger und größer als ihre Kollegin. Ihr streng zurückgekämmtes Haar gab eine hohe, blasse Stirn frei. »Geht sie denn öfter spazieren?«

»Ständig, die Arme! Sie will unbedingt zurück nach Hause … Oxford«, fügte die Schwester im Flüsterton hinzu.

Ich hatte zwar keine Ahnung, wie weit es genau von Ashburton nach Oxford war, doch sicher ein gutes Stück.

Ich schaute ihr nach, als sie davonging, ohne mich und EB eines Blickes zu würdigen. Sie hatte die Pflegerin untergehakt, und die beiden plauderten vergnügt miteinander. »Sie scheint sich hier recht wohlzufühlen.«

»Oh, sie ist ein Schatz«, erwiderte Barbara. »Ich möchte mich herzlich bei Ihnen bedanken … äh …«

»Juno.«

»Juno«, wiederholte sie. Dann zögerte sie kurz, runzelte die Stirn und presste die Lippen zusammen. »Ich … äh … unser Chef weiß nicht, dass sie schon wieder ausgebüxt ist. Wir möchten nicht, dass sie in ihrem Zimmer eingesperrt wird. Deshalb frage ich mich, ob …«

»Ich werde schweigen wie ein Grab.« Schließlich kannte ich den Leiter von Oakdene nicht und hatte ganz sicher nicht vor, die Pferde scheu zu machen.

»Danke«, keuchte sie, drehte sich um und eilte Judith-Marianne und ihrer Kollegin hinterher.

»Im Leben passieren manchmal die merkwürdigsten Dinge«, erklärte ich einem verdatterten EB, blickte ihnen noch einmal nach und setzte dann meinen Weg in die Stadt fort.

Ich traf eine halbe Stunde zu spät im Old Nick’s ein, weil ich noch einen Abstecher nach Hause gemacht hatte, um meinen Anrufbeantworter abzuhören. Ich wollte wissen, ob Elaine sich gemeldet hatte. Vielleicht hatte sie mich ja mobil nicht erreicht, denn im Dartmoor ist das Netz miserabel, und das ist noch freundlich formuliert.

Aber niemand hatte angerufen. Ich wusste nicht, ob EB vor dem Spaziergang heute Morgen gefüttert worden war oder ob er noch auf sein Frühstück wartete, deshalb hielt ich beim Bäcker in der West Street und kaufte ihm ein extragroßes Würstchen im Schlafrock.

Old Nick’s hat erst seit zwei Monaten geöffnet. Der Laden hatte Mr. Nickolai gehört, einem meiner betagten Kunden, der in der Wohnung darüber gelebt hatte. Er war Antiquitätenhändler gewesen. Leider hatte der alte Nick auch einen Hang zum Kriminellen gehabt, was letztlich zu seiner Ermordung führte. Mich hatte er zu seiner Alleinerbin bestimmt, warum, ist mir bis heute ein Rätsel. Vermutlich fand er, dass ich es verdient hatte. Eine Auffassung, die einige Mitglieder seiner Familie nicht teilen.

Wie dem auch sei, jedenfalls ist Old Nick’s inzwischen nicht mehr der schäbige, heruntergekommene Trödlerladen von früher. Alles ist frisch hellgrün gestrichen, und der Name des Ladens erstrahlt in goldenen Buchstaben auf dem Schild über der Tür. Wenn ich meinen Wagen vor der Tür parke, kann ich mich bei diesem Anblick eines kleinen Anflugs von Stolz nicht erwehren, und ich danke jedes Mal im Geiste Brian, ein Cousin meiner Mutter und mein einziger noch lebender Verwandter, dem ich das Geld für die Renovierung verdanke.

Leider hätte alles Geld der Welt nicht gereicht, um Old Nick’s wie durch Zauberhand von der Shadow Lane in die North Street oder die East Street zu verlegen, wo an Laufkundschaft kein Mangel herrscht. Das Städtchen Ashburton gehört zu den vier Zinnstädten im Dartmoor, wo früher das vor Ort abgebaute Zinn gestempelt und zu Münzen geprägt wurde. Die Einwohner sind stolz auf die Geschichte des Ortes, auch wenn er früher mal als Hort der Trunksucht galt. Inzwischen jedoch hat er sich in eine Touristenattraktion verwandelt, und es gibt mehr Antiquitätenläden als Pubs. Nur dass Old Nick’s sich leider immobil fernab vom Schuss befindet. Da die Shadow Lane ansonsten nur einen Münzwaschsalon und ein Bestattungsinstitut zu bieten hat, verirrt sich kaum ein Tourist hierher. Außerdem neigen Menschen, die keine Waschmaschine besitzen, normalerweise auch nicht zum Kauf von Kunstgegenständen und Antiquitäten. Und wer sich erst einmal in die Hände eines Bestatters begeben musste, gehört naturgemäß auch nicht zu meiner Zielgruppe. Dennoch hatte ich voller Hoffnung ein Sandwichbrett an der Straßenecke aufgestellt, um möglichen Kunden den Weg zu weisen: Old Nick’s: Kunstgewerbe, Bücher, Antiquitäten, Raritäten aller Art.

Als Nick mir den Laden vermachte, stand ich noch vor einem anderen Problem: Ich war bereits Unternehmerin. Ein Vermögen scheffele ich zwar nicht unbedingt damit, doch es reicht, um Leib und Seele beisammenzuhalten: – Juno Browne, Haushaltsgöttin – Haus und Garten, Hausmeisterdienst, Pflege, Haussitting, Haustierhüten, Hundeausführen. Gerne auch kleine Aufträge. So lautet jedenfalls die stolze Aufschrift seitlich an meinem Transporter. Ich will mein Geschäft nicht aufgeben, einige meiner Kundinnen sind mir zu sehr ans Herz gewachsen, und ich könnte mir das auch gar nicht leisten. Solange der Laden nicht genügend abwirft – und bis dahin wird es vermutlich noch eine ganze Weile dauern –, ist daran im Traum nicht zu denken. Mein Sortiment setzt sich hauptsächlich aus Krimskrams zusammen, und der Erlös ist bis jetzt nur ein Taschengeld, während die Fixkosten das Geld verschlingen, das ich eigentlich zum Leben brauche.

Das Vernünftigste – abgesehen von der Lösung, die gesamte Immobilie zu verkaufen und das Geld einzustreichen – wäre es, meine Mietwohnung bei Adam und Kate zu kündigen und die leeren Räumlichkeiten über dem Laden zu beziehen. Aber das bringe ich einfach noch nicht über mich. Ich bin zwar nicht unbedingt zimperlich, aber es widerstrebt mir, am Ort von Nicks Ermordung zu wohnen. Wenigstens solange es nicht unbedingt sein muss.

Bei meiner Ankunft brannte im Laden Licht, Pat war damit beschäftigt, das breite Fensterbrett mit ihren Arbeiten zu dekorieren. Sie winkte mir zu. Ich ließ EB voran in den Laden trotten. Er lief auf sie zu und unterzog ihre Turnschuhe einer eingehenden Inspektion. Pat betreibt mit ihrer Schwester und ihrem Schwager einen Gnadenhof für heimatlose Haus- und Nutztiere, weshalb die auf ihren Schuhen abgespeicherten Informationen für einen Hund vermutlich von höchstem Interesse sind.

Ich war erstaunt, sie zu sehen. »Ich dachte, Sophie sperrt heute auf.«

»Eigentlich war sie auch dran.« Pat bückte sich, um EB zu tätscheln, der ihre Schnürsenkel beschnüffelte. »Aber sie haben ihr eine Schicht in der Dartmoor Lodge angeboten. Also habe ich ihr vorgeschlagen, mit ihr zu tauschen. Mir macht es nichts aus.«

Sophie und Pat kümmern sich abwechselnd um den Laden und zahlen im Gegenzug keine Miete an mich. Auf diese Weise kommen sie in den Genuss einer kostenlosen Verkaufsfläche für ihre wundervollen Arbeiten, während ich meinen Betrieb weiterführen kann. Der Haken dabei ist, dass ich nichts daran verdiene.

Ich habe den Laden in mehrere vermietbare Einheiten unterteilt, in der Hoffnung, verschiedene Händler unter einem Dach zu vereinen. Sophie und Pat besetzen den vorderen Teil, dahinter kommen zwei weitere Verkaufsflächen. Mein Reich befindet sich ganz hinten im ehemaligen Lagerraum. Ein Schild im Flur weist darauf hin: Sammlerstücke, Antiquitäten, Raritäten – eine beschönigende Bezeichnung für ein paar wackelige Möbelstücke und ein wenig billigen Nippes.

Ich hatte nur einen einzigen zahlenden Mieter, und zwar Gavin, der in jenem Moment auf seinem Fahrrad am Schaufenster vorbeizischte. Mit seinem windschnittigen Helm und der Rennfahrerbekleidung sah er aus wie eine in Lycra gehüllte Libelle auf Rädern. Keine Ahnung, warum er sich anzog, als wolle er bei der Tour de France mitstrampeln, denn er wohnte nur fünf Minuten entfernt. Was war denn nur so schlimm an Hosenklammern fürs Fahrrad?

Bei seinem Anblick verdrehte Pat die Augen. »Er treibt Sophie in die Raserei«, raunte sie.

Da Gavin sein Rad immer in der Gasse seitlich des Ladens ankettete, würde es mindestens fünf Minuten dauern, bis er hier aufkreuzte. Trotzdem flüsterte ich ebenfalls. »Womit denn?«

»Er … du weißt schon … steht irgendwie auf sie«, erwiderte sie leise. »Er lässt sie einfach nicht in Ruhe, rückt ihr ständig auf die Pelle und schaut ihr bei der Arbeit über die Schulter.«

Sophie malt nicht gern im Laden, weil die Kunden dazu neigen, sie dabei zu beobachten, was sie aus dem Konzept bringt. Sie ist zwar bereit, es zu dulden, wenn sie dadurch etwas verkauft, kann es aber nicht leiden, wenn jemand zu lange herumlungert, ihr zu nah kommt oder zu viel redet. Gavin erfüllte alle drei Punkte auf dieser Liste.

Ich verstand durchaus, warum er sie anziehend fand. Sophie ist fünfundzwanzig, würde mit ihrer kindlichen Arglosigkeit jedoch auch als siebzehn durchgehen. Ein verlassenes Seehundbaby auf einer Eisscholle hätte einen nicht herzerweichender aus großen braunen Augen anschauen können als Sophie Child. Der Blick wirkt sogar bei mir, verdammt. Ein armer Junge wie Gavin war also absolut chancenlos. Gavin, neunzehn, hatte die emotionale Reife eines Elfjährigen und war ihr schlichtweg nicht gewachsen.

Ich betrachtete das aktuelle Kunstwerk auf Sophies Schreibtisch. Das dicke Aquarellpapier war an den Ecken festgesteckt. Es handelte sich um eine ihrer Heckendarstellungen: eine Trockenmauer, die rauen, bemoosten Steine sichtbar durch das zarte Blattwerk von Wildblumen. Ein Teil des Papiers war noch weiß und unbemalt.

Seinen albernen Helm in der Hand, schlaksig und mit Brille auf der Nase, erschien Gavin in der Tür. Als EB ein leises Kläffen ausstieß, verzog er das Gesicht. Gavin war kein Hundefreund. »Wo ist Sophie?«, lautete seine erste Frage.

»Guten Morgen, Gavin. Und wie geht es dir heute?«, antwortete ich grinsend.

»Kommt sie heute nicht?« Dem armen Kleinen stand die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben.

»Erst später. Sie hat Frühstücksdienst in der Dartmoor Lodge.«

»Ich kapiere nicht, warum sie sich damit abgibt und ihr Talent vergeudet«, verkündete er herablassend.

»Sie muss von etwas leben, Gavin«, teilte Pat ihm schonungslos mit. »Nicht jeder kann von Mamas und Papas Konto abheben.«

Er errötete leicht und verdrückte sich leise brummelnd durch die Tür hinten im Laden und die Treppe hinauf, um sich umzuziehen. Auf dem Treppenabsatz gibt es ein Bad, das früher zu Nicks Wohnung gehört hat. Seine ehemalige Küche benutzen wir jetzt als Teeküche.

»Jetzt zieht er sich eine halbe Stunde lang um«, lästerte Pat. »Und dann kommt er mit einer einzigen Tasse Kaffee zurück, wart’s nur ab. Nie bietet er an, für uns auch welchen zu kochen.«

Zum Warten fehlte mir leider die Zeit, denn ich musste mich um meine Kundschaft kümmern. »Hör zu, Pat. Ich möchte EB nur ungern im Auto lassen. Darf ich ihn dir aufs Auge drücken? Ich könnte ihn auch in die Küche sperren, falls dir das lieber ist.« Aber EB hatte es sich bereits neben ihrem Stuhl gemütlich gemacht. Ich reichte ihr die fettfleckige Tüte mit seinem Frühstück.

Die Brownlows waren ein Ärzteehepaar mit drei halbwüchsigen Kindern und einer lässigen, ja geradezu waghalsigen Einstellung, was Sicherheit und Hygiene anging. Ich konnte nur hoffen, dass sich diese Haltung auf ihr Zuhause beschränkte und nicht auch die Praxis betraf. Die Hälfte der vereinbarten zwei Stunden verbrachte ich damit, das Geschirr zu spülen – die Spülmaschine war bereits voll –, um die Arbeitsflächen freizulegen, die zu putzen ich eigentlich bezahlt wurde. Nachdem ich die braune Kruste aus einer Sauciere gekratzt und die rosafarbenen Glasurspritzer, zurückgeblieben von einer Backorgie, beseitigt hatte, konnte ich endlich die meiner Zuwendung harrende Küchenzeile und den Boden in Angriff nehmen. Zu guter Letzt war die Küche blitzblank – vorübergehend zumindest. Nun hatte ich, bevor ich weitermusste, gerade noch Zeit, nach Maisie zu schauen und mich zu vergewissern, dass ihr Pflegedienst da gewesen war, um ihr beim Waschen und Anziehen zu helfen, ihre Bettwäsche zu wechseln und die schmutzige in den Wäschekorb zu stopfen. Anschließend bügelte ich eine Stunde lang Hemden bei Simon, dem Steuerberater, der in Sachen Kragen sehr pingelig war, und kurz vor zwölf Uhr mittags war ich wieder im Old Nick’s.

Offenbar war Sophie inzwischen eingetroffen, denn ihre Jacke und Tasche hingen an der Stuhllehne. Allerdings fehlte von ihr selbst jede Spur. Gavin saß, hinter einer seiner Graphic Novels verbunkert, in seinem Abteil am Schreibtisch. Pat zählte hochkonzentriert die Maschen auf ihrer Stricknadel. Die beiden sprachen kein Wort. Es herrschte, gelinde gesagt, dicke Luft.

Als EB auf mich zutrippelte, um mich zu begrüßen, klickten seine Krallen auf dem Parkett.

»Wo ist Sophie?«, fragte ich.

»Oben.« Pat erdolchte Gavin mit Blicken. »Sie versucht, ihr Bild zu retten.«

Ich schaute noch einmal in Gavins Richtung. Er hatte verdächtig rote Ohren. Dann ging ich die Treppe hinauf in die Küche. Sophie stand an der Spüle, hatte ihr Bild auf einer der Arbeitsflächen ausgebreitet und tupfte es vorsichtig mit einem Schwamm ab.

»Was ist passiert?«

»Gavin, dieser Blödmann«, erwiderte sie, ohne den Kopf zu heben. »Er wollte mir einen Kaffee bringen. Ich habe gesagt, dass ich keinen will. Da hat er die Tasse auf meinen Tisch gestellt und sie prompt mit dem Ärmel umgestoßen.«

»Ist das Bild kaputt?«

»Ich hatte ein paar Stellen schon grundiert«, meinte sie und zeigte auf die weißen, noch nicht ausgemalten Stängel von Wiesenkerbel. »Deshalb waren sie geschützt. Aber einen Teil des Hintergrunds muss ich neu malen.«

»Oh, Soph, du hattest so viel Zeit reingesteckt! Was hast du zu ihm gesagt?«

»Nicht viel. Das war auch nicht nötig.« Sie kicherte. »Pat hat ihn ordentlich zur Schnecke gemacht.« Sie schob ihre große, rot geränderte Brille hoch. »Tja, du kennst sie ja.«

Pat ist zwar einer der nachsichtigsten und gutmütigsten Menschen, die mir je untergekommen sind, doch Gavin stand bei ihr auf der schwarzen Liste. »Hoffentlich setzt sie ihm nicht zu sehr zu. Ich möchte nicht, dass er geht. Ich brauche nämlich die Miete.«

»Heute ist offenbar nicht mein Glückstag.« Sophie betupfte ein winzige Blüte mit dem Zipfel eines Stücks Küchenrolle. »Eigentlich hätte ich ein paar Sachen ins neue Kulturzentrum in Dartmeet bringen sollen. Alles ist schon fertig gepackt.« Sie bedachte mich mit einem traurigen Blick aus dunklen Augen. »Aber jetzt muss ich absagen. Ich weiß nicht, wie ich hinkommen soll.«

»Warum?«

»Mum musste zur Arbeit und brauchte das Auto.«

»Ich fahre dich.« Die Worte waren heraus, bevor ich darüber nachgedacht hatte.

Sophie musterte mich weiter seelenvoll. »Musst du heute Nachmittag denn nicht arbeiten?«

»Ich habe Ricky und Morris versprochen, ihnen zu helfen, aber die haben bestimmt nichts dagegen, dass ich das verschiebe. Ich rufe sie an.«

Nicks altes Telefon stand noch einsatzbereit im Wohnzimmer auf dem Fußboden. Ansonsten war der Raum, wie auch das Schlafzimmer, leer. Die Möbel waren ausgeräumt, die Wände gestrichen, die Dielen abgeschliffen und lackiert, und in die Decke waren neue Punktstrahler eingelassen. Die Wohnung wartete nur darauf, von Mietern bezogen zu werden. Oder von mir. Pat vertrat die Ansicht, dass es in der Wohnung spukte. Zumindest versuchte sie, das Gavin weiszumachen, um ihn zu ärgern. Obwohl ich ziemlich sicher bin, dass ich nicht an Gespenster glaube, gelang es mir nicht, die Räume zu betreten, ohne dabei an Nick zu denken, sein leises Lachen zu hören und seine funkelnden blauen Augen zu sehen. Nachdem ich den Anruf erledigt hatte, ging ich wieder in den Laden.

»Gavin«, rief Pat aus, als ich eintrat. »Was solltest du Juno noch mal unbedingt ausrichten?«

Er blickte von seiner Lektüre auf und kehrte mit sichtlicher Anstrengung in die Wirklichkeit zurück. »Was?«

»Was war gestern los?«, beharrte Pat.

»Äh … ja«, antwortete er und starrte ratlos durch seine Brillengläser, als krame er in seinem Gedächtnis. »Eine Frau war da und hat sich nach einem Ladenabteil erkundigt.«

»Spitze!« Die Aussicht auf zusätzliche Mieteinnahmen munterte mich sofort auf. »In welcher Branche ist sie denn?«

Er zuckte die Achseln. »Keinen Schimmer. Ich habe ihr gesagt, dass sie wiederkommen muss, wenn du da bist.«

»Und hast du ihre Telefonnummer notiert?«

»Nein … sorry«, fügte er im Tonfall eines Menschen hinzu, den die Sache eigentlich nicht die Bohne interessiert, und wandte sich wieder seinem Buch zu.

»Nun, falls sie sich noch einmal blicken lässt oder ein anderer Interessent aufkreuzt, könntest du wenigstens so gütig sein, dir die Kontaktdaten aufzuschreiben. Ich muss diese Verkaufsflächen vermieten.«

»Oh? Ja, natürlich.«

»Ach, und übrigens«, fügte ich, in den Raum gewandt, hinzu, »waren in meiner Geldschatulle gestern Abend achtzehn Pfund mehr. Offenbar hat jemand etwas von meinen Sachen verkauft. Wisst ihr vielleicht, worum es sich gehandelt haben könnte?«

»Das war ich.« Gavins Verlegenheit steigerte sich. »Du hast so ein Silberding verkauft … ein abgerundetes Messer, Elfenbeingriff, so ähnlich wie … äh, ein Apfelausstecher.«

»Das war der Weichkäselöffel«, teilte ich ihm mit. »Es stand auf dem Etikett.« Eigentlich wollte ich ihm keine Vorträge halten, scheiterte jedoch kläglich mit diesem Vorsatz. »Darum beschriften wir hier alles, Gavin. Damit wir den Überblick darüber behalten, was wir verkaufen. Beim nächsten Mal notiere bitte alles in dem Buch auf der Theke. Deshalb liegt es nämlich da.« Wenn sich alle an das System hielten, war es eigentlich ziemlich einfach. Der arme Gavin. Wenn ich geahnt hätte, welch schreckliches Schicksal ihm bevorstand, ich hätte hoffentlich mehr Geduld mit ihm gehabt. Bestimmt hätte ich größeres Verständnis für seine abgrundtiefe Teilnahmslosigkeit, seine Trägheit und seine völlige Charmefreiheit aufgebracht. Vielleicht aber auch nicht.

Nachdem wir Sophies Bilder im Transporter verstaut hatten, scheuchten wir EB hinein. Eigentlich hätte er lieber vorne gesessen, doch von Hunden kriegt Sophie Asthma. Auch wenn EBs Mama sicher empört darauf hingewiesen hätte, dass Zwergschnauzer grundsätzlich nicht haaren. Dennoch achtete ich darauf, dass Sophie ihren Inhalator einsteckte. Wir hatten keines ihrer großen Heckengemälde dabei, sondern nur einige Miniaturen, reizende Studien, die Vögel, Bienen, Libellen und Amphibien zeigten. Zusätzlich zu den Kartons mit diesen Arbeiten hatten wir noch eine Mappe mit Drucken ihrer großformatigeren Bilder eingepackt. Auf mein Drängen hin hatte Sophie außerdem angefangen, Tierporträts zu malen, doch bis jetzt war EB ihr einziger Auftrag.

Wir nahmen die Straße nach Buckland. Sobald wir den bewaldeten Hügel zur Kirche hinauffuhren und sich Ackerland unter einem weiten blauen Himmel erstreckte, verkündete ein nervtötendes Piepsen, dass mein Smartphone unter die Lebenden zurückgekehrt war. Ein dumpfes Summen verriet mir, dass gerade jemand anrief. »Das ist bestimmt Elaine. Kannst du mal nachschauen?«

Bis es Sophie gelungen war, das Telefon aus den Tiefen meiner Tasche hervorzukramen, war bereits die Mailbox angesprungen. Sie lauschte, während ich in eine Auffahrt auswich, um ein landwirtschaftliches Fahrzeug auf der engen Straße vorbeizulassen – eine gewaltige Maschine mit stacheligen Armen, vor dem Führerhaus zusammengefaltet wie die Klauen einer Gottesanbeterin. Das Ding wurde wahrscheinlich bei der Heuernte eingesetzt. Offenbar hatten die hiesigen Farmer wegen der langen Trockenperiode ein zweites Mal mähen können.

»Alan geht es gut«, meldete Sophie, das Smartphone am Ohr, als die Reifen des Fahrzeugs mit dem tiefen Profil an meinem Fenster vorbeirollten und mir den Außenspiegel verbogen. »Sie haben ihm einen Stent eingesetzt, und er muss ein paar Tage im Krankenhaus bleiben. Elaine ist zu Hause. Du kannst EB zurückbringen, wann es dir passt.«

»Schickst du ihr eine SMS, dass ich in einer oder zwei Stunden da bin?«

Sie nickte, und ihre Daumen setzten sich in Bewegung.

EB und ich ließen Sophie bei der Ansammlung alter Bauernhäuser aus Stein zurück, die inzwischen das neue Kulturzentrum beherbergten, und unternahmen noch einen Spaziergang. Am Ende der Straße setzten wir uns auf ein Mäuerchen und blickten über die Stoppelfelder, auf denen verstreut goldene kreisrunde Heuballen lagen. In der Ferne schichtete eine Maschine die Ballen zu einem Stapel und wickelte sie in schwarze Plastikfolie, um sie einzulagern, etwas, das man im September normalerweise nicht zu Gesicht bekam.

Zurück im Kulturzentrum, warteten wir in dem blitzblanken neuen Café auf Sophie und testeten den Apfel-Streuselkuchen. Zwanzig Minuten später erschien sie, ein breites Grinsen auf dem Gesicht, in ihren Händen nur noch die Mappe.

»Sie nehmen alle meine Bilder«, verkündete sie beglückt. »In Kommission.«

Zur Feier des Tages wollte ich ihr einen Tee spendieren, doch sie lehnte ab, und wir beschlossen aufzubrechen. Ich setzte EB hinten in den Transporter, ihre Mappe wollte Sophie allerdings bei sich behalten. Und so fuhren wir los Richtung Heimat.

»Dadurch wird dein Sortiment im Laden kleiner«, meinte ich, nachdem wir über ein Kuhgitter geholpert waren und in die Straße einbogen, die über das Moor nach Hause führt. Der trockene Sommerwind hatte das Gras am Straßenrand verdorren lassen, und auch die Blätter der verkrüppelten Weißdornbüsche waren bereits welk und vergilbt. »Das heißt, dass du fleißig den Pinsel schwingen musst.«

Sie blickte mich verstohlen von der Seite an. »Offen gestanden hätten sie gern ein paar hiesige Landschaften gehabt.«

Ich seufzte auf. »Predige ich dir das nicht ständig?« Ich nahm die Hand vom Lenkrad und wies auf das prachtvolle weite Moor ringsum und einen schartigen Tor aus Granit, der sich wie eine Burgruine in der Ferne erhob. »Hiesige Landschaften verkaufen sich gut!«

Sie schaltete das Radio ein, ohne auf meine Bemerkung einzugehen.

»Mal im Ernst, Sophie. Was ist denn so schlimm daran, Buckland Church oder Hound Tor zu malen?«

»Das machen doch alle«, tat sie meinen Vorschlag ab. Diese Debatte führten wir immer mal wieder. »Findest du nicht auch, dass es irgendwie verbrannt riecht?«

»Wechsle jetzt nicht das Thema. Was hältst du von ein paar Ansichten von Ashburton? Ich habe hübsche Fotos vom Friedhof von St. Andrews im Schnee. Ja, jetzt rieche ich es!« Der Brandgeruch war unverkennbar, und das Wageninnere füllte sich rasch mit blauem Qualm. »Ich fahre links ran.« Kaum hatte ich es an den Straßenrand geschafft, als schon winzige, leuchtende Flammen unter dem Armaturenbrett hervorzüngelten. Sophie versuchte vergeblich, sie mit den Fingern auszudrücken.

»Raus!«, befahl ich und stellte den Motor ab. »Sofort raus!«

Sie hatte bereits die Beifahrertür geöffnet und presste die Mappe an ihre Brust. Heißer schwarzer Rauch quoll unter dem Armaturenbrett heraus. Mir blieb gerade noch Zeit, meine Tasche aus dem Fußraum zu bergen. Mit angehaltenem Atem holte ich die Wagenpapiere aus dem Handschuhfach. »Ruf die Feuerwehr!«, stieß ich hustend hervor. »Ich rette EB

2

Für mich ist der Moment, als ich am Griff der Hecktür des Transporters zog und dieser sich nicht bewegen ließ, einer der schlimmsten meines bisherigen Lebens. Der Türgriff hatte bis jetzt doch noch nie geklemmt! Ich rüttelte daran. Er rührte sich nicht. Ich warf mich mit aller Kraft dagegen. Nichts. Drinnen im Transporter bellte EB aus voller Kehle, um mich dringend darauf hinzuweisen, dass es allmählich brenzlig wurde.

»Alles gut, EB!«, rief ich. Doch das stimmte nicht. Ich zerrte an dem Griff und stemmte zur Unterstützung einen Fuß an die Türklappe daneben. Der Qualm vom Motorblock waberte auf mich zu, wälzte sich über das Wagendach, stieg mir in die Augen und brachte mich zum Husten. Vermutlich war drinnen schon alles verraucht. Verzweifelt hielt ich Ausschau nach einem Stock oder sonst etwas, das ich als Hebel benutzen konnte. Hinter mir hörte ich Sophie ins Telefon schreien.

Im Straßengraben lag ein faustgroßer Granitbrocken. Ich nahm ihn in beide Händen und drosch damit auf den Griff ein. Zwecklos. Drinnen scharrte EB mit den Krallen an der Tür und flehte winselnd um Befreiung. Ich hastete zum Führerhaus des Transporters. Würde ich es schaffen, hineinzuklettern, das Gitter hinter dem Fahrersitz herauszureißen und ihn so in Sicherheit zu bringen? Aus den offenen Türen quoll beißender schwarzer Qualm. Er raubte mir die Sicht und sorgte dafür, dass ich keine Luft mehr bekam. Unter der Motorhaube schossen orangefarbene Flammen hervor. Die Luft darüber flirrte in der Hitze. Über allem lag der beißende Gestank von brodelndem Öl, schmorendem Plastik und kochenden Chemikalien. Es wurde immer heißer. Wann kam endlich die Rettung? In Ashburton hatten wir zwar eine freiwillige Feuerwehr, doch bis alle Mitglieder zusammengetrommelt waren, würde es für den armen EB zu spät sein. Der Motor gab einen Knall von sich, die Motorhaube sprang auf, und Flammen und Funken schossen empor und drohten, die gesamte Umgebung in Brand zu setzen. Aber das war mir egal. Ich dachte einzig und allein an EB.

Wieder versuchte ich es mit dem Stein und schwang ihn hoch über dem Kopf. Ich hörte ein schreckliches Röcheln, als EB nach Luft rang. Lass ihn nicht verbrennen, flüsterte ich irgendeinem Gott zu, der möglicherweise gerade zuhörte. Bitte lass ihn nicht verbrennen. Als ich den Stein auf den Türgriff knallte, fuhr mir eine Schockwelle durch den Arm. Sophie rannte kreischend auf der Straße hin und her. Wieder schwang ich den Stein. Im nächsten Moment nahm ich undeutlich eine Stimme wahr, die mir befahl, Platz zu machen. Ich achtete nicht auf sie. Doch plötzlich wurde ich beiseitegestoßen, und eine Hand, die einen Fäustel hielt, versetzte dem Griff einen gewaltigen Schlag. Die Tür sprang auf, und Qualm waberte hinaus, als jemand EBs schlaffen kleinen Körper aus dem Wagen zog und ihn zum Straßenrand trug. Ich folgte wie eine Schlafwandlerin.

Wenige Meter hinter uns parkte ein Jeep Cherokee mit weit aufgerissenen Türen. Offenbar hatte Sophie ihn angehalten. Der Fahrer legte EB im Gras ab. Ein älterer Mann in einer ausgebeulten Tweedjacke und mit einer Schlägermütze auf dem Kopf näherte sich, einen Feuerlöscher im Anschlag, meinem lodernden Auto.

»Er ist nicht tot?« Ich kniete mich neben EB.

EBs Retter rieb dem Hund die pelzige Brust. »Komm schon, Kleiner«, sagte er immer wieder aufmunternd. »Komm schon.«

Aber EB regte sich nicht.

»EB, bitte!«, flehte ich, obwohl es zwecklos war.

In der Ferne kündigten Sirenen das Eintreffen der Feuerwehr an. Kurz darauf war der Löschwagen da und stoppte mit blinkendem Blaulicht und quietschenden Bremsen. Plötzlich wimmelte die Straße von Männern mit gelben Helmen und klobigen Stiefeln, die Schläuche ausrollten. Zu spät für meinen Transporter.

»Wir haben einen Verletzten, richtig?« Ein junger Feuerwehrmann kauerte sich an den Straßenrand. »Ed, bring mir den Sauerstoff, beeil dich!«, rief er über die Schulter gewandt.

»Der Sauerstoff« entpuppte sich als mobiles Beatmungsgerät von der Größe einer Taucherflasche. Der Feuerwehrmann legte EB eine Plastikmaske an und öffnete das Ventil. Nach einigen Momenten, in denen mir fast das Herz stehen blieb, zuckte EBs Köpfchen, und er kehrte keuchend und hustend zurück zu den Lebenden.

»Oh, Gott sei Dank!«, jubelte ich, als er endlich den Kopf hob. Der Feuerwehrmann verabreichte EB noch ein paar tiefe Atemzüge Sauerstoff und entfernte dann die Maske, denn inzwischen versuchte der Patient bereits, sie mit den Pfoten loszuwerden.

»Der ist bald wieder fit«, versicherte er mir und griff nach seinem Gerät. Ich nahm EB auf den Schoß, streichelte ihn und rieb die Nase an seinem nach Rauch riechenden Fell.

»Und jetzt die Nächste bitte!«, verkündete der Feuerwehrmann vergnügt. Erst dann blickte ich mich nach Sophie um. Sie war auf der mit Gras bewachsenen Böschung zusammengesackt. Ihr Gesicht war leichenblass, und sie schwebte ernsthaft in Gefahr, sich mit ihrem Inhalator selbst eine Überdosis zu verabreichen.

»Oh, Soph!« EB wie ein Baby in den Armen, hastete ich zu ihr hinüber. »Ist alles in Ordnung?«

»Der Tank explodiert doch nicht, oder?«, japste sie, als der Transporter rülpsend eine schwarze Qualmwolke ausstieß.

»Anders, als die Ihnen im Film weismachen wollen, explodieren Tanks nur äußerst selten«, belehrte sie der Feuerwehrmann leicht tadelnd, während er ihr die Sauerstoffmaske anlegte.

Ich sah mich nach unserem Retter um. Doch der stand neben seinem Jeep und blaffte Befehle in sein Smartphone. Sein Begleiter, der ältere Mann mit Schlägermütze und Feuerlöscher, verharrte respektvoll an seiner Seite. Sein Verhalten hatte etwas Unterwürfiges an sich. Offenbar war der jüngere Mann der Chef.

Also setzte ich mich an den Straßenrand und beobachtete, wie die Helden von der Feuerwehr sich die Zeit damit vertrieben, die geschwärzte, schwelende Hülle, die einst mein Wagen gewesen war, mit Wasser abzuspritzen. Zischend und brodelnd stieg Dampf auf, und schimmernde Rinnsale flossen von der Straße ins Gras.

»Hoffentlich sind Sie versichert!«, witzelte einer der Feuerwehrleute.

Natürlich war ich versichert: Fremdverschulden, Feuer und Diebstahl. Nur dass die Versicherung mir für die Rostlaube keine Unsummen bezahlen würde. Die Kiste hatte höchstens Schrottwert, und die Beschriftung hatte mehr gekostet als das Fahrzeug selbst, eine Investition, die sich inzwischen in einen leprös-blasigen Ausschlag auf verkohltem, zerbeultem Metall verwandelt hatte.

Der Feuerwehrmann mit dem Sauerstoffgerät, der, wie er uns mitteilte, Andy hieß, war inzwischen mit Sophie fertig.

»Muss sie ins Krankenhaus?«

»Alles bestens«, keuchte sie beschwichtigend. »Außerdem weigere ich mich, stundenlang in der Notaufnahme rumzusitzen, um mir dann anhören zu müssen, dass ich nach Hause gehen und mich hinlegen soll.«

Andy wies mit der Maske auf mich.

»Die brauche ich nicht.«

»Lassen Sie mich das beurteilen«, beharrte er.

»Juno, du siehst zum Fürchten aus«, fügte Sophie ernst hinzu.

Erst als ich den kühlen, reinen Sauerstoff einatmete, wurde mir klar, wie sehr mir von all dem beißenden Qualm Brust und Kehle schmerzten. Ich musste husten. Andy wies mich an, ruhig zu bleiben und tief Luft zu holen. Während ich dasaß und gehorsam atmete, ging er los und kehrte mit einer Dose zurück, deren Inhalt er EB auf die Fußballen sprühte. »Der Boden des Transporters war bestimmt heiß«, erklärte er, die Untertreibung des Jahrhunderts. »Das wird seine Pfoten kühlen.«

Sophie legte mir den Arm um die Schultern und drückte mich an sich. »Das mit deinem Auto tut mir so leid. Was machst du jetzt?«

Ich konnte ihr nicht antworten, weil ich es nicht wusste. Ich wusste ja nicht einmal, wie ich uns drei nach Hause bringen sollte. Die Feuerwehrleute hatten offenbar ihre Pflicht getan und rollten ihre Schläuche zusammen.

»Nun, es hätte schlimmer kommen können.« Ich hustete. »Wenn es auf dem Hinweg und nicht auf dem Rückweg passiert wäre, wären deine schönen Bilder jetzt auch weg.«

»Wir haben EB da rausgeholt.« Lächelnd kraulte Sophie ihn hinter den Ohren. »Das ist das Wichtigste.«

»Tja, jemand hat es zumindest getan.« EB kauerte sich ziemlich bedrückt und verängstigt auf meinem Schoß zusammen und leckte mir die Hand.

»Hallo, meine Damen!«, rief da eine vergnügte Stimme, worauf wir aufblickten. Vor uns auf der Straße ragte die hochgewachsene Gestalt von EBs Retter auf. »Ist alles in Ordnung?«

»Ja, und zwar nur Ihretwegen«, erwiderte ich. »Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Ich …«

Er unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Keine Ursache. Damen und Not und so weiter.«

Er kauerte sich neben uns und streichelte EB den Kopf. »Wie geht es dem kleinen Burschen?« Zum ersten Mal hatte ich Gelegenheit, ihn mir richtig anzuschauen. Er war jünger, als ich gedacht hatte, also ungefähr in meinem Alter. Außerdem hatte er kurzes blondes Haar, lebhafte blaue Augen und ein einnehmendes Lächeln. Offen gestanden fand ich ihn ziemlich scharf.

»Der nächste Schritt ist folgender«, sprach er weiter wie ein Offizier, der seine Soldaten in einen Einsatz schickt. »Ich habe eine Abschleppfirma angerufen. Sie kommen mit einem Wagen, der Ihren Transporter wegschafft. Zumindest das, was davon übrig ist«, fügte er grinsend hinzu. »Sie können ihn in der hiesigen Werkstatt abstellen, bis der Schadensermittler Ihrer Versicherung einen Blick daraufwirft. Moss« – er wies auf den Mann mit der Schlägerkappe – »wird hier warten, bis der Abschleppwagen kommt.«

Moss wirkte nicht sehr begeistert, war aber offenbar weisungsgebunden. »Sir«, murmelte er.

»Unterdessen werde ich die Damen nach Hause fahren«, verkündete unser Held.

»Wir wohnen in Ashburton.«

»Überhaupt kein Problem«, beteuerte er.

»Nun, vielen Dank, Mr. …«

»Jamie.« Er hielt mir eine große Hand hin. »Jamie Westershall.«

Wir schüttelten ihm die Hand und stellten uns vor. Dann standen wir alle auf. Ich hatte noch immer EB auf dem Arm, der winselte, als ich ihn absetzen wollte.

»Ich fürchte, ich muss erst einen Abstecher nach Hause machen«, warnte uns Jamie beim Einsteigen. »Hoffentlich bereitet Ihnen das keine Umstände.«

Unter lautem Türenknallen kletterten die Feuerwehrleute in ihr Löschfahrzeug. Als wir losfuhren, stand Moss missmutig auf der Straße neben dem qualmenden, verkohlten Blechhaufen, der einmal mein Stolz und meine Freude gewesen war.

»Äh, und wie kommt Moss jetzt nach Hause?« Sophie drehte sich nach ihm um.

»Oh, keine Ahnung«, antwortete Jamie wegwerfend. »Ihm fällt schon etwas ein.« Beim Fahren zückte er sein Smartphone, ohne auf die Straßenverkehrsordnung zu achten. »Danny!«, rief er nach einigen Sekunden. »James hier. Sind Sie noch auf der Home Farm? Sie packen gerade zusammen? Prima! Wie haben wir uns geschlagen? Alles paletti? Keine Befunde? Das sind aber tolle Nachrichten. Passen Sie auf. Könnten Sie zu mir nach Hause kommen, wenn Sie fertig sind? Ich habe hier einen kleinen Verletzten und würde mich freuen, wenn Sie ihn sich rasch anschauen würden. Geht das? Wunderbar!« Er legte auf. »Mein Tierarzt«, erklärte er und steckte das Telefon wieder ein. »Er hat gerade die Herde auf TB untersucht.«

»Sind Sie Farmer?«, erkundigte sich Sophie.

»Tja, wir haben einige Farmen auf unserem Land. Ich bin eher so eine Art Farm-Manager.«

Links von uns erstreckten sich die Wälder von Holne Chase. Rechts reichten das kurze Gras und die Granitfelsen der Moorlandschaft bis zum Horizont. Schwarznasenschafe weideten zwischen den immer noch gelb blühenden Ginsterbüschen. Wir passierten einen Feldweg, der zu einer Farm führte. Danach fuhren wir an einer hohen Steinmauer entlang, die rings um einen Forst verlief. Die majestätischen Kronen von Eichen, Birken und Hainbuchen ragten über den Rand der Mauer. Plötzlich bog der Jeep zwischen zwei hohe steinerne Torpfosten ein. Als wir vorbeisausten, erhaschte ich kurz einen Blick auf eine Inschrift, die mich bis heute erschaudern lässt: Moorworthy House.

3

Das riesige viktorianische Gutshaus, das wir schließlich nach einer Fahrt durch einen viele Hektar großen Park erreichten, erhob sich vor uns wie die Kulisse eines Horrorfilms: hohe Kamine, steil geneigte Dächer, Wasserspeier, die von hohen Giebeln auf uns herabstierten, und Balkone mit steinernen Balustraden. Alles wirkte zusammengewürfelt und für das Auge verwirrend.

»Schauderhafte alte Falle, richtig?«, meinte Jamie gut gelaunt, als wir mit weit offenen Mündern hinstarrten.

»Gehört dieses Haus Ihnen?« Sophie schnappte nach Luft.

»Ich fürchte, ja.« Er grinste. »Ich sollte jemanden dafür bezahlen, dass er den Kasten abfackelt. Hier entlang, meine Damen.« Wir folgten ihm durch einen Türbogen in eine geräumige Vorhalle. An den mit Eiche vertäfelten Wänden prangten Geweihe und die ausgestopften Köpfe von mit Stoßzähnen und fletschenden Gebissen bewehrten Lebewesen. Es wirkte nicht unbedingt anheimelnd.

»Mrs. Johnson!«, rief Jamie und marschierte weiter vor uns her. Seine Stimme hallte von den Wänden wider. »Mrs. Johnson? Hallo! Ist jemand zu Hause?«

Ehrfürchtig gaffend wie Touristinnen und von den Mitgliedern der Ahnengalerie missbilligend beäugt, trotteten wir hinter ihm her. Eine breite, geschwungene Treppe mit reich verzierten Geländern führte nach oben. Durch ein hohes Buntglasfenster strömte rosafarbenes, grünes und goldenes Licht herein. Von der Decke baumelte ein Messingkronleuchter, so groß wie ein Wagenrad, und in einer Kurve auf der Treppe lauerte eine Ritterrüstung.

»Glaubst du, hier spukt es?«, flüsterte Sophie.

Wie auf ein Stichwort erschien aus dem Nichts lautlos und geistgleich eine Frau. Sie war dunkelhaarig und trug einen eleganten dunkelblauen Rock und eine cremefarbene Bluse, die dennoch wie Dienstkleidung wirkten.

»Ach, Johnny!«, rief Jamie ihr gut gelaunt zu. »Sind mein Onkel oder meine Schwester zu Hause?«

»Miss Emma ist unten in den Stallungen, Sir«, erwiderte die Frau mit leiser Stimme. »Aber ich glaube, Mr. Sandy ist in der Bibliothek.«

»Aha, dann werde ich den alten Knaben mal aufscheuchen! Diese bedauernswerten Damen«, er wies auf Sophie und mich, »hatten einen Unfall. Ihr Wagen hat Feuer gefangen. Ob Sie vielleicht so gut sein könnten, uns im Salon Tee zu servieren?«

»Natürlich, Sir.« Mit hochgezogenen Brauen und einem Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, wandte sie sich an uns. »Bitte kommen Sie.« Vermutlich war sie die Hausdame oder vielleicht eine Sekretärin. Ich konnte sie nicht richtig einordnen. »Möchten Sie sich zuerst in der Gästetoilette frisch machen?« Ihr Ton duldete keinen Widerspruch. »Wenn Sie fertig sind: Der Salon ist hier drüben.« Als sie den Flur entlang wies und uns die Tür zur Gästetoilette aufhielt, blieb uns nichts anderes übrig, als einzutreten.

Meiner Schätzung nach war die Gästetoilette größer als meine ganze Wohnung. Dunkle Holzvertäfelungen gingen in rosafarbenen Marmor über, mit dem der Boden und die Wände gefliest waren. An den nebeneinander angeordneten Waschbecken waren gewaltige goldene Hähne angebracht und darüber schwere Spiegel mit vergoldeten Rahmen.

Beim Anblick meines Spiegelbilds überkam mich oft das Bedürfnis, laut loszuschreien, allerdings ließ mich dieses Mal nicht meine kaum zu bändigende rote Lockenmähne vor Entsetzen zurückweichen. Mein Gesicht war von Ruß verschmiert. Nur zwei weiße Spuren wiesen darauf hin, welchen Weg die Tränen aus meinen rot geränderten Augen über meine Wangen genommen hatten. Kein Wunder, dass Mrs. Johnson mich so nicht in ihrem Salon haben wollte.

Ich drückte Sophie EB in die Hand, ließ das Becken volllaufen und wusch mir das Gesicht mit der bereitliegenden teuer duftenden Handseife. »Mein Gott, ich rieche wie ein Bückling!«, jammerte ich, während ich kräftig nachspülte.

»Du bist gut durchgeräuchert worden.« Sophie füllte das Becken daneben. Ich nahm ein schneeweißes Handtuch von dem säuberlich aufgeschichteten Stapel in einem Korb und rubbelte mir damit das Gesicht ab. Nun war es nicht mehr schneeweiß. Unterdessen trank EB durstig aus Sophies Waschbecken.

»Der arme Kleine!« Als ich fertig war, nahm ich ihn wieder auf den Arm. Wasser tropfte ihm aus dem Bart, und seine Augenbrauen zuckten ängstlich.

Ich betrachtete unsere Spiegelbilder. Sophie und ich sind die absoluten Gegensätze. Sie ist klein und zierlich und hat glattes, dunkles Haar. Ich hingegen bin groß und, nun, »stattlich« ist ein Wort, das ich in diesem Zusammenhang schon häufiger gehört habe. Wenn ich neben Sophie stehe, fühle ich mich immer wie eine Walküre. »Meinst du, ich bin jetzt salonfähig?«, fragte ich.

Sophie verzog das Gesicht. »Hast du einen Kamm da?«

»Durch diese Haare ist nur ein Durchkommen, wenn sie nass sind.«

Sie seufzte auf. »Dann muss es eben so gehen.«

Wir fanden den Weg in den Salon. Allerdings erst, nachdem wir zunächst die falsche Tür geöffnet hatten, hinter der sich ein mehrere Quadratkilometer großer langer Raum mit vergoldeten Spiegeln und auf Hochglanz poliertem Parkettboden erstreckte. Eindeutig ein Ballsaal. »Gütiger Himmel!«, stieß Sophie ehrfürchtig hervor.

Der Salon war geräumig und rüschig mobliert. Drei Sofas waren vor einem verschnörkelten Kamin angeordnet, in den mühelos eine ganze Kutsche gepasst hätte. Dazu gab es einige Sessel, einen Konzertflügel und Glastüren, die auf eine breite Terrasse führten. Auf verschiedenen Tischchen waren Blumengestecke und Fotos in silbernen Rahmen arrangiert. Porzellanfigürchen schmückten den Kaminsims. Ölgemälde, die Szenen aus der Antike zeigten, prangten an den Wänden. Von einem Fernseher fehlte jede Spur.

»Meinst du, wir sind in eine Zeitmaschine geraten?«, fragte Sophie. »In welchem Jahrzehnt befinden wir uns?«

»In der Ära von Agatha Christie, denke ich.«

Ich schlenderte hinaus auf die Terrasse, die durch eine Balustrade vom Garten abgetrennt war. In regelmäßigen Abständen zierten sie steinerne Gefäße, aus denen üppig blühende Hängepflanzen quollen. Vor mir reichte eine riesige Rasenfläche bis in die Ferne, wo ich die schroffen Umrisse eines felsigen Hügels ausmachen konnte. Ich hatte keine Ahnung, um welchen es sich handelte, zu häufig waren wir nach dem Verlassen der Hauptstraße abgebogen. Ich drehte mich zum Haus um.

Von hinten sah es gar nicht so schauderhaft aus. Der Großteil der Granitfassade war mit einer uralten Glyzinie bewachsen, deren Äste, so dick wie Schiffstaue, auf viele Lebensjahre hinwiesen. Die Pflanze wucherte fast bis zu den Fenstern im dritten Stock hinauf und hatte sicher schon ein Jahrhundert auf dem Buckel. Schade, dass ich nicht im Mai hier gewesen war, wenn dicke blaue Blütentrauben sich wie ein Wasserfall über die Hauswand ergossen.

Das leise Klicken der Zimmertür und das Klirren von Porzellan kündigten das Eintreffen von Mrs. Johnson und unserem Tee an. Sie stellte das Tablett auf einen Tisch vor dem Kamin.

»Mr. Jamie bittet Sie, ihn einen Moment zu entschuldigen«, beschied sie uns, während sie sich aufrichtete. »Aber er ist gleich bei Ihnen.«

Ich setzte EB vorsichtig auf den Kaminvorleger, wo er sich gemütlich ausstreckte. Ich hatte schon befürchtet, Mrs. Johnson würde sich verpflichtet fühlen, uns Gesellschaft zu leisten, doch zu meiner Erleichterung steuerte sie auf die Tür zu.

»Ich glaube, Sie haben jetzt alles, was Sie brauchen, meine Damen. Falls Sie sonst noch etwas wünschen, müssen Sie nur läuten.« Sie wies zuerst auf das voll beladene Tablett, dann auf einen Klingelknopf in der Ecke und verschwand.

»Findest du sie nicht auch ein bisschen gruselig?«, flüsterte Sophie, sobald sie draußen war.

»Definitiv.« Ich nickte. Dann betrachtete ich die silberne Teekanne, die Tassen und Untertassen aus hauchdünnem Porzellan und den Teller mit Keksen und gebuttertem Teekuchen auf dem Tablett. »Sie hat etwas von Mrs. Danvers in Rebecca

Ich drehte einen der zarten Teller um und warf einen Blick auf den Herstellerstempel. »Spode«, teilte ich Sophie mit, während ich Tee einschenkte und ihr eine Tasse reichte. »Zerbrich um Himmels willen bloß nichts.« Ich steckte EB einen Keks zu. Die Würstchen im Schlafrock heute Morgen hatten zwar seiner Figur schon geschadet, doch was die belebende Wirkung von Keksen angeht, bin ich Spezialistin. Und tatsächlich machte er gleich einen viel muntereren Eindruck.

Sophie und ich fielen über den gebutterten Teekuchen her wie zwei verhungernde Raubmöwen. Wenn man uns unserem Schicksal überlassen hätte, hätten wir vermutlich das ganze Ding verputzt. Aber wir mussten unser undamenhaftes Betragen zügeln, denn wieder öffnete sich die Tür, und eine aufgesetzt fröhliche Stimme wehte aus dem Flur herein.

»Nanu«, verkündete sie. »Wie ich höre, haben wir Besuch. Zwei reizende Damen.«

Der Mann, der eintrat, trug einen dunklen Blazer mit gelbem Halstuch. Er war etwa Mitte sechzig, und seine von blauen Äderchen durchzogene Nase und sein gerötetes Gesicht verrieten deutlich, dass er kein Kind von Traurigkeit war. Einen kläglichen Rest silbergrauen Haars hatte er so über seine Glatze gekämmt, dass die Spitzen in einer kleinen Aufwärtsbiegung über dem linken Ohr endeten. Er blieb stehen und musterte uns durch halb geschlossene Lider. »Sehr erfreut!« Mit ausgestreckter Hand kam er auf uns zu. »Nein, bitte behalten Sie Platz. Ich bin Jamies berühmt-berüchtigter Onkel Sandy«, erklärte er uns stolz. »Wie geht es Ihnen?« Seine Hand war glatt und hellhäutig, die Nägel manikürt. Eindeutig nicht die Hand eines Farmers. Er tätschelte EB höflich, der sich zu seiner Schande danebenbenahm und ihn anknurrte.

Ich war schockiert. Das passte so gar nicht zu ihm. »EB! Wo sind deine Manieren?« So ganz verdenken konnte ich es ihm allerdings nicht. Irgendwas an diesem Mann war nicht ganz koscher, aber ich konnte nicht sagen, was. Jedenfalls empfand ich ihn als ein wenig unangenehm, so als hafte ihm ein Hauch von Fäulnis an.

Er setzte sich aufs Sofa. »Ebee?«, wiederholte er mit leicht hochgezogenen Brauen.

»EB«, verbesserte ich ihn. »Seine Initialen.«

»Und wofür stehen die?«

»Das ist geheim, Sie müssen raten.«

»Juno rückt einfach nicht damit heraus«, beschwerte Sophie sich bitterlich. »Ich rätsele schon seit zwei Jahren.«

Ich wechselte das Thema. »Ein ausgesprochen interessantes Haus.«

»Es gehört nicht mir, meine Liebe«, erwiderte er und blies die Wangen auf. »Es war das meines älteren Bruders, der den Titel geerbt hat. Jamie ist sein Nachkomme, nicht dass ich ihn darum beneide. Ein zerfallender Haufen aus Erbschaftssteuern und Hausschwamm, mehr kann man über den alten Kasten nicht sagen.« Er lachte in sich hinein. »Ich habe schon vor Jahren seinem Vater gepredigt, dass er es an die staatliche Denkmalbehörde verkaufen soll. Aber er wollte ja nicht hören. Doch Jamie ist ein vernünftiger Junge«, fügte er hinzu und tippte sich an die Nase. »Er wird eine gute Partie machen.«

Ich sah Sophie an. Wir wussten beide nicht, ob das ein Scherz sein sollte. Unterdessen hatte Onkel Sandy begonnen, in Sophies Mappe zu blättern, die sie aufs Sofa gelegt hatte. »Ich muss sagen«, stellte er fest, während er die Reproduktionen ihrer Bilder musterte, »dass das ausgezeichnete Arbeiten sind.« Er wandte sich an mich. »Sind das Ihre?«

Ich wies auf Sophie.

»Wirklich?« Er schien überrascht. »Und Sie haben das ganz allein gemalt?«

Ich zog den Hut vor Sophie, die bemerkenswert gelassen reagierte. Allerdings war sie es gewöhnt, dass die Leute sie für einen Teenager hielten.

»Ach herrje!«, rief er beim Anblick von EBs Porträt aus und wies auf den Hund, der noch immer auf dem Kaminvorleger saß. »Das ist der kleine Kerl, wie er leibt und lebt!«

In diesem Moment kam eine junge Frau von der Terrasse aus hereinmarschiert. Im ersten Moment überlegte ich, ob sie die gute Partie war, die Jamie angeblich machen würde. Doch die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder war unverkennbar.

»Emma!«, begrüßte Onkel Sandy sie lässig. »Wie war das Dressurreiten?«

»Miserabel!«, schimpfte sie, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und schleuderte im Vorbeigehen ihren Reithelm auf einen Sessel. Sie ging zu einem Tisch, wo mehrere Karaffen aufgereiht waren, und schenkte sich etwas ein, das für mich nach Gin aussah. Ein bisschen früh am Tag, dachte ich. »Digby hat rumgezickt, das Scheißvieh!«

Aha! Offenbar waren wir doch nicht bei Agatha Christie gelandet.

Emma war hinreißend schön: schlank mit schimmerndem blondem Haar, das sie in einen eleganten Nackenknoten verschlungen trug. Bekleidet war sie mit einer hautengen Reithose, einem auf Figur geschnitteten schwarzen Sakko und einer weißen Halsbinde um ihren Schwanenhals. Als sie sich, das Glas in der Hand, zu uns umdrehte, nahm sie unsere Anwesenheit zum ersten Mal zur Kenntnis. Sie starrte Sophie und mich an, als hätte sie uns an der Sohle ihres Reitstiefels klebend eingeschleppt. Ihr Onkel stellte uns rasch vor und erklärte den Grund unseres Hierseins. Sie schwieg mit hochmütiger Miene, offenbar empfand sie uns als störend. »Schau dir das an, Em«, sprach ihr Onkel weiter und zeigte ihr das Foto von EBs Porträt. »Das ist der kleine Bursche da. Hat Sophie, das liebe Mädchen, ihn nicht ausgezeichnet getroffen?«

Sie beugte sich über seine Schulter, um einen Blick darauf zu werfen. »Sieht ihm wirklich sehr ähnlich«, räumte sie widerstrebend ein. Dann kehrte sie uns allen den Rücken zu, ging, ihren Drink immer noch in der Hand, vor den Terrassentüren auf und ab und schaute mürrisch hinaus. Sie war so launisch und gereizt wie ein Vollblüter.

»Ein Jammer, dass Old Thunderer nicht mehr lebt«, schwatzte Sandy weiter. Ihr schlechtes Benehmen schien ihn nicht weiter zu überraschen. »Ich hätte ihn nur zu gern porträtieren lassen.«

Bevor wir uns erkundigen konnten, wer »Old Thunderer« war, kam Jamie herein. Ihm folgte der Tierarzt, der sich sofort neben EB auf den Kaminvorleger kauerte, ihm das Herz abhörte und ihn für kerngesund erklärte. »Er hat ein paar Brandblasen an den Pfoten«, meinte er zu mir. »Sie sollten einen oder zwei Tage lang nicht mit ihm Gassi gehen.« In dieser Hinsicht besteht keine Gefahr, dachte ich traurig. Inzwischen fragte ich mich, wie ich am nächsten Morgen die Meute überhaupt ausführen sollte, denn nun hatte ich ja keinen Transporter mehr, um die Hunde abzuholen.

Kurz darauf verabschiedeten wir uns. Onkel Sandy verlieh der Hoffnung Ausdruck, uns bald wiederzusehen, während Emma uns die kalte Schulter zeigte, sich noch einen Gin eingoss und wieder hinaus auf die Terrasse stolzierte. »Wir veranstalten nächste Woche ein Herbstfest«, teilte er uns mit. »Warum kommen Sie Mädchen nicht auch? Das wäre doch ein Spaß, was?«

Wir logen skrupellos und versprachen, es uns zu überlegen. Dann folgten wir Jamie hinaus zu dem wartenden Cherokee. »Jamie ist ein echtes Sahneschnittchen«, flüsterte Sophie mir unterwegs zu.

»Ja, aber verguck dich nicht in ihn«, mahnte ich leise. »Er macht ja eine gute Partie.«

»Wer mag die Glückliche wohl sein?«

»Und ahnt das arme Mädchen, dass er sie nur des Geldes wegen heiratet?«

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