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Inselpfade zum Glück

hier erhältlich:

Freundinnen helfen einander, Träume wahr zu machen

Sophie, Kristine und Heather sind eigentlich nur Cousinen, aber dafür Freundinnen fürs Leben.
Nachdem ihr Traum von der eigenen Firma buchstäblich in Flammen aufgegangen ist, kehrt Sophie zurück nach Blackberry Island. Ihre Cousine Kristine hilft ihr beim Neuanfang auf der Insel – und gesteht ihren geheimen Wunsch: eine Bäckerei zu eröffnen. Auch die jüngere Cousine Heather hat Träume, die manchmal so fern erscheinen wie das Festland, das man nur bei gutem Wetter erspäht. Denn was soll man tun, wenn die eigene Familie partout dagegen ist? Was auch geschieht, wenn drei Inselschwestern einander stützen, ist kein Ziel zu weit.

»Herrlicher Strandschmöker!« Neues für die Frau über »Meeresrauschen und Inselträume«

»Ein unterhaltsamer und humorvoller Blick auf eine junge Frau, die sich zu sehr für andere aufopfert.« Taschenbuch-Magazin über »Meeresrauschen und Inselträume«

»In diesem ergreifenden Kleinstadtzauber-Roman führt Mallery auf wunderschöne Weise vor, wie stark Frauenfreundschaft sein kann und wie wichtig es ist, seinen Träumen zu folgen.« Publishers Weekly


  • Erscheinungstag: 20.04.2021
  • Aus der Serie: Blackberry Island
  • Bandnummer: 4
  • Seitenanzahl: 480
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749950577
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Tarryn –

ich weiß, du liebst meine Bücher,

die auf Black Island spielen,

und ich freue mich, dass ich dir dieses widmen kann.

Ich bin mir sicher,

du wirst Sophie, Kristine und Heather mögen.

Vermutlich auch Amber.

Hoffentlich hast du beim Lesen dieses Romans

genauso viel Spaß, wie ich beim Schreiben hatte!

1. KAPITEL

Acht Jahre nach ihrer Scheidung hatte Sophie Lane den Dreh mit dem Dating immer noch nicht raus. Vermutlich war das allein ihre Schuld – wenn sie sich ein wenig anstrengen würde, wie ihre Cousine Kristine immer sagte, würde sie jemanden finden.

Doch aus Sophies Sicht gab es mit dieser Herangehensweise ein paar Probleme. Zum einen hatte Kristine direkt nach Abschluss der Highschool ihre Jugendliebe geheiratet und war seit sechzehn Jahren glücklich mit ihrem Mann zusammen. Sie war also nicht unbedingt jemand, der Dating-Ratschläge verteilen sollte. Zum anderen fehlte Sophie die Zeit, um sich »anzustrengen«. Ihr gehörte eine Firma, und sie liebte die viele Arbeit, die nötig war, um sie erfolgreich zu führen. Um ehrlich zu sein, fand sie ihr Unternehmen wesentlich interessanter als jeden Mann, was womöglich einer der Gründe für ihr Dating-Problem war. Nun ja, das und das tatsächliche Ausgehen.

Sich zurechtmachen, um sich zum Essen zu treffen und einem Mann drei Stunden lang bei Erzählungen über sich selbst zuzuhören, war nicht die Art, wie sie einen freien Abend verbringen wollte, wenn sie sich nicht gerade um eine Krise in der Firma kümmern musste. Außerdem hatte sie die Regeln nie wirklich verstanden.

Sie war sich ziemlich sicher, dass es nach drei Dates Sex geben sollte, aber so lief das bei ihr nicht. Wenn sie einen Mann mochte und Sex mit ihm haben wollte, warum sollte sie dann warten? Sie hatte viel um die Ohren. Wenn sie beim ersten Date Interesse verspürte, warum sollte sie es nicht einfach tun? Den Kopf freikriegen, sozusagen, und danach fröhlich mit ihrem Leben weitermachen. Denn wenn sie es beim ersten Date nicht tun wollte, war sie beim dritten sicher auch nicht interessiert. Aber bis dahin hatte der Typ ihre Nerven vermutlich bis zum Zerreißen strapaziert.

Deshalb war sie inzwischen auch fest davon überzeugt, dass es ein großer Fehler gewesen war, einem zweiten Date mit Bradley Kaspersky zugestimmt zu haben. Nicht, dass seine sechzigminütige Erklärung an ihrem ersten Abend, wie das Zielen per Laserpeilung funktionierte, nicht faszinierend gewesen wäre … Unter normalen Umständen hätte sie die Sache beendet, nachdem die Rechnung – auf ihren Wunsch getrennt – bezahlt worden war. Sie hätte Bradley erklärt, dass er nichts für sie war, und es trotz des netten Abends kein zweites Date geben würde. Und nein, er sollte sich nicht die Mühe machen, sie anzurufen oder ihr Nachrichten zu schicken.

Genau das hätte sie getan, nur … Sie war einsam. CK war weg, und sie konnte es immer noch nicht richtig fassen. In ihr leeres Apartment zurückzukehren tat ihr körperlich weh. In den letzten Wochen war sie dazu übergegangen, auf dem Sofa in ihrem Büro zu schlafen, um den Erinnerungen aus dem Weg zu gehen. Aber zwischendurch musste sie zum Duschen nach Hause, und sobald sie durch die Tür trat, wollte sie jedes Mal in Tränen ausbrechen.

Aus all diesen Gründen hatte sie Bradley nicht abblitzen lassen. Und nun war sie hier, beim zweiten Dinner, und lauschte den praktischen Anwendungen der Laserpeilung. Oder waren es Peilungen? Egal, sie hing fest. Vielleicht sollte sie es einfach klaglos ertragen, dann nach Hause gehen und sich vom Schmerz überwältigen lassen. Denn CK hatte es verdient, betrauert zu werden. Vermutlich würde ihre Therapeutin ihr sagen, dass sie dieses Gefühl schon zu lang vor sich herschob. Vorausgesetzt, sie hätte eine Therapeutin. Was nicht der Fall war. Dabei hatten ihr mehrere Leute gesagt, dass sie eine bräuchte. Normalerweise kam dieser Rat von einer gefeuerten Angestellten, die ihn beim Verlassen des Gebäudes quer durch das offene Foyer der Firma brüllte, und lautete in etwa: »Du bist unmöglich. Du glaubst, du kannst alles. Tja, das kannst du aber nicht. Du bist kein Übermensch. Du glaubst nur, dass du besser bist als alle anderen. Du hast ein ernsthaftes Problem, Sophie, und solltest dir dringend Hilfe suchen.« Ungefähr in fünfzig Prozent aller Fälle fiel in diesem Satz dann auch das Wort »Zicke«.

»Sophie?«

»Hm?«

»Dein Handy klingelt.«

»Oh. Tut mir leid. Ich habe vergessen, es auf lautlos zu stellen.«

Sie warf einen Blick auf ihr Handy und bemerkte erst jetzt, dass es klingelnd und vibrierend neben dem Weinglas auf dem Tisch tanzte. Gerade wollte sie die Mailbox rangehen lassen, als sie die Nummer sah.

»Das ist meine Sicherheitsfirma«, erklärte sie. »Das muss ich annehmen.«

Sie schnappte sich Handy und Handtasche und ging in den vorderen Bereich des Restaurants.

»Sophie Lane«, sagte sie knapp. »Benötigen Sie meinen Authentifizierungscode?«

»Ja, Ma’am.«

Sie nannte den Code, dann fragte sie: »Was gibt es für ein Problem?«

»Wir haben die örtliche Feuerwache informiert, dass vor Ort mehrfach Feueralarm ausgelöst wurde. Unsere Sensoren zeigen, dass es brennt, Ms. Lane. Das ist kein Fehlalarm. CK Industries steht in Flammen.«

Zwanzig Minuten später, als sie ungeduldig an einer Ampel wartete, die einfach nicht auf Grün umspringen wollte, erinnerte Sophie sich daran, dass sie auf einem Date gewesen war, als der Anruf sie erreicht hatte. Sie schaltete die Freisprechanlage ein und sagte: »Bradley Kaspersky anrufen.«

»Bradley Kaspersky. Handy. Wähle«, bestätigte die automatische Stimme.

Sekunden später hörte sie ein Klingeln, dann: »Du bist einfach gegangen.«

»Bradley, es tut mir so leid. In meiner Firma brennt es. Ich bin gerade auf dem Weg dorthin, um mich vor Ort mit der Feuerwehr zu treffen.«

»Woher weiß ich, dass das stimmt und du mich nicht einfach sitzengelassen hast?«

»Weil … Ich weiß es nicht, Bradley. Wenn du das wirklich glaubst, wird das mit uns nicht funktionieren. Ich muss jetzt auflegen.«

Sie beendete den Anruf und versuchte, Angst und Grauen zu ignorieren, die in ihr aufstiegen. Wenn es wirklich brannte, könnte sie alles verlieren. Ihr Inventar, ihre Aufzeichnungen, ihre Fotos von CK, die auf ihrem Schreibtisch standen.

Vielleicht ist es nicht so schlimm, dachte sie. Vielleicht …

Beinahe wäre sie auf den Wagen vor ihr aufgefahren. In letzter Sekunde trat Sophie auf die Bremse und kam Millimeter vor seiner Stoßstange zum Stehen. Sie blickte auf und sah dunklen Rauch in den Himmel steigen. Nein – steigen war das falsche Wort. Er schoss in die Höhe und verkündete eine heimtückische Katastrophe.

An der Ecke bog sie ab, dann fuhr sie einmal links und dreimal rechts, bevor sie vor einer Barrikade anhalten musste, die von zwei Mitgliedern der Polizei von Santa Clarita bewacht wurde. Sie fuhr an den Straßenrand, sprang aus dem Wagen, schnappte sich ihren Firmenausweis und zeigte ihn den Officers.

»Das ist meine Firma«, sagte sie. »Ich bin die Besitzerin. Was ist passiert? War noch jemand im Gebäude? Mein Gott, der Reinigungstrupp. Sind alle rausgekommen?«

Die Polizisten winkten sie durch und zeigten auf einen der Feuerwehrmänner. Er sah eher nach Management als nach jemandem aus, der über eine Leiter aufs Dach klettert.

Für einen Moment konnte sie sich nicht bewegen, konnte nichts anderes tun, als das anzustarren, was einst ein großes Lagerhaus mit Büros gewesen war. Jetzt gab es da nur noch Feuer, Rauch und Hitze.

Geh, ermahnte sie sich. Sie musste sich bewegen.

Sie eilte auf den Mann zu und erklärte noch einmal, wer sie war.

Er nickte. »Nach allem, was wir bisher sagen können, haben die Reinigungsleute das Feuer bemerkt. Sie sind alle rausgekommen. Wir haben das Gebäude so gut es ging durchsucht und niemanden gefunden. Wissen Sie von irgendwelchen Angestellten, die heute lang arbeiten?«

Sophie versuchte, sich auf seine Worte zu konzentrieren, aber es gelang ihr nicht. Nie zuvor hatte sie einen echten Brand gesehen – immer nur im Fernsehen oder im Kino. Und diese zweidimensionalen Bilder hatten sie nicht auf die Realität vorbereitet. Die Hitze war unglaublich. Selbst aus dreißig Metern Entfernung wollte sie einen Schritt zurücktreten, um den steigenden Temperaturen zu entkommen.

Noch überraschender waren die Geräusche. Ein Feuer war wirklich lebendig. Es atmete und brüllte und schrie. Ihr Gebäude wehrte sich nach Kräften, war aber kein Gegner für das Monster, das es verschlang. Während sie zuschaute, röhrte das Feuer siegreich auf, als eine Wand in sich zusammenfiel.

»Ma’am, arbeitet jemand noch spät?«

Der Feuerwehrmann schrie ihr die Frage ins Gesicht, und endlich konnte Sophie ihre Aufmerksamkeit von den Flammen losreißen.

»Nein. Niemand arbeitet spät. Nur ich. Ich mag es nicht, wenn noch Leute im Gebäude sind und ich nicht da bin.« Die Reinigungskräfte waren eine Ausnahme. Denen vertraute sie. Außerdem war alles Wichtige weggeschlossen.

Der Mann sah sie mitfühlend an. »Es tut mir leid. Das Gebäude ist vollständig zerstört.«

Sie nickte, weil sie nicht sprechen konnte. Ihre Kehle brannte, und das nicht nur von dem Rauch und der Asche in der Luft, sondern auch von dem Bemühen, sämtliche Gefühle in sich zu behalten.

Alles, wofür sie gearbeitet hatte, alles, wovon sie geträumt hatte, was sie im Schweiße ihres Angesichts aufgebaut und wofür sie gekämpft hatte, war weg. Einfach weg. Ihre Mom hatte sie immer gewarnt: Wenn sie nicht aufpasste, hatte sie gesagt, würden die Menschen ihr das Herz brechen. Aber niemand hatte sie gewarnt, dass ein Gebäude das Gleiche tun konnte.

Sie drehte sich weg und ging auf ihren Wagen zu. Ihre linke Gehirnhälfte sagte ihr, dass sie ihren Versicherungsmakler und vielleicht einige ihrer Angestellten anrufen sollte. Gott sei Dank waren ihre Buchhaltungsunterlagen und Bestellungen alle extern gespeichert, auch wenn CK Industries seine Tore nicht so bald wieder öffnen würde.

Das war die linke Seite. Die rechte Gehirnhälfte registrierte nur Schmerz. Erst CK und jetzt das. Sie konnte es nicht. Sie konnte nicht beides verlieren.

Mit zitternden Fingern scrollte sie durch ihre Kontakte, bis sie eine vertraute Nummer fand und wählte.

»Hey du«, sagte ihre Cousine Kristine. »Das ist ja eine Überraschung. Ich dachte, du wärst heute auf einem Date. Ach Sophie, es ist gerade mal acht Uhr. Du hast ihn doch nicht schon abblitzen lassen, oder? Du bist wirklich unmöglich. Was stimmte mit ihm nicht? War er zu groß? Nicht groß genug? Hat er komisch geatmet? Warte eine Sekunde …«

Kristines Stimme klang gedämpft. »Ja, JJ, du musst deine Hausaufgaben in europäischer Geschichte wirklich machen. Der Erste Weltkrieg ist weder dumm noch langweilig, und du wirst die Informationen später im Leben benötigen.«

Dann klang ihre Stimme wieder normal. »Ich weiß, dass er mich mit dreißig darauf ansprechen wird, dass ich mich bezüglich der Relevanz des Ersten Weltkriegs für den Alltag geirrt habe.«

Irgendwie gelang es Sophie, ihre Stimme wiederzufinden. »Kristine, es ist weg.«

»Was? Sophie, was ist passiert? Wo bist du? Geht es dir gut? Hat dein Date dir was getan? Soll ich die Polizei anrufen?«

»Nein. Es geht nicht um mich.« Erst glaubte Sophie, sie würde zittern, doch dann merkte sie, dass sie so heftig weinte, dass sie kaum stehen oder atmen konnte.

»Es brennt. Im Moment steht das ganze Gebäude in Flammen. Es wird nichts übrigbleiben. Alles ist weg, Kristine, einfach weg.«

»O Gott, ist jemand verletzt worden?«

»Nein. So spät arbeitet niemand mehr, und das Reinigungspersonal hat es rechtzeitig rausgeschafft. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann damit nicht umgehen.«

»Natürlich kannst du das. Wenn es jemand kann, dann du, Süße. Das wissen wir beide. Du stehst unter Schock. Hör mal, ich werde gleich morgen früh den ersten Flieger nehmen. Ich schicke dir die Infos. Wir finden einen Weg. Gemeinsam schaffen wir das.«

Sophie starrte die hungrigen Flammen an und wusste, dass sie besiegt worden war. Sie hatte sich auf eine feindliche Übernahme oder einen Aufstand ihrer Angestellten vorbereitet, aber nicht auf diese totale Auslöschung.

»Das ist alles, was ich habe, und nun ist nichts mehr übrig«, flüsterte sie.

»Das stimmt nicht. Du hast deine Familie, und so wie ich dich kenne, bist du besser versichert als nötig. Das Ganze könnte sich als etwas Gutes herausstellen. Du sprichst doch schon seit Jahren davon, dich mit deinem Unternehmen auf die Insel zurückzuziehen. Jetzt kannst du es. Es wird sein wie damals auf der Highschool. Du wirst schon sehen.«

»Ich hasse es, wenn du so optimistisch bist.«

»Ich weiß. Deshalb mache ich es ja. Und morgen bin ich bei dir.«

Sophie nickte und legte auf, dann öffnete sie die Tür ihres Wagens und ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Es gab tausend Dinge, die sie jetzt tun musste. Aber sie konnte nichts anderes tun als zuzuschauen, wie ihre gesamte Welt in Flammen aufging.

Die Entfernung zwischen Valencia in Kalifornien und Blackberry Island in Washington betrug ungefähr eintausendeinhundertdreißig Meilen. Theoretisch war es möglich, die Strecke in zwei Tagen zu schaffen. Also hatte Sophie ihre Kleidung, ihren Laptop, zwei Kartons mit Akten, die sie benötigen würde, sowie eine große Tasche voller Bilder, dazu Decken, ein Katzenkörbchen, eine mit Katzenminze gefüllte Stoffmaus und Spielzeug in ihren Wagen gepackt.

Die Möbelpacker würden alles andere einpacken und es in einer Woche bringen. Sie hatte ihr Apartment möbliert verkauft, sodass es nur um zwanzig oder dreißig Umzugskartons mit ihren persönlichen Sachen ging. Bis diese geliefert wurden, würde sie sich mit dem begnügen, was sie bei sich hatte. Was sowieso ihr neues Mantra war.

CK Industries vorübergehend zu schließen war erstaunlich einfach gewesen. Sie hatte eine Firma für Auftragsabwicklungen engagiert, die sich um die Benachrichtigungen der Kunden kümmerte. Diejenigen, die bereit waren, auf eine Ersatzlieferung zu warten, würden sie bekommen. Und diejenigen Kunden, die ihr Geld zurückhaben wollten, würden ausbezahlt werden. Ihren wichtigsten Mitarbeitern hatte Sophie angeboten, mit ihr nach Blackberry Island zu ziehen. Doch bisher hatte keiner das Angebot angenommen. Immer noch zu betäubt, um davon verletzt zu sein, hatte sie Empfehlungsschreiben und großzügige Abfindungen verteilt und die Krankenversicherung ihrer Angestellten für die nächsten vier Monate im Voraus bezahlt.

Ihre einzigen Freunde in dieser Gegend waren Geschäftspartner gewesen, und nun, ohne Arbeit, verschwanden diese schnell aus Sophies Leben. Am Ende hatte es niemanden gegeben, der sie verabschiedet hatte, und so kämpfte sie sich an diesem Freitagmorgen um sieben Uhr in Richtung des Freeways, der nach Norden führte.

Gegen zehn Uhr rief Kristine an.

»Wo bist du?«, wollte ihre Cousine wissen.

»Nördlich von Grapevine.«

»Du hättest zulassen sollen, dass ich runterfliege und mit dir zusammen herfahre.«

»Ist schon gut. Du musst dich um acht Kinder kümmern. Ohne dich würden sie sterben.«

Kristine lachte. »Es sind nur drei.«

»Es fühlt sich bei meinen Besuchen aber immer nach mehr an.«

»Das liegt daran, dass sie so laut sind.« Der Humor verschwand aus ihrer Stimme. »Geht es dir gut?«

»Es ging mir nie besser.« Vor allem, wenn sie ihr gebrochenes Herz und ihren angeschlagenen Optimismus ignorierte.

»Du lügst.«

»Stimmt, aber das ist in Ordnung.«

Kristine seufzte. »Ich bin froh, dass du nach Hause kommst. Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Das musst du nicht.«

»Ich glaube, das Lagerhaus ist immer noch zu vermieten. Sobald du hier bist, schauen wir es uns an. Ich meine, das hier ist Blackberry Island, da gibt es nur ein einziges Lagerhaus. Wenn du es dir nicht schnappst, müsstest du deine Firma auf dem Festland ansiedeln. Und da täglich hinzufahren ist nervig.«

Sophie spürte, dass ihre Traurigkeit ein wenig nachließ. »Ist schon erledigt.«

»Wie bitte?«

»Ich habe den Mietvertrag letzte Woche unterschrieben.«

»Ernsthaft?« Kristine kreischte vor Freude. »Aber du hast es doch noch gar nicht gesehen.«

»Ich weiß, aber du hast gesagt, es wäre super. Außerdem hast du recht, die Auswahl auf der Insel ist begrenzt.«

»Als ich sagte, dass es frei ist, wusste ich nicht, was du brauchst. Was ist, wenn es dir nicht gefällt?«

»Dann werde ich sauer auf dich sein.« Sie lächelte. »Hey, ich kriege das schon hin. Im Moment will ich einfach nur nach Hause.«

»Du mietest ein Lagerhaus, das du noch nie gesehen hast. Puh. Als Nächstes wirst du mir noch erzählen, dass du ein Haus ohne vorherige Besichtigung gemietet hast.«

»Na ja, ich habe mir im Internet Fotos angeschaut.«

»Sophie!«

»Es ist doch nur für ein paar Monate, während ich überlege, wie es weitergeht.«

»Das ist verrückt«, erklärte Kristine. »Ich werde dich wohl nie verstehen. Aber gut, jetzt konzentriere dich aufs Fahren. Ich kann es kaum erwarten, dich morgen hier zu haben. Die Jungs freuen sich auch schon auf dich.«

»Und ich mich auf sie. Es sind sechs, oder?«

»Sophie!«

»Ich hab dich lieb.«

»Ich dich auch.«

»Stell es dir als Initiationsritual vor«, sagte Kristine Fielding fröhlich. »Du bist jetzt zwölf und hast es verdient, mehr Verantwortung zu übernehmen.«

»Bei dir klingt das so, als wäre das was Gutes«, grummelte Tommy, ihr mittlerer Sohn. »Ich bin ein echt braves Kind, Mom. Vielleicht habe ich es verdient, die Wäsche nicht machen zu müssen.«

»Dir wäre es lieber, wenn ich das für dich tue?«

»Äh, klar. Niemand will im Haushalt helfen.«

Sie standen in Tommys Zimmer vor einem riesigen Berg Wäsche. Kristine hatte ihr Bestes gegeben, um ihren mittleren Sohn davon zu überzeugen, dass es an der Zeit war, ein paar Sachen fürs Leben zu lernen. Doch Tommy hatte sich geweigert – genau wie sein älterer Bruder JJ vor einigen Jahren. Damals hatte Kristine sich schließlich gezwungen gesehen, JJ mit dem Entzug seiner Xbox zu drohen. Eigentlich hatte sie gehofft, diesmal, bei Tommy, nicht auf so drastische Maßnahmen zurückgreifen zu müssen.

»Es ist also in Ordnung, dass ich mich um den gesamten Haushalt kümmere, das Essen koche und deine Wäsche wasche, während du nichts tust?«

Tommy grinste. »Das ist dein Job, Mom. Mein Job ist die Schule. Erinnerst du dich, dass ich in meiner letzten Mathearbeit eine Eins bekommen habe? Ein guter Schüler zu sein erfordert viel Zeit.« Ein listiges Funkeln schlich sich in seine Augen. »Was ist dir lieber? Dass ich meine Wäsche selbst mache, oder dass du ein superintelligentes Kind mit lauter Einsen hast?«

»Das ist keine Entweder-oder-Frage. Du bist jetzt zwölf. Es ist an der Zeit, dass du dich selbst um deine Wäsche kümmerst.«

»Aber ich helfe Dad schon im Garten.«

»Das tun wir alle. Sieh mich an. Ist da irgendetwas in meiner Miene, das dich glauben lässt, ich würde meine Meinung ändern? Erinnern wir uns doch kurz an den traurigen Sommer vor zwei Jahren. Der Sommer, als JJ sich geweigert hat, seine Wäsche zu machen. Denk an die Staubschicht auf seinem Xbox-Controller und daran, wie er geweint und geschmollt und mit dem Fuß aufgestampft hat.«

»Das war für uns alle mehr als peinlich.«

»Stimmt. Du kannst jetzt entweder ein Vorbild für deinen kleinen Bruder sein, oder du kannst für eine lustige Geschichte sorgen, die ich allen erzählen werde, die dich kennen. Am Ende wirst du so oder so deine Wäsche machen. Also, was soll es sein?«

»Vielleicht sollte ich Dad fragen, was er darüber denkt.«

Kristine wusste, dass Jaxsen sich auf Tommys Seite schlagen würde – nicht aus Gemeinheit, sondern weil er in Bezug auf die Kinder der Weichere von ihnen war.

»Das könntest du. Danach müsstest du dich allerdings trotzdem mir stellen.« Sie behielt einen fröhlichen Tonfall bei. »Oder irre ich mich?«

»Nein.« Tommy seufzte schwer. »Ich ergebe mich dem Unvermeidlichen.«

»Sehr schön! Ich bin stolz auf dich, mein Junge. So, jetzt sammle deine dreckigen Sachen ein. Wir treffen uns in der Waschküche, wo ich dir zeige, wie man die Waschmaschine und den Trockner bedient. Dort findest du auch einen Zeitplan. Zu bestimmten Tagen und Uhrzeiten hast du das Privileg, beide Maschinen zu benutzen. Wenn du sie zu anderen Zeiten benutzt, zu denen sie für JJ oder mich reserviert sind, wirst du an den Konsequenzen keine Freude haben.«

»Keine Xbox?«

»Kein Skateboard.«

»Mom! Nicht mein Skateboard.«

Kristine lächelte. Sowohl ihre Mutter als auch ihre Schwiegermutter hatten ihr beigebracht, was der Schlüssel war, um die Kinder zur Kooperation zu bringen: Finde heraus, was sie wollen, und benutze das dann als Hebel. Bei JJ war es die Xbox, bei Tommy das Skateboard, und bei Grant draußen zu sein. Natürlich versuchte sie, ihre Macht nur für das Gute einzusetzen, aber das dafür ohne Hemmungen.

»Jeden Samstag wirst du dein Bett neu beziehen und die Bettwäsche waschen«, verkündete sie fröhlich. »Das wird super.«

»Das ist nicht fair.«

»Ich weiß. Ist das nicht toll?«

»Was ist, wenn mir frische Bettwäsche egal ist?«

»Ich denke, dir ist frische Bettwäsche genauso wichtig, wie es mir wichtig ist, dich zum Skatepark in Marysville zu fahren.«

Entsetzt riss Tommy die Augen auf. »Du würdest mich doch trotzdem fahren, oder?«

»Natürlich. Jeder junge Mann von zwölf Jahren, der seine eigene Bettwäsche wäscht, hat es verdient, zum Skatepark gefahren zu werden.«

»Nennt man so was nicht Erpressung?«, fragte er.

»Ich nenne es lieber Überzeugung.«

»Ich will nicht erwachsen werden. Das ist so viel Arbeit.«

»Interessant. Es sollte mal jemand ein Buch über einen Jungen schreiben, der sich weigert, erwachsen zu werden. Das klingt nach einer super Geschichte.«

»Die gibt es schon. Sie heißt Peter Pan

»Wirklich? Ich bin geschockt.« Sie zeigte auf den Stapel Wäsche auf dem Boden. »In zehn Minuten beginnt die Wäscheinstruktion. Wenn du nicht da bist, fange ich ohne dich an. Und wenn ich ohne dich anfange, werde ich das mit deinem Lieblingsskateboard in meinen Armen tun.«

»Wenn ich mal Kinder habe, lasse ich sie machen, was sie wollen.«

Kristine zog ihren Sohn an sich und gab ihm einen Kuss auf den Scheitel – sie musste die Gelegenheit nutzen, solange Tommy es noch zuließ. JJ überragte sie bereits, und er war erst vierzehn. In ein paar Jahren wäre er größer als sein Vater. Selbst der kleine Grant war nicht mehr so klein. Wenn er draußen beim Betrachten der Sterne einschlief, konnte sie ihn schon nicht mehr ins Bett tragen, sondern musste Jaxsen rufen.

»Ja, da bin ich mir sicher«, erwiderte sie lachend.

»Du glaubst mir nicht.« Tommy schüttelte den Kopf. »Aber du irrst dich. Ich werde der beste Vater aller Zeiten werden.«

»Aha. Ich freue mich schon auf den ersten panischen Anruf.« Sie senkte die Stimme, um ihn zu imitieren: »Mom, das Baby weint. Was soll ich bloß tun?«

»So einen Anruf wird es nie geben. Ich bin dann schließlich bei der Arbeit.«

»Oh, ich denke, du wirst Hausmann und Vater sein«, zog sie ihn auf.

Er wirkte entsetzt bei der Vorstellung.

Bisher hatte sie es geschafft, ihren Söhnen beizubringen, wie man das Badezimmer putzte und in der Küche half. Nun arbeitete sie daran, dass sie ihre Wäsche selbst wuschen. Doch dass Kindererziehung geteilt werden sollte, davon hatte sie sie bisher noch nicht überzeugen können. Vermutlich, weil sie Hausfrau und Mutter war, wie die meisten der Mütter ihrer Schulfreunde. Jaxsen war ein engagierter Vater, aber einer, der mit den Jungs eher zelten ging, als ihnen bei den Hausaufgaben zu helfen oder Schulsachen mit ihnen einzukaufen. Wenn sie ehrlich war, versagte sie als feministisches Vorbild.

Die Jungs benötigten mehr Kontakt zu starken Frauen, die Karriere gemacht hatten. Jetzt, wo ihre Cousine Sophie zurück auf der Insel war, könnten sie doch alle mal gemeinsam zu Abend essen und Sophie könnte davon erzählen, wie es war, ein Imperium zu leiten. Denn ihre Jungs ohne die notwendigen Fähigkeiten im Haushalt in die Welt zu schicken war das eine. Aber sie in dem Glauben rauszuschicken, dass eine Frau nicht alles erreichen konnte, was sie wollte, war etwas ganz anderes.

Aber es waren gute Kinder – freundlich und respektvoll. Zumindest in der Öffentlichkeit und Erwachsenen gegenüber. Miteinander waren sie wie wilde Affen, die die Geduld ihrer Mutter jeden Tag aufs Neue auf die Probe stellten.

»Ich hätte Mädchen bekommen sollen«, sagte sie seufzend.

Tommy verdrehte die Augen. »Du hättest es gehasst.«

»Die sind sauber und hübsch und riechen gut.«

»Jungs riechen wirklich schlecht«, gab ihr Sohn zu. »Und manche Mädchen sind echt klug. Aber du hängst mit uns fest, Mom. Egal, was passiert, du musst uns lieben.«

»Ja, so besagen die Gerüchte. Okay, mittleres Kind. Waschküche in zehn Minuten, oder ich drehe eine Runde mit deinem Du-weißt-schon-was.«

»Du würdest innerhalb von drei Metern runterfallen.«

»Gar nicht. Ich würde mindestens fünf Meter schaffen.«

Er umarmte sie kurz, dann fing er an, die Wäsche in den Wäschekorb zu packen, den sie mitgebracht hatte.

Lächelnd verließ Kristine das Zimmer und ging in die Küche. Das Abendessen hatte sie schon morgens vorbereitet, und nun köchelte es im Schmortopf vor sich hin. Nach einem Blick auf den Kalender – ein gerahmtes Rechteck, das beinahe die ganze Wand füllte, mit Kästchen für jeden Tag und süßen Katzenbildern drum herum – sah sie, dass JJ um vier mit seinem Baseballtraining fertig war und Grant bis um halb fünf bei seinem Freund Evan blieb. Jaxsen würde beide Kinder abholen, sodass sie bis zum Abendessen nur noch Handtücher zusammenlegen, ihre Liste für den Wocheneinkauf erstellen, ein Menü für ihren Cateringkunden überlegen und eine entsprechende Einkaufsliste schreiben sowie ihre Backzutaten überprüfen musste, denn den Donnerstagabend würde sie damit zubringen, Kekse für das kommende Wochenende zu backen. Außerdem musste sie Jaxsen daran erinnern, dass er eine Entscheidung bezüglich der Sommercamps für die Jungs treffen musste. Es war zwar erst April, aber die Camps füllten sich schnell. Und wo sie gerade an April dachte – in zwei Wochen waren Frühjahrsferien und sie musste wissen, ob er immer noch vorhatte, mit den Jungs in die Berge zu fahren. Denn falls ja, musste er die Ausrüstung herausholen und überprüfen, ob alles noch heil war.

Heute Abend, nach dem Essen und den Hausaufgaben, würde sie das Buch für den Buchclub zu Ende lesen und den Kalender für Mai fertigstellen. Dann musste sie noch Tüten für ihre Kekse bestellen und die Buchhaltung vom März für den Keksverkauf machen, denn das hatte sie noch nicht getan, und wenn sie zu sehr zurückfiel, würde sie das nie wieder aufholen. In den fünf Sekunden zwischen Zähneputzen und Einschlafen würde sie wirklich gerne die Zahlen für den kleinen Laden am Island Chic durchgehen, der letzte Woche zur Vermietung angeboten worden war. Denn wenn sie jemals ein wenig Luft zum Atmen hätte und ein wenig Geld zusammenkratzen könnte, würde sie gerne mit Jaxsen darüber sprechen, eine Bäckerei zu eröffnen. Bisher war nie der richtige Zeitpunkt dafür gewesen, aber vielleicht könnte es jetzt klappen. Die Kinder waren älter und …

»Mom, ich bin so weit. Ich habe meine Sachen nach Farben sortiert, wie du gesagt hast. Aber ist es wirklich eine so große Sache, wenn ich das nicht tue?«

»Mädchen«, murmelte sie auf dem Weg zur Waschküche vor sich hin. »Mädchen wären so viel einfacher gewesen.«

2. KAPITEL

Im Blackberry Island Inn gab es bequeme Betten, Meeresblick und ein Gänseblümchen-Dekor, von dem Sophie nicht ganz sicher war, ob sie es verstand. Gänseblümchen waren auf der Insel nicht gerade eine große Sache. Wenn ein Geschäft die Touristen ansprechen wollte, dann galt: je mehr Brombeeren, desto besser. Und doch gab es Gänseblümchen im Zimmer, an den Wänden und Hunderte, wenn nicht Tausende, die entlang der Einfahrt des Inns gepflanzt worden waren.

Als Sophie zu ihrem Auto ging, erschauderte sie in der feuchten, kühlen Luft. Sie hatte vergessen, dass es auf der Insel echte Jahreszeiten gab. In Los Angeles herrschte beinahe immer Sonnenschein. Heute war der Himmel grau, und die Wellen in der Bucht waren düster und aufgewühlt.

Unter normalen Umständen wäre Sophie so etwas an einem Montagmorgen nicht aufgefallen. Sie wäre total auf ihre Firma und die anstehenden Aufgaben konzentriert gewesen. Aber – und das würde sie nie jemand anderem gegenüber zugeben – in den letzten Tagen fühlte sie sich ein wenig angeschlagen und desorientiert.

Das liegt am Feuer, sagte sie sich. Ihre Firma zu verlieren und festzustellen, dass keiner ihrer Angestellten umziehen wollte, war ein schwerer Schlag gewesen. Und dazu der Verlust von CK – der bloße Gedanke daran ließ sie noch immer emotional in die Knie gehen. Vielleicht spielte es auch eine kleine Rolle, dass sie vierunddreißig war und ihr Leben nicht besser im Griff hatte als mit zwanzig. Bei ihr drehte sich alles um die Arbeit, und nun, wo nicht klar war, wie es mit CK Industries weitergehen würde, kam sie sich verloren vor.

»Aber nach dem heutigen Tag nicht mehr«, flüsterte sie, als sie am Ende der Auffahrt rechts abbog und in Richtung des kleinen Industriegebiets auf der Insel fuhr.

Um neun Uhr würde sie die Immobilienmaklerin am Lagerhaus treffen. Dann bekam Sophie den Schlüssel und konnte sich zum ersten Mal anschauen, was sie für die nächsten fünf Jahre gemietet hatte.

Sie kam an Souvenirläden und Weinkellereien vorbei, bevor sie in Richtung Inselmitte fuhr. Dort gab es ein kleines Shoppingcenter, die Grundschule und ein Ärztehaus. Dahinter folgten ein paar Bürogebäude, eine Handvoll kleiner Werkstätten, die von Autoreparaturen bis Teppichreinigungen alles anboten, und am Ende der Straße stand das große Lagerhaus.

Vor dem Eingang stellte sie den Wagen ab. Sie war früh dran und das Gebäude wirkte noch verlassen, also ging sie einmal darum herum.

Vorne gab es ein Büro und einen Empfangsbereich mit großen Fenstern und ausreichend Parkplätzen für die Angestellten. Die Laderampe war ebenfalls recht groß. Hier würden die Produkte angeliefert und ausgeliefert werden. Angesichts der Tatsache, dass es sich um das einzige Lagerhaus auf der Insel handelte, hatte sie schätzungsweise Glück gehabt, es zu bekommen. Nun musste sie nur dafür sorgen, dass alles wieder ins Laufen kam.

Sie kehrte zu ihrem Wagen zurück und wartete auf die Maklerin. Bei offener Tür saß sie auf dem Fahrersitz und trank ihren Kaffee. Das Frühstück im Inn hatte sie ausgelassen, weil sie einfach keinen Appetit hatte.

Von Westen her blies eine salzige Brise, doch trotz des grauen Himmels glaubte Sophie nicht, dass es heute noch regnen würde. Sie fragte sich, ob ihre Jahre in Los Angeles es ihr wohl schwer machen würden, sich an das Wetter zu gewöhnen, oder ob sie es bei ihren üblichen Sechzehn-Stunden-Tagen gar nicht bemerken würde. Solange das Dach kein Leck hatte, wären ihr so banale Dinge wie das Wetter vermutlich egal.

Ein kleiner SUV bog auf den Parkplatz ein, und Sophie stieg aus, um die Maklerin zu begrüßen. Sobald ich die Schlüssel habe, geht es mir besser, sagte sie sich. Dann konnte sie anfangen, CK Industries wieder aufzubauen, und alles wäre gut.

Zwanzig Minuten, zwei Unterschriften und eine kurze Unterhaltung später betrat Sophie das Lagerhaus und wartete auf das Gefühl der Erleichterung. Der Raum war riesig, beinahe doppelt so groß wie der, den sie in Valencia gehabt hatte. Es gab ein Dutzend Büros, ausreichend Waschräume und einen großen, offenen Bereich, in dem sie meterlange Regale aufbauen konnte, um das Frachtzentrum ihrer Träume zu errichten. Es war super. Besser als super, es war …

»Schrecklich«, flüsterte sie und drehte sich einmal im Kreis, um die Leere um sich herum in sich aufzunehmen.

Nachdem die Idee zu CK Industries im ersten Semester im Studentenwohnheim geboren worden war, hatte sie die Firma später im Gästezimmer einer Zweizimmerwohnung auf dem College gegründet. Von dort war sie in kleine Räumlichkeiten im Industriegebiet von Culver City gezogen. Zwei Jahre danach hatte sie mehr Platz gebraucht. Der Umzug nach Valencia war nach ihrer Scheidung erfolgt. Damals war sie so aufgeregt gewesen, als würde sie ein neues Leben anfangen.

Dieser Umzug war anders. Er war ihr von fehlerhaften Stromleitungen aufgezwungen worden. Auf die physische und emotionale Zerstörung war sie nicht vorbereitet gewesen. Ehrlich gesagt freute sie sich auch nicht auf die Arbeit, die ihr bevorstand. Dazu war das Ganze zu überwältigend.

Sie wollte mit dem Fuß aufstampfen und verlangen, dass die Zeit zurückgedreht wurde. Aber es gab niemanden, bei dem sie sich beschweren konnte. Das hier war ihr Projekt, und nur sie konnte es zu einem Erfolg machen.

»Anführen, folgen oder aus dem Weg gehen«, rief sie sich in Erinnerung. »Gewinner gewinnen. Ich bin ein Champion. Es liegt an mir. Ich schaffe das.«

Keines der Worte schien zu ihr durchzudringen, aber sie auszusprechen war besser, als sich geschlagen zu geben. Sie ging zu einem der großen Tore an der Laderampe und drückte auf den Knopf an der Wand, um es zu öffnen. Kalte Luft wehte ihr entgegen. Sophie stellte ihren Rucksack auf dem Boden ab, setzte sich im Schneidersitz hin und machte sich an die Arbeit.

Sie brauchte alles. Angestellte, Produkte, Regale, Verpackungsmaterial, Büromaterial, Büromöbel und einen Internetanschluss. Noch in Los Angeles hatte sie alles ausgewählt, was sie benötigte. Doch mit der Bestellung hatte sie gewartet, bis sie die Größe der verschiedenen Räume kannte. Zum Glück befand sich auf ihrem Konto eine große Summe der Versicherung, um alles zu bezahlen.

Sie nahm ihren Laptop heraus, schaltete ihr Handy als Hotspot ein, ging auf die Seite des örtlichen Internetanbieters und bestellte einen Anschluss. Alles andere würde sie aus ihrem Zimmer im Inn machen. Das Haus, das sie gemietet hatte, wurde erst am Ende der Woche frei. Sobald sie sich dort eingerichtet hatte, konnte sie sich voll auf die Firma konzentrieren. In ein paar Monaten würde alles wieder laufen wie am Schnürchen, und es wäre, als hätte es das Feuer nie gegeben. Zumindest hoffte sie das.

»Ist jemand zu Hause?«

Sie schaute auf und sah einen großen Mann mit breitem Brustkorb auf das Lagerhaus zukommen. Er hatte graue Haare, ein gebräuntes Gesicht und trug Jeans und Karohemd. In einer Hand hielt er eine Aktenmappe.

Sophie rappelte sich auf. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Sophie Lane?«

Sie nickte.

»Bear Gleason.« Er kam zu ihr und schüttelte ihr die Hand.

Da sie nur einsfünfundsechzig war, überragte er sie um gute zwanzig Zentimeter. Sie schätzte ihn auf Mitte fünfzig.

»Wie kann ich Ihnen helfen, Mr. Gleason?«, fragte sie in der Hoffnung, dass er einen Job suchte und über Kenntnisse verfügte, die sie gebrauchen konnte.

»Bear, bitte. Ich habe gehört, dass Sie mit Ihrem Unternehmen hierherziehen. CK Industries, richtig?«

»Richtig.«

»Meine Frau und ich haben unser gesamtes Leben in Eastern Washington verbracht. Dort war ich Manager eines der größten Obstlagerunternehmen des Landes. Letztes Jahr sind wir von einem internationalen Konglomerat aufgekauft worden, das seine eigenen Leute mitgebracht hat. Dann ist unsere Tochter mit Drillingen schwanger geworden und meine Frau wollte hierherziehen, um in ihrer Nähe zu sein und ihr zu helfen.«

Sophie verspürte einen Anflug von Hoffnung und Vorfreude. Vermutlich ging es anderen Frauen so, wenn sie von einem Ausverkauf bei ihrem Lieblingsschuhdesigner hörten. Tja, sollten die sich doch um die Jimmy Choos kloppen – sie hatte vielleicht gerade den Manager für ihr Lagerhaus gefunden.

»Ich dachte, ich versuche es damit, in Rente zu gehen«, fuhr Bear fort. »Aber das habe ich genau zwei Monate durchgehalten. Wenn ich ehrlich sein soll, drehe ich zu Hause durch. Meine Tochter ist im achten Monat und muss strikte Bettruhe einhalten. Meine Frau ist ständig weg, und ich laufe durch unser neues Haus wie ein verlorener Welpe. Inzwischen habe ich alle Heimwerkerprojekte erledigt, die mir eingefallen sind, und meine Frau schwört, wenn ich anfange, an der Küche herumzuwerkeln, bringt sie mich im Schlaf um.«

Er schaute sich um. »Ich bin mir nicht sicher, was Sie kaufen oder verkaufen, aber wenn es erfasst, gelagert und an Kunden verschickt werden muss, bin ich Ihr Mann.«

Er reichte ihr die Mappe. »Mein Lebenslauf und die Referenzen.«

Ja! Sophie musste sich zurückhalten, um keinen Freudentanz aufzuführen.

»Wie haben Sie erfahren, dass ich das Lagerhaus gemietet habe?«, wollte sie wissen.

»Die Stadt ist klein. Hier spricht sich alles rum. Momentan gibt es kaum ein anderes Gesprächsthema. Wenn ich Sie wäre, würde ich schnell einen Termin für Bewerbungsgespräche verkünden. Ansonsten werden die Leute hier zu allen möglichen und unmöglichen Zeiten auftauchen.«

»So wie Sie?«

Er ließ ein Grinsen aufblitzen. »Ganz genau.« Das Lächeln schwand. »Ich habe von dem Feuer gehört. Sie waren doch versichert, oder?«

»Ah, Sie wollen wissen, ob ich die Gehälter zahlen kann.«

»Ich werde ganz sicher nicht für umsonst arbeiten.«

»Das verstehe ich.«

Bevor sie weitere Fragen zu seinen Erfahrungen stellen konnte, bog ein Lastwagen auf den Parkplatz und fuhr langsam rückwärts auf die Laderampe zu.

Bear schaute von dem Truck zum Lagerhaus. »Sie haben noch nicht mal Regale. Oder Schreibtische. Arbeitet außer Ihnen überhaupt schon jemand?«

»Nein, aber bald. Es ist besser, Produkte zu haben und keine Regale, um sie zu lagern, als umgekehrt.«

Bear wirkte nicht überzeugt. Trotzdem ging er zur Rampe und wies den Fahrer ein.

Beinahe eine Stunde benötigten sie, um alles vom Truck abzuladen. Sophie hielt mehrmals zwischendurch inne, um ihre Liste zu vervollständigen. So brauchte sie zum Beispiel Sackkarren, Gabelstapler, Handschuhe, Schutzbrillen und Pylonen.

Als der Truck wieder abfuhr, starrte Bear die gestapelten Kartons an.

»Katzenfutter. Katzenstreu. Katzenspielzeug.« Er funkelte sie an. »Was ist das alles?«

»Unser Angebot. Was hatten Sie denn gedacht, was hier los ist?«

»Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, was CK Industries herstellt.«

Sie grinste. »CK steht für Clandestine Kitty. Ich habe die Firma gegründet, als ich noch auf dem College war.«

»Verstecktes Kätzchen?« Bear wirkte entsetzt. »Sie verkaufen Katzenzeug? Und dafür brauchen Sie so viel Platz?«

»Mögen Sie keine Katzen?«

»Nicht wirklich. Ich bin mehr ein Hundemensch. Verdammt. Clandestine Kitty. Darauf wäre ich nie gekommen. Ich hoffe, niemand aus meiner alten Heimat findet heraus, dass ich hier arbeite.«

»Noch habe ich Sie nicht angestellt.«

»Aber das werden Sie. Denn auf dieser Insel finden Sie niemanden, der besser qualifiziert ist als ich. Außerdem wohne ich jetzt hier, das hilft. Wenn es einen Notfall gibt, brauche ich nur sechs Minuten.«

Er schaute noch mal zu den Kartons, dann ließ er seinen Blick durch das Lagerhaus schweifen. »Die Sachen kommen an, Sie verpacken sie neu und verschicken Sie an die Kunden. Ich verstehe. Wir brauchen also Regale und eine Verpackungsstation.«

»Ich weiß.«

»Sie müssen mir den momentanen Prozess genau erklären. Vermutlich ist er nicht so effizient, wie er sein könnte. Aber wir fangen erst einmal damit an und verbessern ihn dann nach und nach. Es würde helfen, wenn ich die Bestellungen der letzten sechs Monate sehen könnte, um mir einen Eindruck zu verschaffen, wie viel Platz wir benötigen. Einen Gabelstapler brauchen wir auf alle Fälle. Dazu muss ich für den Anfang einen Computer haben, die aktuellen Bestellungen und eine Firmenkreditkarte.«

»Sie sind immer noch nicht engagiert.«

Er stieß einen schweren Seufzer aus. »Was wollen Sie wissen?«

Seinen Lebenslauf hatte sie. Dem konnte sie entnehmen, was seine Aufgaben und Verantwortungsbereiche gewesen waren. Doch Sophie interessierte sich mehr dafür, wer Bear war. Man hatte ihr schon oft gesagt, dass es … nun ja, schwer war, für sie zu arbeiten. Konnte er damit umgehen?

»Erzählen Sie mir von Ihrem besten und Ihrem schlimmsten Tag.«

Sein Blick verengte sich. »Sie reden von der Arbeit, oder? Denn wenn Sie mit mir über meine Gefühle reden wollen, werden wir nicht gut miteinander klarkommen.«

Sie lachte. »Bear, ich schwöre, ich werde Sie niemals nach Ihren Gefühlen fragen. Und ganz sicher werde ich nicht über meine sprechen. Ich will nur wissen, ob Sie in Ihrem Job gut sind und ob Sie ein Problem damit haben, für eine Frau zu arbeiten.«

»Bringen Sie eine Katze mit zur Arbeit?«

Sophie dachte daran, wie CK beinahe achtzehn Jahre lang ein Teil ihrer Welt gewesen war. Ihr leises Miauen und sanftes Schnurren war ihr so vertraut gewesen wie ihr eigener Herzschlag. Sie erinnerte sich, wie sie CK am Ende in den Armen gehalten und nicht hatte glauben können, dass ihr süßes Mädchen wirklich fort war.

»Nein«, sagte sie leise. »Ich werde keine Katze mit in die Firma bringen.«

»Dann ist es mir egal, ob Sie eine Frau oder ein Zombie sind. Führen wir das Bewerbungsgespräch und bringen die Sache in trockene Tücher. Wenn Sie glauben, dass es passt, dann werde ich Ihnen eine Liste mit den Dingen schreiben, die ich benötige.«

»Regale und Schreibtische habe ich schon ausgesucht.«

»Aha. Wie gesagt, ich schreibe Ihnen eine Liste, die wir dann gemeinsam durchgehen können. Bis die Computer für die Firma geliefert werden, nutze ich meinen eigenen. Okay: der schlimmste Tag. Das ist leicht. Irgendein Idiot hat Unmengen an Obst vom Garten seiner Mutter in unser Lagerhaus gebracht, ohne vorher darüber nachzudenken, dass die vielleicht Apfelfruchtfliegen haben könnten. Was sie hatten. Verdammter Trottel. Wissen Sie, was ein paar Dutzend brütende Fruchtfliegen in einem Lagerhaus voll Premium-Obst anrichten können?«

Darüber wollte sie ehrlich gesagt lieber nicht nachdenken. »Das war schlimm, hm?«

»Schlimm trifft es nicht einmal ansatzweise. Wir haben Millionen verloren. Keine Ahnung, wo der Typ jetzt ist, aber für mich wird er definitiv nie wieder arbeiten.« Er dachte eine Sekunde nach. »Der beste Tag … Tja, wenn einem gefällt, was man tut, sind alle Tage gute Tage.«

Sophies Unternehmerherz schlug einen kleinen Salto. »Ich werde mir Ihren Lebenslauf und die Referenzen ansehen«, sagte sie. »Wollen Sie schon mal anfangen, die Kartons auszupacken?«

Seufzend betrachtete er den Kartonstapel. »Katzen. Darauf wäre ich nie gekommen.«

Heather Sitterly trug zwei Teller in den Speiseraum des Blackberry Island Inn. Obwohl es ein Montagmorgen war, waren die meisten Tische besetzt. Bei den Frühstücksgästen handelte es sich um eine Mischung aus Touristen und Einheimischen, angelockt von gutem Essen zu vernünftigen Preisen. Besonders die Frittata mit Bacon und Frühlingsgemüse war an diesem Morgen beliebt.

»So, bitte schön«, sagte sie und stellte die Teller vor einem älteren Pärchen ab, das das gesamte Wochenende im Inn verbracht hatte. »Einmal mit Avocado und einmal mit Extrabacon für den Gentleman.« Sie lächelte. »Ich komme gleich wieder, um Ihnen Kaffee nachzuschenken und zu hören, wie es Ihnen schmeckt.«

»Danke, meine Liebe«, sagte die Frau, die ungefähr Mitte sechzig war und graues Haar sowie dunkle Augen hatte. Sie sah Heathers Großmutter mütterlicherseits sehr ähnlich, doch das behielt Heather lieber für sich. Niemand hörte gerne, dass er aussah wie eine Großmutter.

Mit einem Lächeln wandte Heather sich ab und ging zur Kaffeemaschine. Die Kanne mit dem entkoffeinierten Kaffee war beinahe leer, also setzte sie eine neue auf, bevor sie eine Kanne normalen Kaffee nahm und zu den Tischen zurückkehrte. Nachdem sie ein halbes Dutzend Tassen nachgefüllt hatte, erreichte sie wieder den Tisch des älteren Pärchens.

»Wie ist das Frühstück so?«, fragte sie, während sie nachschenkte.

»Wie immer ausgezeichnet«, antwortete die Frau und warf einen Blick auf das Namensschild. »Heather heißen Sie? Sind Sie von hier?«

»Hier geboren und aufgewachsen.«

»Gehen Sie aufs College?«, wollte der Mann wissen.

»Ja, aufs Community College. Das liegt auf dem Festland, nicht weit von hier.«

»Es ist so schön, dass es eine Brücke gibt«, sagte die Frau. »Da müssen Sie nicht auf eine Fähre warten.«

»Das stimmt. Bei schlechtem Wetter fahren die Fähren nicht, aber die Brücke ist immer geöffnet.«

Der Mann zwinkerte ihr zu. »Träumen Sie je davon, woandershin zu flüchten?«, fragte er neckend. »In eine Großstadt?«

Beinahe jeden Tag. Doch den Gedanken behielt Heather für sich. Diese netten Leute wollten nichts über ihre persönlichen Schwierigkeiten wissen oder darüber, wie sehr sie sich danach sehnte, irgendwo anders zu leben, nur nicht hier.

»Ach, Blackberry Island ist ein schöner Ort«, sagte sie stattdessen und erklärte dann entschuldigend, dass sie sich jetzt um die anderen Gäste kümmern musste.

Genau eine Stunde und siebenundvierzig Minuten später endete Heathers Schicht. Sie meldete sich ab, steckte ihr Trinkgeld ein und nahm den Behälter mit dem Essen, den Helen, die Köchin, ihr immer hinstellte. Wie gewünscht, hatte Helen den Namen Amber auf den Behälter geschrieben. Anfangs hatte sie Heathers Namen notiert, da sie diejenige war, die die Bestellung aufgab und bezahlte. Aber darüber hatte Amber sich beschwert.

»Das Essen ist für mich. Warum steht da dein Name drauf? Sollte es nicht meiner sein?«

Heather hatte ihrer Mutter sagen wollen, dass es egal war, welcher Name darauf stand. Das Frühstück wurde kostenfrei und köstlich geliefert. Welche Bedeutung hatte da schon ein Name? Aber das war kein Streit, für den es sich lohnte, Energie aufzuwenden.

Nachdem sie den Behälter in den Fahrradkorb an ihrem Lenker gepackt hatte, setzte sie den Helm auf. Sie hatte zwar ein Auto, aber für kurze Strecken war es schneller und günstiger, das Fahrrad zu nehmen. Außerdem war Bewegung gut. Während sie auf das Haus zuradelte, in dem sie aufgewachsen war, plante sie den Rest ihres Tags. Um Viertel nach neun wäre sie zu Hause. Damit hätte sie beinahe zwei Stunden, um für ihre Abschlussprüfungen zu lernen, bevor sie mit ihrer Mutter ein Auto kaufen gehen würde.

Vor drei Wochen war jemand an der einzigen Ampel auf der Insel von hinten auf Ambers Auto aufgefahren. Es war ein Totalschaden gewesen, und Amber hatte einige Verletzungen erlitten, aufgrund derer sie krankgeschrieben worden war. Heather tat es leid, dass ihre Mutter Schmerzen hatte, und sie hoffte, dass sie schnell wieder gesund wurde. Allerdings fragte sich ein kleiner – gemeiner – Teil von ihr, ob Amber wirklich verletzt worden war. Denn krankgeschrieben zu sein war wesentlich leichter, als zur Arbeit zu gehen.

Auf der letzten halben Meile zum Haus ermahnte Heather sich, dass sie nicht urteilen sollte. Es war das Leben ihrer Mutter – da sollte sie sich nicht einmischen. Allerdings war es immer ihre Aufgabe gewesen, auf ihre Mom aufzupassen – und das war die Wurzel aller Probleme.

Vor dem alten Haus im Rancherstil stieg sie vom Fahrrad ab. Der Vorgarten war groß mit einer schönen Rasenfläche und breiten Beeten. Nach dem langen Winter sah alles im Moment noch etwas traurig aus, aber die Narzissen und Tulpen steckten schon ihre ersten grünen Blätter aus der dunklen Erde. In einer Woche oder so würden die ersten Blumen kommen.

Das Haus selbst brauchte mal wieder einen frischen Anstrich – ganz zu schweigen von einer Renovierung von Küche und Badezimmern. Aber immerhin funktionierte alles, was wesentlich wichtiger war als Äußerlichkeiten.

Sie kettete ihr Fahrrad an der hinteren Veranda an und ging durch die Hintertür hinein.

»Ich bin’s!«, rief sie.

»Heather?«, antwortete die schwache Stimme ihrer Mutter. »Bist du das?«

»Ja, Mom. Wer sollte es sonst sein?«

»Man kann nie wissen. Jemand könnte einbrechen und mir die Kehle durchschneiden. So was ist schon passiert.«

»Aber dir nicht«, erwiderte Heather fröhlich, denn Sarkasmus funktionierte bei ihrer Mutter nicht, und sie musste wirklich so schnell wie möglich an ihren Schreibtisch, um zu lernen. »Ich denke, auf der Insel sind wir alle ziemlich sicher.«

»Hast du mir mein Frühstück mitgebracht? Ich habe solche Schmerzen und kann meine Tabletten erst nehmen, wenn ich etwas gegessen habe.«

»Jupp, das Frühstück kommt sofort.«

Heather gab die Frittata auf einen Teller und stellte ihn kurz zum Aufwärmen in die Mikrowelle. Dann schenkte sie eine Tasse Kaffee ein, bevor sie alles in das kleine, schäbige Wohnzimmer trug, wo ihre Mutter auf dem Sofa lag.

Amber machte einen schwachen Versuch, sich aufzusetzen, presste dann aber die Augen zu und wimmerte. Heather half ihr auf und schob ihr ein paar Kissen hinter den Rücken. Sobald Amber bequem saß, reichte Heather ihr den Teller und stellte den Kaffee in Reichweite ab.

»Ich muss jetzt lernen, Mom. Morgen ist meine letzte Prüfung.«

»Aber wir gehen nachher trotzdem Autos angucken, oder?«

»Ja, klar.«

Heather dachte an die Unterhaltung, die sie bisher aufgeschoben hatte, und wusste, dass ihr die Zeit davonlief. Widerstrebend setzte sie sich ihrer Mutter gegenüber in den Sessel.

»Mom, die Versicherung hat neuntausend Dollar gezahlt. Du hast davon gesprochen, dass du ein neueres SUV-Modell haben willst. Aber alle, die du mir gezeigt hast, kosten selbst gebraucht zwanzigtausend. Willst du für den Rest einen Kredit aufnehmen?«

Amber, eine korpulente, dunkelhaarige Frau mit braunen Augen, stellte den Teller ab. »Was sagst du da?«

Sie war erst achtunddreißig, sah aber aus wie Mitte vierzig. Als junge Frau war sie sehr hübsch gewesen, doch ihr gutes Aussehen war zusammen mit ihren Ambitionen verblasst.

»Nun ja, mit Steuern und Zulassungsgebühren werden aus zwanzigtausend Dollar schnell dreiundzwanzig. Damit bräuchtest du einen Kredit über vierzehntausend Dollar. Vielleicht solltest du etwas von deinen Ersparnissen nehmen, um den Kredit niedriger zu halten.«

Tränen stiegen Amber in die Augen. »Ersparnisse? Ich habe keine Ersparnisse. Vielleicht tausend Dollar. Ich habe diesen grauenhaften Job, bei dem ich fast nichts verdiene. Mit den ganzen Ausgaben hier bleibt am Ende des Monats nichts übrig.« Nun liefen die Tränen über. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Es ist nicht fair. Der Mann ist mir draufgefahren und hat meinen Wagen geschrottet, aber ich bin diejenige, die für seine Unvorsichtigkeit bezahlen muss. Die Polizei hat ihm gerade mal einen Strafzettel verpasst. Ich bezweifle, dass sie das getan hätte, wenn ich nicht darauf bestanden hätte.«

»Mom«, sagte Heather sanft und versuchte, den Knoten in ihrem Magen zu ignorieren. »Das Auto?«

Die Unterlippe ihrer Mutter zitterte. »Ich schätze, dann gibt es kein Auto für mich. Ich werde den Bus nehmen müssen. Von der Bushaltestelle zum Haus ist es nur eine Meile. Sobald mein Rücken geheilt ist, sollte ich das schaffen.«

»Du hast wirklich nur tausend Dollar angespart?«

Amber starrte sie an. »Würde ich deswegen lügen?«

Heather war sich ziemlich sicher, dass ihre Mutter das tun würde, aber da Amber ihre Konten alle bei einer Online-Bank hatte, konnte sie nicht nachschauen. Was einen Kredit anging …

Nicht, sagte sie sich, versuch es gar nicht erst.

»Hast du nicht etwas Geld?«, fragte ihre Mutter mit kleiner Stimme. »Das du mir leihen könntest?«

Und da war es. Die Sache, die Heather hatte vermeiden wollen. Die Frage, von der sie gewusst hatte, dass sie kommen würde, sobald sie von dem Unfall gehört hatte. Denn obwohl sie erst zwanzig war, unterstützte sie den Haushalt finanziell schon seit ihrem sechzehnten Lebensjahr.

Sie dachte daran, wie lange sie gespart hatte in der Hoffnung, eines Tages genug zusammenzuhaben, um fliehen zu können. Sie wollte mehr als nur zwei Vorlesungen pro Quartal am Community College hören, sie wollte einen guten Job haben anstelle von drei oder vier Teilzeitjobs. Und am meisten wollte sie eines Tages nicht mehr für ihre Mutter verantwortlich sein.

»Ein Darlehen?«, fragte sie, und es gelang ihr nicht, die Bitterkeit aus ihrer Stimme herauszuhalten.

Amber zuckte zusammen, als wäre sie geschlagen worden. »Wieso sagst du das so? Ich bin deine Mutter. Ich habe mich dein ganzes Leben lang um dich gekümmert. Wenn ich nicht schwanger geworden wäre, hätte ich aufs College gehen und etwas aus mir machen können. Ich bin immer für dich da, Heather. Du hast Glück, mich zu haben.«

Was vielleicht stimmte – vielleicht auch nicht –, aber am Ende des Tages zahlte ihre Mutter das geliehene Geld nie zurück. Egal, wie oft sie sich welches »lieh«.

»Wie viel hast du?«, hakte ihre Mutter nach.

Heather wollte lügen. Wollte verzweifelt einen kleineren Betrag nennen, damit sie etwas für die Zukunft behalten konnte, doch das ging nicht. Das Lügen-Gen fehlte ihr. Sie hatte es versucht, aber ihre Stimme klang dabei immer komisch, also sagte sie die Wahrheit.

»Sechstausend Dollar.«

Ambers Augen leuchteten auf. »Das ist perfekt. Dann muss ich mir nur achttausend leihen. Das ist eine gut zurückzahlbare Summe.« Sie deutete in Richtung von Heathers Zimmer. »Geh nur lernen. Danach kaufen wir mir ein Auto. Ich bin so aufgeregt. Ich hoffe, sie haben den Blauen noch. Der ist so hübsch und hat erst wenige Kilometer runter.«

Aufgeregt zappelte sie auf der Couch herum, als wären ihre Rückenschmerzen auf einen Schlag verschwunden.

Auf dem Weg zu ihrem Zimmer bemühte Heather sich, nicht sauer auf ihre Mutter zu sein, weil sie das Sparbuch ihrer Tochter plünderte und ihr eigenes intakt ließ. Gerade hatte sie den Computer hochgefahren, um sich ihre Notizen anzusehen, als ihr Handy klingelte. Nach einem Blick auf das Display lächelte sie.

»Hey, Sophie«, sagte sie. »Wie läuft es so?«

»Super. Ich stehe in meinem neuen Lagerhaus. Es ist nicht perfekt, aber es wird gehen.«

Sophie, Amber und Kristine waren Cousinen, die gemeinsam aufgewachsen waren. Amber war ein paar Jahre älter. Heather erinnerte sich daran, wie Sophie und Kristine auf sie aufgepasst hatten, als sie klein gewesen war.

»Ich kann immer noch nicht glauben, dass du ein Lagerhaus gemietet hast, ohne es vorher zu besichtigen«, sagte sie.

»Ich musste zugreifen, bevor es mir jemand wegschnappt. Die Alternative wäre etwas auf dem Festland gewesen, und das wollte ich nicht.«

»Wann bist du angekommen?«

»Spät am Samstagabend.«

»Und jetzt bist du schon im Lagerhaus?«

»Das Geschäftliche kommt immer zuerst. CK Industries muss wieder aufgebaut und zum Laufen gebracht werden. Zuerst die Mitarbeiter und das Inventar, dann die Welt. Ich fahre gleich los, um das Haus zu suchen, das ich gemietet habe. Ende der Woche kann ich einziehen. Bis dahin wohne ich in einem Inn. Wollen wir Mittwoch zusammen zu Abend essen? Da soll es ein Spezialmenü geben.«

»Klar. Ich habe frei. Und ich glaube nicht, dass Mom etwas vorhat.«

»Dann treffen wir uns um sechs am Inn.«

»Ich freue mich darauf.«

»Ich mich auch.«

Heather legte auf. Sophie zog mit ihrem erfolgreichen Unternehmen auf die Insel. Das bedeutete, sie musste Leute einstellen. Vielleicht, dachte Heather, hat sie auch einen Job für mich. In der Versandabteilung oder so. Wenn sie sich vom Frühlingssemester abmeldete, würde sie die Gebühren zurückbekommen. Hoffentlich hatte Sophie irgendeinen Teilzeitjob zu vergeben, damit Heather ihre Frühstücksschicht im Inn nicht aufgeben musste. Die Trinkgelder dort waren super, und sie war auf sie angewiesen, wenn sie ihr Sparkonto wieder auffüllen wollte. Aber mit Sophie zusammen zu sein brachte immer Spaß. Sophie sah die Welt als einen spannenden Ort mit unzähligen Gelegenheiten an. So wollte Heather irgendwann auch sein.

Lernen, ermahnte sie sich und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihren Computer. Dann das Auto. Später in der Woche Dinner mit Sophie. Und wenn sie irgendwo fünf Minuten Zeit fand, würde sie die Augen schließen und sich vorstellen, wie ihr Leben aussah, wenn sie endlich hier weg war.

3. KAPITEL

Das Blackberry Island Inn bot normalerweise nur Frühstück und Mittagessen an. Jeden zweiten Mittwoch wurden allerdings auch abends die Türen für das traditionelle Grillhähnchen-Dinner geöffnet. Sowohl die nette Dame an der Rezeption als auch zwei Frauen, die am Lagerhaus vorbeigekommen waren, »um mal zu gucken«, hatten Sophie versichert, dass das eine Gelegenheit war, die man auf keinen Fall verpassen wollte.

Nach der Zusage von Amber und Heather hatte Sophie einen Tisch für drei Personen reserviert. Das Restaurant besaß keine Schanklizenz, sodass sie schnell noch zu einem der Weinkeller im Ort fuhr und eine Flasche Chardonnay kaufte, bevor sie sich um sechs Uhr mit den beiden Frauen am Empfang traf.

Als Erstes erblickte sie Heather, die gerade ihrer Mutter Amber die Tür aufhielt. Sophie hatte von Ambers Unfall gehört, aber nicht erwartet, dass diese einen Stock benötigen und sich so langsam bewegen würde.

Ansonsten sah Amber noch genauso aus wie immer. Ein wenig zerzaust und mit missbilligender Miene. Ihre Haare waren mausbraun, beinahe die gleiche Farbe wie Kristines, aber ohne die hübschen Strähnchen. Heather war größer als sie alle, und ihre Augen hatten ein helleres Braun. Sophie hatte immer angenommen, dass sie die Augenfarbe ihres Vaters geerbt hatte – ein Rodeo-Cowboy, der Amber laut eigener Aussage zu einem One-Night-Stand verführt und sie dann schwanger und mit einem ruinierten Leben zurückgelassen hatte.

Wo sie jetzt so darüber nachdachte, hätte sie vielleicht besser nur Heather zum Essen einladen sollen.

»Du bist wieder da!« Heather umarmte sie fest. »Ich freue mich so, dich zu sehen, und kann es kaum erwarten, alles über deine Firma zu hören. Und das Lagerhaus zu sehen. Das ist so aufregend!«

Ambers Umarmung war weniger enthusiastisch. »Nicht zu fassen, wie weit der Parkplatz vom Eingang entfernt ist. Ich hätte mir von meinem Arzt eine Behindertenplakette fürs Auto geben lassen sollen, dann hätten wir näher dran parken können.«

»Mom, ich habe dich am Eingang abgesetzt und dann erst das Auto geparkt.«

»Ja, und ich habe hier allein herumstehen und auf dich warten müssen.« Amber seufzte.

»Jetzt bist du ja hier«, sagte Sophie und berührte Amber leicht am Arm. Sie wusste: Der beste Weg, mit Amber umzugehen, war, sie so schnell wie möglich abzulenken. »Danke, dass ihr gekommen seid. Wollen wir reingehen?«

Amber bewegte sich so langsam, dass es Sophie ganz kribbelig machte. Sie lenkte sich ab, indem sie sich bei Heather unterhakte.

»Wie läuft es mit dem Studium? Und hast du immer noch siebenundvierzig Jobs?«

»Gestern war meine letzte Prüfung, ich sollte also bald meine Noten erfahren. Und ich habe nur drei Jobs.«

»Du arbeitest so hart«, sagte Sophie. »Wann hast du damit angefangen? Mit zwölf? Du musst inzwischen ordentlich Geld gespart haben. Das freut mich.«

Heather warf ihrer Mutter einen kurzen Blick zu. Sofort spürte Sophie, wie die Spannung zwischen den beiden anstieg. Verdammt, dachte sie. Wie hatte sie es nur geschafft, sich innerhalb von nur drei Minuten in so eine Lage zu bringen?

»Das Lagerhaus ist riesig«, wechselte sie schnell das Thema. Normalerweise störte sie sich nicht an den Emotionen ihrer Mitmenschen, aber in letzter Zeit war sie sensibler, was Gefühle anging. Und das hier war wirklich anstrengend.

»Es ist beinahe doppelt so groß wie das vorherige«, erzählte sie. »Zwar gibt es weniger Büroräume, aber das macht nichts. Ich brauche nicht viele Angestellte, und wenn es nötig sein sollte, können wir sicher einen Teil des Lagers abtrennen und in Büros umwandeln. Das muss ich einfach abwarten.«

»Weil du zu erfolgreich bist?«, fragte Amber eher genervt als spielerisch. »Arme Sophie, überwältigt davon, wie großartig alles ist.«

»Mom! Sie musste hierherziehen, weil ihre Firma abgebrannt ist«, schaltete Heather sich ein. »Wir freuen uns, dass sie zurück ist, aber es ist nicht so, als hätte sie sich freiwillig dafür entschieden.«

»Ist schon gut«, beschwichtigte Sophie fröhlich. »Oder das wird es wieder werden. Im Moment ist es ein wenig schwer, alles zu organisieren. Da wartet viel Arbeit auf mich.«

Sie hatten den Speiseraum erreicht und wurden zu einem Tisch mit Blick aufs Wasser geführt. Ein Segelboot fuhr auf die Sonne zu, die am Horizont unterging. Die Kellnerin reichte ihnen einen Zettel mit dem Menü.

»Das Menü ist relativ einfach«, erklärte sie und winkte Heather zu. »Ihr könnt zwei, drei oder vier Stücke Hähnchen bestellen, dazu zwei Beilagen. Zum Nachtisch gibt es verschiedene Obstaufläufe. Eure Bedienung wird gleich kommen, um die Bestellung aufzunehmen und den Wein zu öffnen.« Sie lächelte. »Für dich einen Eistee, Heather?«

»Einfach nur ein Wasser, danke, Molly.«

»Ist das eine Freundin von dir?«, wollte Sophie wissen, denn die beiden wirkten gleich alt.

»Eine Kollegin. Ich kellnere hier morgens. Da ist immer viel zu tun und es gibt großzügige Trinkgelder.«

Sophie zog die Nase kraus. »Tut mir leid. Ich wusste nicht, dass du hier arbeitest, sonst hätte ich ein anderes Restaurant ausgewählt. Du bist das Essen hier bestimmt schon leid.«

»Ich auf jeden Fall«, sagte Amber seufzend. »Jeden Morgen das gleiche Frühstück.«

Heather versteifte sich sichtlich. »Ich wusste nicht, dass du das so empfindest, Mom. Ich nehme immer das Spezialangebot, was auch immer das gerade ist. Aber ich kann gerne damit aufhören, dir nach meiner Schicht ein Frühstück mitzubringen.«

»Nein, nein, schon gut«, erklärte Amber. »Ich komme damit klar.«

Heathers Miene war undurchdringlich. Sie wandte sich an Sophie. »Glaub mir, das Hähnchen-Dinner ist ein echter Genuss. Ich war erst einmal hier, und es war köstlich.«

»Wann hast du denn hier gegessen?«, fragte Amber scharf. »Das wusste ich überhaupt nicht. Ich komme ja nie raus.«

»Jetzt bist du ja hier«, warf Sophie schnell ein und wedelte mit der Menükarte. »Ach, das klingt aber auch alles zu lecker.«

»Ich kann nicht fassen, dass sie nur Obstaufläufe zum Nachtisch haben«, beschwerte Amber sich. »Ich wollte Kuchen.«

Das Auftauchen der Kellnerin rettete sie. Nachdem sie den Wein geöffnet und zwei Gläser eingeschenkt hatte, brachte sie das Wasser für Heather und ein paar Biscuits für den Tisch.

Sophie bestellte einen Salat, Makkaroni mit Käse und zwei Stücke Hühnchen. Heather nahm statt des Salats die gebackenen Bohnen. Amber entschied sich für vier Stücke Hühnchen, was Sophie ein wenig viel vorkam, aber sie nahm an, dass sie den Rest für morgen mit nach Hause nehmen würde.

»Wie läuft es denn bisher?«, wollte Heather wissen. »Kann das Lagerhaus schon benutzt werden, oder musst du noch Regale, Tische und so bestellen?«

»Das Gebäude ist komplett leer. Ich versuche, es als Gelegenheit zu sehen, die Lagerung und den Versand so zu gestalten, wie es für mich am praktischsten ist.«

Das zu sagen war besser, als zuzugeben, wie überwältigt sie sich fühlte.

»Oh, und ich habe einen Manager eingestellt. Er heißt Bear und hat einen fantastischen Lebenslauf. Er ist ein wenig knurrig, aber ich glaube, wir werden gut miteinander klarkommen. Für die Verpackungs- und Versandstation hat er mir sogar schon einen Vorschlag gemacht. Und ich habe einen Gabelstapler bestellt.«

»Braucht man einen Führerschein, um den zu fahren?«, fragte Heather lachend. »Ich glaube, das würde ich gerne lernen. Wirst du einen Bewerbertag veranstalten?«

»Weil du noch einen Job brauchst?«, zog Sophie sie auf. »Wann hättest du dafür denn Zeit?«

»Ich versuche, mein Beschäftigungsportfolio zu konsolidieren«, erwiderte Heather grinsend.

»Dafür musst du nicht zu einem Bewerbertag«, warf Amber ein. »Sag ihr einfach, was du tun willst.« Sie überlegte kurz. »Ich glaube, ich würde gerne das Telefon bedienen. Das klingt leicht. Ja, das will ich.« Sie sah Sophie an. »Ist das ein Problem?«

»Mom!«

»Was? Sophie, dir ist es doch egal, oder?« Amber sah ihre Cousine durchdringend an.

Sophie spürte den Anflug von Kopfschmerzen. Weit weg zu leben hatte sie vergessen lassen, wie anstrengend Amber sein konnte. »Ich muss eine Rezeptionistin anheuern, also klar. Was ist mit dir, Heather? Was ist dein Traumjob?«

»Ich habe keinerlei Erfahrungen im Büro. Vielleicht was im Lager oder im Versand. Aber ich komme gerne zur Jobbörse.«

»Ich sage Bescheid, sobald ich anfange, Leute einzustellen. Ich hoffe, dass es in wenigen Tagen so weit ist.«

Am Montag, dachte sie. Bis dahin würden die Produkte sich schon stapeln. Sie hatte schon so viel verloren. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass sie ihre Firma auch noch verlor.

Nach einem köstlichen Abendessen verabschiedete Sophie sich von Amber und Heather und ging auf ihr Zimmer. Sie stellte die noch drei Viertel volle Weinflasche auf die Kommode, schaute sich in dem hübschen Raum um und merkte, dass sie nicht ertrug, den Rest des Abends drinnen zu verbringen. Also schnappte sie sich ihre Autoschlüssel und die Weinflasche und ging wieder raus.

Auf dem Weg zu ihrem Wagen schrieb sie Kristine eine kurze Nachricht.

Kann ich vorbeikommen?

Natürlich. Ich freue mich
über Gesellschaft.

Sophie fuhr die kurze Strecke zum Haus ihrer Cousine und parkte am Bürgersteig.

Das zweigeschossige Haus wirkte eher behaglich als elegant. Alle Fenster waren hell erleuchtet, und selbst von der Straße konnte Sophie hören, wie die Jungs durch die Gegend liefen und sich dabei irgendwelche Dinge zuschrien. An der Verandabrüstung lehnten ein paar Fahrräder, und auf der Einfahrt standen zwei SUVs.

Kristine und Sophie waren gleich alt. Sie waren gemeinsam in derselben Kleinstadt aufgewachsen, waren auf die gleichen Schulen gegangen, und doch hätten ihre Leben nicht unterschiedlicher sein können. Kristine hatte direkt nach der Highschool geheiratet. Sie war eine Hausfrau und Mutter, die Kekse backte und die Kinder zum Fußballtraining fuhr. So etwas hatte Sophie nie gewollt. Und doch, als sie jetzt zur Haustür ging, fragte sie sich, ob Kristine nicht diejenige war, die es richtig gemacht hatte.

»Hey du«, sagte Kristine, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, und zog Sophie in die Arme. »Was ist los?«

Sophie hielt ihr die Weinflasche entgegen. »Sie ist zwar schon angebrochen, aber noch gut.«

»Zu einem Glas Wein mit dir sage ich nicht Nein. Komm rein und ignorier das Geschrei. Offensichtlich haben sie in der Schule nicht ausreichend Energie abgelassen. Wir schleichen uns nach unten, denn wenn sie mitkriegen, dass du hier bist, haben wir keine ruhige Minute. Generell werden sie um diese Zeit ruhiger, aber bis es so weit ist, tun wir einfach so, als wären die Geräusche das sanfte Zwitschern der Kraniche über dem Puget Sound.«

»Zwitschernde Kraniche?«

Kristine lachte. »Vielleicht. Ich bin mir nicht sicher.«

Sie gingen in den ausgebauten Keller, wo Kristine auf ein abgesessenes Sofa zeigte. Während Sophie sich setzte, holte Kristine zwei Weingläser aus einem eingebauten Schrank und gesellte sich dann zu ihr.

»Also, was gibt es Neues?«, fragte Kristine. »Wie geht es dir?«

»Ganz gut. Ich lebe mich langsam ein. Heute habe ich mit Amber und Heather zu Abend gegessen.«

Kristine zuckte zusammen. »Absichtlich?« Sie schlug sich eine Hand vor den Mund. »O Gott, ich fasse es nicht, dass ich das gesagt habe. Und ich kann es noch nicht mal auf den Wein schieben. Es ist nur … Amber ist so …«

»So wie sie immer war«, sagte Sophie düster. »Sie ist wirklich ein abschreckendes Beispiel. Aber heute kam sie mir schlimmer vor als sonst. Und zwischen ihr und Heather herrschte eine spürbare Spannung. Ist da was vorgefallen?«

Kristine nahm ihr Weinglas in die Hand. »Da kann ich nur raten. Ambers Auto hat bei einem Unfall einen Totalschaden erlitten. Gestern ist sie vorbeigekommen, um mir ihren neuen fahrbaren Untersatz zu zeigen. Ein schicker Subaru, der weit mehr gekostet haben muss, als sie von ihrer Versicherung bekommen hat.«

»Was hat das damit zu tun?«

»Ich bezweifle, dass sie genug verdient, um einen großen Kredit aufzunehmen. Daher muss sie zumindest einen Teil des Gelds sofort auf den Tisch gelegt haben. Aber du glaubst doch nicht, dass sie Ersparnisse hat, oder? Also hat sie das Geld irgendwoher bekommen, und ich würde sagen, Heather ist das wahrscheinlichste Opfer.«

Sophie ließ sich gegen die Rückenlehne des Sofas sinken und zuckte kurz zusammen. Dann holte sie ein kleines Spielzeugauto zwischen den Kissen hervor.

»Arme Heather«, murmelte sie. »Warum bleibt sie nur bei ihr?«

»Wenn sie geht, würde Amber ihr das nie verzeihen. Noch dazu ist Heather erst zwanzig. Egal, wie schlecht Amber sich benimmt, sie ist ihre Mutter. Außerdem hat Amber ihre Tochter dazu erzogen, sich um sie zu kümmern. Ich bin mir sicher, dass Heather sich gefangen fühlt. Nur kann sie es sich vermutlich nicht leisten wegzuziehen. Sobald sie anfängt, sich ein Polster anzusparen, fällt Amber immer irgendetwas ein, wofür sie dringend Geld benötigt.« Kristine schüttelte den Kopf. »Wenn da was zwischen ihnen war, liegt es meiner Meinung nach daran, dass Heather genervt ist. Und das sollte sie auch sein.«

»Familiendramen. Ich hatte ganz vergessen, dass das zum Nachhausekommen dazugehört.«

»Du liebst uns«, erklärte Kristine. »Also, was ist mit deiner Firma? Läuft es gut? Die ganze Sache muss dich doch überwältigen. Du fängst ja quasi noch mal bei null an.«

»Ich weiß. Ich versuche, nicht an das große Ganze zu denken.« Sie stellte ihr Glas ab und drehte das Spielzeugauto in den Händen. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass niemand mit mir kommen wollte. Kein einziger Angestellter wollte hierherziehen.«

»Das liegt daran, dass sie keine Ahnung haben, wie toll es hier ist. Sie stellen sich irgendein Kaff vor anstelle unserer coolen, wunderschönen Insel.«

Sophie verdrehte die Augen. »Wirklich? Das ist deine Geschichte?«

»Okay, Blackberry Island ist klein, aber Seattle ist nur eine knappe Stunde mit dem Auto entfernt. Das ist tausendmal besser als L. A. Die Leute von der Westküste sind Snobs.«

Sophie grinste. »Muss ich dich daran erinnern, dass wir auch an der Westküste leben?«

Kristine riss die Augen auf. »Ups. Ich bin nicht gut im Lästern.«

»Stimmt.«

»Wie auch immer«, fuhr Kristine fort. »Ich stehe zu dem, was ich gesagt habe. Es ist die Angst vor Kleinstädten. Ich bin mir sicher, dass es dafür ein Wort gibt.«

Selbst wenn es das gäbe, war Sophie nicht sicher, ob es wichtig wäre. Sie konnte den Gedanken nicht abschütteln, dass die Weigerung ihrer Angestellten, mit ihr zu gehen, eine wichtige Botschaft war. Wenn sie diese Botschaft doch nur entschlüsseln könnte.

Später, versprach sie sich. In diesem Moment wurden ihre Gedanken von einem lauten »Tante Sophie ist hier?« unterbrochen, gefolgt von dem donnernden Trampeln schneller Schritte auf der Treppe. Kristines drei Jungen stürmten in den Keller und schossen auf das Sofa zu. JJ und Tommy attackierten Sophie von beiden Seiten, während Grant sich ihr in den Schoß warf.

Sophie kam sich ein wenig eingequetscht vor, umarmte und kitzelte die Jungs aber lachend. Dünne Arme schlangen sich um ihre Schultern und ihren Hals.

Technisch gesehen war sie nicht ihre Tante. Kristine und sie waren Cousinen. Da sie aber eher wie Schwestern aufgewachsen waren, machte es die Sache für alle einfacher, wenn die Jungs Sophie als »Tante« bezeichneten.

»Hey ihr«, sagte sie, als die drei sich einigermaßen beruhigt hatten. »Wie läuft’s?«

»Ich habe eine Eins im Buchstabieren bekommen«, verkündete Grant stolz.

»Dad geht mit uns in den Frühjahrsferien campen«, sagte JJ. »Wir wohnen in einer Hütte. Mom will aber nicht mitkommen.«

»Drei stinkende Jungs in einer kleinen Hütte?« Kristine zog die Nase kraus. »Ihr werdet mir alle so fehlen.«

Tommy lehnte sich gegen seine Mutter. »Wir stinken nicht, Mom. Du hast nur eine zu sensible Nase.«

»Das stimmt.«

Sophie musterte die braunhaarigen, braunäugigen Jungen. Sie sahen einander so ähnlich, dass kein Zweifel an ihrer Verwandtschaft bestand. Ohne den Altersabstand könnten sie vermutlich als Drillinge durchgehen. Und alle drei sahen genauso aus wie ihr Vater.

»Jaxsen hat eine ziemlich starke DNA«, sagte sie und strich JJ die Haare aus den Augen.

JJ sprang auf. »Dad, Tante Sophie spricht über Sperma.«

Jaxsen kam die Treppe herunter und sah aus wie immer – ein sportlicher Mann in der Blüte seines Lebens. Er grinste sie an. »Eure Tante ist eine ganz Wilde.« Er nickte. »Kinder stehen dir, Soph. Du solltest dir einen Mann suchen und sesshaft werden.«

»Ach bitte. Ich bin eine fabelhafte Tante, aber das war’s auch schon.«

»Es ist schön, dich wieder hier zu haben.«

Sie nickte und dachte, dass sie Jaxsen beinahe so lange kannte, wie sie sich zurückerinnern konnte. Er war ein paar Klassen über ihr und Kristine gewesen. Auf der Highschool war er der attraktive, charmante Footballspieler gewesen, bei dem die Mädchen Schlange gestanden hatten. In einer Sommernacht hatte Sophie in einem Auto ihre Jungfräulichkeit an ihn verloren. Das Ganze hatte genau zwei Minuten gedauert und sie so angewidert, dass sie es nie jemandem erzählt hatte. Außerdem hatte sie danach drei Jahre lang einen großen Bogen um Jungs und Dates gemacht. Nun schaute sie ihre Cousine an. Kristine war glücklich – ohne Zweifel war Jaxsen mit den Jahren erfahrener geworden.

»Was ist so lustig?«, fragte Kristine und schob Tommy von sich.

»Ich erinnere mich nur daran, als wir noch jung waren.«

»Ihr wart mal jung?« Grant rutschte auf den Boden, von wo sein Bruder ihn wieder hochzog. »Damals, in der guten alten Zeit?«

»Sehr lustig.« Kristine zeigte auf die Treppe. »Sagt Gute Nacht, Jungs.«

»Gute Nacht, Jungs!«, rief JJ und rannte die Stufen hinauf.

»Ich weiß nicht, wie du das machst«, gestand Sophie. »Die sind ganz schön ermüdend.«

»Eine Firma zu leiten ist bestimmt genauso ermüdend.«

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