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Immer, wenn wir uns begegnen

Als Buch hier erhältlich:

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Eine Nacht und ein ganzes Leben

Quinns großer Traum, Konzertpianistin zu werden, ist geplatzt. Doch was als der schlimmste Tag ihres Lebens beginnt, wird zu der schönsten Nacht. Quinn trifft einen Mann, zu dem sie eine besondere Verbindung spürt. Gemeinsam streifen sie bis zum Morgengrauen durch San Francisco, ohne ihre Namen oder Nummern auszutauschen. Wenn sie füreinander bestimmt sind, wird das Schicksal sie wieder zusammenführen – davon ist Quinn überzeugt. Sechs Jahre später sind Quinn nur Erinnerungen und ein Armband geblieben, das er ihr geschenkt hat. Als eine Hotelkette ihre Pension übernehmen will, sucht Quinn empört den CEO auf. Plötzlich steht sie vor dem Mann, den sie seit Ewigkeiten in ihrem Herzen trägt …


  • Erscheinungstag: 27.06.2023
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745703580
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PLAYLIST

THIRD FLOOR, CAM NACSON – Move On

SAENS – Wind Turns Cold

TENDER – Outsider

BREATHE. – Home

ALEXANDER NATE – Save This Dance For Me

SOFIA KARLBERG – When The Storm Is Over

MAX – Where Am I At

YANN TIERSEN – Comptine d’un autre été: l’après-midi

PIETER DE GRAAF – Charlotte’s Daydream

MICHAEL NYMAN – The Heart Asks Pleasure First

SYMPHONIACS – A Sky Full Of Stars

SYMPHONIACS – How Deep Is Your Love

SYMPHONIACS – Dark Horse

LUDOVICO EINAUDI – Experience

BECKY HILL – Remember (Acoustic)

Die komplette Playlist findest du auch in Spotify unter

»Immer, wenn wir uns begegnen« – Rose Bloom

Für alle, die die Leidenschaft in ihrem Herzen tragen und Mut brauchen, um ihre Träume zu verfolgen.

KAPITEL 1

Quinn/ Rain

Sechs Jahre zuvor

Dies hier war der Moment, in dem mein Herz brach und mein Traum starb. Ich spürte es, wie man ein nahendes Gewitter spürt. Wie man es spürt, wenn die Achterbahn kurz davor ist, in die Tiefe zu stürzen.

Meine Finger verkrampften sich auf den Tasten. Schwarz. Weiß. Schwarz. Weiß. Ich schaute von der hohen Bühne, blinzelte gegen die grellen Scheinwerfer, die auf mich gerichtet waren, und erkannte drei dunkle Schemen in den ansonsten leeren Sitzreihen. Drei Menschen, die über meine Zukunft bestimmten und warteten, dass ich endlich begann. Doch die Panik lähmte mich, kroch meinen Nacken hinunter und legte sich wie ein kalter Film auf meine Haut, sodass ich gleichzeitig fror und schwitzte. Es fühlte sich an wie ein Wechselbad zwischen einem Saunagang und einem Eisbad.

Ich schaute zurück auf die Noten, zurück zu den Klaviertasten unter meinen verkrampften Fingern, wieder zurück auf die Notenblätter, die ich gar nicht brauchte, weil ich das Lied in- und auswendig kannte. Ich hatte das Stück Charlotte’s Daydream hundert-, vielleicht tausendmal gespielt und gefühlt. Doch dort, wo ansonsten die Musik mein Herz wie eine Stimmgabel vibrieren ließ, war nichts. Nur Leere.

Tränen brannten in meinen Augen, diesmal nicht, weil mich das gespielte Stück wie in einen emotionalen Rausch zog, sondern weil die Panik gewonnen hatte. Die Erkenntnis, dass ich vielleicht nie wieder spielen konnte, traf mich wie ein brennender Pfeil. Ich hatte es gewusst, ich hatte doch gewusst, dass ich vor Publikum jedes Mal versagte, doch meine Grandma Ophelia hatte darauf gepocht, das Vorspielen an der School of Music nicht abzusagen. Meinen Traum nicht aufzugeben. Statt Freude darüber, diese Chance bekommen zu haben, hörte ich die Stimmen meiner Highschool-Mitschüler in meinem Ohr. Stimmen, die mich spöttisch Wunderkind nannten, deren abwertendes Flüstern mir eine erneute Welle an Gänsehaut verschaffte.

»Schau doch mal, wie seltsam sie ist«, sagten sie.

»Hält sie sich für etwas Besseres?«, spotteten die anderen.

»Ms. Parker? Ist alles in Ordnung?«, hörte ich Mr. Erickson fragen. Er war einer der Klavierlehrer an der Schule, hatte fünf Jahre beim Sidney Symphony Orchestra gespielt und war eine Legende.

Ich räusperte mich. »Ja. Ich …« Keine Ahnung, was ich eigentlich sagen wollte, aber die Worte blieben mir im Hals stecken, versagten und ließen mich im Stich wie meine Finger, die diesem wundervollen schwarz glänzenden Flügel heute sicherlich keine Töne entlocken würden. Ich ließ den Kopf sinken, atmete tief ein und stand auf. Die Scheinwerfer waren so heiß, dass sie vermischt mit meiner Panik winzige Schweißperlen auf meine Stirn trieben, bis das Licht im Saal anging und ich die Menschen vor mir komplett erkennen konnte.

»Ich danke für Ihre Zeit, es … tut mir leid«, stammelte ich. Die Direktorin Mrs. Doyle notierte etwas in einem Notizbuch. »Ich kann heute nicht für Sie spielen.«

»Sind Sie sicher? Diese Chance ergibt sich vielleicht nur ein Mal im Leben«, stocherte sie noch tiefer in der Wunde herum, die in mir brannte. Mit fünf hatte mich meine Grandma zum ersten Mal auf das Flower Piano Festival in unserer Heimatstadt San Francisco mitgenommen. Mit großen Augen und wild klopfendem Herzen hatte ich dem Klavierspieler gelauscht. In dem Alter hatte ich noch nicht viel Erfahrung in Dingen, die das Leben für einen bereithielt, aber ich hatte es sofort gespürt. Dieses warme Gefühl, das mich bei jedem einzelnen Klang erfüllte. Während meine Freundinnen Tierärztin oder Prinzessin werden wollten, wollte ich nur eines: Klavier spielen.

Es stand für mich fest, dass nur das infrage kam, bis zu dem Augenblick, in dem ich gemerkt hatte, dass ich nicht für Publikum geschaffen war. Trotzdem hatte ich auf den Moment meines Highschoolabschlusses gewartet, um mich hier bewerben zu können. Nun war ich hier, hatte es versucht und versagt.

»Dann danke für Ihr Kommen«, zog mich die Stimme von Mrs. Doyle aus meinen Gedanken. Ich schaute kurz zu Mr. Erickson, der mir nur ein verhaltenes Lächeln schenkte, und zu Mr. Dunn, der ebenfalls zu den Lehrern zählte. »Sie können der nächsten Kandidatin draußen vor der Tür Bescheid geben.«

»Austauschbar« war der erste Begriff, der mir durch den Kopf schoss.

Ich nahm hastig meine Umhängetasche, die ich unter dem Hocker abgelegt hatte, und stopfte die Notenblätter wahllos hinein. Vor der Tür warteten zwei Dutzend andere, die ihre Chance sicher nicht so verstreichen lassen würden wie ich. Ich nickte der nächsten potenziellen Schülerin zu, die mich erwartungsvoll musterte, und eilte hinaus auf den Campus. Mit aller Kraft hielt ich meine Emotionen zurück, senkte den Kopf und vermied jeden Blick in die Augen der Studenten und Dozenten, die mir entgegenkamen. Sie würden es mir sofort ansehen, zu groß war die Scham, versagt zu haben.

Endlich erreichte ich das Ende des Universitätsgeländes, doch das machte meine Flucht nicht besser. Ich hatte keine Ahnung, wohin ich gehen sollte. Zurück im Sunny View, dem Hotel meiner Grandma, in dem ich fast meine gesamte Zeit verbrachte, würde ich nur mit Fragen bombardiert werden, wie es gewesen war. Genauso wie zu Hause. Mom und Dad waren zwar beide arbeiten, aber warteten sicherlich ebenfalls auf eine Nachricht. Wenn ich an ihre enttäuschten Gesichter dachte, sobald ich ihnen von meiner Blamage erzählte, wurde mir noch übler als ohnehin schon.

Nein, ich konnte jetzt niemanden sehen, sie würden es früh genug herausfinden. Einen Moment noch wollte ich mich vor der Realität drücken wie der Feigling, der ich war. Also gab es nur ein Ziel für mich.

Ich erreichte die Haltestelle und stieg in die nächste Straßenbahn Richtung Botanical Garden ein. Unsanft ließ ich mich auf einen der Sitze fallen und legte die Stirn an die kühle Fensterscheibe.

San Francisco hatte etwas von einer exzentrischen alten Dame. Hitze und Sonnenschein wechselten sich mehrmals am Tag mit Wind und Kälte ab. Vor allem in den Sommermonaten überzog die gesamte Stadt ein dichter Nebel, hüllte sie ein wie eine schützende Decke und trennte sie von dem umliegenden Land. Die Golden Gate Bridge hatte in dieser Atmosphäre etwas Mystisches an sich.

Gerade hatte die Sonne das Rennen gewonnen und wärmte mein Gesicht durch die Scheiben der Straßenbahn, während diese durch die Straßen tuckerte. Immer noch brannte die Trauer in mir. Ich hatte keine Ahnung, was ich nun tun sollte. Das war die beste Chance gewesen, meine Zukunft in eine Richtung zu lenken, in die ich gehen wollte. Wieso also hatte ich diese so vermasselt und mich nicht noch mehr angestrengt?

Nach etwas weniger als zwanzig Minuten Fahrt stieg ich am Botanical Garden aus, bezahlte den Eintritt und atmete die frische, holzige Luft ein, nachdem ich den Park betreten hatte. Ein Schild am Eingang wies auf das nächste Flowers Piano Festival im Juli hin. Diesmal hatte ich keine Ahnung, ob ich wirklich hingehen sollte. Vielleicht musste ich das Klavierspielen und die Musik ziehen lassen, um selbst frei sein zu können? Hatte ich mich zu sehr in etwas verrannt, was überhaupt nicht meine Bestimmung war?

Ich wanderte durch den Park und suchte mir eine einsame Bank mit Blick auf den Stow Lake. Allein sein, das war exakt das, was ich die nächsten Stunden brauchte. Doch genau im gleichen Moment, in dem ich mich setzte, nahm auch jemand anderes Platz.

Vorsichtig spähte ich rüber. Ein junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, also in meinem Alter, saß neben mir, aber er schien mich nicht zu beachten. Er hatte verwuscheltes Haar, das ihm bis zu den Ohren reichte, in der Farbe von schwerer Zartbitterschokolade. Bis der Lichteinfall der Sonne diese veränderte, dann wirkten sie einige Nuancen heller. Auf den ersten Blick sah ich ein perfektes Profil, eine gerade Nase, einen scharfen, glatt rasierten Kiefer. Seine Brauen waren dicht zusammengezogen, als dächte er über irgendetwas nach, während er die Arme ausbreitete, auf der Rückenlehne ablegte und über den See blickte.

Eigentlich wollte ich allein sein, doch es wirkte nicht so, als würde er sich viel aus mir machen. Also schaute ich ebenfalls nach vorn und ignorierte seine Anwesenheit. Eine Gruppe von Enten fischte nach etwas im Wasser, ein wenig entfernt fuhren zwei Männer mit einem Motorboot und hinterließen kleine Wellen auf der Oberfläche. Erneut ließ ich das Vorspielen in meinem Kopf Revue passieren, den Moment, als ich allein auf dieser gigantischen Bühne gesessen hatte. Mich einsam und verloren und völlig fehl am Platz gefühlt hatte. Doch darüber nachzudenken, war ein gigantischer Fehler, denn die Gefühle brachen ein weiteres Mal über mich herein und hinterließen Trümmer in meinem Innern.

»Hier.« Ich zuckte zusammen, als ich die dunkle Stimme des Fremden vernahm. Überrascht schaute ich ihn an und blickte in ein Paar saphirblaue Augen, die sofort etwas in mir zum Klingen brachten. Wie Musik, schoss es mir durch den Kopf, doch schnell verwarf ich diesen Gedanken wieder. »Wenn du mir die Gelben lässt, kannst du alle nehmen. Ach weißt du, was …« Er legte die Tüte mit Weingummi neben mir auf der Sitzfläche ab. Erst jetzt fiel meine Aufmerksamkeit darauf. »Ich hab so den Eindruck, dass du sie dringender als ich gebrauchen kannst. Iss auch die Gelben.«

»Wieso die Gelben?«, fragte ich sinnloserweise und hörte selbst, dass meine Stimme rau und brüchig klang. Ich schniefte uncharmant und strich mir mit dem Handrücken über die Augen. Hatte ich wirklich geweint, ohne es mitzubekommen?

»Kannst du deinen Geschmack begründen?«, fragte er, und ich hatte einen kurzen Moment Probleme zu fassen, dass ich hier saß und mich mit einem Fremden über Weingummis unterhielt.

Ich griff in die Tüte und zog einen roten daraus hervor. Ehe ich mir die Süßigkeit in den Mund steckte, musterte ich sie.

»War mir klar, dass die roten deine Favoriten sind«, sagte er, als hätte er mich beim ersten Blick durchschaut.

Die Süße breitete sich in meinem Mund aus und klebte ein wenig an meinen Zähnen, ehe ich alles hinunterschluckte. »Woher?«

»Bauchgefühl.«

»Okay, was sagt dein Bauchgefühl noch über mich?« Egal, wie belanglos unsere Unterhaltung war, sie lenkte mich wunderbar von dem Sturm ab, der in mir tobte.

Sein eben noch amüsierter, jungenhafter Ausdruck wurde auf einmal ernst. Er runzelte die Stirn und schaute mich an, als versuchte er, mich zu ergründen. Sein Blick war intensiv, fast schon ein wenig zu sehr. Plötzlich raste mein Herz, und mir fiel auf, wie attraktiv er wirklich war. Er hatte kantige Gesichtszüge, doch der Bereich um seine Lippen war weich, sein Mund voll und seine Oberlippe schön geschwungen. Seine Brauen hingen tief über den Augen, die dunkle Farbe bildete einen heftigen Kontrast zu dem hellen Blau seiner Iriden.

»Dass heute nicht dein bester Tag zu sein scheint«, antwortete er zurückhaltender. Ich nahm mir noch ein Weingummi, um ihm nicht weiterhin so ausgeliefert zu sein. Normalerweise war ich niemand, der sich allzu schnell vor fremden Menschen offenbarte. Aber er hatte etwas an sich, das sich vertraut anfühlte, fast schon, als könnte ich ihm alles erzählen und er würde mich nicht auslachen und mir sagen, dass die Welt schon nicht untergehen würde. Er würde meinen Schmerz nicht relativieren.

Im Hintergrund gaben einige Enten ein lautes Schnattern von sich und stoben flügelschlagend in den Himmel. »Das war nicht gerade schwer«, erwiderte ich und schob mir die Süßigkeit in den Mund.

»Willst du ein Geheimnis wissen?«, fragte er mit tiefer, verschwörerischer Stimme, und ich nickte langsam. »Auch ich hatte heute einen beschissenen Tag.« Er lächelte, doch dabei verdunkelte eine ganze Welt von Traurigkeit seine Augen.

»Das tut mir leid«, gab ich zurück.

Leise seufzend wandte er den Blick zu dem See, bis er erneut bei mir ankam. »Wie heißt du?«

Ich öffnete bereits den Mund und zögerte daraufhin. War nicht gerade das, was ich heute wollte, vergessen? Wenn ich ihm sagte, wer ich war und wie ich hieß, konfrontierte uns das unweigerlich mit der Realität, mit der anscheinend weder er noch ich uns auseinandersetzen wollten.

»Was hältst du davon, unsere Namen für uns zu behalten?«, fragte ich.

Er wirkte kurz überrascht, doch dann schien er den gleichen Gedanken wie ich zu verfolgen und lächelte. »Du meinst, du hast dich etwa nicht unsterblich in mich verliebt und wir werden uns nie wiedersehen?«

»Läuft das normalerweise bei dir so? Dass die Frauen sich in wenigen Sekunden in dich verlieben? Du bist ein schlimmerer Herzensbrecher, als ich vermutet hatte.« Je länger wir uns unterhielten, umso weiter löste sich der festgezurrte Knoten in meinem Innern. Ich konnte ein wenig besser atmen.

Er streckte den Rücken durch und deutete eine kleine Verbeugung an, die mich schmunzeln ließ. »Du hast Glück, heute bin ich nicht als Herzensbrecher unterwegs, sondern als persönlicher Entertainer für besonders harte Fälle.«

Diesmal war ich es, die lachen musste. »Du siehst mich also als besonders harten Fall? Na danke auch.«

»Du hast gelacht.« Auf sein Grinsen hin hielt ich inne. Er hatte recht. Zum ersten Mal am heutigen Tag hatte ich mich frei gefühlt, wenn auch nur für die Winzigkeit weniger Sekunden. »Du hast ein schönes Lachen«, sagte er, und ich spürte die Röte auf meinen Wangen. »Rain«, fuhr er fort, bevor ich etwas antworten konnte.

»Was meinst du?«

»Den Namen, den ich dir heute gebe.«

»Wieso Rain? Das klingt traurig.«

»Weil selbst ein Regentag etwas Schönes an sich hat. Genauso wie deine Traurigkeit wunderschön sein kann.«

Für einen Moment war ich sprachlos. »Nicht nur ein Entertainer, sondern auch ein Poet?«

Er lachte und fuhr sich ein wenig beschämt durch die Haare. Ich wollte ihn nicht auflaufen lassen, aber mit der Menge der Emotionen, die seine Worte in mir wachriefen, und der Gefühle, die ohnehin in mir tobten, kam ich kaum klar. »Ertappt. Den Spruch hab ich vielleicht mal in einem Buch gelesen. Er passt trotzdem zu dir, Rain.«

»Na gut«, erwiderte ich und betrachtete auch ihn eingehend. »Deinen Namen bekommst du später.«

»Ich bin jetzt schon gespannt.« Für einen Moment herrschte wieder diese Verbindung zwischen uns, die sich langsam und unaufhaltsam aufbaute. Eine Nähe, die man nicht sofort mit jedem Menschen eingehen konnte, die man nur wenige Male im Leben fühlen konnte. »Hey, sag mal, hast du Hunger?«

Ich horchte in mich und schaute auf die halb leere Weingummitüte. »Willst du mir noch mehr Süßigkeiten andrehen?«

»Etwas viel Besseres.« Er stand auf und hielt mir die Hand hin. »Nicht weit von hier findest du das beste, knusprigste Honig-Sesam-Hühnchen der gesamten Stadt.«

»Klingt vielversprechend.« Ich ergriff seine Finger, und er zog mich sanft hoch. Die Berührung schickte Wärme durch meinen Körper. Er war gut anderthalb Köpfe größer als ich, und ich schaute zu ihm auf. Irgendetwas umgab ihn, was meine Grandma Ophelia als gutes Karma bezeichnen würde. Sein Duft war frisch und klar, ich inhalierte ihn tief in meine Lunge.

Ich nahm an, dass er mich losließ, doch stattdessen schnappte er sich meine Umhängetasche und die Tüte Weingummis und ging los, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt. Unsere Finger waren fest miteinander verhakt. Egal, was er sagte, er war ein Herzensbrecher und wusste ausgezeichnet, wie er eine Frau auf seine Seite zog. Aber vielleicht suchte ich genau das heute? Ein atemberaubendes Abenteuer, ehe ich mich am Morgen mit der Realität auseinandersetzen musste.

Wir durchquerten den Park bis auf die andere Seite, unterhielten uns dabei über Belangloses. Wie lange wir schon in San Francisco wohnten – wir waren beide hier aufgewachsen – und über unsere Lieblingsgerichte, Serien, die wir schauten. Ich umschiffte das Thema Musik gekonnt, bis wir bei einem Chinarestaurant ankamen. Über der Tür strahlte ein grellgrünes Leuchtschild mit der Aufschrift PanZhu – Chinese Restaurant. Durch hohe Glasscheiben konnte man ins Innere schauen, Lichterketten hingen dahinter, und die Atmosphäre glich eher einem Imbiss als einem Restaurant.

»Glaub mir, du hast noch keine besseren frittierten Teigtaschen gegessen«, versuchte er, meine anscheinend sichtlichen Zweifel zu beseitigen.

»Ich glaube dir, aber wenn ich morgen mit einer Lebensmittelvergiftung zu Hause liege, brauche ich doch deinen richtigen Namen und die Anschrift deiner Krankenversicherung.«

Er lachte und senkte den Mund zu meinem Ohr. »Sei abenteuerlustig, Rain«, hauchte er, und sofort verflogen meine Bedenken. Er hatte recht, ich musste mich auf das hier einlassen. Ansonsten würde ich weiterhin in der dunklen Wolke hängen, die mich eingehüllt hatte. Und bekäme ich dann noch eine Chance, überhaupt wieder aufzutauchen, wenn ich diese nicht ergriff?

Er öffnete mir die Tür und ließ mich los, damit ich hineingehen konnte. »Hey, B!«, wurde mein Begleiter von dem Mann hinter dem Tresen begrüßt. Okay, also begann sein Name mit B? »Wie fühlst du dich?«

»Hungrig«, erwiderte er, und der Mann lachte.

»Und du hast jemanden mitgebracht.« Er schenkte mir ein freundliches Lächeln.

B legte seinen Arm um meine Schultern. »Das ist Rain.«

Der Mann wirkte über den Namen nicht überrascht, sondern behielt seinen einladenden Ausdruck. »Herzlich willkommen, Rain! Setzt euch, ihr bekommt gleich eine Portion Special nur für euch!«

»Danke, Pan!«

Wir nahmen an einem der hinteren Tische im Raum Platz. Außer uns gab es keine Gäste, und ich ließ den Blick schweifen. Es war tatsächlich ganz nett. An einer Wand befand sich ein Vorhang aus gefalteten Papierkranichen, an der Decke hingen rot-goldene Lampions, und das gesamte Restaurant war mit köstlichem Duft gefüllt.

»Du bist also öfter hier«, stellte ich fest.

B nickte. »So oft, wie es geht und ich dem supergesunden, fett-, zucker- und geschmacksfreien Essen meiner Mom entkommen kann.«

»Das klingt nach einem harten Schicksal.«

»Du ahnst nicht, wie sehr.«

Ich betrachtete ihn, seine breiten Schultern und das T-Shirt, das über seinem Oberarm spannte, als er die Hände auf dem Tisch faltete. Wenn man so aussah, aß man nicht nur ungesunde Dinge wie Weingummis und Frittiertes, das stand definitiv fest.

Sein Grinsen wurde größer. Er hatte mich beim Mustern erwischt. Mist.

KAPITEL 2

Beckett / High

Rain. Ich hatte gelogen. Ich hatte den Satz nicht in einem Buch gelesen, er war mir einfach so in den Kopf geschossen, als ich sie zum ersten Mal angesehen hatte.

Keine Frage, sie war hübsch mit ihrem dichten dunkelbraunen Haar, den bernsteinfarbenen Augen und dem sanften Lächeln, das meinen Herzschlag sofort beschleunigt hatte, als sie es mir endlich zeigte. Sie war nicht gerade groß, zart, was die weite schwarze Bluse und der kurze Blumenrock noch betonten. Man sah sie und wollte sie beschützen. Zumindest mir war es so ergangen. Doch ihr Aussehen, das mich ohne Frage anzog, war nicht alles. Wir waren irgendwie miteinander verbunden. Als könnte ich mit ihr vergessen, wenigstens für einen Moment. Ich wollte sie kennenlernen, und gleichzeitig hatte mir unser Gespräch Ablenkung verschafft von dem Streit mit meinen Eltern. Fuck, wieso verstanden sie mich nicht?

Nein! Nicht jetzt, schalt ich mich. Jetzt wollte ich mich vollständig auf Rain konzentrieren. Verrückte Idee, einander nicht unsere Namen zu verraten, aber auch das hatte etwas. Dieses Spiel zwischen uns gefiel mir, sehr sogar.

Pan brachte uns einen gigantischen Teller mit allen möglichen Gerichten aus seinem Restaurant. Ich sah Rain an, dass sie einen riesigen Hunger hatte, denn ihre Augen funkelten, und sie konnte kaum den Blick von dem Essen abwenden. Wir bedankten uns bei ihm, nachdem er uns einen guten Appetit gewünscht hatte.

»Halt dich bitte nicht zurück«, sagte ich, aber sie griff bereits zu.

»Keine Sorge, das werde ich ganz bestimmt nicht.« Sie schnappte sich eine der größten Teigtaschen, und ich lächelte. »Ich würde mich beeilen«, neckte sie mich und biss davon ab. »Bevor nichts mehr da ist.«

»Herausforderung angenommen!«

Wir aßen, unterhielten uns, lernten uns kennen, lachten, vergaßen. Es war perfekt, und ein Gedanke reifte in mir, den ich immer weniger abschütteln konnte.

»Hast du danach noch ein bisschen Zeit?«, fragte ich hoffnungsvoll, während der Mittag bald vom frühen Abend abgelöst werden würde.

Sie wischte sich die Finger an einer Serviette ab und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Ich war beeindruckt, dass sie mindestens die gleiche Portion wie ich verdrückt hatte.

»Wenn du mir einen kleinen Moment gibst, dann ja«, erwiderte sie. »Sofern du nicht noch vorhast, in ein weiteres Restaurant zu gehen, das würde ich nicht überleben.«

»Keine Sorge, mir schwebt da etwas anderes vor.«

»Klingt geheimnisvoll.«

»So bin ich, der geheimnisvolle Herzensbrecher Schrägstrich Entertainer.«

Sie lächelte sanft, und in mir flammte etwas auf. »Ich wähle heute weiterhin den Entertainer.« Mir entging nicht das »heute«, das neue Hoffnung in mir aufglimmen ließ.

»Zu Diensten.«

»Bin gleich wieder zurück«, sagte sie, nahm ihr Smartphone aus der Tasche und ging nach draußen.

Pan kam an den Tisch und begann abzuräumen. Ich schnappte mir ebenfalls etwas von dem Geschirr und stand auf. »Hör auf, du musst das nicht mehr tun, du arbeitest hier nicht mehr«, tadelte er halbherzig.

»Aber ich fühle mich dazu verpflichtet, lass mich mein schlechtes Gewissen beruhigen.« Ich folgte ihm in die Küche und stellte die Teller ab.

»Süß, die Kleine, übrigens.« Pan zwinkerte mir zu. »Deine Freundin?«

»Nein«, sagte ich schmunzelnd. »Leider nicht.«

»Noch nicht.«

»Mal sehen. Wir haben uns eben erst kennengelernt.«

Er klopfte mir auf die Schulter. Ich kannte Pan seit fünf Jahren. Mit sechzehn hatte ich mir einen Nebenjob gesucht, um genug Geld für Flugstunden und meine eigene Lizenz zusammenzubekommen. Meine Eltern hatten zwar ausreichend Vermögen, doch meiner Leidenschaft für das Fliegen hatten sie noch nie etwas abgewinnen können. Vor allem mein Dad. Er war ein guter Mensch, hart, aber fair, allerdings stand für ihn meine Zukunft bereits in dem Moment fest, in dem meine Mom mich auf die Welt gebracht hatte.

»Denk dran, Glück ist wie ein Vogel, wer es nicht ergreift, dem fliegt es davon.«

»Eine deiner Glückskeksweisheiten?«, zog ich ihn auf.

Er lächelte nur. »Konfuzius. Ein schlauer Mann.«

»In der Tat.«

Wir gingen zurück in den Hauptraum, in dem Rain bereits wieder an dem Tisch saß. Sie drehte sich zu mir um, und ich nahm Platz.

»Alles geklärt?«, fragte ich.

»Habe ich.«

»Ich hoffe doch nicht, dass ein eifersüchtiger Freund irgendwo zu Hause auf dich wartet?« Okay, vielleicht versuchte ich gerade, auf äußerst ungeschickte Weise herauszufinden, ob sie vergeben war.

Nach ihrem amüsierten Gesichtsausdruck zu schließen, hatte sie mich durchschaut. »Meine Grandma. Sie wartet auf mich, und ich habe ihr eine Nachricht geschrieben, dass ich später komme.«

Ich konnte nicht abstreiten, dass ich erleichtert war. Kein Freund also. »Nicht dass sie wütend wird, wenn du sie sitzen lässt.«

»Ach, nein, sie hat ohnehin ständig irgendetwas vor. Sie war Schauspielerin in den Sechzigern und hat haufenweise Freunde und Bekannte.«

»Wow, Schauspielerin? Das klingt nach einem spannenden Leben.«

»War es oder ist es, wenn es nach ihr geht. Sie ist exzentrisch, aber eine unverbesserliche Optimistin.«

»Hört sich so an, als hättest du etwas dagegen.«

Sie knabberte an ihrer Unterlippe und atmete tief ein. »Das nicht gerade, dennoch … bin ich eher bei den Realisten zu finden.«

»Du bist ein Kopfmensch. Du zerdenkst Dinge«, stellte ich fest und traf anscheinend direkt ins Schwarze.

»Nicht immer«, erwiderte sie leise.

Ich lehnte mich ein Stück über den Tisch zu ihr. Der Drang, sie zu berühren, ihre Hand zu nehmen oder sie in meine Arme zu ziehen, wurde größer. Es war verrückt, wir kannten uns kaum, noch nicht mal einen Tag, und dennoch war die Nähe, die ich empfand, gigantisch.

Doch ich spürte, selbst wenn ich fragte, was sie damit meinte, würde ich keine Antwort bekommen. Also fasste ich eine Entscheidung. »Vielleicht habe ich genau den richtigen Ort für dich. Es ist zumindest einer, der mich erdet, wenn ich das brauche.«

Sie schenkte mir ein trauriges Lächeln. Sie besaß so viele verschiedene Arten, ihr Lächeln zu zeigen. Wann zeigte sie mir ihr freies? »Klingt gut.«

»Dann los.«

Wir verabschiedeten uns von Pan, der zwar nicht wollte, dass ich bezahlte, dem ich aber trotzdem zwanzig Dollar neben die Kasse steckte, als er wegsah.

»Kommt gerne wieder vorbei!«, rief er uns noch nach, ehe wir zur nächsten Straßenbahnhaltestelle liefen.

Der Weg war nicht weit bis zum Ufer der Golden Gate Bridge mit Blick auf die gegenüberliegende Seite und den kleinen Ort Sausalito, wo die Wasserflugzeuge zu ihrem Rundflug starteten. Der breite Parkplatz direkt unter dem Anfang der Brücke war ein absoluter Touristenhotspot, doch ich kannte einen Bereich, den man zu Fuß erreichte und der einen wunderbaren Blick in Abgeschiedenheit bot.

Als wir auf der erhöhten Wiese ankamen, dämmerte es bereits. Bis zum endgültigen Sonnenuntergang dauerte es noch eine halbe Stunde. Wir hatten den gesamten Nachmittag miteinander verbracht, verrückt, wie schnell die Zeit mit Rain vorüberzog. Und ein wenig ärgerlich.

Das erste Flugzeug donnerte über unsere Köpfe hinweg, und Rain verfolgte es mit erstauntem Blick.

Von Pan hatte ich mir noch zwei Dosen Orangenlimonade und ein Dessert einpacken lassen und holte die Dinge aus der Papiertüte, ehe ich mich ins weiche Gras fallen ließ.

Ich hatte nicht angenommen, heute so lange unterwegs zu sein, deshalb hatte ich nicht an eine Jacke gedacht. Fror Rain? Es war zwar Juni, doch das Wetter konnte sich durch die buchtige Lage der Stadt rasend schnell verändern. Außerdem wehte so nah am Meer immer eine leichte Brise, die recht frisch werden konnte.

Rain setzte sich neben mich, und ich hielt ihr eine geöffnete Dose entgegen. »Cheers.«

»Cheers.« Sie trank einen Schluck. »Du hast sogar an Picknick gedacht«, erwiderte sie erfreut.

»Und an das hier.« Ich entfernte den Deckel und deutete auf die Bambusschüssel. »Gebackene Bananen mit Honig, Pans Spezialität. Aber zuerst …« Ich gab ihr einen der Glückskekse, die uns Pan ebenfalls noch eingepackt hatte. Sie lächelte, als sie ihn mir abnahm und ihn aus der Packung befreite.

»Auf drei?«, fragte sie, und ich nickte.

»Eins, zwei … drei.« Wir zerbrachen sie in zwei Teile und zogen den kleinen Zettel heraus, der sich darin verbarg. »Was steht bei dir?«, wollte ich wissen und schaute sie an.

»Ich hab gehört, es soll Unglück bringen, wenn man den Spruch verrät«, sagte sie und steckte den kleinen Zettel mit einem Schmunzeln in ihre Tasche.

»Gut, dann wollen wir nicht den Zorn des Glückskeksgottes heraufbeschwören, was?«

»Genau.« Sie nahm sich ein Bananenstück und biss hinein, ehe sie sich den klebrigen Honig von den Fingern leckte. »Okay, du hast nicht gelogen, dass es das beste chinesische Essen in der Stadt ist. Ich werde ab sofort definitiv öfter dorthin gehen!« Genüsslich schloss sie die Augen, und mein Blick haftete an ihrem Gesicht.

»Ein neuer Kunde für Pan, das war mein Ziel«, raunte ich, legte mich zurück ins Gras, verschränkte die Arme hinter dem Kopf und schaute in den Himmel, der sich von einem hellen Blau in ein tiefdunkles färbte. Die ersten Sterne waren zu sehen, und ich verfolgte mit dem Blick ein sonnengelbes Wasserflugzeug. Sofort spürte ich grenzenlose Freiheit und tiefes Glück.

»Wenn du nur eine Sache für einen Tag tun könntest, was wäre das?«, zerschnitt Rain meine Gedanken mit ihrer sanften Stimme. Hin und wieder brach sie und war ein wenig rau. Sie gäbe eine fantastische Sängerin ab. Ich hätte sie heute Abend noch in die einzige Karaokebar schleppen können, die ich kannte, aber dann müsste ich wahrscheinlich ebenfalls auf die Bühne, und das war nun so gar nicht meine Welt.

Ich drehte den Kopf zu ihr, mittlerweile lag sie neben mir auf dem Rücken und schaute ebenfalls in den Himmel. »Fliegen«, antwortete ich.

»Wie ein Vogel?«

»In einem Flugzeug«, erwiderte ich lächelnd. »Ich würde den gesamten Tag fliegen. Ohne Ziel, ohne Zeitdruck.«

Ich studierte ihr Profil. Ihre schulterlangen Haare lagen ausgebreitet neben ihrem Kopf, sie hatte einen schrägen Pony, der ihr ein wenig in die Augen und über die dichten Wimpern fiel. Verdammt, war sie hübsch.

»Bist du Pilot?«, fragte sie und drehte den Kopf zu mir. Wir lagen so nah nebeneinander, dass ich nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um sie zu berühren.

»Ich wäre es gerne«, gab ich offen zu. Aber die Zukunft hatte andere Pläne, eher gesagt mein Dad. Vielleicht mochte ich deshalb diese Momente mit Rain so sehr? Dadurch dass wir im Grunde nicht wussten, wer der andere war, gab es keine Verpflichtungen. Davon gab es in meinem Leben genug, und auch sie machte nicht den Eindruck, als könnte sie locker-leicht durch den Tag gehen. Ich erinnerte mich erneut an den Streit heute Morgen. Mein Vater hatte mir vorgeworfen, lange genug von einem Tag auf den anderen gelebt zu haben. Ich war einundzwanzig und sollte endlich Verantwortung übernehmen, was beinhaltete, in das Unternehmen meiner Eltern einzusteigen und all meine Freizeit und Freiheiten aufzugeben. Ich sah es doch bei Mom und Dad, wie sie sich jeden Tag aufrieben und fast ihre gesamte Zeit nur aus Arbeiten bestand. Verdammt, wieso nicht meine Schwester Willow? Sie war nur drei Jahre jünger als ich, wieso hatte sie immer noch diesen Welpenschutz und konnte sich vor jeder Art Verantwortung drücken?

»Was hält dich davon ab?«, fragte Rain plötzlich und sah mich an.

Ich seufzte tief. »Das Leben.« Ich setzte mich ein wenig auf, stützte mich auf den Ellenbogen ab. »Ich werde in das Unternehmen meiner Eltern einsteigen und weiß jetzt schon, dass nicht mehr genug Zeit für irgendetwas bleiben wird.« Trauerte ich um die Momente, die hinter mir lagen, oder um die Möglichkeiten, die ich ergreifen könnte, wenn ich meinen Platz nicht einnehmen müsste? Ich hatte keine Ahnung. »Und was ist es bei dir? Was würdest du tun, wenn du dich für eine Sache entscheiden müsstest?«

»Klavier spielen«, kam genauso direkt aus ihrem Mund wie das Fliegen eben aus meinem.

»Du spielst Klavier?«

»Ja«, flüsterte sie. Wieso fehlte ihr die Kraft, das offen in die Welt hinauszuschreien?

»Und was hält dich davon ab?«

»Meine Gedanken. Realist, hast du vergessen?«, gab sie lässig zurück, doch ich spürte, dass diese Lockerheit nur gespielt war.

»Was ist heute passiert?«

Sie zögerte. Hatte ich den Bogen überspannt, und bewegten wir uns zu sehr in der Realität? »Ich hatte ein Vorspielen, zur Aufnahme an der School of Music. Und ich bin nicht dabei.«

»Wie kannst du das jetzt bereits wissen, dauert so eine Entscheidung nicht immer eine ganze Weile?«

»Ich habe nicht gespielt«, sagte sie, drehte sich auf die Seite und faltete die Hände unter ihrem Gesicht. »Ich konnte nicht.«

»Weil du zu aufgeregt warst?«

»Weil ich Angst davor habe, dass ich nicht das übermitteln kann, was ich beim Spielen spüre. Dass sie mich verurteilen, herausfinden, dass ich eine Hochstaplerin bin.«

Ich legte mich ihr gegenüber auf die Seite. Wir waren uns so nah, und ich konnte mich nicht mehr zusammenreißen. Sanft strich ich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und verharrte ein wenig länger als nötig an ihrer Schläfe, bis sie flatternd die Augenlider schloss.

»Wieso denkst du das?«

»Ich habe nicht gespielt, weil ich nicht konnte. Weil das Klavierspielen zwar mein Wunsch ist, aber nicht das, was ich tun soll«, flüsterte sie.

»Das ist Schwachsinn.« Endlich zog ich meine Hand wieder zurück. Sie öffnete die Augen. Gott, hatte ich schon einmal so tief in die Augen eines anderen Menschen geblickt? Ich hatte mir nie die Zeit dafür genommen.

Erneut donnerte ein Flugzeug über uns hinweg, der Wind nahm einen Moment zu. »Angst ist normal. Vielleicht ist es nur nicht deine Zeit«, sagte ich. Oder meine. Würde die irgendwann tatsächlich kommen? Würde Rain irgendwann die Möglichkeit bekommen, ihren Traum zu leben?

»Meine Grandma hat die Augen verdreht, als sie gesehen hat, was ich für das Vorspielen trage«, wechselte sie das Thema.

Ich runzelte die Stirn, sie sah atemberaubend aus. Was konnte ihre Großmutter dagegen haben? »Wieso das denn?«

»Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte ich ein knallpinkes Cocktailkleid anziehen sollen, damit ich das nach außen trage, was ich innerlich sein möchte.«

»Ein verkleideter Flamingo«, scherzte ich, und Rain lachte kurz auf.

»Nein, stolz. Ich sollte stolz sein, dass ich eine Gabe habe. Ihre Worte, nicht meine.«

»Okay, bei dem Kleid sind wir vielleicht nicht einer Meinung, aber bei dem anderen stimme ich ihr zu. Spiel, schließ die Augen oder verbinde sie dir, wenn es sein muss, spiel nur für dich.« Und für mich.

»Ja. Vielleicht hast du recht«, antwortete sie nachdenklich und setzte sich in dem Moment auf, in dem die Brücke aufgrund der angebrachten Lichter in Helligkeit erstrahlte, die jeden Tag um die gleiche Uhrzeit angeschaltet wurden. Es war ein beeindruckender Anblick. Der dunkelblaue Himmel und die Sterne über uns, die funkelnde Golden Gate Bridge, die Flugzeuge, die sich von der Silhouette abhoben. Und Rain. Die neben mir saß und Angst davor hatte, großartig zu sein.

»High«, sagte sie auf einmal und drehte sich zu mir.

»Bitte?«

»Mein Name für dich, angehender Pilot und mein persönliches Hoch des Tages.«

Ich erwiderte ihr Lächeln. Ihr ehrliches, freies Lächeln. Ich musste einfach. »Das hört sich toll an.«

KAPITEL 3

Quinn/ Rain

Ich fühlte mich zu einem Fremden hingezogen. Wobei er sich gar nicht mehr so fremd anfühlte. Hatte ich mich jemals so sehr auf einen anderen Menschen eingelassen? So sehr die Augenblicke genossen, wenn wir uns in die Augen schauten?

Es war verrückt, und doch gab es keine Zukunft nach diesem Abend, dieser Nacht.

Mein Traum war geplatzt, also blieb mir nur Plan B. Ich würde meine Gram, die ohnehin nach einer Nachfolgerin suchte, bei dem Management ihres Hotels unterstützen. Ich würde alle Hände voll zu tun haben, und auch High hatte durchklingen lassen, dass seine Tage bald sehr vollgepackt sein würden.

Umso stärker genoss ich die Zeit, die uns das Schicksal geschenkt hatte. Kein Morgen, aber diesen Tag, der nicht zu Ende gehen durfte, ehe wir bereit dafür waren.

»Okay, jetzt bin ich dran«, sagte ich kurzerhand, stand auf und klopfte mir das Gras von den Klamotten. High schaute mich fragend von unten an, und ich hielt ihm die Hand hin. »Jetzt zeige ich dir einen meiner Lieblingsorte.«

»Klingt ziemlich gut.« Er ergriff meine Hand, und ich setzte mein gesamtes Gewicht ein, um seinen großen Körper hochzuziehen. Plötzlich standen wir voreinander. Nah. Plötzlich spürte ich meinen Herzschlag wie einen schnellen Beat überall. Plötzlich fiel mein Blick auf seine Lippen und seiner auf meine. Und plötzlich war der Moment vorbei, als ein weiteres Flugzeug über uns donnerte.

Ich räusperte mich, ehe wir gemeinsam die Sachen von der Wiese einsammelten und den kleinen Hügel hinabstiegen. Wir entsorgten den Müll unten in einem Mülleimer und machten uns zurück auf den Weg in die Stadt. Während meine Umhängetasche bei meinem Gang sanft gegen meinen Oberschenkel schlug, unterhielten wir uns weiter über das Gefühl des Fliegens, das dem ähnelte, wenn ich Klavier spielte. High erzählte mir, dass er zum ersten Mal mit sechzehn ein Flugzeug selbst gesteuert hatte, was ich gleichzeitig beeindruckend und beängstigend fand.

»Wirklich ganz alleine?«

»Der Fluglehrer saß schon noch neben mir, aussteigen ist recht schwierig, wenn man einmal losgeflogen ist«, scherzte High, und ich gab ihm einen sanften Schubs.

»Sehr witzig.«

»Sorry«, erwiderte er lachend. »Aber ja, ganz alleine, und es war unglaublich. Die Kontrolle, das Gefühl, in der Luft zu sein, alles zusammen.«

»Was magst du am Fliegen am meisten?«, fragte ich, während wir an einem Straßenübergang stehen blieben.

»Vielleicht, dass man da oben nichts anderes tun muss als fliegen. Einmal in der Luft zählt nicht, was unten auf der Erde auf dich wartet, was für Dinge dich beschäftigen, du musst dich ganz auf das Fliegen konzentrieren. Dir bleibt keine andere Option, und daran zu denken, dass du die ganze Freiheit in deinen Händen hältst … das sind wohl die Dinge, die ich am meisten mag.«

Wir überquerten die Straße. »Mir geht es ähnlich mit dem Klavierspielen«, gab ich ehrlich zu. So offen hatte ich mit noch niemandem darüber gesprochen. Gram ermutigte und unterstützte mich, wohingegen meine Eltern eher wollten, dass ich etwas Anständiges, Bodenständiges lernte. Mit niemandem hatte ich jemals darüber gesprochen, wie es sich für mich anfühlte, wenn die ersten Töne eines Stücks mein Herz zum Klingen brachten.

»Die Freiheit?«

»Dass ich nur das fühle, was ich spiele. Es gibt keine anderen Verpflichtungen, ich kann meinen Emotionen freien Lauf lassen.«

»Das klingt toll«, entgegnete High. Vielleicht hätte es jemand anderes, der selbst keine Leidenschaft hatte, nicht verstanden, doch erneut fühlte ich mich ihm näher. »Ein wenig der Realität entfliehen, oder?«

»Das ist es«, antwortete ich und bezog das auf die gesamte gemeinsame Zeit, die wir heute miteinander verbrachten. Wir erreichten die Haltestelle.

»Das ist übrigens das wahrscheinlich Verrückteste, was ich je erlebt habe«, sagte ich grinsend, als wir auf die Straßenbahn warteten, die uns direkt in das belebte Zentrum des Union Square bringen würde. Zwischen Hotels, Restaurants, Nachtclubs und Galerien gab es eine ganz besondere Bar, die unser nächstes Ziel sein würde.

»Ach ja?«, fragte High amüsiert. »Du meinst, den Abend mit jemandem zu verbringen, den du nicht kennst, und sich eigene Namen auszudenken? Klingt nach einem ganz normalen Dienstagabend.«

Ich musste lachen. Der Name, den ich ihm gegeben hatte, passte perfekt zu ihm. Er war nicht nur mein ganz persönliches Hoch, alles an ihm wirkte leicht, riss mich mit und ließ mich die Schwere sofort vergessen, wenn ich ihn nur ansah. »Okay, bei mir passiert das eher freitags.«

High lachte und schlang lässig den Arm um meine Schultern, als die Straßenbahn einfuhr und wir einstiegen. Er war ein Mensch, der keinerlei Berührungsangst zu haben schien. Ich durfte seinen Körperkontakt unter keinen Umständen überbewerten! Auch wenn ich mir erlaubte, mich ein wenig enger in seine Umarmung zu drücken.

Er ließ mich los, und wir hielten uns an einer mittleren Haltestange fest, schauten uns tief in die Augen. Sein Duft schwappte durch den Windzug eines geöffneten Fensters zu mir herüber, und nicht zum ersten Mal bemerkte ich, wie gut er roch. Langsam leckte er sich über die Unterlippe, und sein Blick wurde noch ein wenig eindringlicher. Ich wollte ihn küssen, ich wollte es wirklich unbedingt. Doch wenn ich das tat, schlug die Realität zu. Das mit High sollte leicht bleiben, locker und entspannt. Wenn wir uns küssten, bedeutete es etwas, zumindest für mich. Wir würden uns wiedersehen, und ich wusste jetzt bereits, dass es nicht funktionieren würde. Zuerst mussten wir beide herausfinden, wohin unsere Wege uns führten, um dann vielleicht wieder zusammengeführt zu werden. Ich war eine Realistin, aber gleichzeitig glaubte ich an die Macht des Schicksals. Alles hatte einen Grund, selbst wenn man in manchen Situationen nicht wusste, welcher dieser war.

Er kam näher, seine Hand fuhr zu meiner Taille. Sofort breitete sich ein Kribbeln in meinem Körper aus, das mich schier um den Verstand brachte. Verlangen pulsierte heftig durch meinen Unterleib.

»Entertainer, schon vergessen?«, erinnerte ich ihn vorsichtig.

Er zwinkerte mir zu, das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht ausbreitete, wirkte jungenhaft, frech und herausfordernd. »Nicht mal ein bisschen Herzensbrecher?«, fragte er. Ich schüttelte langsam den Kopf, und seine Hand rutschte von mir. Umgehend vermisste ich das Gefühl seiner Berührungen. »Und wenn ich es gar nicht brechen möchte?«, wisperte er so leise, dass ich es kaum verstand.

Seine Worte hatten etwas Ehrliches an sich, und ich nahm sie ihm sofort ab. Trotzdem blieb ich bei meiner Entscheidung. Unsere Verbindung musste ein Ablaufdatum haben. Es diente als Schutz für uns beide.

Er seufzte tief. »Na gut, alles, was du heute brauchst, Rain.«

Ich brauchte nur ihn. Genau so, wie er war. Lustig, einnehmend, unverbindlich. Als Freund.

Wir erreichten die Station und stiegen aus. Erneut hatte er den Arm um meine Schultern geschlungen, und ich drückte mich fest an seine Seite. Zumindest ein wenig Körperkontakt erlaubte ich mir. Sein Duft in meinen Klamotten wäre eine Erinnerung, die ich gerne bewahrte, so lange sie anhielt.

»Schau mal«, sagte High und zeigte auf drei Menschen, die am Rand des Bürgersteigs standen und Instrumente in den Händen hielten. Es war ein interessantes Trio aus zwei Männern und einer Frau. Ein Mann spielte Trompete, der andere Gitarre, während die Frau einer Violine wunderschöne Töne entlockte. Sie boten ein schnelles Stück dar, ich erkannte How Deep Is Your Love und musste an die Gruppe Symphoniacs denken, die moderne Lieder klassisch umsetzte. Es klang unglaublich. Leute versammelten sich um sie und lauschten der Musik, die sie der Nacht und den Herzen schenkten.

Sofort zuckte in mir die Flamme auf, die ich immer spürte, wenn es um Musik ging. Wir blieben am Rand der Menge stehen, die größer zu werden schien. Manche klatschten im Takt mit, andere ließen sich hinreißen und tanzten auf dem Bürgersteig. Highs Arm lag immer noch um meine Schultern, und als er mich ein wenig fester an sich drückte, stellten sich meine Nackenhärchen auf.

»Ist das nicht großartig?«, fragte ich begeistert, und High lächelte mich sanft an. »Musik ist mächtig, nicht wahr? Sie kann Menschen zusammenbringen, von einer Sekunde auf die andere Emotionen aus dir herauslocken«, redete ich weiter und ließ meinen eigenen Gefühlen freien Lauf.

High senkte den Kopf, ich fühlte seinen Atem auf meiner Haut. »Ich würde dich gerne spielen hören«, wisperte er in mein Ohr und löste sich wieder von mir. Ich schluckte, wich seinem Blick aus und schaute erneut nach vorn zu den drei Musikern. Es war so früh, die Wunde noch nicht einmal richtig versorgt, sie würde aufreißen. Oder?

»Irgendwann«, erwiderte ich kryptisch und schenkte ihm ein unsicheres Lächeln.

»Irgendwann nehme ich dich mit zum Fliegen«, sagte er, und sofort verdrängte Aufregung die sich ausbreitende Dunkelheit in meinem Innern.

»Das wäre schön.«

Er drückte mich einmal, ehe seine Finger meinen Arm nach unten bis zu meiner Hand wanderten. Plötzlich drehte er mich im Kreis und verbeugte sich ein Stück vor mir. »Ich will dich vorwarnen, ich bin nicht gerade ein guter Tänzer, aber für dich würde ich das Risiko eingehen.«

Ich musste lachen. »Ach ja? Und was, wenn ich zugeben würde, dass ich ebenfalls nicht tanzen kann?«

»Das glaube ich dir nicht.« Er wirbelte mich erneut um meine Achse und zog mich dann in seine Arme. Zum schnellen Takt der Musik schunkelten wir über den Bürgersteig und ließen uns mitreißen. Es tat gut, meinen Kopf auf diese Weise auszuschalten. »Siehst du?«, sagte er, und unsere Körper wurden zur Einheit. Das Stück wechselte, der Klang wurde tiefer, dunkler. Ich erkannte Dark Horse von Katy Perry.

High umfasste mich noch ein wenig fester, ich legte die Wange auf seiner Brust ab. Meine gesamte Haut bestand aus Gänsehautschauern, und kurz überrannte mich das Gefühl. Sollte ich es noch mal im nächsten Jahr versuchen? So lange üben und über mich hinauswachsen, bis ich es endlich schaffte, so leicht und leidenschaftlich wie dieses Trio vor anderen Menschen zu spielen? An meiner Angst vor Ablehnung arbeiten? Oder fiel es mir so schwer, weil ich generell nicht diese Leichtigkeit beherrschte, die sie hatten? Ich wollte es unbedingt, vielleicht zu sehr.

High hauchte mir einen Kuss auf den Scheitel und ließ mich los. Applaus brandete um uns auf, ich hatte gar nicht mitbekommen, dass sie aufgehört hatten zu spielen. Ich klatschte ebenfalls, fiel in den Jubel und die Bewunderung ein.

Die drei bedankten sich und begannen, ihre Sachen zu packen. Langsam, aber sicher löste sich die Menge auf, und jeder setzte mit einem Lächeln im Gesicht seinen Weg fort. Das war das, was nur Musik bewirken konnte. Freude, Leid, Verlangen, Spaß. All das und noch viel mehr konnte ein guter Song übermitteln.

High und ich liefen weiter, jeder von uns hing in seinen eigenen Gedanken, ehe wir die Groove’s Piano Bar erreichten. Doch ich steuerte nicht den Haupteingang an, schließlich war ich noch keine einundzwanzig. Gott sei Dank kannte meine Grandma fast die gesamte Stadt und hatte mich, um meine Kreativität anzukurbeln, an meinem sechzehnten Geburtstag hierhergeführt. Was einen riesigen Streit zwischen Gram und meinen Eltern provoziert hatte, aber sie behielt recht. Es hatte sich gelohnt. Noch Wochen nach meinem Besuch hier hatte ich leidenschaftlicher gespielt als jemals zuvor. Allein.

»Wohin willst du?«, fragte High.

Ich nahm seine Hand und zog ihn um das Gebäude herum. »Das wirst du gleich sehen.«

»Ich weiß nicht, ob ich beeindruckt oder verängstigt sein soll«, sagte er, als wir vor einer nachtblau angestrichenen Hintertür stehen blieben. Mittlerweile war es später Abend, das Innere musste vor Menschen überquellen. Wir könnten zwischen ihnen untergehen, uns ganz auf uns konzentrieren, während im Hintergrund die Musik unsere Gefühle übernahm.

»Hast du etwa Angst?«

»Angst vielleicht nicht, aber eine gesunde Skepsis empfinde ich durchaus«, warf er ein.

»Du wirst mir gleich danken.«

Ich drückte die Tür auf, von der ich wusste, dass sie nach Eröffnung der Bar gegen sechs Uhr abends für das Personal und die Musiker nicht verschlossen war. Wir durchquerten einen dunklen Flur, der zu dem Backstagebereich gehörte. Die Klaviermusik wurde lauter, je näher wir an den Hauptraum herankamen. Einige Leute liefen uns entgegen, grüßten uns, doch schenkten uns keinen zweiten Blick.

»Hey, Princess! Was für eine Ehre!« Ich drehte mich um und erkannte den Besitzer. Groove, der mit normalem Namen Sergei hieß, hatte die Piano-Bar in den Siebzigern aufgebaut und galt als absolutes Urgestein der Klaviermusik. Er war selbst auf der ganzen Welt aufgetreten und hatte auf seinen Reisen meine Grandma kennengelernt.

Er breitete die Arme aus und zog mich an sich. »Du hättest dir ruhig weniger Zeit lassen können, ehe du mal wieder vorbeischaust«, tadelte er mich sanft und ließ mich los. Mit einem breiten Grinsen fuhr er sich über die Glatze. Wenn man Sergei draußen auf der Straße mit seinen zwei Metern, seinem breiten Kreuz und dem dichten, ergrauten Vollbart sähe, würde man auf den ersten Blick nicht vermuten, dass er einer der sanftesten, talentiertesten Menschen war, die man in dieser Stadt finden konnte. »Und du hast einen Freund mitgebracht«, stellte er fest und streckte High die Hand hin. Die beiden begrüßten sich mit einem freundlichen, festen Händedruck.

»Das ist High.«

Da Groove selbst einen außergewöhnlichen Spitznamen besaß, kommentierte er das nicht weiter und deutete den Flur hinunter. »Cas ist heute an der Bar; sag ihr, dass ihr von mir kommt, und sie zaubert euch einen Drink.« Er zog ermahnend die Augenbrauen nach oben. »Alkoholfrei, ist das klar?«

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