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Es muss nicht immer Sylt sein
Scarlett
»Und wer übernimmt die In-House-Kommunikation für das neue Projekt?«
Scarlett beobachtete, wie der Blick ihrer Chefin Pamela all die kleinen Kacheln, all die kleinen Porträts ihrer Kollegen in der Web-Konferenz nach Meldungen absuchte.
Rasch klickte sie auf das Mikrofon-Symbol in der unteren Ecke ihres Bildschirms. »Ja, das würde ich sehr gern übernehmen. Ich habe auch schon eine –« Weiter kam sie nicht, denn Pamela redete einfach weiter. »Gut, Tom, das passt doch. Herbert, ich sehe, dass du dich für die Finanzplanung im Chat gemeldet hast. Toller Einsatz.«
Für einen kleinen Moment verschwamm Pamelas blondes Haar mit dem Hintergrund ihrer weißen Wand, dann wurde das Bild wieder klar.
»Ich würde wirklich gern –«, setzte Scarlett noch einmal an.
»Schön, schön«, Pamela rieb sich die Nasenspitze. »Schön. Finde ich gut, dass ihr diesmal die Key-Positions alle so reibungslos aufgeteilt habt. Wir wachsen wirklich langsam zusammen. Wer kümmert sich um den Zeitplan? … Anka, schön. Alle anderen wissen ja eh, was sie zu tun haben. Ich freue mich auf die neue Herausforderung.« Sie lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl zurück.
Scarlett blinzelte, öffnete noch einmal den Mund, um etwas zu sagen, bis ihr einfiel, dass sie eben schon nicht durchgedrungen war. Lag es an der Verbindung? An der Technik? Hastig begann sie, in den Chat zu tippen: Schade, ich hatte mich gemeldet und …
»Wunderbar. Und jetzt alle an die Arbeit. Bis morgen früh.« Pamela klang enthusiastisch.
Scarlett tippte schneller: … würde mich wirklich gern diesmal …
Ein kleines »Ping« signalisierte, dass Pamela die Konferenz verlassen hatte. Eine Kachel nach der anderen wurde dunkel.
»Tom«, rief Scarlett, »hast du noch kurz –« Zack. Auch Tom war weg.
»Scarlett, Liebes, du bist eingefroren, falls du mich hörst …«
Hoffnungsvoll suchte jetzt auch Scarlett die wenigen verbliebenen Fenster ab. Da! Petra. »Ja, Petra, ich –«
»… ich brauche die Zusammenfassung der Tabellen für das alte Projekt bis morgen, ja?«
Scarlett sank ein wenig in sich zusammen und pustete ein paar Ponysträhnen aus ihrer Stirn. »Du meinst nicht mich«, sagte sie leise, wohl wissend, dass niemand sie hörte. »Die Tabellen macht Anka.«
Ach, was soll’s. Sie würde Petra nachher eine E-Mail schreiben.
Jetzt klickte auch sie auf »Verlassen«. Ein wenig enttäuscht war sie schon, hatte sie doch gehofft, in dem neuen Projekt endlich eine der »Key-Positions« zu ergattern und nicht wieder nur im Team zu landen. Das Team war so … Man ging einfach unter, fand sie.
Scarlett schloss das Fenster der Videokonferenz und bestätigte anschließend das schon länger dringlich eingeforderte System-Update. Sie schob ihren Schreibtischstuhl zurück und blinzelte kurz in die Morgensonne, die durch das schmale Fenster ihres Schlafzimmers auf den Schreibtisch fiel. Dann stand sie auf, zupfte ihre Jogginghose zurecht und schlüpfte aus der weißen Bluse, die sie vorhin für die Web-Konferenz übergezogen hatte, bevor sie sich in der Küche eine weitere Tasse Kaffee einschenkte.
Besser. Homeoffice bedeutete eben auch, dass sie im Unterhemd arbeiten konnte, wenn es warm war. Wobei sie den Zeiten im Büro doch ein wenig nachtrauerte. Sie hatte das Gefühl, dass ihr in den Web-Konferenzen mitunter der Biss fehlte. Andere waren lauter und vor allem schneller als sie. Menschen, dachte sie und ließ sich wieder auf ihren Schreibtischstuhl fallen, Menschen waren so wunderbar unterschiedlich.
Als ihr Telefon ein paar Minuten später klingelte, installierte das System immer noch das neueste Update ihrer Arbeitsumgebung.
»Badendorf … äh … Scarlett?« So ganz konnte sie sich an die flache Hierarchie und die Nutzung der Vornamen – beides von Pamela eingeführt – noch nicht gewöhnen. Und schon wieder hatte sie einfach abgehoben, ohne den Namen des Anrufers auf dem Display zur Kenntnis zu nehmen. Heute war vielleicht einfach nicht ihr Tag.
»Du, Scarlett, hast du kurz Zeit?«
»Karin!« Sie warf einen unsicheren Blick auf ihren Monitor, in dessen Mitte sich eine blaue Sanduhr auf schwarzem Hintergrund hektisch drehte. Die Statusanzeige hatte sich, seit sie sich ihren zweiten Kaffee geholt hatte, kein Stückchen bewegt.
»Eigentlich arbeite ich … Ach, was soll’s.« Karin war ihre beste Freundin, und Freundinnen ließ man nicht hängen. »Ein paar Minuten sind schon drin. Wie geht’s dir?«
»Ja, ich will dich auch gar nicht lange stören. Es ist nur … es ist wegen des Wellness-Retreats in zwei Wochen.«
»Och, sag jetzt nicht, dass es ausfällt! Ich habe mir schon zwei Yogaanzüge bestellt und eine Windjacke gekauft. Anfang April ist es auf Sylt bestimmt noch ziemlich kalt.« Scarlett hatte in den vergangenen Tagen ihren kleinen hellgelben Koffer zumindest im Geiste schon mehrmals ein- und wieder ausgepackt.
»Ja, wegen Sylt …« Ihre Freundin atmete hörbar durch die Nase ein. »Lydia hat … Also, es gab ein Missverständnis mit dem Hotel. Es ist ausgebucht.«
Scarlett seufzte. »Das schöne Hotel mit dem Indoorpool und der Wellness-Abteilung?«
»Ja. Leider. Anscheinend hat man dort Lydias E-Mail nicht erhalten. Und alle anderen Hotels sind auch belegt. Deshalb findet unser Retreat jetzt einfach nicht auf Sylt statt, sondern auf Schroffenige. Aber Hauptsache Insel, oder? Haha!« Karins Lachen klang ein bisschen unbehaglich. »Du, das wird ganz toll«, versicherte sie dann betont munter. »Das Hotel hat ein Reetdach, einen super Gymnastikraum, und wir haben es wohl fast für uns allein. Das ist doch viel besser als Sylt, wo alle im Frühling schon mal schnell ein bisschen Sonnenbräune vor dem Sommer tanken wollen. Und sag jetzt bitte nicht, dass du abspringst«, fügte sie hastig hinzu. »Weil … Scarlett, ich brauche dich für die Mindestteilnehmerzahl. Zwei haben schon storniert.«
»Ach, das ist ja nicht so schön, dass wir schon zwei weniger sind.« Scarlett kratzte sich am Kopf und schaute noch einmal auf ihren Bildschirm. Der war inzwischen komplett schwarz. Vielleicht war die Sanduhr müde geworden? »Aber sag mal, wo ist denn Schroffenige?«
Karin überging ihre Frage. »Wir machen uns das trotzdem schön, versprochen«, beteuerte sie. »Dann wird es eben ein bisschen kuscheliger und die Gruppe kleiner, aber Scarlett, wenn das mein neues berufliches Standbein werden soll, dann brauche ich diese Reise … Ich bin so froh, dass Lydia mir die Chance gibt, das Retreat mit ihr zusammen zu leiten. Niemand engagiert einen Wellness-Coach, der solche Kurse nicht im Portfolio hat. Du, warte mal kurz, ich glaube, da draußen steht der Paketbote.«
»Sicher.« Scarlett beugte sich vor und ließ den Finger über dem Powerknopf ihres Rechners kreisen. War er jetzt abgestürzt? Sollte sie ihn einfach ausschalten? Sie legte den Finger auf den Button und zog ihn hastig zurück, als der Computer laut piepte. Zack. Der Statusbalken war wieder auf den Anfang zurückgekehrt, dafür drehte sich die Sanduhr jetzt ruhiger.
Wellness-Coach. Karin hatte jetzt schon so lange nicht mehr gearbeitet, dass sich auch Scarlett nur schwer vorstellen konnte, wie ihre Freundin je wieder ins Controlling zurückfinden sollte. Erneut kratzte sie sich am Kopf. »Und sonst, wie geht es dir sonst?«, erkundigte sie sich, nachdem Karin wieder in der Leitung war.
»Nicht dieser mitleidige Ton, bitte.« Karin lachte laut und nicht besonders fröhlich. »Ich bin sehr glücklich als Single und genieße meine Freiheit. Bert ist frei, ich bin frei und …«, ihre Stimme zitterte, »… und die Frau, mit der er jetzt zusammenwohnt, ist frei, und alle sind frei.«
Scarlett hörte, dass ihre Freundin ein Schluchzen unterdrückte. »Du, Karin, du musst das nicht so schnell wegstecken. Das erwartet niemand von dir. Wie lange wart ihr zusammen? Achtzehn Jahre?«
»Seit der Uni. Dieses Jahr wären es zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre, kannst du dir das vorstellen?«
Unwillkürlich schüttelte Scarlett den Kopf, auch wenn ihre Freundin sie nicht sehen konnte. Nein, das konnte sie sich tatsächlich nicht vorstellen. Und Bert offenbar auch nicht, denn er hatte sich vor drei Wochen von Karin getrennt und war zu der Frau gezogen, mit der er seit ein paar Monaten eine Affäre hatte. Das erwähnte sie aber jetzt lieber nicht.
»Und weißt du, was richtig schlimm ist?« Karin sprach jetzt ganz leise – so als würde jemand mithören, dabei saß sie doch wahrscheinlich mutterseelenallein auf der weißen Designercouch in ihrem großen Wohnzimmer in Lerchesberg mit Blick auf den Wald. »So richtig schlimm ist, dass alle denken, ich wäre eine schlechte Ehefrau gewesen, ich hätte irgendwie versagt, ich … ich wäre nicht gut genug im Bett oder so.«
»Niemand denkt das«, widersprach Scarlett rasch.
»Ich weiß, dass du das nicht denkst, du kennst das ja. Verlassenwerden und so, meine ich. Davon kannst du ja ebenfalls ein Liedchen singen. Ach, ist auch egal. Bert ist Bert und Bert ist weg. Fertig.« Sie räusperte sich.
Scarlett ignorierte Karins Anspielung auf ihre vergangenen Beziehungen. Jetzt war weder die Zeit noch der Ort, um das zu thematisieren. »Und was passiert mit dem Haus? Habt ihr euch schon geeinigt?«, fragte sie stattdessen.
Karin schluckte hörbar. »Fakt ist, selbst wenn mein Wellness-Business durch die Decke gehen sollte … Lerchesberg werde ich mir allein nicht leisten können. Wenn ich von Sylt, nein, Schroffenige zurück bin, muss ich mir dringend eine neue Wohnung suchen. Was ist denn eigentlich bei dir im Haus? Ist da was frei? Ich meine, Gallus ist schon ganz nett, nicht weit vom Rebstockpark …«
Wieder piepte ihr Computer und wurde schwarz. Scarlett zuckte zusammen.
»Ja, das stimmt, aber hier werden die Leute normalerweise waagerecht rausgetragen, Karin.«
Ihre Freundin seufzte. »Also muss ich jemanden umbringen oder weitersuchen.«
»Das findet sich schon. Zur Not räume ich mein Schlafzimmer, und du kommst zu mir.«
Karin lachte laut auf. »Wie süß, aber du würdest es keinen halben Tag mit mir aushalten.«
»Auf … wie heißt unser Domizil noch mal? Egal, da müssen wir es zwei Wochen miteinander im Doppelzimmer aushalten«, gab Scarlett fröhlich zurück.
»Schroffenige heißt die Insel, der Ort heißt Hochdeich. Und nein, der Vorteil daran ist, dass wir jetzt alle ein Zimmer für uns allein haben. Du, wenn es da hübsch ist – vielleicht bleib ich einfach da?«
»Wo ist denn Schroffenige eigentlich?«, fragte Scarlett noch einmal.
Wieder blieb Karin ihr die Antwort schuldig und spann ihren Gedanken unbeirrt weiter. »Ja, genau, vielleicht ist es so toll, dass ich dort ein Yogastudio eröffne oder …«, sie kicherte, »ich verliebe mich in den Hafenmeister oder … du, ich muss Schluss machen, ich habe gleich eine Klientin. Himmel, wie die Zeit mit dir immer rennt. Du, wir hören uns, ja? Falls nicht, sehen wir uns spätestens auf der Fähre nach Schroffenige. Den neuen Reiseplan schicke ich dir noch. Bis bald.«
Bevor Scarlett noch etwas sagen konnte, legte sie auf. Scarlett rieb sich die Augen. Was für ein ereignisreicher Vormittag! Inzwischen drehte sich die Sanduhr vor einem weißen Bildschirm. War das jetzt eine Verbesserung?
Und wo lag nun Schroffenige?
Egal, jetzt hatte sie keine Zeit, das herauszufinden. Eigentlich hatte sie Petra schnell eine E-Mail schreiben wollen, aber wer weiß, wann das Update fertig war? Zum Glück gab es ja noch andere Wege der Kommunikation. Lächelnd griff sie wieder nach ihrem Smartphone.
Es klingelte dreimal, dann hörte sie Petras Stimme und ein lang gezogenes »Jaaaa?«.
»Ich bin’s, Scarlett.«
Einen Moment war es still. »Ach, ja, Scarlett! Ich habe mich schon gewundert mit der unbekannten Nummer … Na ja, hast du die Tabellen für mich?«
»Nein, ich wollte dir nur sagen, dass du die Tabellen bei Anka anfordern musst.« Scarlett griff nach einem der Kugelschreiber aus der Schale vor ihr und tippte damit auf den unteren Rand ihrer Tastatur. Von jeder Urlaubsreise brachte sie einen mit. Den hellblauen hatte sie sich im letzten Jahr gekauft. »Rügen« stand groß darauf. Bald würde einer von … wie hieß das? Schroffenige. Bald würde einer von Schroffenige hier liegen.
»Ah, von Anka. Ja, sicher. Wusste ich doch. Ich rufe sie gleich mal an.«
»Du und, Petra, ich … also, die Zusammenfassung kann ich dir noch nicht schicken. Mein System läuft gerade nicht.«
»Zusammenfassung?« Petra klang ehrlich verwirrt. »Die habe ich von Tom schon vor zwei Tagen bekommen.«
»Was? Aber das … Dafür war ich zuständig.« Scarlett richtete sich auf.
»Ich bin mir sehr sicher, dass das Toms Aufgabe war. Schau, ich habe jetzt den Projektplan nicht vor mir … Doch, ja, ich hab die E-Mail von Tom.«
»Bedeutet das nicht auch, dass –« Scarlett brach ab. Hätte sie etwas anderes erledigen sollen? Ihr wurde heiß und kalt. Hatte sie etwas vergessen? Unmöglich! Seit zwei Wochen saß sie an dieser verdammten Zusammenfassung und hatte alle anderen damit verrückt gemacht. Dafür hatte sie sich im Start-Meeting gemeldet, daran konnte sie sich genau erinnern. Sie sah noch vor sich, wie Pamela ihr zugenickt und sie angelächelt hatte. Pamela in der großen Kachel in der Mitte des Bildschirms.
»Du, bis auf Ankas Tabellen ist alles fertig«, versicherte Petra. »Wenn ich die habe, dann kümmere ich mich um das Layout, und wir sind durch.«
»Durch?«, wiederholte Scarlett matt.
»Ja, super, oder? Pamela hat das echt im Griff. Ich finde sie ja nicht immer einfach, aber sie ist schon effektiv in dem, was sie tut, muss ich sagen.«
Verwirrt blinzelte Scarlett. Anka machte die Tabellen, Tom die Zusammenfassung – und was machte sie? Demnächst Ferien – immerhin das.
»Ach, noch etwas, Petra. Ich gehe in zwei Wochen in Urlaub, und laut Plan bist du meine Vertretung –«
»Sicher, sicher. Schreib einfach meine E-Mail-Adresse in deine Abwesenheitsnotiz, kein Problem. Wo fährst du denn hin?«
»Schroffenige. Weißt du, wo das –«
»Klingt ja toll. Ich wünsch dir gute Erholung, Scarlett. Bis bald.«
Der Bildschirm ihres Smartphones wurde dunkel, doch Scarlett konnte den Blick nicht abwenden. Wofür genau war sie in ihrer Firma eigentlich zuständig?
* * *
Scarlett nahm die Sonnenbrille ab und verstaute sie in ihrem blau-weiß gestreiften Etui. Die dunklen Gläser waren nicht mehr nötig. Vor einer halben Stunde hatte die »Stern der Ostsee« bei strahlendem Sonnenschein abgelegt, doch inzwischen waren immer mehr Wolken aufgezogen, bis der Himmel schließlich so weiß war wie ein Stück Papier.
Noch immer hatte sie dieses fahrige Gefühl, dieses Gedankenknäuel in ihrem Kopf, das sie oft am ersten Urlaubstag verspürte. Hatte sie den Herd ausgeschaltet? Die Wohnungstür abgeschlossen? Beides konnte sie bejahen, beides hatte sie überprüft. Stimmten alle Angaben in ihrer automatischen Abwesenheits-Mail? Auch das. Vorsichtshalber hatte sie sich vorhin am Bahnhof selbst eine E-Mail geschrieben und zu ihrer Erleichterung prompt eine Antwort erhalten. Sicher waren alle Anliegen, die jemand an sie stellen könnte, bei Petra gut aufgehoben. Das hieß, falls jemand überhaupt ein Anliegen hatte. Sie schob den Gedanken an ihre Arbeit weit weg.
»Urlaub«, sagte sie halb laut zu sich selbst, lehnte sich auf ihrer Bank zurück und ließ den Blick über das offene Meer schweifen. Kleinere Wellen, mit weißer Gischt bekrönt, kräuselten sich im kühlen Wind.
Fröstelnd hob Scarlett die Schultern und griff nach ihrem Schal. Sollte sie sich lieber unter Deck zum Rest der Gruppe setzen? Andererseits genoss sie den Seewind hier oben, die salzige Luft und das Geschrei der Möwen, die über der Fähre kreisten.
Außer ihr selbst hatten noch eine schmale dunkelhaarige Frau Ende zwanzig, die nicht zur Reisegruppe gehörte, und der Mann, der sich allen Ernstes Siddhartha nannte, die steile Treppe nach draußen erklommen. Nachdem sie vorhin an Bord gegangen waren, hatte Siddhartha seinen Seesack so schwungvoll zu den anderen Gepäckstücken geschleudert, dass er zielsicher wie mit einer professionell geworfenen Bowlingkugel eine kleine Kofferfamilie auf dem Gepäckablagebereich abräumte, bevor der unförmige Beutel sicher in einer Ecke landete.
»Alle Neune«, hatte Scarlett spontan ausgerufen und gelächelt, worauf Siddhartha begeistert mit einem Peace-Zeichen geantwortet hatte. Auf Lydias eiskalten Blick hin hatte Scarlett schuldbewusst den Kopf gesenkt, bis Karin sie hastig Richtung Treppe schob. »Geh doch schon mal an Deck«, sagte ihre Freundin. »Ich komme gleich nach und bringe uns Tee mit.«
Diese Lydia hatte Scarlett sich jedenfalls ganz anders vorgestellt. Mehr … mehr wie Siddhartha vielleicht, der natürlich eigentlich anders hieß – in der Teilnehmerliste hatte Dieter gestanden. Sie warf Siddhartha, der barfuß auf der anderen Seite des Decks im Schneidersitz auf einer Bank saß, einen kurzen Seitenblick zu. Die Augen fest geschlossen und das Kinn zum Himmel gereckt, presste er vor seiner nackten, kettenbehangenen Brust die Handflächen aneinander. Scarlett musterte skeptisch die Bohlen unter ihren Füßen. Dreck, Schiffsdiesel, vielleicht auch ein bisschen Hundekot vom Festland – sie mochte nicht wirklich darüber nachdenken, welche Komponenten des täglichen Lebens, die sonst an Schuhsohlen klebten, jetzt die hornigen Fersen ihres Reisegefährten schwarz färbten.
Nun ja, vielleicht nicht ganz so extrem, aber nach Karins Beschreibungen hätte sie Lydia auf jeden Fall eher in der Öko-Ecke verortet. Wallende Leinenkleider, klimpernde Steinketten, wirre Haare. Stattdessen trug Lydia einen sorgfältig geföhnten und blond gefärbten Bob, der sich selbst in der steifen Brise am Hafen keinen Millimeter bewegt hatte. Das kurze Designerkostüm und die beachtlich hohen dünnen Absätze erinnerten Scarlett eher an ihre Chefin Pamela.
Scarlett wickelte sich den Schal um den Hals. Sie hatte das Gefühl, dass es beinahe minütlich ein Grad kälter wurde. Und damit war sie nicht allein. Selbst Siddhartha schlüpfte jetzt in das karierte Hemd, das er vorher locker um die Hüften geknotet getragen hatte.
Plötzlich mischten sich lauter werdende Stimmen in das Möwengeschrei.
»Das ist einfach nicht wahr!«
Als sie Karins Stimme erkannte, drehte Scarlett sich zur Treppe um und machte Anstalten aufzustehen, hielt dann aber in der Bewegung inne. Karin war nicht allein. Lydia stand ihr gegenüber auf der halben Treppe zum Oberdeck und funkelte sie böse an.
»Du kannst doch nicht einfach –« Das war eindeutig Karin, und sie klang empört. Ungläubig und … und wütend. Scarlett runzelte die Stirn.
»Shhh«, zischte Lydia und senkte die Stimme so weit, dass Scarlett sich konzentrieren musste, um zuzuhören. »Natürlich kann ich. Das ist mein Retreat, und wenn es dir nicht passt, kannst du die nächste Fähre nach Hause nehmen!«
Karin öffnete den Mund, schloss ihn dann jedoch wieder und presste die Lippen einen Moment lang fest aufeinander, bevor sie leise etwas antwortete.
Lydia lachte gurgelnd, und Scarlett beobachtete amüsiert, wie sie sich in ihre Betonfrisur griff. Auf halbem Weg blieb sie mit den Fingern stecken, zog sie heraus und schüttelte die Hand, als würde etwas daran kleben.
»Das wirst du büßen!« Karins Stimme klang kalt. Der Ärger war Resignation gewichen.
Lydia hob nur ihre schmalen Schultern und ließ sie wieder fallen, bevor sie sich umdrehte und wieder unter Deck verschwand.
Karin jedoch blieb stehen. Scarlett sah, wie ihre Kiefermuskeln unter den blassen Wangen arbeiteten. Rasch hob sie eine Hand. »Karin!«, rief sie betont fröhlich. »Karin, hier!« Als könnte man die einzige Frau auf dem Oberdeck irgendwie verpassen oder übersehen.
Noch einen Moment lang blieb Karin stehen und starrte die Treppe hinunter, bevor sie sich einen Ruck zu geben schien und die letzten beiden Stufen nach oben auf einmal nahm.
Das Lächeln, das sie nun aufsetzte, kannte Scarlett gut. Es zog ihre Mundwinkel zwar nach oben, erreichte Karins Augen jedoch nicht. Normalerweise war es Kellnern, Verkäufern und ihrem Mann vorbehalten, wenn dieser eine Anekdote aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit erzählte. Ex-Mann, korrigierte sich Scarlett im Geiste.
»Alles in Ordnung?« Sie legte den Kopf schräg und sah ihre Freundin prüfend an.
»Sicher, sicher«, erwiderte Karin eine Spur zu schnell und machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Das klang aber eben –«
»Wirklich, es ist … es ist nichts. So ein Retreat ist eine Menge Arbeit«, unterbrach sie Karin sofort.
»Kann ich etwas für dich tun?«
Tatsächlich wurde das Lächeln ihrer Freundin jetzt weicher, beinahe mild. »Wie lieb, Scarlett, aber alles ist in Ordnung. Wirklich.«
Ungläubig hob Scarlett die Augenbrauen. Das wirst du mir büßen? »Na, wenn du meinst. Sag mal, wo ist eigentlich unser Tee?«
Entschuldigend hob Karin beide Hände. »Wasserkocher und Kaffeemaschine sind kaputt. Die verkaufen nur Limonaden. Soll ich dir eine holen?«
»Nein, danke.« Scarlett seufzte. »Wie schade.«
»Ja, ist wirklich frisch hier draußen auf dem Wasser.« Karin zog eine dünne Ledermappe aus ihrer Umhängetasche. »Stört dich nicht, wenn ich ein bisschen Papierkram erledige, oder?«
»Nein, sicher nicht, aber willst du das nicht lieber unter Deck –« Jetzt unterbrach sich Scarlett selbst. Dort unten war Lydia. Der Karin nach diesem Streit vermutlich lieber aus dem Weg ging.
»Frische Luft ist ja sooo gesund«, murmelte Karin und tippte mit der Spitze ihres Kugelschreibers auf die Aktenmappe.
In den weißen Himmel hatten sich jetzt graue Schlieren gemischt, so als hätte jemand mit einem Pinsel schwarze Wasserfarbe verwischt. Dunst stieg vom Meer auf wie Wasserdampf über einer heißen Tasse Tee, an der Scarlett ihre kalten Finger jetzt gern gewärmt hätte. Stattdessen schob sie die Hände in die Taschen ihrer neuen dunkelgrünen Outdoorjacke.
Vorhin am Hafen hatte sie gelacht, als sie feststellte, dass sie und Yvonne dasselbe Modell trugen, nur in unterschiedlichen Farben. Die junge Yvonne mit den aschblonden Haaren und dem unscheinbaren Mausgesicht hatte sich für ein knalliges Orange entschieden. »Hübsch, hübsch«, hatte Lydia gesagt und spöttisch gelächelt. »Erinnert mich … Moment, ich habe es gleich … ja, an die Berliner Müllabfuhr.«
Yvonne war blasser geworden und in sich zusammengesunken.
»Ich finde die Farbe toll«, hatte Scarlett rasch und laut gesagt. »Sieht man nicht alle Tage.«
Doch der Schaden war angerichtet. Scarlett hatte es in Yvonnes Blick gesehen. Warum waren manche Menschen so unachtsam mit ihren Worten?
Scarlett schüttelte den Kopf und schaute wieder über das Meer. Sie kniff die Augen zusammen und stieß Karin mit dem Ellenbogen an. »Guck mal, ich glaube, da vorn ist Schroffenige.«
Karin sah ungnädig auf. »Der schwarze Punkt? Das könnte alles sein.«
Scarlett lachte. »Aber Schroffenige ist doch am wahrscheinlichsten.« Sie stand auf und lehnte sich an die Reling.