Im hellen Schein der Kerzen
Carolyn Green: Im hellen Schein der Kerzen
Der erfolgreiche Manager Robert Maddock kommt bei einer Weihnachtsfeier der hübschen Lehrerin Ruth Marsh näher. Alles scheint perfekt - bis alte Ängste in ihm erwachen …
Carolyn Green: Im hellen Schein der Kerzen
Der erfolgreiche Manager Robert Maddock kommt bei einer Weihnachtsfeier der hübschen Lehrerin Ruth Marsh näher. Alles scheint perfekt - bis alte Ängste in ihm erwachen …
Die blinkende Leuchtreklame vor seinem Bürofenster ging Robert Tucker Maddock schrecklich auf die Nerven.
Fröhliche Weihnacht! Fröhliche Weihnacht! Fröhliche Weihnacht! Und das auch noch im Abstand von einer Sekunde. Dabei kannte er keine fröhliche Weihnacht seit …
Nein, er wollte nicht mehr an die vielen Verluste denken, die er ausgerechnet zur angeblich glücklichsten Zeit des Jahres erlitten hatte. Die Überstunden, die er in seinem Büro in Alexandria, Bundesstaat Virginia, leistete, halfen kaum gegen das Unbehagen, das ihn seit einiger Zeit ständig verfolgte.
Als Manager genoss er einen hervorragenden Ruf. Weil er sich in schwierigsten Situationen bewährt hatte, bekam er häufig Angebote anderer Firmen. Leider gelang es ihm nicht, im Privatleben genauso erfolgreich Probleme aus der Welt zu schaffen wie in der Wirtschaft.
Im letzten Jahr hatte er zu Weihnachten einen besonders harten Schlag erlitten. Sein bester Freund Chris und dessen Eltern waren ums Leben gekommen. Die drei waren für Tucker wie seine eigene Familie gewesen. Sie fehlten ihm, und irgendwie wollte er die Leere ausfüllen, die ihr Verlust in seiner Seele hinterlassen hatte.
Tucker stand auf und packte seine Sachen zusammen. Die grün-rote Leuchtreklame schickte pausenlos ihre unerwünschte Botschaft zu ihm herüber und verstärkte die Sehnsucht nach der liebevollen Familie, die ihn aufgenommen hatte und die nun für immer verloren war.
Es reichte! Wenn er schon nicht mit den geliebten Menschen zusammen sein konnte, wollte er doch wenigstens den Ort aufsuchen, der von Erinnerungen an sie erfüllt war.
Tucker schrieb eine Nachricht für seine Sekretärin, öffnete eine Schublade und warf alles von der Schreibtischplatte hinein. Wenn er zurückkam, würde er die Sachen wieder herausholen und sortieren, doch im Moment ertrug er keine einzige Weihnachtskarte mehr. Er konnte auch nicht lächeln, wenn jemand Weihnachtslieder sang, und die allgemeine fröhliche Stimmung trieb ihn ohnedies zum Wahnsinn.
Er musste raus aus der Stadt und seinem Herzen folgen – zurück nach Willow Glen.
Willow Glen Plantation war Tucker beim ersten Besuch wie ein wahres Herrenhaus vorgekommen. Auch heute beeindruckte es ihn noch mit der runden Auffahrt, der breiten Veranda, den Zinnen und den Giebelfenstern. Hier hatte er vom zehnten Lebensjahr bis zum College die glücklichste Zeit seines Lebens verbracht, und es hatte ihn tief getroffen, dass Chris’ Eltern das Haus verkauften, als Chris und er zum College gingen.
Will Carlton, ein Antiquitätenhändler, hatte damals die Immobilie erworben. Er hatte nur wenige Veränderungen durchgeführt und eine Pension daraus gemacht.
Da Tucker ohnedies irgendwo unterkommen musste, konnte er sich genauso gut auch hier auf Willow Glen Plantation einmieten. Ein älterer Mann, der offenbar von einer Einkaufstour zurückkehrte, betrat vor ihm das Haus und hielt ihm die Eingangstür auf.
„An Ihrer Stelle, junger Mann, würde ich mich beeilen. Es gibt bald Abendessen, und das sollten Sie wirklich nicht versäumen.“
Girlanden und Tannenzweige schmückten den Eingangsbereich, das Treppengeländer und sogar den Lüster in der Diele. Abgesehen vom Empfangstresen mit einer altmodischen Registrierkasse hatte sich nicht viel geändert. Es roch sogar noch immer nach Cranberries und Tannenholz und …
Wonach roch es noch? Tucker stellte die Reisetasche neben dem Tresen ab, schloss die Augen und sog die Luft ein. Dabei sah er förmlich Mr. und Mrs. Newland und Chris vor sich. In diesem Haus hatte er öfter geschlafen als daheim und war sozusagen zu einem Familienmitglied geworden. Die Newlands hatten ihm sogar verschiedene Arbeiten zugeteilt, wie ihrem eigenen Sohn. An einem bestimmten Samstag im Monat hatten er und Chris regelmäßig weiche Lappen und eine Flasche Möbelpolitur erhalten und mussten alle Holzflächen einreiben.
Tucker öffnete die Augen. Genau danach roch es. Nach Möbelpolitur. Vielleicht war es sogar dieselbe Marke.
Eine alte Frau tauchte in der Diele auf. „Mein lieber Oren, wie schön, dich zu sehen“, sagte sie zu dem Mann, der vor Tucker eingetreten war, begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Wange und hinterließ dort einen rosigen Lippenabdruck. „Deine Frau wartet schon sehnsüchtig auf dich“, fügte sie hinzu und zeigte zum Aufenthaltsraum, in dem sich etliche Gäste versammelt hatten.
Der ältere Mann, vermutlich ein Stammgast, beeilte sich, zu seiner Frau zu kommen.
„Was für ein attraktiver junger Mann“, stellte die Frau fest und musterte Tucker vom Scheitel bis zur Sohle. „Ich bin Tante Shirley.“
Es kam ihm seltsam vor, wie sie einen neuen Gast begrüßte. Aber er schrieb es ihrem hohen Alter zu, dass sie ihn so vertraulich behandelte. „Tucker Maddock, Ma’am. Ich hoffe, es gibt noch ein freies Zimmer für mich.“
Tante Shirley lachte so herzlich, dass es geradezu ansteckend wirkte und die Aufmerksamkeit der Leute im Aufenthaltsraum erregte. „Er fragt, ob wir für ihn ein freies Zimmer haben“, erklärte sie den anderen, die das offenbar auch lustig fanden. Jedenfalls lachten alle.
Eine dunkelhaarige Schönheit von Mitte zwanzig, die gerade Popcorn zu einer Kette auffädelte, hob den Kopf. Tucker wurde schlagartig heiß, als sich ihre Blicke trafen.
Ein junges Mädchen tauchte in der Tür auf, entdeckte ihn, wurde rot und zog sich wieder zurück.
Die schöne Brünette betrachtete ihn so eingehend, als käme er ihr bekannt vor, ohne dass sie ihn einordnen könnte. Dabei war Tucker sicher, ihr noch nie begegnet zu sein. Diese Frau hätte er bestimmt nicht vergessen.
Sie saß auf einer Couch, die schlanken Beine untergeschlagen. Der graue Pullover war für sie viel zu weit. Das dunkle Haar fiel ihr offen auf die Schultern, ihre braunen Augen waren faszinierend, und ihre Lippen schienen wie zum Küssen geschaffen.
Ruth Marsh hatte sich große Mühe gegeben, um dieses möglicherweise letzte Familientreffen schön zu gestalten. Der Mann, der als Letzter unerwartet aufgetaucht war, machte es vielleicht sogar zum interessantesten Treffen überhaupt. Sein forschender Blick wirkte auf sie geradezu hypnotisierend, und es fiel ihr schwer, sich lässig zu geben und keine Reaktion zu zeigen.
Halt, befahl sie sich. Auf der Schiene durfte sie nicht weiterdenken, schließlich handelte es sich um einen Verwandten, wenn auch um einen entfernten. Also spielte es keine Rolle, wie groß und breitschulterig der Mann war, wie verlockend das dunkelbraune Haar und wie durchdringend der Blick aus seinen dunklen Augen sein mochte. Es war fast, als könnte er ihre Gedanken lesen.
Ganz bewusst sah sie zu ihrer Schwester Vivian hinüber, die den Neuankömmling noch nicht bemerkt hatte. Lächelnd wandte sie sich wieder dem gut aussehenden Fremden zu, der ihr Lächeln erwiderte. Dieser tolle Mann war für ihre ältere Schwester tabu, für sie selbst aber leider auch.
Vielleicht sollte sie gemeinsam mit ihrer Tante das letzte der Familienmitglieder begrüßen, die aus allen Gegenden zu dem Weihnachtstreffen gekommen waren. Diese Zusammenkunft war zu einem alljährlichen Ereignis geworden, seit sie vor acht Jahren die ehemalige Pension gekauft hatten. Ruth war zwar in Willow Glen aufgewachsen, hatte aber erst in dem alten Herrenhaus ein wirkliches Heim gefunden.
Tante Shirley wandte sich erneut an Tucker. „Was für ein wundervoller Humor. Natürlich haben wir ein Zimmer, und selbst wenn keines mehr frei wäre, würden wir eines frei machen.“
„Vielen Dank, Ma’am.“ Er griff nach seiner Reisetasche. „Wenn Sie mir den Weg beschreiben und den Schlüssel geben, ziehe ich mich sofort zurück.“
„Ich bin Tante Shirley, und hier duzen wir uns alle“, erklärte sie, trat hinter den Tresen und befestigte ein Bild des Weihnachtsmannes, das sich von der Wand gelöst hatte. „Bei uns braucht man keinen Schlüssel, mein Lieber. Niemand wird an deine Sachen gehen. Oren schlafwandelt zwar gelegentlich, aber man kann bei den Zimmern von innen einen Riegel vorschieben.“
Tucker kannte zwar ähnliche Familienbetriebe, doch diese Pension war unvergleichlich. Die Sicherheit seines Zimmers stellte für ihn jedoch kein Problem dar, weil er sich ohnehin die ganze Zeit dort aufhalten wollte. Sollte es keinen Videorekorder geben, würde er einen kaufen, sich während der Feiertage mit Actionfilmen betäuben und an vergangene schöne Zeiten denken, bis diese schreckliche Fröhlichkeit endlich nachließ. Am ersten Weihnachtsfest, das er ganz allein verbrachte, war das genau die richtige Medizin.
„Maddock?“ Tante Shirley strich sich nachdenklich über die Wange. „An den Namen Maddock erinnere ich mich gar nicht.“
Wahrscheinlich überlegte sie, ob er schon früher hier abgestiegen war. Oder sie ging davon aus, dass er aus Willow Glen stammte. In einer solchen Kleinstadt waren die meisten Leute miteinander verwandt oder hatten zumindest dieselbe Schule besucht. Tante Shirley würde sich hoffentlich nicht an seinen Namen erinnern. Seine Eltern waren erst kurz vor seiner Geburt nach Willow Glen gekommen. Nach dem Tod seiner Mutter vor ungefähr zwanzig Jahren hatte sein Vater das ganze Geld vertrunken, und danach hatten sie von der Fürsorge gelebt. Das würde er Shirley jedoch bestimmt nicht auf die Nase binden.
„Ich bin in der Gegend groß geworden“, erklärte er stattdessen, „aber ich war seit zehn Jahren nicht mehr hier.“
Die Brünette kam gerade in diesem Moment in die Diele. Tante Shirley hatte aus purer Neugierde gefragt, doch die junge Frau wirkte skeptisch.
„Wie heißen deine Eltern?“
Tucker nutzte die Gelegenheit, sich die hübsche Frau aus der Nähe anzusehen. „Helen und Bob“, erwiderte er und öffnete die obersten Knöpfe seiner Jacke.
Sie fasste sich ihrerseits an den Ausschnitt des T-Shirts, und Tucker ließ ihre Finger nicht aus den Augen.
„Wir haben eine Helen in der Familie“, bemerkte Tante Shirley, „aber ich erinnere mich an keinen Bob. War er vielleicht der zweite Ehemann deiner Mutter?“
„Wie bitte?“
„Lass doch den Jungen in Ruhe, Shirley“, rief Oren aus dem Aufenthaltsraum, „und komm zu uns, damit wir endlich den Baum aufstellen können!“
„Ja, ja, schon gut, nur keine Ungeduld!“
Tucker schüttelte verwundert den Kopf über den familiären Umgangston, der hier herrschte. Wahrscheinlich fühlten sich die Gäste in diesem Haus so wohl, dass sie sehr oft herkamen und sich deshalb schon wie richtige Verwandte benahmen. Möglicherweise lag es an dem Haus und der Liebe, die in diesen Mauern gelebt hatte, wenn sich die Leute hier so heimisch fühlten.
„Komm“, forderte Shirley ihn auf, „ich zeige dir das Zimmer. Hoffentlich stört es dich nicht, dass es im zweiten Stock liegt. Ursprünglich wollte ich einen Aufzug einbauen lassen, aber dann habe ich mein Geld doch lieber vernünftiger angelegt.“
„Lass ruhig, Tante Shirley, ich zeige ihm den Weg.“
Die hübsche junge Frau führte ihn die dunkle Holztreppe hinauf. Oben angekommen, betrat Tucker das Zimmer und fühlte sich sofort in die Vergangenheit zurückversetzt. Zahlreiche Erinnerungen stürmten auf ihn ein, als er die Reisetasche abstellte. Die Vorhänge, die handgenähte Bettdecke und die einzelnen Teppiche waren zwar neu, entsprachen aber durchaus dem Stil des Hauses.
Das Bett war eindeutig zusammen mit Willow Glen Plantation an den neuen Besitzer übergegangen. Tucker entdeckte sogar noch die eingeritzten Initialen R. T. M. für Robert Tucker Maddock. Mrs. Newland war damals zuerst ärgerlich geworden, als sie merkte, was er angerichtet hatte. Nach einigem Überlegen hatte sie ihm jedoch versprochen, die Initialen nicht zu entfernen. Zu der Zeit hatte Tucker nicht verstanden, woher der Gesinnungswandel seiner Ersatzmutter kam. Rückblickend begriff er, dass sie aus reiner Liebenswürdigkeit einem verängstigten, einsamen Jungen erlaubt hatte, sich in ihrem Zuhause, ihrer Familie und ihrem Herzen zu verewigen.
Tante Shirley war nicht bereit, ihre Pflichten als Gastgeberin zu vernachlässigen, und stieß zu ihnen. „Es ist wirklich schön, dass du zu Weihnachten bei uns bist“, versicherte sie, als sie den kleinen Raum betrat.
Die junge Frau ging ans Fenster, schob die duftigen weißen Vorhänge zurück und ließ das dämmrige Nachmittagslicht hereinfallen. Danach drehte sie sich um, betrachtete Tucker eine Weile forschend und sagte schließlich widerstrebend: „Ja, es sind wohl die Augen.“
Er hatte keine Ahnung, was sie meinte. Vielleicht erinnerte sie sich an seinen Vater. In einer so kleinen Stadt kannte so gut wie jeder jeden, wenn auch nur vom Sehen. „Ich habe schon oft gehört, dass ich die Maddock-Augen habe“, bemerkte er. Dabei hätte er liebend gern auf ein Merkmal verzichtet, das so viel Aufmerksamkeit erregte, aber ein letztes Verbindungsglied zu seinem verstorbenen Vater darstellte.
Tante Shirley kam mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu, drückte ihn mütterlich an sich und küsste ihn auf die Wange. „Wir sind sehr froh, dass du bei uns bist“, verkündete sie und ging zur Tür. „Wenn du irgendeinen Wunsch hast, sagst du uns einfach Bescheid. Wir kümmern uns dann sofort darum.“
Sie schenkte ihm noch ein strahlendes Lächeln, winkte, verließ das Zimmer und schloss hinter sich die Tür.
Die junge Frau verschränkte die Arme und musterte Tucker weiterhin eingehend.
Verwirrt über die unerwartete Geste der alten Frau, rührte Tucker sich nicht von der Stelle, fasste sich an die Wange und fragte sich, ob die junge Frau ihn ebenfalls gleich küssen würde. Dagegen hätte er sicher nichts einzuwenden gehabt.
Im nächsten Augenblick öffnete sich die Tür erneut, und Tante Shirley steckte den Kopf herein. „Beinahe hätte ich es vergessen! Beeil dich mit dem Auspacken und komm ganz schnell zu uns hinunter, damit du uns mit dem Weihnachtsbaum helfen kannst.“
Am besten schob er gleich einen Riegel vor, sonst ließ sie ihn noch mit den anderen Gästen Weihnachtslieder singen und Plätzchen backen.
„Tut mir leid, Tante Shirley, aber in diesem Jahr ist mir nicht danach, einen Weihnachtsbaum zu schmücken.“ Die Rückkehr in dieses Haus mit all seinen Erinnerungen empfand er zwar als tröstlich, doch alles, was mit Weihnachten zu tun hatte, führte ihm nur vor Augen, wie viele geliebte Menschen er verloren hatte.
„Du musst einfach mitmachen“, erklärte die junge Frau. „Tante Shirley kann zukünftig nicht mehr so viele Leute unterbringen. Darum bemühe ich mich, dieses Weihnachten zu einem unvergesslichen Fest zu machen, und es ist wichtig, dass sich alle beteiligen.“ Sie überlegte einen Moment. „Möchtest du lieber den Kranz oder die Lichterketten aufhängen?“
Die beiden waren fest entschlossen, ihn in die Feier einzubeziehen. Natürlich verstand er, dass sie künftig weniger Gäste im Hotel aufnehmen wollten. Natürlich war es ein Opfer, auf ein privates Fest zu verzichten und sich stattdessen um so viele zahlende Gäste zu kümmern. Trotzdem hatte er nicht die Absicht, seine eigenen Pläne zu ändern. Darum schüttelte er entschieden den Kopf.
„Ach, du möchtest die Mistelzweige aufhängen, nicht wahr?“, stellte Tante Shirley lächelnd fest. „Ich habe mir sofort gedacht, dass du eine romantische Ader besitzt.“
Unwillkürlich sah er die Brünette an und fragte, ohne zu überlegen: „Helfen Sie … hilfst du auch mit?“
„Natürlich“, entgegnete sie, als würde sie nicht begreifen, wieso er überhaupt fragte.
Zögernd strich er sich über die Bartstoppeln am Kinn und bewunderte, was für eine makellose Haut sie hatte. „Vielleicht komme ich kurz hinunter“, räumte er ein.
„Sehr schön“, lobte Shirley. „Dann sage ich den anderen, sie sollen noch warten.“ Energisch nahm sie die Brünette am Arm und führte sie aus dem Zimmer.
Im Erdgeschoss holte Ruth die staubige alte Familienbibel hervor, und ihre Verwandten scharten sich interessiert um sie, um Einblick in den Stammbaum der Familie zu nehmen, der darin aufgezeichnet war.
„Er sieht süß aus“, stellte die vierzehnjährige Brooke fest.
„Der ist viel zu alt für dich“, behauptete Vivian, obwohl das jedem im Raum klar war. „Bestimmt zieht er jemanden vor, der seinem Alter besser entspricht, wie zum Beispiel mich.“
Ruth überflog in dem Buch die Eintragungen über Eheschließungen und Geburten und suchte nach dem Namen Maddock. „Ihr macht euch beide lächerlich“, sagte sie dabei, ohne ihre Tätigkeit zu unterbrechen. „Falls er wirklich ein Verwandter ist, was ich bezweifle, müsst ihr ihn wie jeden anderen Cousin auch behandeln.“
„Aber dieser Cousin küsst bestimmt gut“, rief Brooke lachend.
Ruth strich sich das Haar über die Schultern zurück und bemühte sich, nicht auf die Bemerkung ihrer Cousine zu achten. „Genau wie ich es mir gedacht habe. Hier ist kein Maddock eingetragen.“
Oren schob sie mit seinem Stock zur Seite, beugte sich über das aufgeschlagene Buch auf dem Tisch und blätterte darin. Die mittlerweile verstorbene Lilly Babcock war die Matriarchin ihrer Familie. Obwohl sie durch Heirat einen anderen Namen bekommen hatte, betrachteten sich doch alle ihre Nachkommen auch heute noch als Babcocks.
Oren zeigte auf einen Strich, der von Ruths Urgroßmutter Lilly zu einem Kästchen gezogen war. „Hier ist eine Helen, die einen Cousin dritten Grades geheiratet hat. Von Maddock oder einem Sohn namens Tucker steht da allerdings nichts.“
Tante Shirley kam nun ebenfalls zu ihnen und beugte sich über die vergilbten Seiten. Ihr Freund Boris trat zu ihr und griff nach ihrer Hand.
Ruth freute sich, dass ihre Tante einen Mann gefunden hatte, den sie liebte und von dem sie geliebt wurde. Und sie hoffte, dass eines Tages auch sie mit einem Mann so glücklich werden würde, wie Boris und Shirley es waren.
Erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass Tante Shirley vielleicht wegen Boris in Zukunft keine Familientreffen zu Weihnachten mehr wollte. Das bedeutete jedes Mal viel Planung und Arbeit, und es war durchaus verständlich, dass ihre Tante Zeit und Energie lieber in ihre ganz persönlichen Interessen investierte.
Aus diesem Grunde war Ruth in diesem Jahr eingesprungen und hatte die vollen Pflichten der Gastgeberin übernommen. Wenn sie ihrer Tante die Arbeit abnahm und gleichzeitig für eine besonders schöne Feier sorgte, überlegte Shirley es sich vielleicht noch einmal.
Dieses jährliche Treffen entsprach Ruths Wunsch nach familiärem Zusammenhalt. Da sie schon sehr früh ihre Eltern verloren hatte, waren ihr diese Bande besonders wichtig. Und eines Tages wollte sie heiraten und dafür sorgen, dass etliche neue Namen ins Familienstammbuch eingetragen wurden.
„Glaubst du, Tante Shirley“, fragte sie nun, „dass Helen wieder geheiratet hat? Vielleicht hast du sie dadurch aus den Augen verloren.“
„Falls das stimmt“, bemerkte Vivian höchst interessiert, „ist Tucker Maddock bloß sehr, sehr entfernt mit uns verwandt beziehungsweise sogar nur angeheiratet. Ein Stiefcousin, wenn man so will.“
„Ich weiß es nicht“, meinte Tante Shirley verunsichert. „Ich glaube, Helen und ihr Mann sind noch immer zusammen, aber ich könnte mich auch irren. Seit Brooke auf die Welt kam, habe ich nichts mehr von den beiden gehört, und das ist jetzt vierzehn Jahre her.“
Ruth wurde immer skeptischer. Selbst wenn Helen nach einer Scheidung einen Maddock geheiratet hatte, konnte sie unmöglich einen ungefähr dreißig Jahre alten Sohn aus dieser zweiten Ehe haben. Dieser Mann war nicht echt, obwohl er sagenhaft aussah.
Normalerweise war Ruth Marsh völlig locker und unkompliziert. Deshalb hatte sie von ihren Schülern sogar den Spitznamen „Miss Marshmallow“ erhalten. Allerdings konnte sie nicht untätig zusehen, wie sich ein Fremder mit vielleicht finsteren Absichten in ihre Familie einschlich. Und das auch noch zu Weihnachten!
Wie alle Mitglieder der Familie Babcock war Tante Shirley vertrauensselig und nahm jeden mit offenen Armen auf. Sie hatte sogar Ruth und deren ältere Schwester nach dem Tod ihrer Eltern zu sich genommen.
Tante Shirley hatte Ruth damals beschützt, und nun war Ruth entschlossen, das Gleiche für sie zu tun. Sie würde dafür sorgen, dass es nicht wieder einen dermaßen gemeinen Betrug wie bei der Reparatur des Daches oder bei dem Aktiengeschäft gab, auf das Tante Shirley in ihrer Leichtgläubigkeit hereingefallen war.
„Weißt du, Tante Shirley“, brachte Ruth vorsichtig vor, „mit diesem Verwandten stimmt etwas nicht. Wir wissen nichts über ihn. Er könnte sogar ein gesuchter Mörder sein.“
„Unfug“, wehrte Tante Shirley ab und schloss die Familienbibel. „Ich möchte nicht, dass du so über deinen Cousin sprichst. In jeder Familie kommen drei Pferdediebe auf einen Prinzen, sagt man. Es ist mir gleichgültig, ob sein Stammbaum mit Wappen geschmückt ist oder ob von seinem Hauptast eine Schlinge hängt. Er gehört jedenfalls zur Familie.“
Die gute Tante schlug einen so entschiedenen Ton an, dass klar wurde, wie wenig sie aus den Betrügereien gelernt hatte, auf die sie hereingefallen war.
„Ich bin sicher, dieser nette junge Mann kann absolut glaubwürdig erklären, wieso sein Name nicht in unserem Familienstammbaum vorkommt“, fügte sie abschließend hinzu.
Ruth schüttelte über so viel Gutgläubigkeit nur den Kopf. Tante Shirley galt in Willow Glen als wohlhabend und ziemlich exzentrisch, und es war durchaus denkbar, dass das wieder jemand skrupellos zu seinem Vorteil ausnützen wollte.
„Cousin Tucker ist ein anständiger Kerl“, versicherte Tante Shirley. „Gib ihm doch eine Chance.“
Eine Chance, alle auszunehmen oder vielleicht im Schlaf umzubringen? Da Ruth bei ihren Verwandten jedoch nur auf taube Ohren stoßen würde, verfolgte sie dieses Thema vorerst nicht weiter. Es war besser, sie stellte dem unerwarteten Neuankömmling einige gezielte Fragen nach seiner Herkunft und seinen Absichten.
Als Tucker die geschwungene Treppe herunterkam, waren alle um ein großes Buch geschart. Vermutlich lasen sie gerade die Geschichte von Bethlehem. Mit seinem Verstand stimmte eindeutig etwas nicht, sonst hätte er sich nicht bereit erklärt, an den Weihnachtsvorbereitungen teilzunehmen. Schließlich hatte er sich gerade in diesem Jahr um das Fest drücken wollen. Hätte ihn nicht die Brünette mit den dunklen Augen interessiert, wäre er jetzt oben in seinem Zimmer und würde sich einen Film ansehen.