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Hundswut

Als Buch hier erhältlich:

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»So lange wir nichts anderes wissen, so lange war das ein Wolf!«

In der bayerischen Provinz will man 1932 noch nichts von dem wissen, was in München vor sich geht. Hier nehmen die Bürger die Dinge noch selbst in die Hand. Als bestialische Morde das Dorf erschüttern, gilt es für den Bürgermeister und seinen Gemeinderat, die Gräueltaten schnellstmöglich aufzuklären.
Während man zunächst vermutet, dass ein Wolf im nahen Wald sein Unwesen treibt, verdichten sich bald die Gerüchte, dass es sich um einen menschlichen Täter handeln muss. Dem Hauptverdächtigen, dem Einsiedler Joseph Köhler, soll kurzerhand der Prozess gemacht werden, doch dieser beteuert vehement seine Unschuld.
Spätestens als Dorfpfarrer Hias den mittelalterlichen Hexenhammer zurate zieht, geraten die Ereignisse außer Kontrolle, und nur die Ehefrauen der Dorfoberhäupter können noch versuchen, dem grausigen Wahnsinn ein Ende zu bereiten.


  • Erscheinungstag: 20.02.2024
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365006726

Leseprobe

Prolog

Die vom Tau feuchten Grashalme strichen kalt um seine nackten Knöchel und die kühle Luft, die aus dem Wald drang, ließ ihn frösteln. Obwohl es schon fast Sommer war, war es so früh am Morgen noch ziemlich kalt. Die Sonne war gerade erst dabei, aufzugehen, Mitzi und Mama schliefen noch. Nur er durfte mitkommen, das erste Mal.

Papa hatte ihn ganz leise geweckt, sie waren aus dem Haus geschlichen und hatten die Schafe aus dem Stall geholt. Er wusste, dass sie eigentlich nicht viele Tiere hatten, aber er tat sich trotzdem schwer, den Überblick zu behalten. Er war für die Lämmer verantwortlich, dafür hatte er von seinem Vater den großen Stock bekommen. Er wusste, was zu tun war: zusammenhalten, aber nicht erschrecken. Er gab sich große Mühe, alles richtig zu machen, denn er wollte, dass Papa ihn jetzt öfter mitnahm. Und er wollte seinem Vater zeigen, dass er schon groß war und helfen konnte.

Lenze sah zu seinem Vater hinüber, der neben ihm über den schmalen Feldweg lief. Er trug seinen großen Hut und hatte seine Tasche über die Schulter geworfen. Obwohl Papa versucht hatte, sehr unauffällig zu sein, wusste Lenze, was darin war, und freute sich schon darauf.

Als sie bei der Lichtung angekommen waren, ging Papa auf den großen Stein in der Mitte zu und legte die Tasche darauf ab. Die Schafe wussten offensichtlich, dass sie an ihrem Ziel angekommen waren. Ohne Anweisung verteilten sie sich auf der Lichtung und begannen zu grasen. Lenze wandte seinen Blick von den Tieren und sah wieder zu seinem Vater, der ein Stück in feuchten Stoff gewickelten Schafskäse aus der Tasche hervorgeholt hatte. Aus seiner Hosentasche zog er sein Messer und schnitt bedächtig und ordentlich zwei Stücke von dem Käse ab. Dann drehte er sich um und hielt Lenze grinsend eines der Stücke hin. Lenze ging die letzten Schritte auf den Stein zu, setzte sich darauf, nahm seinem Vater den Käse ab und biss hinein.

Während er kaute, beobachtete er seinen Vater genau. Der kaute ebenfalls und zählte routiniert und mit konzentriertem Gesichtsausdruck die grasenden Tiere durch. Dann runzelte er die Stirn, schob sich den Rest seines Käsestücks in den Mund und leckte sich die Finger ab. Er zählte noch einmal, diesmal nahm er seine Hände zu Hilfe und deutete auf die einzelnen Schafe, in einer Geschwindigkeit, der Lenze kaum folgen konnte. Die Falte zwischen den Augen seines Vaters wurde tiefer, als er aber bemerkte, dass Lenze ihn beobachtete, glättete sich seine Stirn sofort und er lächelte ihn strahlend an.

»Lenze, mir ham oans von de Betzerl verlorn, i muass schnell schaun, wo’s is, gell? Passt ma du auf die andern auf?«

Lenze wollte antworten, hatte aber den Mund voller Schafskäse. Deswegen nickte er nur heftig, sprang von dem Stein und nahm seinen großen Stock zurück in die Hand. Er freute sich zu sehen, dass Papas Lächeln noch breiter wurde. Er strubbelte ihm durch die Haare, dann nahm er seinen großen Hut ab und setzte ihn Lenze auf den Kopf. Natürlich war ihm der Hut viel zu groß und rutschte über seine Augen. Nachdem Lenze ihn ein wenig nach hinten geschoben hatte, sodass er wieder etwas sehen konnte, bemerkte er, dass sein Vater schon fast am Waldrand angekommen war.

Für einen Moment überkam Lenze ein schlechtes Gewissen. War er schuld? Für die Lämmer war er verantwortlich gewesen, und jetzt fehlte eines. Wenn dem Lamm etwas passiert war, durfte er dann nie wieder mitkommen? Er entschied, die düsteren Gedanken beiseitezuschieben und ließ seinen Blick über die Herde schweifen. Er hatte Papa versprochen, auf die Tiere aufzupassen, und das würde er tun.

***

Je weiter Joseph sich von der Lichtung und der Herde entfernte, umso leiser wurde auch das permanente Blöken der Tiere und die Geräusche des Waldes traten in den Vordergrund. Er hörte das Rascheln und Knacken der Blätter und Äste unter seinen Füßen, das entfernte leise Rauschen des Baches und das Zwitschern der Vögel, die gerade erwachten. Hin und wieder knackte in einiger Entfernung etwas, wobei Joseph nicht sagen konnte, ob es ein Tier war oder der Wald selbst.

Er liebte den Wald. Schon als Kind war er mit seinem Vater und den Schafen zu den entlegenen Lichtungen gewandert und er war stolz, dass er mit seinem Sohn heute dasselbe tun durfte. Leni war der Meinung gewesen, mit seinen fünf Jahren wäre Lenze noch zu jung dafür, aber er hatte ihr verständlich machen können, dass es ihm nicht darum ging, aus Lenze einen Schäfer zu machen. Der Junge sollte lediglich ein Gefühl für die Natur bekommen, für die Tiere, und für den Wald. Und dafür war man nie zu jung.

Natürlich war er ihm nicht böse, dass eines der Lämmer verschwunden war. Die Lämmer waren neugierig, ungeschickt und dumm. Es wäre nicht das erste Mal, dass er eines aus einer Felsspalte oder aus dem Bach ziehen oder auch einfach zur Herde zurückbringen musste, nachdem es orientierungslos durchs Unterholz gestolpert war.

Jäh wurde Joseph aus seinen Gedanken gerissen, als es hinter ihm plötzlich laut knackte. Ruckartig drehte er sich um. Das Sonnenlicht war noch nicht bis ins dichte Unterholz vorgedrungen und so verschmolzen in der Entfernung Bäume, Steine und Gräser zu einem Sumpf aus Schatten. Joseph glaubte, eine Bewegung im Dunkel auszumachen. Doch obwohl er den Wald und seine Bewohner gut kannte, konnte er das, was er zu sehen geglaubt hatte, nicht zuordnen. Für ein Reh war der Schatten zu klein gewesen, für einen Fuchs hingegen viel zu groß, und das verlorene Lamm konnte es erst recht nicht gewesen sein.

Joseph starrte angestrengt ins Unterholz und ließ die Stelle, an der er die Bewegung ausgemacht hatte, nicht aus den Augen. Er wagte kaum, zu blinzeln, und versuchte, angestrengt einzelne Umrisse aus dem Schatten zu lösen. Nach einiger Zeit war er sich sicher, dass etwas aus dem Dunkel zurückstarrte. Sein Herzschlag beschleunigte sich, doch er ermahnte sich selbst zur Vernunft, rieb sich die Augen und verbot seinem Gehirn, ihm Streiche zu spielen.

Gerade als er sich wieder auf die Stelle konzentrieren wollte, hörte er aus der entgegengesetzten Richtung ein leises, ängstliches Blöken und erinnerte sich daran, warum er die Lichtung verlassen hatte. Er eilte den Lauten entgegen und entdeckte schon nach wenigen Metern das vermisste Lamm.

Das verängstigte Tier steckte in einer engen Felsspalte fest, nicht fähig, sich zu bewegen. Joseph kannte den gewaltigen Riss, der sich durch einen Großteil des Waldes zog. Das Lamm musste an einer der breiteren Stellen hineingelaufen sein und dem sich mehr und mehr verjüngenden Spalt gefolgt sein, bis es schließlich nicht mehr vorwärtskam und auch das Umdrehen unmöglich geworden war. Auf die Idee, rückwärtszugehen, war das Tier in seiner Panik dann offensichtlich nicht gekommen und schrie stattdessen erbärmlich um Hilfe.

Joseph kniete sich über die Spalte, schob das Lamm ein paar Schritte nach hinten, packte es schließlich am Rumpf und hob es heraus. Kaum befreit, versuchte das Tier, sich loszureißen und zu fliehen. Da Joseph keine Lust hatte, das verängstigte und orientierungslose Lamm durch den halben Wald zu treiben, packte er es kurzerhand an den Schultern und nahm es in den Arm.

Er streichelte sanft seinen Kopf und spürte, wie sich der Herzschlag des Tieres an seiner Brust langsam normalisierte, während er mit ihm wieder auf die Lichtung zuging. Als er dem Waldrand näher kam, wurde das vertraute Blöken der Herde wieder lauter. Da das Lamm seine Artgenossen ebenfalls hörte und daher die eigenen Rufe verstärkte, dauerte es deutlich länger als gewöhnlich, bis Joseph merkte, dass die Tiere anders klangen als sonst.

Er beschleunigte seine Schritte, als er den Wald verließ, rannte er mehr als dass er lief. Die Herde war in heller Panik. Eines der größeren Schafe stieß mit ihm zusammen, worauf er das Lamm fallen ließ, welches blökend davonrannte. Joseph sah das Schaf vor sich an und stellte fest, dass sein linkes Hinterbein mit Blut getränkt war.

Noch unfähig, das Gesehene zu verarbeiten, und überfordert von den vier Dutzend panisch durcheinanderrennenden, teils verletzten und laut blökenden Tieren drehte Joseph sich zu dem großen Stein um, auf dem er Lenze zurückgelassen hatte.

Josephs Augen und Mund weiteten sich vor Entsetzen, doch kein Laut verließ seine Kehle. So stand er nur stumm mit vom Schmerz verzerrten Gesicht inmitten des Chaos und starrte auf das blutige Bündel, das zehn Meter von ihm entfernt in der Wiese lag.

Erster Teil

DER WOLF

1

Endlich bahnte sich der Schrei seinen Weg aus Josephs Kehle.

Er fuhr aus seinem Bett hoch und wusste, wie beinahe jeden Morgen im ersten Moment nicht, wo er war. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das schmutzige Fensterglas in seine Kammer. Joseph sah sich suchend um, spürte seinen eigenen kalten Schweiß auf den Laken und wusste augenblicklich, dass er dabei war, erneut in das Loch zu fallen. Die letzten Wochen, sogar die letzten Monate waren gut gewesen. Doch rückblickend musste er zugeben, dass er es kommen gesehen hatte und es sich nur nicht hatte eingestehen wollen.

Das Knallen der Tür zu seiner Kammer holte Joseph ins Hier und Jetzt zurück. Das Holz war verzogen und müsste dringend abgeschliffen werden. Und der Riegel des Schlosses hing schief in der Zarge, sodass sich die Tür nicht öffnen oder schließen ließ, ohne ein Krachen zu erzeugen, das durch das gesamte Haus hallte.

Seine Tochter Mitzi polterte in die Kammer. Ihre Augen waren geweitet, sie sah gehetzt aus, ihr Atem ging stoßweise. Ihr bebender Brustkorb und ihre schmutzige Schürze ließen Joseph vermuten, dass sie seinen Schrei im Hof gehört haben und sofort losgerannt sein musste.

»Papa?«, stieß sie hervor, während sie sich hektisch in dem kleinen Raum umsah. Joseph hatte sich inzwischen wieder weit genug unter Kontrolle, um ein unschuldiges Lächeln aufzusetzen, das, wie er hoffte, die Sorge seiner Tochter verfliegen lassen würde.

»Mitzi?«, erwiderte er, als wüsste er nicht, weshalb sie gekommen war.

Mitzi kniff verärgert die Augen zusammen, sie hatte das schweißnasse Laken und das verknüllte Kissen entdeckt und wusste genau, was die Ursache für den unterdrückten Schrei ihres Vaters gewesen war.

Joseph sah seine Tochter einen Moment lang an. Wann war aus seinem kleinen Mädchen eine Frau geworden? Mitzi war erst im Frühjahr zwanzig Jahre alt geworden, wirkte jedoch wesentlich reifer. Natürlich wusste er, woran das lag. Sie hatte viel schneller erwachsen werden müssen als andere Kinder, vor allem seit sie beide allein waren. Joseph war schmerzlich bewusst, dass er ihr nicht immer der Vater gewesen war, der er sein wollte. Und wenn das Dunkel ihn einholte, war er ihr wirklich keine Hilfe. In diesen Momenten wusste Joseph oft nicht genau, wer sich eigentlich um wen kümmerte.

Doch weder ihr Schicksal noch die harte Arbeit oder die kargen Nachkriegsjahre hatten es geschafft, Mitzi ihr Strahlen zu nehmen. Im Gegenteil wurde sie mit jedem Jahr schöner. Die großen blauen Augen, die leicht gewellten blonden Haare, Joseph wurde zum ersten Mal wirklich bewusst, wie ähnlich seine Tochter ihrer Mutter sah.

»Du schaust aus wie dei Mama«, sagte er mehr zu sich selbst als wirklich zu Mitzi. Sie verdrehte daraufhin genervt die Augen und schüttelte den Kopf.

»Überhaupt ned! Du schaust auf jedn Fall aus, als solltst di mal waschn. Du wolltst no zum Kramer heid«, fügte sie mit einem kritischen Blick auf sein zerschlissenes Unterhemd und seine fleckigen Wollhosen hinzu. Dann wandte sie sich zur Tür. Sie war schon fast hinaus, als sie sich noch einmal grinsend umdrehte.

»Ah ja: Guadmoang!«

2

Nachdem er sich gewaschen, rasiert und ordentlich angezogen hatte, fühlte sich Joseph tatsächlich erheblich besser. Aus Erfahrung wusste er, dass er das Dunkel damit nicht aufhalten würde, für den Moment aber war er ganz er selbst.

Obwohl die Sonne bereits etwas höher am Himmel stand, lag der Geruch des Morgens noch in der Luft und Joseph genoss ihn auf seinem Weg ins Dorf mit jedem Atemzug. Von seinem Haus brauchte er zu Fuß etwa eine Viertelstunde bis zum Dorfplatz, wo sich das Wirtshaus mit dem Kramerladen befand.

Das Haus von Josephs Familie lag auf einer kleinen Anhöhe am Waldrand. Es zeugte noch immer vom einstigen Wohlstand der Familie, auch wenn es in den letzten Jahren ein wenig von seinem Glanz eingebüßt hatte. Sein Großvater hatte es bewusst in dieser Lage erbaut. Nah genug am Dorf, um dazuzugehören, aber weit genug entfernt, um seine Ruhe zu haben, wie er bei jeder Gelegenheit betont hatte. Während dieser Plan für seinen Großvater noch gut aufgegangen war, ergab sich bereits zu Lebzeiten seines Vaters, aufgrund der abgelegenen Position des Hofes auch eine persönliche Distanz zu den anderen Dorfbewohnern. War der Großvater als hart arbeitender Bauer und zeitweise sogar Bürgermeister des Dorfes noch ein geachteter Mann gewesen, neidete man seinem Sohn das geerbte Vermögen. Und Joseph war spätestens nach allem, was nach dem Tod seines Bruders geschah, schon lange kein Teil des Dorfes mehr.

Eine Zeit lang hatte ihn dieser Umstand beschäftigt, ihn sogar verletzt. Immerhin war er in diesem Dorf geboren, seine Familie lebte seit fünf Generationen an diesem Ort, hatte den Aufstieg von einem losen Zusammenschluss einiger Höfe zu einer florierenden Marktgemeinde, deren Einwohnerzahl mittlerweile vierstellig war, beobachtet und begleitet. Und er selbst, genau wie sein Vater und Großvater, hatte ihren Wohlstand stets zum Wohle der Gemeinschaft eingesetzt. Doch Joseph war bewusst, dass seinen Ruf nicht allein die Lage seines Wohnhauses zu verantworten hatte. Er war einfach zu lange fort gewesen.

Während Joseph seinen Erinnerungen nachhing, hatten seine Füße ihn ins Dorf getragen. Und wieder einmal waren es nicht seine Augen, sondern seine Nase, die ihm verriet, dass er beinahe angekommen war. Sosehr er die Gerüche des Waldes liebte, so sehr hasste er die des Dorfes. Er war noch nicht an den ersten Häusern angelangt, dennoch drängten sie bereits auf ihn ein. Am prägnantesten roch er den säuerlichen, im Sommer manchmal auch leicht fauligen Geruch, der die Metzgerei umgab, und wusste, noch bevor er aufblickte, welche Szene ihm sich bieten würde.

Als er nun zur Metzgerei aufsah fand er seine Vermutung bestätigt. Der Metzger machte einem Mädchen Avancen, dem dies nicht nur sichtlich unangenehm war, sondern das auch höchstens halb so alt war wie er. In der Hand hielt sie ein Päckchen aus Wachspapier. Sie hatte also offenbar Fleisch gekauft und kam jetzt nicht mehr los. Sie lächelte den Metzger zwar tapfer an, aber Joseph erkannte an der Art, wie ihre Finger sich in das verpackte Stück Fleisch gruben, ihre wahren Gefühle. Als das Mädchen ihn aus dem Augenwinkel wahrnahm, drehte sie den Kopf ein wenig zur Seite und ihre Augen trafen sich. Ihr Lächeln schien für einen Moment ein wenig entspannter. Joseph glaubte in dem Mädchen die Wirtstochter zu erkennen, sicher war er sich jedoch nicht. Er erwiderte ihr Lächeln kurz, dann wandte er den Blick ab und setzte seinen Weg fort.

3

Konrad wischte sich den Schweiß von der Stirn und betrachtete sein Werk. Er wusste nicht, wie es im Winter aussehen würde, aber zumindest für die nächsten warmen Monate waren die Fenster wohl zu gebrauchen. Zumindest hoffte er das, immerhin war er kein Handwerker. Aber so war das offenbar auf den Dörfern. Hier war man nicht nur Lehrer, sondern gleichzeitig auch noch Hausmeister, Gärtner und Köchin.

Er war einmal mehr froh, dass er mit beiden Beinen im Leben stand und wusste, wo er anpacken musste. Er war kein Jungspund mehr, und auch wenn er im Nachhinein vielleicht einige Entscheidungen anders getroffen hätte, bereute er doch keine davon. Direkt nach der Universität hatte er noch nicht gewusst, was er wollte, er musste seinen Weg zuerst finden. Dass seine darauffolgende Suche ein wenig länger gedauert hatte als geplant und letztlich dazu geführt hatte, dass ihm diese wenig begehrte Stelle im Ödland zugeteilt wurde, konnte er nicht mehr ändern. In den Jahren nach seinem Abschluss hatte er mehr vom Leben gelernt als in seiner gesamten Schulzeit. Seine Persönlichkeit hatte sich weiterentwickelt und gefestigt. Konrad bildete sich ein, dass ihn das zu einem besseren Lehrer machte, als er es mit fünfundzwanzig hätte sein können.

Er ließ seinen Blick kritisch über das marode Schulhaus streifen. Das Gebäude war in einem desaströsen Zustand und Konrads Sorge darüber, dass er in dem Haus nicht nur wohnte, sondern auch täglich eine Horde Kinder darin unterrichtete, war größer, als er zugeben wollte. Er hatte das Problem mehrfach im Gemeinderat angesprochen, doch zuletzt war ihm recht unmissverständlich klargemacht worden, dass er als Schullehrer zwar satzungsgemäßes Mitglied des Rates sei, ansonsten aber das Maul zu halten habe. Die Prioritäten der Dorfältesten lagen offensichtlich nicht auf der Allgemeinbildung ihres Nachwuchses.

Als Konrad auf dem Weg hinter sich den Kies knirschen hörte, drehte er sich um. Er erblickte Joseph Köhler, der ihn wie es schien seinerseits noch nicht entdeckt hatte. Da Konrad mit seinen knappen zwei Metern Körpergröße und dem dichten Vollbart eigentlich schwer zu übersehen war, musste es damit zu tun haben, dass Joseph einen kleinen Strauß Blumen in der Hand hielt und gerade eine weitere vom Wegesrand pflückte.

»Do schau her, da Einsiedler!«, rief Konrad mit seiner tiefen Stimme, was Joseph kurz zusammenzucken ließ. Dann aber begann er zu grinsen, bevor er zu dem Lehrer aufblickte. Konrad lächelte ebenfalls und stichelte weiter. »Wos na? I sogs da wenigstns ins Gsicht.«

Joseph ging auf Konrad zu, woraufhin der ihm freundschaftlich auf die Schulter klopfte.

»Konrad, griasdi. Mit de Tafeln hod ois basst?«

Konrad nickte kräftig und sah Joseph dankend an, was dieser mit einem freundschaftlichen Zwinkern quittierte.

Ohne die Hilfe von Joseph Köhler hätte Konrad seinen Unterricht mittlerweile im Freien abhalten können, das war ihm mehr als bewusst. Was der Bürgermeister an Unterstützung vermissen ließ, glich Joseph aus, ohne darüber große Worte zu verlieren. So hatte das kleine Klassenzimmer nicht nur zwei nagelneue Tafeln bekommen, auch die Reparatur des Dachstuhls im letzten Herbst wäre ohne ihn nicht möglich gewesen.

War Konrad anfangs noch misstrauisch wegen der offenbar gänzlich uneigennützigen Unterstützung gewesen, war die Beziehung zwischen den beiden Männern im Laufe des letzten Jahres immer vertrauter geworden. Ob sie wirklich Freunde waren, wusste Konrad nicht, zumindest war der Köhler ihm aber lieber als so manch anderer Bewohner des Dorfes.

Das mochte auch daran liegen, dass sie beide nicht wirklich zur Gemeinschaft gehörten. Konrad war kein Mann vieler Worte. Da er als Lehrer wie auch der Pfarrer und der Jäger zum Inventar des Dorfes gehörte und schon nach kurzer Zeit nicht mehr als echtes Individuum wahrgenommen wurde, bekam er umso mehr mit.

Er wusste nicht, wie es dazu gekommen war, dass Joseph von den anderen Bürgern gemieden wurde, und es war ihm auch egal. Auf Gerüchte gab er nichts und wenn Joseph es ihm nicht erzählte, ging es ihn offenbar auch nichts an. Trotzdem war sein Ruf im Dorf allgegenwärtig und sorgte für allerlei Gesprächsstoff. Das Wort »Einsiedler«, das Konrad ihm gegenüber im Spaß selbst gern benutzte, zählte eindeutig zu den nettesten Vokabeln, mit denen Joseph dabei bedacht wurde.

»Ah, host de Fenster fertig?«, riss Joseph ihn aus seinen Gedanken. »Guad schauns aus.«

»De Fenster san oba scho des Oanzige, wos an dem Kastn guad ausschaut«, erwiderte Konrad grimmig. »I sogs da, des Schulhaus is in am Zuastand … Du wennst ned dauernd helfa dadst, kannt i den Scheißdreck eh bleim lassn.«

Joseph lachte amüsiert auf. »Redst du mit deine Kinder aa a so?«

»I? Du woaßt scho, wia de Fratzn mitnand redn, oder? Do falln unseroans de Ohrwaschln ab. Und i bin wirklich ned in da Kirch großworn.« Konrad schüttelte nachdenklich den Kopf, mehr amüsiert als verärgert. Dann fiel sein Blick wieder auf den Blumenstrauß in Josephs Hand. »San de für mi?«

Joseph sah auf die Blumen in seiner Hand, als würde er den Strauß gerade erst bemerken. Etwas veränderte sich in seinem Gesichtsausdruck. Es war nur eine Nuance, doch Konrad fiel es überdeutlich auf. Es ließ ihn seine blöde Frage augenblicklich bereuen.

Joseph sah ihn an, sein Lächeln war etwas müder und seine Augen etwas trauriger geworden.

»Na, für mei Frau.«

»Is eh gscheider«, sagte Konrad gespielt gleichgültig. »Sogst ihr an schena Gruaß unbekannterweis.«

»Ollaweil.« Joseph nickte ihm zu und setzte seinen Weg fort. Konrad verabschiedete ihn mit einem Handzeichen und versuchte zu wirken, als betrachte er wieder seine Arbeit am Schulhaus.

4

Der Grabstein war schlicht, ein einfacher Reihenstein aus Granit, in den lediglich ein Kreuz, zwei Namen und vier Jahreszahlen graviert waren.

Joseph hatte mit Prunk nie viel anfangen können, vor allem aber wollte er vermeiden, durch einen auffälligen Stein den Blick zufällig Vorbeigehender auf das Grab zu lenken. Dieser Ort gehörte ihm, und Fremde könnten nie den Schmerz nachvollziehen, den es bedeutete, so kurz nacheinander zwei Namen in die kalte Oberfläche schlagen lassen zu müssen.

Er hatte nie verstanden, was Menschen auf Friedhöfen empfanden. Der Platz, an dem der Körper eines Verstorbenen vergraben war, hatte für ihn keine Bedeutung. Er war kein gläubiger Mann und wusste nicht, ob es so etwas wie eine unsterbliche Seele gab. Aber falls doch, würde sie sich bestimmt nicht auf einem Friedhof aufhalten. Für ihn war der Ort der Trauer dort, wo die Verstorbenen gelebt hatten. Doch er hatte lernen müssen, wie schnell ihr Geruch aus dem Haus verschwand. Leni hatte nach Blumen geduftet. Nicht aufdringlich, wie der Geruch von Rosen, eher wie der kaum wahrnehmbare Duft von Frühlingsblumen nach dem Regen. Auch als sie fort war, hing ihr Geruch noch für ein paar Wochen im Haus.

Er wusste nicht, ob Mitzi es auch hatte riechen können, sie hatten nie darüber geredet. Aber je mehr Zeit verging, desto schwächer wurde der Duft, bis irgendwann selbst die Erinnerung daran verblasst war. Und genau wie diese verblassten auch alle anderen Erinnerungen an Leni und Lenze, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte.

Erst als ihm auffiel, dass er sich nicht mehr an die Stimme seines Sohnes erinnern konnte, begann er, das Grab regelmäßig zu besuchen. Zwar fand er auch dort weder eine besondere Verbindung noch wirklichen Trost, aber er wusste auch nicht, wo er mit seiner Trauer sonst hinsollte. So konnte er sie zumindest für einige Stunden von seiner Tochter fernhalten.

Joseph legte den Blumenstrauß vor den Grabstein und erhob sich.

5

Lugg fluchte innerlich, diese verdammte Liste machte ihn verrückt. Organisatorisches war nie seine große Stärke gewesen, und so sehr er es liebte, Wirt zu sein, so sehr hasste er das Drumherum.

Es war ja auch nicht so, als wären sie darauf vorbereitet worden. Mini und er hatten früh geheiratet, und da Lugg sein erlernter Beruf als Hufschmied ohnehin nicht sonderlich zugesagt hatte, hatten sie beide im Wirtshaus ihrer Eltern mitgearbeitet. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Mini den Anspruch gehabt, aus dem Wirtshaus mehr zu machen als die einfache Trinkstube, die sie war. Von da an war die Aufgabenteilung klar gewesen. Lugg stand am Ausschank, Mini arbeitete in der Küche und kümmerte sich um die Gäste. Ein Jahr später hatten sie Vroni bekommen. Sie war quasi in der Wirtsstube aufgewachsen, war als Kleinkind zwischen den Gästen herumgekrabbelt und hatte später ihren Eltern geholfen. In letzter Zeit hatte Vronis Engagement deutlich nachgelassen, aber im Gegensatz zu seiner Frau konnte Lugg das gut verstehen. Seine Tochter war zwanzig Jahre alt, würde nächstes Jahr ihr Abitur machen und war längst vom Mädchen zur Frau geworden. Sie hatte anderes im Kopf als das Geschäft ihrer Eltern.

Doch gerade jetzt hätte Lugg die Hilfe seiner Tochter gut gebrauchen können. Er war beileibe nicht dumm, hatte lesen und schreiben gelernt und rechnete die Bierdeckel seiner Gäste ohne Probleme im Kopf aus. Doch seine Eltern waren nicht in der Lage gewesen, ihm die hohe Schulbildung angedeihen zu lassen, die Minis Eltern dank des gut laufenden Wirtshauses ihrer Tochter bieten konnten.

Natürlich würden die paar Pfennige, die die örtlichen Trinker hierließen, nicht reichen. Und auch die seltenen Gelegenheiten, an denen Hochzeiten oder Beerdigungen die Stube füllten und Mini sogar zwangen, eine der Frauen als Küchenhilfe anzustellen, waren nicht genug, um reich zu werden. Mini hatte den Pachtvertrag geerbt, doch das Wirtshaus gehörte Steiner, so wie das halbe Dorf.

Doch auch hier hatten Minis Ambitionen sie einmal mehr einen Schritt weitergebracht. Nachdem die alte Hotter gestorben war und damit der Kramerladen ohne Besitzer war, hatten sie das Geschäft kurzerhand in ihr Wirtshaus integriert. Platz war hinter dem Ausschank genug und die Tatsache, dass das Wirtshaus mitten im Dorf lag, sorgte für einen stetigen Strom an Kundschaft.

Da das Regal mit den Kurzwaren, den Konserven, den Waschpulvern, Seifen, den Bonbons, Nägeln und Mausefallen hinter seinem Tresen stand, fiel es auch in Luggs Aufgabengebiet. Der Verkauf der Waren störte Lugg nicht im Geringsten, bald kannte er seine Kundschaft und wusste in der Regel, was sie wollten, noch bevor sie es ihm sagten.

Doch einmal im Monat musste das Regal wieder aufgefüllt werden, und dazu musste er diese elendige Liste schreiben. Da es im Dorf kein Telefon gab, nicht einmal das Rathaus war angeschlossen, musste er die Liste entweder mit der Post verschicken oder gleich selbst nach München fahren, um das Benötigte zu kaufen. Das kostete ihn jedes Mal einen halben Tag und eine Menge Nerven.

Joseph überlegte, ob er noch etwas vergessen hatte, und sah sich dabei in der Gaststube um. Obwohl es gerade erst zehn Uhr morgens war, saßen die üblichen Verdächtigen schon an ihren Plätzen. Unter dem Deckmantel des Frühschoppens hockten sie fast jeden Tag an den Tischen, hielten sich an einer längst warm und schal gewordenen Halben Bier fest, bis ihre Frauen sie irgendwann nach Hause zerrten. So sie denn welche hatten. Im letzten Eck saß der Jäger, dessen Blick trotz der frühen Stunde schon recht glasig war. Lugg wusste, dass Edi den Effekt seines Bieres jedes Mal, wenn Lugg sich umdrehte, durch einen Schluck aus dem Flachmann in seiner Brusttasche ergänzte. Anfangs hatte er ihm regelmäßig mitgeteilt, dass er, wenn er in seinem Wirtshaus Schnaps trinken wolle, ihn gefälligst auch dort zu kaufen habe, doch das hatte er mittlerweile aufgegeben. Edi tat ihm leid, und er wusste, dass er sich von seinem mageren Einkommen kaum das Bier leisten konnte.

Edi und er waren ungefähr im gleichen Alter, der Jäger würde aber auch problemlos als zwanzig Jahre älter durchgehen. Die Tage und Nächte im Wald und nicht zuletzt der Alkohol hatten ihre Spuren hinterlassen. Auch mit Edis Körperpflege war es nicht weit her. Lugg musste ihm zugutehalten, dass er selten stank, doch das war es dann auch schon. Er lebte allein und kinderlos in der Jagdhütte am Waldrand und trug eigentlich jeden Tag seine Jagdkluft.

Als ein Knarren ertönte, sah Lugg zur Eingangstür. Noch bevor der Besucher in die Gaststube trat, ahnte Lugg aufgrund des Geräuschs, das dessen Schuhe auf dem Schuhabstreifer erzeugten, wer hereinkommen würde. Seine übliche Klientel würde nicht im Traum auf die Idee kommen, sich den Dreck von den Stiefeln zu kratzen, bevor sie hereinkamen. Bei manchen von ihnen war Lugg froh, dass sie zumindest zum Urinieren von ihren Stühlen aufstanden.

Auch die Zecher sahen interessiert zur Tür, senkten die Blicke jedoch schnell wieder auf ihre Gläser, als Joseph Köhler den Raum betrat. Lugg musste sich ein Grinsen verkneifen. Der Einsiedler war ein beliebtes Thema in der Wirtsstube, auf ein Gespräch mit ihm wollte sich aber offenbar keiner einlassen.

Im Gegensatz zu den meisten im Dorf mochte Lugg den Köhler. Er gab nichts auf Gerüchte und mit Hölle und Teufel konnte er erst recht nichts anfangen. Außerdem glaubte er zu verstehen, wo das Misstrauen der Dorfbewohner in Wahrheit herrührte. Er konnte an seiner Vroni sehen, wie empfindlich einige von ihnen auf überdurchschnittliche Bildung reagierten. Während ihre Freundinnen alle bereits ihre Haberer hatten, teils verheiratet und schon schwanger waren, war Vroni noch allein. Auf dem Dorf wurde eben gearbeitet und nicht studiert, und wozu gerade eine Frau einen Abschluss brauchte, verstanden die wenigsten. Selbst Mini war lange dieser Meinung gewesen, und vermutlich war sie es noch immer. Doch so bestimmend seine Frau oft war, hier hatte sie ihn gewähren lassen. Vroni hatte mit vier Jahren lesen und schreiben können, mit sieben hatte sie die Bierdeckel schneller zusammengerechnet als ihre Eltern. Sobald sie herausgefunden hatte, was ein Gymnasium war und dass es so etwas in der nächsten Stadt gab, hatte sie angefangen, zu betteln.

Lugg musste bei der Erinnerung daran lächeln, und sein Lächeln wurde noch breiter, als er bemerkte, dass Joseph, der mittlerweile vor ihm stand, es erwiderte.

»Morgen«, sagte dieser freundlich, was Lugg mit einem Nicken quittierte. Als sein Gegenüber ihn daraufhin nur erwartungsvoll ansah, war Lugg für einen Augenblick verwirrt, bis er sich erinnerte, weswegen der Köhler in den meisten Fällen zu ihm kam. Er drehte sich zum Regal um und ließ seinen Blick darüber schweifen. Auf dem untersten Boden entdeckte er schließlich, was er suchte. Er ging in die Knie, griff ins Regal, beförderte einen Beutel aus grobem Leinen hervor, erhob sich wieder und warf ihn auf den Tresen. Die Kaffeebohnen im Beutel gaben dabei ein befriedigendes Klackern von sich. Lugg glaubte sogar, kurz den Duft der gerösteten Bohnen wahrnehmen zu können, gleichzeitig war ihm bewusst, dass dies in der verrauchten und nach abgestandenem Bier stinkenden Gaststube nur Einbildung sein konnte.

Er schob den Beutel ein Stück zu Joseph herüber, der bereits einige Münzen aus seiner Hosentasche geholt hatte. Er legte ein paar davon neben den Beutel. Lugg warf einen Blick darauf und strich sie sich mit einem zufriedenen Nicken in die Hand. Während er die Münzen in die kleine Holzkiste, die ihm als Kasse diente, fallen ließ, sagte er:

»Dir is scho klar, dass dei Kaffee a Fünftel kostn dad, wennst ned immer bloß a Pfund nehmerdst, oder?« Joseph, der sich bereits halb zum Gehen abgewandt hatte, blickte sich mit einem angedeuteten Lächeln noch einmal um.

»Und wenn mi dann morgn da Schlog trifft? Dann steht da Kaffee bei mir umanand. D Mitzi trinkt nan ned.« Daraufhin hob er vielsagend die Augenbrauen, drehte sich endgültig um und ging zur Tür.

Im selben Moment wurde diese von außen aufgezogen. Lugg beobachtete, wie Joseph zwei Schritte zurückwich und für Vroni Platz machte, die mit etwas gehetztem Gesichtsausdruck und einem Packen Fleisch vom Metzger in der Hand ins Wirtshaus kam. Sie schenkte Joseph ein kurzes Lächeln, dann eilte sie an ihrem Vater vorbei in die Küche und ignorierte dabei gekonnt die lüsternen Blicke der Trinkenden, die Lugg nicht entgingen.

Nur Edi schien sich für Vroni nicht zu interessieren, sein Blick war noch immer auf die Tür gerichtet, durch die der Köhler inzwischen verschwunden war.

»Und wenn mi dann morgn da Schlog trifft? D Mitzi trinkt nan ned«, äffte er dessen letzten Satz mit viel zu hoher Stimme nach.

Normalerweise kümmerte Lugg sich nicht um das Gerede der Zecher, besonders nicht um das des Jägers. Ob es die verdammte Liste war oder die lüsternen Blicke auf seine Tochter, die ihn so reizbar gemacht hatten, wusste er nicht, doch Edi hatte das Fass mit seinen Worten zum Überlaufen gebracht.

»Host du a Problem zufällig?«, bellte er ihm entgegen. Auch Edi war sichtlich überrascht von der Reaktion des Wirtes.

»I?«, fragte er.

»Na, dei Großvatter! Fralle du!«

»Mir is da Köhler einfach ned geheuer«, verteidigte der Jäger sich. Als er sah, dass Lugg daraufhin bloß die Augenbrauen hob, wandte er sich Zustimmung suchend den übrigen Anwesenden zu. »I moan, der wohnt da obm am Woid, aloans mit seiner Tochter, koa Frau, koa …«

»Do konn ja aber er aa nix dafür, dass eam d Frau gstorm is«, unterbrach ihn Gustl, der am Nebentisch tief über sein Glas gebeugt saß. Es war nur der frühen Stunde zuzuschreiben, dass dieser sich überhaupt noch so differenziert an dem Gespräch beteiligen konnte, was Edi aber nicht davon abhielt, sich ihm sofort in verschwörerischem Ton zuzuwenden.

»Sicher? So wos passiert schnell, wennst di mitm Deife eilasst. Und de Mitzi …«

»Wos is mit da Mitzi?«, unterbrach Gustl ihn erneut. Bei der Erwähnung von Josephs Tochter war das Interesse des Zechers endgültig geweckt. Dieser Zuspruch ließ Edi regelrecht aufblühen.

»A so a scheens Madl, der laufa de Burschn im Dorf doch noch wia d Katzn da Maus. Und sie hockt bei ihrm Vatter.«

»Wos solls na macha?«, gab Gustl zu bedenken, »an Köhler alloans lassn? Sie führt eam hoid an Haushalt.«

Der Jäger lehnte sich mit selbstgefälligem Grinsen auf seinem Stuhl zurück.

»Ja, obs eam ned no wos ganz anders führt, frog i mi.«

Als Lugg mit seiner mächtigen Faust auf den Tresen schlug, was die dort zum Spülen aufgereihten Gläser erzittern ließ, blickten alle Anwesenden in seine Richtung. Er ließ die Stille nach dem Knall für einige Sekunden wirken, blickte dem Jäger ohne eine erkennbare Gefühlsregung in die Augen und sprach mit fester Stimme.

»So Edi, etz moane langts.«

Edi schluckte schwer, doch sein Stolz und die Wirkung des Alkohols befahlen ihm dennoch eine Antwort.

»Wosn? I sog bloß, wos d Leid redn.«

»I hear do bloß di redn«, antwortete Lugg ruhig, auch wenn sein Ärger in seiner Stimme langsam hörbar wurde, »und bei dir waars gscheider, du lasserds bleim. I hob mitm Köhler koa Problem, des is a feiner Kerl, und er zahlt sei Zech ohne Aufstand.« Mit einem Blick in die Runde fügte er hinzu »Wos i ned vo jedm do herin sogn konn.«

Von Luggs letztem Satz fühlte sich wohl jeder der Anwesenden angesprochen, denn schlagartig endete die Diskussion und alle wandten sich wieder ihren Gläsern zu. Nur Edi legte Wert darauf, das letzte Wort zu haben. Da er aber auch keine Lust verspürte, das Wirtshaus vor der Zeit zu verlassen, sagte er dieses letzte Wort so leise, dass nur er selbst es hören konnte.

»Der is midm Deife im Bund, wenn i’s doch sog.«

Daraufhin bekreuzigte Edi sich schnell und spuckte über die Schulter aus. Kaum hatte er das getan, zuckte der Jäger zusammen, als die Faust des Wirtes erneut auf den Tresen donnerte. Mit seiner Ruhe war es nun endgültig vorbei. Mit hochrotem Kopf brüllte er Edi an.

»Und wennst ma numoi auf mein Fuassbodn rotzt, dann konnst du heid aufd Nocht aussewischn, du Gloife, du staubiger!«

6

»Kommt er auch?«, fragte Hias mit kritischem Blick auf Joseph Köhler, der mit einem Kaffeesäckchen in der Hand die Dorfstraße entlangschlich. Matthias Lechner, der Dorfpfarrer, war des bairischen Dialektes zwar durchaus mächtig, hatte sich aber vor Jahren dazu entschlossen, zugunsten eines – wie er fand – ehrwürdigeren Auftretens ausschließlich Hochdeutsch zu sprechen. Es war ihm sehr daran gelegen, dass seinen Schäfchen bewusst war, dass er über ihnen stand. Und dieser Köhler war ihm schon immer ein Dorn im Auge.

Bernhard – Hartl – Aichinger, der Bürgermeister und damit nach ihm offiziell zweiter Mann in der Gemeinde, folgte seinem Blick.

»Da Einsiedler? Um Gotts willn.«

Hias war beruhigt. »Das hätte mich auch gewundert. Es wäre das erste Mal, dass ich den in der Kirche sehen würde.«

»Mei, versteh konnst as ja fast scho …«, murmelte Hartl nachdenklich, was ihm einen scharfen Blick des Pfarrers einbrachte. Die beiden waren alte Freunde, aber wenn es um den Herrgott und um seinen Gottesdienst ging, verstand Hias keinen Spaß. Hartl schien bemüht, das Thema zu wechseln, und fasste das Ergebnis ihres bisherigen Gesprächs noch einmal zusammen.

»Also um Neune Kirch, danoch dann Frühschoppen beim Wirt, du bist natürlich herzlich eiglodn. Ois andere dann im Kreise der Familie, i wui ned, dass des so a große Sach werd.«

Hias konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

»Der Bub vom Bürgermeister heiratet die Brenner Fanny. Ich fürchte, da wirst du um eine große Sache nicht herumkommen.«

»Plärrs halt glei übern Dorfplatz, bitte!«, fauchte Hartl ihn an. »Des braucht etz no koana wissen. San eh no a paar Dog hi.«

Hias grinste Hartl an. Durch das Wissen um die Hochzeit seines Sohnes war er ihm aktuell überlegen, ein Gefühl, das er sehr genoss. Ein Geheimnis zu kennen, mit dem er den mächtigen Hartl in der Hand hatte, war eine seltene Freude, auch wenn sie nur von kurzer Dauer war. So konnte der Pfarrer sich nicht verkneifen, ihn noch etwas mehr zu reizen.

»Was hast du denn? Ist doch keine schlechte Partie? Und den alten Brenner in der Familie zu haben … Wer weiß, für was es noch gut ist.« Dann setzte er seine Gottesdienstmiene auf und deklamierte »Wo die Liebe hinfällt, da bleibt sie liegen, und wär’ es ein Misthaufen.«

7

Joseph betrat sein Haus und ließ das Lächeln, welches er bis hierher getragen hatte, fallen wie einen schweren Mantel. Dieser einfache Fußmarsch, diese knappe Stunde außerhalb seiner vertrauten vier Wände hatten ihn so viel Kraft gekostet, dass er nur noch zurück in sein Bett wollte. Er wusste, dass seine Erschöpfung keine körperlichen Ursachen hatte. Er war ein gesunder Mann. Trotzdem konnte er nichts dagegen tun. Sein Kopf dröhnte, er hörte sein Blut in seinen Ohren pumpen, selbst das wenige Licht, das durch die schmutzigen Scheiben drang, blendete ihn schmerzhaft. Von einem Moment auf den anderen erfasste eine Müdigkeit seinen Körper, durch die er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte.

Joseph schleppte sich in die Stube. Mitzi kniete vor dem Herd und war gerade dabei, Holzscheite hineinzustapeln. Ihr Haar war etwas durcheinander und ihr Kleid war staubig, neben ihr stand der Weidenkorb, mit dem sie das Holz vom Schuppen holten. Als sie ihren Vater bemerkte, drehte sie sich um. Sie wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht und hinterließ dabei einen Streifen Ruß über ihrer linken Augenbraue. Beim Anblick dieses kleinen Makels breitete sich in Josephs Innerem eine wohlige Wärme aus, die allerdings sofort wieder verschwand, als er den kalten Blick seiner Tochter sah.

Zuerst verstand er nicht, was sie so verärgerte. Dann folgte er ihrem Blick. Er ruhte auf seiner rechten Hand, und auf dem Kaffeebeutel, den er noch immer damit hielt. Als wüsste Mitzi, dass er jetzt sah, was sie sah, begann sie leise zu sprechen.

»Wos is des?«

Joseph, der noch immer nicht verstand, wo das Problem lag, zuckte mit den Schultern. »Kaffee?«

Jetzt endlich löste seine Tochter ihren Blick von dem Kaffeesäckchen und sah ihm direkt in die Augen. In ihrem Gesicht lag eine Mischung aus Wut, Traurigkeit und verzweifelter Belustigung.

»Kaffee?«, wiederholte sie ungläubig. »Papa, du wolltst Nägel holn vom Kramer!«

Jetzt fiel Joseph alles wieder ein. Die Nägel. Das kaputte Dach, das Gespräch mit Mitzi darüber. Wie sie sagte, sie müsse Nägel vom Kramer holen, und wie er erwiderte, er müsse sowieso ins Dorf. Ihr dankbares Lächeln, das im drastischen Gegensatz stand zu dem, was er jetzt in ihrem Gesicht las. Er wusste, was jetzt zu tun gewesen wäre. Eine flapsige Bemerkung über die eigene Dummheit, dass man in den Füßen habe, was man nicht im Kopf hatte, und dann der Weg zurück zum Kramer.

Aber er konnte es nicht. Sosehr er es wollte, er war nicht fähig, seinem Körper zu befehlen, sich umzudrehen und das Haus zu verlassen. Resigniert stellte er den Kaffee auf dem Esstisch ab und sah seine Tochter traurig an.

»Mitzi, i konn nimmer.«

Mitzi sprang auf, wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und fuhr ihn an.

»Du konnst nimmer? Aber für dein gschissan Kaffee hods no glangt, ja? Papa, mir braucha de Nägel! Es regnt durchs Doch, und wenn da Sommer rum is, dann brauch mas nimmer macha!«

Joseph hatte nicht mehr die Energie, die Tirade seiner Tochter über sich ergehen zu lassen. Er wusste, dass sie recht hatte, und sie wusste es ebenfalls. Diskussionen waren also unnötig und eine Entschuldigung würde sie noch mehr in Rage bringen. Deshalb ging er, seine letzten Kräfte mobilisierend, in seine Kammer und schloss die Tür, während Mitzi aus der Stube hinter ihm herbrüllte.

»Und etz? Etz derf i nommal zum Kramer? Wos soll i na no ois macha? Ich mach doch eh scho ois!«

Joseph lag wie betäubt auf seinem Bett, er war nicht einmal fähig gewesen, seine Schuhe auszuziehen. Obwohl er die letzten Sätze seiner Tochter nicht mehr bewusst mitbekommen hatte, so hatte sich einer von ihnen doch tief in sein Gehirn gebrannt.

I mach doch eh scho ois.

Nicht nur Mitzi war durch sein Verhalten regelmäßig gezwungen, diesen Satz zu sagen. Auch ihre Mutter hatte ihn oft zu ihm gesagt. Nachdem Lenze fort war, hatte ihn die Dunkelheit zum ersten Mal in die Knie gezwungen. Damals hatte sie ihn komplett unvorbereitet getroffen, ihn von einem glücklichen Ehemann und Vater in ein Wrack verwandelt. Er hatte nicht verstanden, wie Leni einfach weitermachen konnte, konnte nicht verstehen, warum sie von dem Haus sprach, von den Feldern und vom Vieh. All das hatte keine Bedeutung für ihn. Sein Sohn war tot, und er allein trug die Schuld daran. Die Dunkelheit lag dumpf auf ihm, und nichts konnte sie durchdringen. Keine Worte, keine Geräusche. Sogar die Gerüche waren verschwunden.

Leni versuchte lange, ihn zu erreichen. Sie sprach zu ihm, obwohl er sie nicht hören konnte. Sie berührte ihn, obwohl ihre Finger auf seiner Haut wie Feuer brannten. Sie sagte, dass sie ihn liebte, obwohl er wusste, dass sie das nicht tat. Nicht mehr tun durfte. Manchmal hatte er versucht, die Dunkelheit zu bezwingen. Hatte gebrüllt, um den Lärm in seinem Kopf zu übertönen. Hatte seine Frau und seine Tochter angebrüllt, hatte sie noch mehr verletzt.

Leni hatte geweint. Hatte ihm erklärt, dass die kleine Mitzi nicht verstehen konnte, warum er sie nicht mehr ansehen konnte, warum er nicht mehr mit ihr sprach. Sie hatte ihm gesagt, dass er schon seinen Sohn verloren habe, er solle nicht auch noch seine Tochter verlieren.

Das war nicht passiert. Mitzi war noch immer bei ihm.

Leni war fort.

8

An der frischen Luft entfaltete der Alkohol erst seine ganze Wirkung. Edi musste sich kurz am Türrahmen festhalten. Er atmete kurz durch, wartete, bis sich die Häuser um ihn herum nicht mehr bewegten, und schulterte dann sein Gewehr. Immerhin war es inzwischen dunkel, auf blendendes Sonnenlicht konnte er jetzt wirklich gut verzichten.

Nach Hause brauchte er um diese Zeit nicht mehr gehen, aber das war nicht tragisch. Für den größten Hunger hatte er einen Kanten Brot in seinem Rucksack und für den Durst war sein Flachmann noch halb gefüllt. Dass es vollkommen unsinnig war, heute auf den Hochsitz zu gehen, war eine andere Sache. Doch es war nun einmal sein Beruf, und wenn er sich eines nicht nachsagen lassen wollte, dann dass er diesen nicht ordentlich ausführte. Er hatte nur ein kleines Revier, aber bei ihm war stets alles in Ordnung.

Da es ihm zu spät war, um seine gewohnte Strecke zu gehen, nahm er den direkten Weg in den Wald, obwohl der ihn am Köhlerhaus vorbeiführte. Lange bevor er dort war, sah er, dass die Stube hell erleuchtet war, und der leichte Rauchgeruch, der in der Luft lag, sagte ihm, dass der Kamin gut eingeschürt war. Manche konnten es sich offenbar leisten. Warum das Schicksal gerade zum Köhler so gut war, musste er nicht verstehen. Sein Leben lang nichts gearbeitet, und trotzdem war ihm alles in den Schoß gefallen.

Als Edi am Haus vorbeiging, bekreuzigte er sich erneut und spuckte aus. Sicher war sicher.

Der alte Köhler, das war noch ein aufrechter Mann gewesen. Zwar mochte Edi auch ihn nicht besonders, doch er hatte ihm das Revier überlassen. Fünfzehn Abschüsse im Jahr, dazu das bisschen Geld von den Bauern, wenn er sich um ihre Bäume kümmerte, das war ein gutes Auskommen gewesen. Aber nachdem die Sache mit dem Buben passiert war, hatte die junge Frau vom Köhler nach und nach alles verkauft. Und seit der Wald, in dem sein Revier lag, dem Steiner gehörte, zahlte er eine saftige Pacht.

Edi quälte sich die Leiter des Hochsitzes hinauf. Er wusste nicht, wie lang er das noch machen konnte. Er beobachtete in letzter Zeit einen Generationswechsel, den er als Einziger zu verpassen schien. Sein Bruder war schon letztes Jahr in den Ruhestand gegangen und hatte die Metzgerei seinem Sohn Mortl übergeben. Immerhin blieb sie in der Familie und Mortl zahlte Edi weiterhin einen fairen Preis für das Wildbret. Außerdem nahm er es ihm in der Decke ab, was ihm sehr recht war. Das Zerwirken war nicht nur eine anstrengende und ekelhafte Arbeit, das Zittern seiner Hände hatte Edi auch nicht unbedingt geschickter werden lassen.

Nachdem der Jäger einen wärmenden Schluck aus dem Flachmann genommen hatte, hob er das Fernglas an seine Augen und sah sich im Wald um. Wie er es schon geahnt hatte, lag der Wald wie ausgestorben unter ihm, kein einziges Tier war zu sehen. Der Vollmond stand tief am Himmel, die Nacht war beinahe so hell wie der Tag und die Bäume warfen lange Schatten. Genauso gut hätte er im strahlenden Sonnenschein auf die Jagd gehen können.

Er ließ das Fernglas sinken und lehnte sich zurück. Er lauschte in die Stille und war kurz davor einzunicken, als er mit einem Mal doch Geräusche vernahm. Er kannte den Wald wie vermutlich kein zweiter, doch musste man kein Jäger sein, um zu erkennen, dass es sich hierbei um kein Tier handelte. Daher brauchte er auch nicht lange horchen, aus welcher Richtung das lauter werdende Rascheln und Flüstern kam. Er wusste genau, wo dessen Verursacher hinwollten.

Er setzte sich aufrecht hin, setzte das Fernglas ein weiteres Mal an und hatte die beiden nach wenigen Sekunden im Blickfeld. Sie waren noch halbe Kinder, höchstens sechzehn Jahre alt. Das Mädchen hatte aber bereits eine dralle Figur und, soweit er es im Mondschein erkennen konnte, rotblondes Haar. Sie gefiel ihm. Mit Sicherheit hatte er sie im Dorf schon einmal gesehen, an ihren Namen konnte er sich aber nicht erinnern. Der Bursche, der schüchtern neben ihr her trottete, wirkte dagegen noch wesentlich kindlicher. Er war dünn, schlaksig und von einem Mann so weit entfernt wie ein Rehkitz von einem Zwölfender.

Edi beobachtete, wie die beiden dem Waldweg zur Lichtung folgten. Seine Vorfreude stieg von Sekunde zu Sekunde, wusste er doch ganz genau, zu welchem Zweck sich die jungen Leute nachts dort trafen.

***

Michl war unglaublich aufgeregt, als sie die Lichtung erreichten. Fast drei Wochen hatte er gebraucht, um Evi zu überreden, ihn zu begleiten. Er hatte sie überzeugt, dass die Lichtung der perfekte Ort war, um den riesigen Vollmond zu betrachten. Er mochte Evi eigentlich seit er sie kannte. Und in der letzten Zeit hatte er das Gefühl gehabt, sie könne seine Gefühle erwidern, was ihm den Mut verliehen hatte, sie nach diesem Treffen zu fragen. Natürlich hatte sie gezögert, immerhin waren sie Freunde und auch ihr musste klar sein, dass es ihm auf der Lichtung nicht darum ging, einen guten Blick auf den Mond zu haben.

Er sammelte seinen Mut zusammen und griff nach Evis Hand. Sanft zog er sie zu dem Felsen, der wie ein Monument in der Mitte der Lichtung aufragte. Sie setzten sich und Michl holte den Flachmann hervor, den er aus dem Mantel seines Vaters gestohlen und im Keller mit dessen Selbstgebranntem gefüllt hatte. Er nahm einen kräftigen Schluck daraus, als wäre es nichts Besonderes, und gab sich große Mühe, keine Miene zu verziehen. Das Zeug schmeckte, als sollte man damit hartnäckigen Schmutz entfernen oder Traktoren betanken. Doch schon während er Evi den Flachmann reichte, erkannte er den wahren Vorteil des ekelhaften Gebräus. Nicht nur wurde das Brennen in seiner Kehle rasch von einer wohligen Wärme abgelöst, auch seine Aufregung sank merklich. Nachdem Evi ebenfalls einen kleinen Schluck getrunken hatte, wobei sie ihr Gesicht nicht ganz so gut im Griff gehabt hatte wie er, verstaute Michl den Flachmann wieder in seiner Hosentasche.

Er atmete tief durch und sah Evi direkt in die Augen. Dann rutschte er das letzte Stück zu ihr hinüber, beugte sich vor und küsste sie. Ihre Hände drückten gegen seine Brust und versuchten, ihn wegzuschieben. Michl wollte dem Druck gerade nachgeben, da erstarb Evis Gegenwehr plötzlich und sie begann, seinen Kuss zu erwidern. Sie öffnete ihre Lippen und ihre Zungen berührten sich. Nach wenigen Augenblicken verschwand der Geschmack des Schnapses aus ihren Mündern und er schmeckte einen zarten Hauch von Pfefferminze, Honig und Salz. Er glaubte, noch nie etwas Besseres geschmeckt zu haben.

Je intensiver ihr Kuss wurde, umso mutiger wurde Michl. Zuerst legte er noch recht vorsichtig die Hand auf Evis Knie, um sich dann immer weiter an ihr entlangzutasten. Er strich über die Außenseite ihres Oberschenkels und ihre Taille, um kurz unter ihrer Brust innezuhalten. Doch Evi vermittelte ihm keineswegs den Eindruck, er solle aufhören. Vielmehr spürte er, wie ihre Atmung immer schwerer wurde, und auch ihre Lippen, die anfangs leicht wie Federn auf seinen lagen, drängten jetzt stärker gegen die seinen. Er glitt mit seiner Hand weiter nach oben und spürte die Wölbung von Evis Brust unter seinem Daumen, als plötzlich vom Waldrand ein greller Pfiff ertönte.

Als hätten sie den Bewegungsablauf einstudiert, rückten Evi und Michl voneinander weg. Sie schenkten sich einen letzten sehnsüchtigen Blick, dann sahen sie zu der Stelle, aus welcher der Pfiff ertönt war.

Am Waldrand standen Ferdi und Wastl, die andere Hälfte ihres eingeschworenen Quartetts. Michl hätte sie verfluchen können. Er hatte sich große Mühe gegeben, damit die beiden nichts von seinem nächtlichen Treffen mit Evi erfuhren, und er war sich sicher, dass auch sie nichts erzählt hatte. Ob sie ihnen gefolgt waren oder eine Ahnung sie auf die Lichtung getrieben hatte, wusste er nicht, doch gerade wünschte er sich einfach nur, sie würden schlafend in ihren Betten liegen. Das Grinsen, das beiden breit im Gesicht stand, zeigte ihm, dass ihnen das absolut bewusst war.

»Servus! Störn ma euch?«, fragte Wastl mit unschuldigem Tonfall und setzte sich in Bewegung, ohne eine Antwort abzuwarten. Michl holte gerade Luft, da ergriff Evi das Wort.

»Schmarrn, wieso?«

Ferdi und Wastl antworteten nicht, bedachten Michl aber weiter mit ihrem wissenden Grinsen. Als die beiden Jungen an dem Felsen angekommen waren, warf Wastl sich in die frisch entstandene Lücke zwischen Michl und Evi. Ferdi hatte weitaus größere Probleme, Platz zu nehmen, da er auch heute diese lächerliche Uniform trug und mit all den Gürteln, Bändern und Ketten daran sichtlich überfordert war. Seit Ferdi, wie er behauptete, dieser Hitlerjugend beigetreten war, ging er ohne sein seltsames Gewand überhaupt nicht mehr aus dem Haus. Michl musste zugeben, dass er sich mit Hitler und dessen Arbeiterpartei nicht sehr gut auskannte. Bei ihnen zu Hause wurde über so etwas nicht gesprochen. Er kannte aber genug von den Kriegsgeschichten seines Vaters, um kein Bedürfnis zu verspüren, sich freiwillig in eine Uniform stecken zu lassen. Und ganz abgesehen davon sah die Kluft mit ihrem kackbraunen Hemd und den kurzen Hosen auch einfach dämlich aus.

Evi schien seine Ansicht zu teilen, denn sie beäugte Ferdis Versuche, sich zu setzen, mit äußerst skeptischem Blick.

»Also … Gmiatlich schaut des ned aus«, resümierte sie schließlich.

»Na, überhaupts ned«, stimmte Ferdi ihr nach einem kritischen Blick auf seine Uniform zu.

Damit war zu dem Thema offenbar alles gesagt und die vier saßen eine Weile stumm auf dem kalten Felsen. Was an einem anderen Tag ein normaler Zustand bei ihnen war, brachte Michl jetzt fast um den Verstand. Er wollte, dass die beiden wieder verschwanden und er mit Evi allein sein konnte. Er traute seinem Glück noch immer nicht, dass sie sich für ihn und nicht für den fast einen Kopf größeren und wesentlich breiter gebauten Wastl entschieden hatte. Dieses zarte Band zwischen ihnen wollte er nicht gleich aufs Spiel setzen. Als er erkannte, dass sich von selbst kein Gespräch mehr entwickeln würde, kam er auf eine Idee, wie er seine Männlichkeit trotz der Anwesenheit ihres Anführers behaupten konnte. Wortlos holte er den Flachmann seines Vaters heraus, nahm einen kräftigen Schluck und verzog keine Miene. Das fiel ihm beim zweiten Mal sogar noch schwerer als beim ersten Mal, da er jetzt bereits wusste, welcher beißend scharfe Geschmack ihn erwartete. Die Brühe spülte zwar die letzte Ahnung von Evis Geschmack von seiner Zunge, doch er hatte beschlossen, dass dies der einzige Weg war. Er wischte sich über den Mund und hielt den Flachmann mit gelangweilter Miene seinen Freunden hin.

Wastl drehte sich zu ihm und sah ihn mit gespielt schockiertem Blick an.

»Michael! Ist das etwa Alkohol?« Wie um dies überprüfen zu wollen, griff er mit einer bestimmten Geste nach dem Flachmann, trank daraus und sprach, jetzt wieder in normalem Tonfall weiter. »Host du koa Angst vorm Schauflmo?« Er blickte Michl väterlich an, der seine Verwirrung nicht verbergen konnte.

»Vor wem?«

»Vorm Schauflmo!«, wiederholte Wastl. »Hom dir deine Eltern überhaupt nix beibrocht? Des sollt doch Allgemeinwissn sei! Wennst du an Rausch host, und nachts durchn Woid hoam gehst, dann kummt da Schauflmo vo hintn und haut da mit seiner Schaufl aufn Schädl. Deswegn host am Dog nochm Rausch immer so Schädlweh.«

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