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Hope's Crossing: Zauber der Hoffnung / Nur die Liebe heilt (Band 1&2)

hier erhältlich:

Zauber der Hoffnung

Für die Liebe hat Claire keine Zeit. Ihr Glasperlenladen und ihre beiden Kinder halten die Single-Mom schon genug auf Trab. Von Riley McKnight, dem kleinen Bruder ihrer Freundin, will sie nichts wissen - obwohl er heftig mit ihr flirtet, seit er als Polizeichef nach Hope’s Crossing zurückgekehrt ist. Erst nach einem schweren Unfall erlaubt Claire ihm widerstrebend, sich um sie zu kümmern. Und bald kann auch sie das Knistern zwischen ihnen nicht mehr ignorieren …

Nur die Liebe heilt

Das idyllische Hope’s Crossing scheint Evie der perfekte Ort für einen Neubeginn. Doch das Letzte, was sie braucht, ist ein attraktiver Mann wie Brodie Thorne, der nichts unversucht lässt, um Evie als Pflegerin für seine Tochter Taryn zu engagieren. Taryns Tapferkeit berührt sie bald ebenso tief wie Brodies Entschlossenheit, ihre Hilfe - und ihr Herz - zu gewinnen. Aber um frei zu sein für ein neues Glück, muss Evie sich erst den Schatten der Vergangenheit stellen …


  • Erscheinungstag: 09.01.2017
  • Seitenanzahl: 512
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955767013
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

RaeAnne Thayne

Hope’s Crossing: Zauber der Hoffnung

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Hope’s Crossing: Nur die Liebe heilt

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MIRA® TASCHENBUCH

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1. Auflage: Januar 2017

Copyright © 2017 by MIRA Taschenbuch

in der HarperCollins Germany GmbH

Erste Neuauflage

Titel der nordamerikanischen Originalausgaben:

Blackberry Summer

Copyright © 2011 by RaeAnne Thayne

Erschienen bei: HQN Books, Toronto

Woodrose Mountain

Copyright © 2012 by RaeAnne Thayne

Erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

HARLEQUIN ENTERPRISES II B. V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: Hafen Werbeagentur gsk GmbH, Hamburg

Umschlagabbildung: Thinkstock/Getty Images, München

Redaktion: Mareike Müller

ISBN eBook 978-3-95576-701-3

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

RaeAnne Thayne

Hope’s Crossing: Zauber der Hoffnung

Roman

Aus dem Amerikanischen von Tess Martin

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1. Kapitel

„Wir alle sind Engel mit nur einem Flügel. Um fliegen zu können, müssen wir uns umarmen.“

Luciano de Crescenzo

Bescheuertes, albernes Horoskop.

Claire Bradford starrte – eine Hand am Türgriff, in der anderen ihren Coffee-to-go-Becher – das Chaos in ihrem Laden an.

Die Sterne hatten ihr etwas Schönes und Aufregendes versprochen. Oder zumindest das Horoskop in der Hope Gazette, die sie durchgeblättert hatte, während sie im Coffeeshop/Buchladen ihrer Freundin Maura auf ihre morgendliche Koffeindosis wartete. Vielleicht konnte sie ja ein paar neue Kunden für ihren Perlenladen String Fever gewinnen oder einen großen Auftrag für ein maßgeschneidertes Kleid an Land ziehen?

Festzustellen, dass in der Nacht eingebrochen worden war, fand sie persönlich zwar aufregend, allerdings nicht gerade schön.

Überall auf dem beigefarbenen Berberteppich lagen glitzernde Perlen verstreut, der Einbrecher hatte die durchsichtigen Schubladen aus der Auslage gerissen und den Inhalt über den ganzen Boden verteilt. Die Kasse war aufgebrochen, und das wenige Wechselgeld, das sie immer darin ließ, fehlte. Die Bürotür stand offen. Selbst von hier aus konnte sie die staubige, leere Stelle sehen, wo sich sonst immer ihr Computer befunden hatte.

Den materiellen Verlust konnte sie verschmerzen, und die Dateien auf dem PC wurden automatisch mehrmals am Tag auf einer externen Festplatte gespeichert. Doch die Aufräumarbeiten würden ein Albtraum werden. Claire schloss stöhnend die Augen bei der Vorstellung, wie viele Stunden und Tage es dauern würde, bis sie all die Perlen sortiert und wieder in die Hunderte von winzigen Kästchen geräumt hatte. Die Existenz von String Fever hing in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten sowieso schon an einem seidenen Faden. Woher nur sollte sie die Zeit und vor allem die Energie nehmen, hier wieder Ordnung zu schaffen?

Chester begann leise zu winseln, sein trauriges Bassetgesicht wirkte noch verdrossener als sonst. Verblüffend, wie schnell er immer ihre Stimmungen aufschnappte. Sie kraulte ihm die kilometerlangen Ohren. „Ich weiß, mein Junge. Schöner Mist, nicht wahr?“

Sie kramte in ihren Manteltaschen nach dem Handy und wollte gerade die Neun-Eins-Eins wählen, da vibrierte das Telefon in ihrer Hand, und das nervenzerfetzende Jaulen einer Sirene ging los: der Klingelton, den sie für ihre Mutter ausgesucht hatte.

Tja, auch hier war wenig Schönes zu erwarten. Verfluchtes Horoskop.

Wieder winselte Chester. Er hasste diesen Klingelton genauso sehr wie sie. Claire unterdrückte ein Seufzen und nahm den Anruf entgegen, obwohl sie es seit etwa sechsunddreißig Jahren eigentlich hätte besser wissen müssen. Aber Ruth Tatum hatte ihre Tochter gut im Griff, so viel war sicher. „Mom, ich kann im Moment nicht reden. Tut mir leid. In meinen Laden ist eingebrochen worden. Ich rufe dich so bald wie möglich zurück, okay?“

„Eingebrochen? Du machst doch Witze?“

„Wirklich? Du denkst, dass ich über so was scherzen würde?“

„Keine Ahnung.“ Ruth ging sofort in die Defensive, etwas, das sie besonders gut konnte. „Du hattest schon immer einen eigenartigen Sinn für Humor.“

Klar. So bin ich nun mal. Für einen schnellen Lacher behaupte ich einfach mal, dass ich Opfer von Dieben wurde. „Das ist kein Witz. Der Laden wurde wirklich ausgeraubt.“

„Das ist ja furchtbar! Was wurde gestohlen?“

„Ich habe mir noch keinen Überblick verschafft. Ich bin gerade erst durch die Tür gekommen. Ich muss jetzt Schluss machen, damit ich die Cops alarmieren kann, Mom.“

„Gut, dann melde dich, sobald du mehr weißt. Brauchst du meine Hilfe?“

Die konnte sie in etwa so sehr gebrauchen wie ein Dutzend Stecknadeln in ihren Augäpfeln. „Im Moment nicht. Trotzdem danke fürs Angebot. Ich rufe dich später an.“

Nachdem sie aufgelegt hatte, wählte sie hastig die Nummer der Polizei.

„Hope’s Crossing Notrufzentrale. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Es war Donna Mazell, eine Nachbarin und gelegentliche Kundin, deren Stimme heute allerdings ein wenig schriller als sonst klang.

„Hey, Donna. Hier ist Claire von String Fever. Ich möchte einen Einbruch melden. Ich habe eben mein Geschäft betreten und es entdeckt.“

„Ach Gottchen. Nicht noch einer!“

„Noch einer?“

„Das ist schon der vierte Ladeneinbruch, der heute gemeldet wird. Eine richtige Einbruchsserie ist das ja. Die Jungs hier haben alle Hände voll zu tun.“

Hope’s Crossing hatte nur fünftausend Einwohner, wobei sich die Zahl im Winter, wenn die Skifahrer über das enorme Silver Strike Skigebiet herfielen, ungefähr verzehnfachte. Claire wusste, dass die örtliche Polizeitruppe gerade mal aus acht Mann bestand, bei Bedarf unterstützt von Mitarbeitern des County Sheriff’s Office.

„Könnten Sie trotzdem jemanden herschicken?“

„Aber sicher. Kein Problem. Der neue Chief ist im Augenblick ganz in der Nähe bei Pinecone Property Management, doch ich glaube, er ist da fast fertig. Ich werde ihn bitten, danach sofort bei Ihnen vorbeizuschauen.“

„Danke, Donna.“

„Sagen Sie jetzt nicht, dass auch diese herrlichen tschechischen Perlen gestohlen wurden, die Sie extra für Genevieve Beaumonts Hochzeitskleid gekauft haben.“

Claires Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Oh, hoffentlich nicht. Ich habe zwei Monate gebraucht, um die durch den Zoll zu kriegen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, rechtzeitig bis zur Hochzeit neue zu besorgen.“

„Ich drücke die Daumen. Und rufe gleich Riley an, damit er zu Ihnen kommt, sobald er alles beim Immobilienbüro geregelt hat.“

„Danke, Donna.“

„Melden Sie sich, wenn in zehn, fünfzehn Minuten noch niemand aufgetaucht ist. Und rühren Sie nichts an.“

„Das weiß ich, ich schaue ab und zu Fernsehen. Ich werde einfach mit Chester draußen warten, bis Riley hier ist.“

„Es ist eiskalt, Liebes. Bei diesem Wetter können Sie nicht draußen warten, genauso wenig wie Ihr Hund. Der ist schließlich nicht mehr der Jüngste. Den Chief wird es nicht stören, wenn Sie sich drinnen auf einen Stuhl setzen. Hauptsache, Sie sorgen dafür, dass Chester nicht am Tatort herumschnüffelt.“

Sie war viel zu aufgewühlt, um ruhig dazusitzen und auf die Polizei zu warten, deswegen blieb sie in der Tür stehen, nicht zum ersten Mal fassungslos darüber, wie fies Menschen sein konnten. Einzubrechen war eine Sache, der Computer und das Geld interessierten sie nicht sonderlich. Aber weshalb diese Zerstörungswut? Damit hatten der oder die Einbrecher zusätzlichen Schaden anrichten wollen – Ärger machen um des Ärgers willen. So etwas hatte sie noch nie begriffen.

Wie konnte jemand so gemein sein? Und warum traf es gerade sie? Sie war doch immer so bemüht, zu jedem nett und freundlich zu sein. Sicher, es gab ab und zu missmutige Kunden, die es als Verbrechen betrachteten, dass sie zumindest ein klein wenig Gewinn erwirtschaften wollte bei all der Zeit und Energie, die sie ins String Fever steckte. Allerdings waren die bestimmt nicht so verrückt, deswegen ihr Geschäft zu verwüsten.

Sie versuchte es mit der speziellen Atemtechnik, die ihre beste Freundin Alex ihr regelmäßig empfahl – während sie durch das große Schaufenster hinaus auf die Hauptstraße von Hope’s Crossing blickte. Der Morgen war grau und unfreundlich, ein trostloser Tag. Obwohl bereits Mitte April, ließ der Frühling in Colorado dieses Jahr lange auf sich warten.

Später am Abend sollte es laut Wettervorhersage sogar einen Schneesturm geben. Über ein paar Zentimeter Neuschnee würden sich die Skiliftbetreiber freuen, es gab schließlich noch ein paar Skifahrer, die den Frühlingsurlaub lieber auf der Piste als am Strand verbrachten. Zu dieser Jahreszeit hatte sie zwar die Nase gestrichen voll von Schnee, jedoch würden die grauen Schneehaufen da draußen wieder hübsch anzusehen sein.

Trotz der Kälte und des herannahenden Sturms war für einen Montagmorgen im Center of Hope Café auf der anderen Straßenseite ganz schön viel los. Und auch im Dog-Eared Books & Brew. Keiner von diesen Kunden würde natürlich heute bei ihr einkaufen, da das Geschlossen-Schild nach wie vor in ihrer Eingangstür hing.

Genau in diesem Augenblick ging die Tür mit einem fröhlichen Klimpern auf. Claire wollte gerade rufen, dass sie noch nicht geöffnet hätten, als sich ihre Laune noch verschlechterte.

Das gibt meinem aufregend schönen Tag den Rest, dachte sie, sowie die neue Frau ihres Exmannes hereingestürmt kam, jung und hübsch und vor Schwangerschaftshormonen geradezu strahlend.

„Hi, Claire!“, flötete Holly Vestry Bradford und schenkte ihr dieses entzückende Lächeln, an dem ihr Vater, der Kieferorthopäde, jahrelang unermüdlich gearbeitet hatte. Sie knöpfte ihren roten Wollmantel auf und stampfte den Schnee von ihren schwarzen UGGs.

Chester, der noch nie ein großer Fan von Holly gewesen war, ließ sich schnaubend auf den Bauch fallen.

„Ähm, das ist gerade kein günstiger Zeitpunkt“, begann Claire.

Sie war jetzt wirklich nicht in der Stimmung, freundlich zu sein, schon gar nicht zu Holly, die es immer irgendwie schaffte, Claires schlechteste Eigenschaften hervorzukehren.

„Ach du liebe Zeit!“, rief Holly aus. „Was ist denn hier passiert?“

Claire hatte es sich in den letzten beiden Jahren strikt zur Aufgabe gemacht – seit Jeff ausgezogen war und damit das offizielle Ende ihrer schon längst kaputten Ehe verkündet hatte –, so höflich wie nur irgend möglich zu Holly zu sein. „Ich glaube, das war ein Einbruch“, sagte sie ohne einen Hauch von Sarkasmus.

„Oh nein! Hast du die Polizei gerufen?“

„Gerade eben. Ist schon auf dem Weg.“

„Ach Claire, das tut mir so leid.“

Claire wusste nicht, was sie schlimmer fand: diesen Einbruch, die endlosen Arbeitsstunden, die vor ihr lagen, um den Laden wieder in Ordnung zu bringen, oder von Holly Bradford bemitleidet zu werden.

„Nicht so schlimm. Meine Versicherung wird für den Schaden aufkommen. Allerdings muss ich dich bitten, nichts anzufassen, okay? Wir dürfen am Tatort nichts verändern.“

„Tatort! Das klingt so gruselig! Genau wie bei CSI: Miami! Wo ist Horatio?“

War sie mit fünfundzwanzig auch so kindisch gewesen? Nein. Andererseits war sie damals schon über ein Jahr verheiratet gewesen, hatte Macy zur Welt gebracht und Doppelschichten geschoben, damit Jeff in Ruhe sein Medizinstudium abschließen konnte.

„Entschuldige die Unordnung.“ Sie versuchte es mit einem Lächeln und stellte fest, dass sie tatsächlich noch eines zustande bringen konnte. „Vielleicht kommst du später wieder, wenn ich hier aufgeräumt habe.“

„Mach dir keine Gedanken. Ist nichts Dringendes. Ich schätze, Macy hat dir von unserer verrückten Shoppingtour erzählt, oder?“

„Sie hat so was erwähnt.“ Ungefähr zwanzig oder dreißig Mal. Ihre zwölfjährige Tochter betete ihre Stiefmutter geradezu an. Und warum auch nicht? Holly war die große Schwester, die Macy sich immer gewünscht hatte. Sie war witzig und jung und hip. Holly hatte alle Twighligt-Bücher gelesen und war bei MySpace, Twitter und Facebook.

Claire bemühte sich sehr, sich über diese gegenseitige Zuneigung nicht zu sehr aufzuregen. Macy liebte ihre Mutter schließlich, auch wenn es manchmal nicht so aussah, vor allem wenn sie ihre Grenzen austestete.

„Dieses Mädchen ist eine echte Shopping-Queen!“, verkündete Holly schwärmerisch. „Jeff hat mir seine Kreditkarte dagelassen, während er mit Owen Snowboarden ist, und Macy hat mir geholfen, meine Schwangerschaftsgarderobe zu kaufen. Und als ich dann zu Hause die ganzen Tüten ausgepackt habe, wurde mir klar, dass ich auf jeden Fall ein paar auffällige Accessoires brauche, damit die Leute von meinem dicken Bauch abgelenkt sind.“

Ja klar. Obwohl Holly schon im fünften Monat schwanger war, passte sie vermutlich immer noch in XXS-Jeans, zumindest wenn der Bund tief geschnitten war.

„Du weißt, dass du toll aussiehst, egal, was du trägst. Aber neuer Schmuck ist immer was Schönes.“ Vor allem wenn er aus den teuren venezianischen Glasperlen gefertigt war, die Holly so mochte. Jene Perlen, mit denen String Fever den meisten Umsatz erzielte. „Ich hab später bestimmt ein paar neue Ideen für dich, wenn es dir nichts ausmacht, noch einmal zurückzukommen.“

„Kein Problem. Ich habe heute nichts mehr vor.“

Oh, wenn sie das von sich auch nur behaupten könnte. Claire gelang es, noch einmal zu lächeln. „Ich werde dich anrufen, sobald die Polizei den Laden freigegeben hat.“

„Du bist so wahnsinnig nett zu mir. Vielen, vielen Dank, Claire.“

Bevor sie noch wusste, wie ihr geschah, hatte Holly sie bereits in die Arme gerissen, und Claire blieb nichts anderes übrig, als sie ein wenig zu drücken, bevor sie sich schnell aus der Umarmung löste.

Es war nicht so, dass sie Holly nicht leiden konnte, aber es war einfach merkwürdig, mit ihr und Jeff in derselben Stadt zu leben, ihnen ständig über den Weg zu laufen und denselben Freundeskreis zu haben.

Jeff behauptete steif und fest, dass Holly nicht der Grund für die Trennung gewesen wäre, außerdem wusste Claire natürlich, dass sie beide gleichermaßen am Scheitern der Ehe Schuld hatten. Und doch begann er sein neues Leben – dieses wahr gewordene Klischee mit der schönen, jungen Sprechstundenhilfe in seiner orthopädischen Praxis – nur wenige Wochen nachdem die Scheidung rechtskräftig geworden war. Sechs Monate später war er wieder verheiratet, und demnächst kam der erste Nachwuchs zur Welt.

Ob es Claire gefiel oder nicht, kümmerten sich inzwischen alle drei um die Kinder. Wenn Owen und Macy bei ihrem Vater übernachteten, war Holly nun mal ein wichtiger Teil in ihrem Leben, und deswegen wollte Claire nicht gehässig oder verbittert sein. Genauso wenig konnte sie aus Hope’s Crossing wegziehen, nicht solange sie hier ihr Geschäft hatte und Macy und Owen ihren Vater brauchten.

„Bist du sicher, dass es dir gut geht?“, fragte Holly. „Soll ich nicht besser hierbleiben, bis die Polizei da ist? Du weißt schon, zur moralischen Unterstützung.“

„Das ist wirklich nicht nötig“, erwiderte sie in dem Moment, in dem die Türglocke erneut bimmelte. Sie drehte sich um, und mit einem Schlag war der Tag trotz allem nicht mehr ganz so trostlos und düster.

Der neue Chief, dunkelhaarig, sehr attraktiv und geradezu unglaublich männlich, stand in dem mit blitzenden Perlen übersäten Eingang. Er trug Jeans, ein hellblaues Hemd und Krawatte, darüber den offiziellen Parka der Hope’s-Crossing-Polizei. An seiner Hüfte hing eine Pistole, auf der anderen Seite die Dienstmarke.

Der Chief betrachtete das wilde Durcheinander und schüttelte den Kopf. „Was soll ich nur mit dir machen, Claire? Kaum habe ich dich vor fünfzehn Jahren mal aus den Augen gelassen, steckst du schon in Schwierigkeiten.“

Und da musste sie lachen. Offenbar hatte Riley es nicht verlernt, ihren merkwürdigen Sinn für Humor – wie ihre Mutter es ausdrückte – zu treffen. Die Arme weit geöffnet, trat er einen Schritt auf sie zu, und ohne zu zögern, schmiegte sie sich an ihn. Anders als Hollys kurze Umarmung fühlte sich diese hier warm und vertraut und vollkommen natürlich an. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte sie das Gefühl, in Sicherheit zu sein.

Viel zu schnell schob er sie ein Stück von sich, damit er sie betrachten konnte, und sofort war sie sich ihrer sechsunddreißig Jahre, der zwei Kinder und ihrer Scheidung schmerzhaft bewusst.

„Du siehst fantastisch aus, Claire. Wie lange ist es jetzt her?“

Diesem Lächeln hatte sie noch nie widerstehen können. Nicht einmal damals, als er nur der nervige kleine Bruder ihrer besten Freundin gewesen war, dessen einziger Lebenszweck darin bestand, sie und Alex in den Wahnsinn zu treiben. Dass sie sich nach all den Jahren nun auf einmal zu ihm hingezogen fühlte, war wirklich überhaupt nicht angebracht. Und schon gar nicht jetzt, wo ihr Leben und ihr Laden dermaßen durcheinandergeraten waren.

„Keine Ahnung. Auf jeden Fall ein paar Jahre. Wie das nun mal so ist, wenn man an die Küste abhaut und einfach alles hinter sich lässt.“

„Ich habe gehört, dass du endlich Dr. Vollidiot den Laufpass gegeben hast. Wurde auch höchste Zeit. Du warst immer viel zu gut für ihn, von Anfang an. Mir ist nicht klar, was du jemals an diesem kleinen Angeber gefunden hast.“

Ungefähr eine halbe Minute zu spät und mit einer Mischung aus Entsetzen und Belustigung fiel Claire wieder ein, dass Holly immer noch da war. Sie drehte sich etwas zur Seite, um Rileys Aufmerksamkeit auf die andere Frau zu lenken.

„Ähm, Riley. Darf ich dir Holly vorstellen, Jeffs neue Frau? Holly, das ist Riley McKnight, ehemals stadtbekannter Satansbraten und jetzt der neue Chief der Polizei von Hope’s Crossing.“

Mit hochrotem Kopf und Schmollmund sah Holly aus, als ob sie einen acht Millimeter großen venezianischen Klunker verschluckt hätte.

„Entschuldigen Sie, Ma’am.“ Riley schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln, hielt dabei aber hinter seinem Rücken die Finger so gekreuzt, dass nur Claire es mitbekam. „Claire ist eine alte Freundin von mir, ich fürchte, ich habe mich da etwas hinreißen lassen, ohne nachzudenken.“

Holly schien nicht zu wissen, was zu tun war – ob sie ihren Ehemann verteidigen oder die peinliche Situation einfach ignorieren sollte. Sie wirkte verunsichert und schrecklich jung, obwohl Riley mit seinen dreiunddreißig Jahren nur acht Jahre älter als sie war.

Dann hatte sie offenbar beschlossen, ihn einfach zu übersehen. Steif sagte sie zu Claire: „Ich schätze, du brauchst mich jetzt nicht mehr, oder?“

„Nein, ich komme schon klar.“ Jetzt tat es ihr leid, dass sie einen Moment lang so etwas wie Schadenfreude verspürt hatte. „Aber danke dir. Und ich werde dir Bescheid geben, wann ich das Geschäft wieder aufmache. Dann können wir uns ein paar hübsche Accessoires für deine Schwangerschaftsgarderobe überlegen.“

„Keine Eile, wir können das auch irgendwann mal machen. Ich schätze, dann bis heute bei Abend bei Owens Auftritt, oder? Jeff und ich können für Macy und dich Plätze freihalten, wenn du möchtest.“

Wahrscheinlich hatte sie diese kleine spitze Bemerkung verdient, ob sie nun beabsichtigt war oder nicht – nämlich dass Claire bei der jährlichen Frühlingsfeier der Grundschule, dem Spring Fling, von ihrer zwölfjährigen Tochter begleitet wurde, während Holly neben ihrem attraktiven, erfolgreichen Orthopäden-Chirugen-Ehemann saß.

„Danke, ich weiß allerdings noch nicht, um wie viel Uhr wir kommen werden.“

„Wir reservieren euch trotzdem Plätze. Ganz bestimmt will Macy sehen, wie mir der neue Pulli steht, den wir zusammen ausgesucht haben.“

„Zweifellos“, entgegnete Claire ruhig. „Dann bist später.“

Kaum hatte Holly den Laden verlassen, da wand sie sich aus Rileys Umarmung und versuchte keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, wie viel älter sie sich sofort fühlte. Um Himmels willen, bei ihr war eingebrochen worden. Jetzt war wirklich nicht der passende Zeitpunkt für ein fröhliches, freundschaftliches Wiedersehen.

„Donna Mazell hat mir erzählt, dass String Fever nicht das einzige Geschäft ist, das letzte Nacht überfallen wurde.“

Riley nickte, wobei er sich vorbeugte, um Chester unterm Kinn zu kraulen. „Offenbar hatten die Einbrecher eine arbeitsreiche Nacht. Vier Einbrüche bisher.“

„Ich habe eine Alarmanlage. Warum ist die nicht losgegangen? Die Sicherheitsfirma hätte reagieren müssen.“

„Das ist eine gute Frage. Ich schätze jetzt einfach mal, dass du bei Topflight Security bist.“

„Ja.“

„Ist wohl kein Zufall, dass die anderen Unternehmen ebenfalls Topflight-Kunden sind. Das ist ein Gesichtspunkt, den wir bei den Ermittlungen zu berücksichtigen haben.“

Sie runzelte die Stirn. „Du glaubst doch nicht, dass die Firma da irgendwie mit drinsteckt?“ Der Besitzer der Sicherheitsfirma war ein Freund von ihr, sie konnte sich unter keinen Umständen vorstellen, dass einer seiner Mitarbeiter etwas mit den Überfällen zu tun hatte.

„Im Moment bin ich mir noch nicht sicher, was genau ich denken soll. Könnte sein, dass ihr Computersystem geknackt wurde, aber das wissen wir noch nicht. Wir sind gerade dabei, alle Hinweise zu sammeln, die wir dann später überprüfen. Wann hast du gestern den Laden geschlossen?“

„In der Zwischensaison, im Frühling und im Herbst, haben wir sonntags geschlossen. Also könnte der Einbruch irgendwann zwischen Samstagabend und heute Morgen stattgefunden haben.“

„Hast du schon herausgefunden, was fehlt?“

„Mein Bürocomputer ist weg. Ein ziemlich neuer Mac, den ich erst vor einem halben Jahr gekauft habe. Die Kasse ist leer, doch da lasse ich immer nur ungefähr fünfzig Dollar Wechselgeld drin. Die Einnahmen habe ich am Samstag selbst noch bei der Bank eingeworfen, bevor ich nach Hause gegangen bin.“

Zum Glück. Das Wochenende war zwar stressig gewesen, Owen hatte zur Kostümanprobe gemusst, und ihre Mutter hatte sie in der letzten Sekunde gebeten, verschiedene Medikamente aus der Apotheke zu besorgen, aber sie konnte sich glasklar daran erinnern, wie sie zur Bank gefahren war, um die Geldbombe einzuwerfen.

„Haben sie sonst noch was geklaut?“

„Um ehrlich zu sein, habe ich noch nicht so genau nachgesehen. Ich wollte keine Spuren verwischen oder so.“

„Gut, dann schau jetzt nach, was fehlt.“

Den abgeschlossenen Glasschrank hatten die Einbrecher zum Glück nicht angerührt. Hier bewahrte sie die wertvollen tschechischen Kristalle auf, die Donna erwähnt hatte, außerdem mundgeblasenes venezianisches Glas und die teureren Schmuckstücke, die entweder sie oder Evie für ihre Kunden angefertigt hatten. An der Wand entdeckte sie drei leere Haken, an die sie ein paar ihrer preiswerteren Ketten gehängt hatte. Das Gute war, dass sie ihre eigenen Stücke sofort erkennen würde, sollte jemand dumm genug sein, die Beute in der Stadt verkaufen zu wollen.

Sie ging quer durch den Verkaufsraum in die Werkstatt, wo sie die Materialien aufbewahrte – Perlen, Verschlüsse und Drähte, Zangen und Seitenschneider. Hier schien nichts zu fehlen.

Zum Schluss betrat sie ihr Büro und schnappte hörbar nach Luft.

Sofort war Riley an ihrer Seite. „Whoa.“ Er starrte das Hochzeitskleid an, das noch in der Schutzhülle mit einer ihrer eigenen Scheren aufgeschlitzt worden war. „Nun, das ist interessant.“

Interessant? Ihr wären spontan hundert verschiedene Adjektive eingefallen, aber interessant war nicht darunter.

„Das ist ein Designerhochzeitskleid“, stieß sie stöhnend aus. „Ich hatte es nur für ein oder zwei Tage hier, damit ich auf Wunsch der Kundin Perlen am Mieder anbringen konnte. Ich habe dafür eine horrende Kommission bezahlt.“

Eine Kommission, die sie jetzt wohl in den Wind schießen konnte – genauso wie die Zukunft des ganzen Ladens höchstwahrscheinlich. „Wer kann nur so fies sein?“

„Reine Spekulation, doch vielleicht war es jemand, der die Braut nicht besonders mag. Wem gehört das Kleid?“

„Genevieve Beaumont. Die Tochter des Bürgermeisters.“

Die Hochzeit mit dem Sohn eines der reichsten Geschäftsmänner der Gegend war das gesellschaftliche Ereignis und sollte erst in acht Monaten stattfinden. Vielleicht konnte man dasselbe Kleid noch einmal bestellen, dann hätte Claire noch genug Zeit für die Perlenstickerei.

Oder die ziemlich verwöhnte künftige Braut beschloss, Claire zu verklagen, weil sie ihren großen Tag ruiniert hatte.

Chester stupste mit dem Kopf gegen ihr Bein, und am liebsten wäre sie neben ihn auf die Erde gesunken, mitten hinein in die verstreuten Perlen, um ihn in die Arme zu nehmen und eine Weile in Selbstmitleid zu schwelgen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, Tränen brannten in ihren Augen, sie blinzelte sie allerdings weg und schluckte schwer. Sie hatte keine Zeit für einen Heulkrampf, nicht jetzt, wo sie dieses Chaos beseitigen musste – und vor allem nicht vor dem neuen Chief der Polizei, Himmel noch mal.

„Das ist ein Albtraum. Und es ergibt auch überhaupt keinen Sinn. Warum haben sie das Kleid zerschnitten, aber nicht mal die Perlen mitgenommen? Die sind ein Vermögen wert.“

„Das kann ich dir nicht beantworten. Doch ich verspreche dir, Claire, dass ich es herausfinde.“

Riley war als Junge vielleicht ein echter Quälgeist und als Teenager ein furchtbarer Unruhestifter gewesen, nach allem was sie jedoch in den vergangenen Jahren von Alex und dem Rest seiner Familie über ihn gehört hatte, schien er sich wirklich gemacht zu haben und sich mit vollem Einsatz seinem Job als Polizist zu widmen.

Die meisten Bewohner von Hope’s Crossing waren froh darüber, dass er seinen Dienst als Undercover-Cop in der Bay Arena in Kalifornien quittiert hatte, um zurückzukommen. Nur im Polizeirevier selbst hatte seine Einstellung wohl einigen Unmut ausgelöst.

„Dann erklär mir, was ich noch tun kann, um dir dabei zu helfen.“

„Lass mich einfach mal in Ruhe den Tatort begehen. Wie wäre es, wenn du mit deinem Hund drüben Maura besuchst und einen Kaffee trinkst? Das hier könnte eine Weile dauern.“

„Ich würde lieber bleiben, wenn es dich nicht stört. Ich werde mich auch bemühen, dir nicht im Weg rumzustehen.“

„Kein Problem. Ich freue mich über deine Gesellschaft. Wünschte nur, wir hätten uns unter anderen Umständen wiedergetroffen.“

Und dann saß sie eine Stunde lang ganz vorn in der ersten Reihe, während Riley arbeitete – Beweise einsammelte, Fingerabdrücke nahm und Fotos machte.

Es war nicht gerade einfach, diesen so kompetent und professionell auftretenden Gesetzeshüter mit der schrecklichen Nervensäge von früher in Einklang zu bringen. Genauso wenig wie mit dem wilden, wütenden Teenager, zu dem er nach der Scheidung seiner Eltern geworden war – wobei sie die Geschichten über seine Sauftouren und Schlimmeres nur vom Hörensagen kannte, da sie zu dieser Zeit in Boulder das College besucht hatte.

Der Riley aus ihrer Erinnerung jedenfalls hatte einmal einen Kassettenrekorder im Zimmer seiner Schwester versteckt, weil der die Gespräche mit Claire aufnehmen wollte. Damals hatten sich diese Unterhaltungen natürlich ausschließlich um Jungs gedreht. Alex und sie waren zwölf, dreizehn Jahre alt gewesen und hatten gerade angefangen, sich für das andere Geschlecht zu interessieren. Claire hatte sich in Jeff Bradford verguckt, den klügsten und hübschesten Jungen eine Stufe über ihnen. Und Alexandra hatte ein Auge auf den Quarterback des Freshman-Football-Teams geworfen, Jason Kolpecki.

Sie sprachen lang und breit über ihre Traumprinzen an diesem Nachmittag, ohne zu ahnen, dass Riley, die Schlange, alles aufzeichnete – um später damit zu drohen, den Jungs die Kassette vorzuspielen, wenn sie nicht taten, was er von ihnen verlangte.

Gut nur, dass die Kollegen bei der Polizei, die von Rileys Rückkehr nicht besonders begeistert waren, nichts von seiner Karriere als Erpresser ahnten. Zwei Monate lang hatten Claire und Alex für ihn den Rasen der McKnights mähen müssen.

Das alles schien Ewigkeiten her zu sein, tief vergraben unter den Ereignissen, die später folgten. Der skandalöse Tod ihres Vaters, der Nervenzusammenbruch ihrer Mutter, die Midlife-Crisis seines Vaters, durch die seine Familie schließlich auseinandergerissen wurde.

Was würde sie nicht dafür geben, wieder in dieser herrlich einfachen Zeit zu leben, als sie sich nur Gedanken über ihre Mathenoten machen musste und darüber, ob Riley ihre heimliche Schwärmerei für Jeff Bradford ausplaudern würde oder nicht.

Nach einer weiteren halben Stunde – er hatte lange mit seinen Kollegen an den anderen Tatorten telefoniert – sammelte Riley schließlich das letzte Beweisstück ein und packte alles in eine Tasche.

„Das wär’s erst mal“, verkündete er. „Ich werde das ins kriminaltechnische Labor schicken. Mit etwas Glück haben wir dann ein paar Fingerabdrücke.“

„Danke, Riley. Ich weiß deine Hilfe wirklich zu schätzen.“

„Kein Problem. Ich hoffe, dass ich schon bald Neuigkeiten für dich habe.“

Er schenkte ihr dieses große, breite, umwerfende Lächeln, das er als Jüngster in einer Familie mit fünf Töchtern perfektioniert hatte, dasselbe Lächeln, mit dem er sich früher aus allen Schwierigkeiten herauswinden konnte.

Ein kleiner erregender Schauer durchlief sie – und noch einer, sowie er auf sie zutrat und nach ihrer Hand griff.

„Es ist wirklich toll, dich zu sehen, Claire. Wenn sich die Lage etwas beruhigt hat, könnten wir doch mal zusammen oben im Resort zu Abend essen und über alte Zeiten plaudern. Was meinst du?“

Okay, sie war nun seit Ewigkeiten nicht mehr in der Dating-Szene unterwegs – genau genommen seit sie mit fünfzehn Jeffs Freundin geworden war, doch dieser Vorschlag von Riley McKnight klang definitiv, als ob er mehr als nur ein Dinner im Sinn hätte.

„Ähm.“ Großartige Antwort, das war ihr klar. Allerdings konnte sie sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so durcheinander gewesen war – außer wenn sie mal wieder die Einkaufsliste zu Hause hatte liegen lassen. Bestimmt hatte sie ihn falsch verstanden. Er wollte einfach nur höflich sein, oder?

„Das ist nur eine Einladung zum Abendessen, Claire.“ Sowie er grinste, bildete sich ein Grübchen über seinem Mundwinkel. „Ich wollte dich damit nicht in Angst und Schrecken versetzen.“

Schwach lächelnd rief sie sich ins Gedächtnis, dass es sich bei diesem Mann um niemand anderen als den nervtötenden kleinen Riley McKnight handelte. „Bevor du mich in Angst und Schrecken versetzt, färbe ich mir die Haare pink und steige bei einer Punkband ein.“

„Also, das würde ich wirklich gern erleben.“

Zu spät fiel ihr wieder ein, dass er sich niemals geschlagen gab. Einmal hatte Alex einen Monat lang Hausarrest bekommen, weil sie mit ihrem Bruder gewettet hatte, dass er sich nicht trauen würde, mit dem Fahrrad den Woodrose Mountain hinunterzufahren, ohne zu bremsen. Er hatte es vor seinem spektakulären Sturz schon fast bis nach unten geschafft – und selbstverständlich die Bremse nicht ein einziges Mal berührt.

Doch das war Jahre her. Und man wurde kein erfolgreicher Gesetzeshüter, wenn man nicht wusste, worauf es eigentlich im Leben ankam.

„Wir werden bestimmt jede Menge Gelegenheiten haben, über alte Zeiten zu plaudern“, entgegnete sie so gefasst wie möglich. „Alex hat erzählt, dass du das alte Harperhaus in der Blackberry Lane gemietet hast. Das ist gleich bei mir um die Ecke. Ich wohne in dem roten Ziegelhaus mit den Säulen.“

Wieder lächelte er. „Großartig. Dann weiß ich ja, wo ich mir mal eine Tasse Zucker borgen kann.“

Wie, in aller Welt, schaffte er es nur, dass so eine harmlose Bemerkung dermaßen erotisch klang? Sie beschloss, nicht darauf einzugehen – und nicht zu erwähnen, wie lange es her war, dass sie irgendjemandem eine Tasse Zucker geborgt hatte, um bei seinem Wortspiel zu bleiben.

„Ist es in Ordnung, wenn ich den Laden jetzt öffne? Ich kann es mir nicht leisten, ihn den ganzen Tag geschlossen zu haben.“

„Was meine Arbeit betrifft, klar. Soll ich jemanden zum Aufräumen vorbeischicken?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich trommle selbst ein paar Leute zusammen.“

„Gut. Dann rufe ich dich an, ja?“

Sie runzelte die Stirn. Da sie außer Übung war und nicht wusste, wie sie ihn auf möglichst taktvolle Art und Weise entmutigen konnte, sagte sie einfach: „Riley, ich denke, dass das keine so gute Idee wäre …“

Er warf ihr einen langen, amüsierten Blick zu. „Komisch. Ich hatte angenommen, du würdest gern über die Ermittlungen auf dem Laufenden sein.“

„Natürlich will ich das!“

„Was meinst du, warum ich sonst anrufen wollte?“

Darauf gab es keine Antwort, die sie nicht wie eine Idiotin aussehen ließ. Jetzt erinnerte sie sich wieder ganz genau daran, wie er sie und Alex früher immer schier in den Wahnsinn getrieben hatte.

„Ich meine überhaupt nichts. Bitte ruf mich an. Wenn es um den Fall geht jedenfalls.“

„Sehr schön. Ich melde mich.“

Erst nachdem er gegangen war und sie die Tür hinter ihm geschlossen hatte, fiel ihr wieder das alberne Horoskop ein. Etwas Schönes und Aufregendes steht Ihnen bevor. Gut, so könnte man Riley McKnight durchaus beschreiben, keine Frage. Zu schade nur, dass sie momentan kein Interesse an einem Mann hatte – und schon gar nicht am kleinen Bruder ihrer besten Freundin.

2. Kapitel

Ausnahmsweise war Claire froh, wenig Kundschaft zu haben, da sie sowieso erst einmal das von den Einbrechern hinterlassene Chaos beseitigen musste. Aus purer Verzweiflung hatte sie die verstreuten Perlen vom Boden aufgehoben und zunächst einfach in einen großen Eimer geworfen.

„Dir ist doch klar, dass das hier Monate dauern wird, Liebling?“ Ruth schien mal wieder ihre Gedanken gelesen zu haben, das beherrschte sie perfekt. Bevor Claire etwas entgegnen konnte, meldete sich schon ihre beste Freundin zu Wort.

„Machen Sie Witze, Mrs T.?“ Wenn Alex McKnight lächelte, bekam sie genau so ein Grübchen wie ihr Bruder. „Wenn wir Superfrauen zusammenarbeiten, brauchen wir gerade mal drei Wochen. Höchstens.“

„Ich würde sagen, wir schaffen es in zwei“, behauptete Evie Blanchard, Claires Assistentin. Montags war eigentlich ihr freier Tag, doch sie hatte ihren kurzen Skiausflug sofort abgebrochen, als sie von dem Einbruch hörte, um beim Aufräumen zu helfen.

Evie und Alex waren zwei der sieben Frauen, die um den Werktisch im String Fever verteilt saßen, jede mit einem kleinen Häufchen Perlen vor sich, die nach Farben und Formen sortiert und dann in die Kästchen in der Mitte des Tisches gelegt wurden. Danach sollten sie nach Größe und Typ geordnet werden – Halbedelstein, Cloisonné, gebranntes oder mundgeblasenes Glas.

Claires Mutter hatte neben Maura, Alex’ älterer Schwester, und deren Mutter Mary Ella Platz genommen. Links von Claire saß Evie, rechts Katherine Thorne, die ihr das Geschäft vor fast zwei Jahren verkauft hatte. Alex hatte ihr gegenüber Platz genommen.

Chester lag auf seiner Lieblingsdecke. Manchmal hatte Claire den Eindruck, dass viele ihrer Kundinnen vor allem kamen, weil sie ihren Hund besuchen wollten, der am glücklichsten war, wenn er ausgestreckt in seiner Ecke im String Fever dösen und dem Getratsche lauschen konnte.

In den ersten schwierigen Monaten nach Jeffs Auszug hatte sie hier in ihrem Geschäft, umringt von ihren Freundinnen, Trost und Frieden gefunden. Wie Perlen auf der Schnur waren sie alle miteinander verbunden – durch Freundschaft, Verwandtschaft, gemeinsame Erlebnisse und die Leidenschaft für selbst gefertigten Schmuck.

„Habt ihr schon von Jeanie Strebel gehört?“, fragte Maura.

„Nein. Was denn?“, wollte Claire wissen.

„Sie hat gestern Abend Eiszapfen mit einem Besen vom Dach geschlagen, und einer davon ist auf ihr Bein gefallen. Drei Mal gebrochen. Jeff hat sie gestern noch operiert. Ihre Tochter hat mir erzählt, dass sie bis Sonntag im Krankenhaus bleiben muss.“

„Oh nein!“, rief Mary Ella aus. „Als hätten sie nicht schon genug um die Ohren seit der Herzoperation von Ardell vor drei Monaten.“

Maura nickte. „Ich habe heute Morgen Brianna auf dem Mark getroffen. Habt ihr schon ihre Zwillinge gesehen? Die sind irrsinnig gewachsen und haben ganz herrliche schwarze Locken und riesige Augen. Wie auch immer, ratet mal, was passiert ist, während ihr Dad mit ihrer Mom gestern im Krankenhaus war?“

Alle warteten gespannt, als Maura eine dramatische Pause entstehen ließ.

„Jetzt sag schon, Maur“, rief Alex schließlich. „Rück endlich mit der Sprache raus. Was ist passiert?“

„Sie bekamen Besuch von unserem Hoffnungsengel.“

Aufregung machte sich am Tisch breit. Selbst Ruth lehnte sich, die Augen weit geöffnet, nach vorn. „Wirklich? Schon wieder?“

„Scheint so. Jemand hat zehn neue Hundertdollarscheine in einem Umschlag für die Arztkosten unter ihrer Tür durchgeschoben. Ihr hättet Briannas Gesicht sehen sollen, während sie mir davon erzählte. In ihren Augen standen die Tränen, und sie hat wie von innen geleuchtet.“

Seit ein paar Monaten half in Hope’s Crossing ein geheimnisvoller Wohltäter immer genau dort aus, wo er gebraucht wurde. Als Caroline Bybees uralter Plymouth letzten Herbst keinen Mucks mehr machte, entdeckte sie eines Morgens ein gebrauchtes, aber neueres Modell vor ihrer Tür, zusammen mit dem Fahrzeugbrief und einer Karte, auf der stand: „Fahren Sie vorsichtig.“

Ein paar Wochen davor war eine junge geschiedene Mutter in Claires Laden gekommen und hatte berichtet, dass jemand ihre Heizkostenrechnung für den ganzen Winter bezahlt hatte. In der Weihnachtszeit hatten mehrere Familien – alle mit kleinen Kindern – Kuverts voll Bargeld vor ihrer Tür gefunden und dazu die Notiz: „Frohe Weihnachten von jemandem, der gerne hilft.“

Claire fragte sich, wie viele großzügige Taten es in Hope’s Crossing noch gegeben hatte, von denen sie keine Ahnung hatte. Auch konnte sie sich nicht mehr erinnern, wer zuerst den Unbekannten als Hoffnungsengel bezeichnet hatte.

So anstrengend sie es manchmal fand, in derselben Stadt wie Jeff und Holly zu wohnen, waren solche Geschichten doch immer wieder ein Grund, nicht wegzuziehen. Die Leute hier kümmerten sich um einander. Das wusste niemand besser als sie, schließlich waren auch heute ihre Freundinnen sofort herbeigeeilt, weil sie ihr helfen wollten.

„Ihr seid meine Hoffnungsengel“, brach es aus ihr heraus. „Ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich euch bin, dass ihr alles habt stehen und liegen lassen, um mir ein paar Stunden unter die Arme zu greifen.“

„Aber das ist doch selbstverständlich.“ Mary Ella lächelte, ihre grünen Augen – die Claire so sehr an die ihres Sohnes erinnerten – glänzten liebevoll. „Du hättest nicht mal zu fragen brauchen, Liebes. In der Sekunde, als ich hörte, dass in deinen Laden eingebrochen worden ist und der Mistkerl ein derartiges Durcheinander hinterlassen hat, hatte ich mich schon auf den Weg gemacht, damit ich dir beim Aufräumen helfen konnte.“

„Ich kann immer noch nicht begreifen, dass jemand aus unserem Ort so was tut.“ Katherine schien den Einbruch geradezu persönlich zu nehmen.

„Ich könnte wetten, dass es ein Urlauber aus dem Skiresort war.“ Evie strich sich eine blonde Haarsträhne hinters Ohr. „Was sagt denn die Polizei?“

„Chief McKnight wollte sich mit mir in Verbindung setzen, bisher allerdings habe ich noch nichts von ihm gehört. Es ist ja auch erst ein paar Stunden her.“

„Na, das kennen wir ja: Mal wieder wartet eine Frau vergeblich auf Rileys Anruf.“

Für diese Anspielung erntete Alex von ihrer Mutter einen rügenden Blick. „Sein Privatleben ist die eine Sache“, erklärte Mary Ella streng, „doch in seinem Beruf ist dein Bruder äußerst pflichtbewusst. Riley ist ein hervorragender Polizist. Du weißt so gut wie ich, dass Katherine und der Rest des Stadtrats sich sonst niemals für ihn entschieden hätten.“

Katherine wirkte beunruhigt, da sie befürchtete, in eine Familienangelegenheit hineingezogen zu werden. „Wir fühlen uns sehr geehrt, dass Riley überhaupt bereit war, zurück nach Hope’s Crossing zu kommen“, meinte sie schnell. „Zuerst war ich jedoch besorgt, dass er hier nicht genug zu tun hätte.“

„Ist das etwa ein Geständnis?“, zog Claire sie auf. „Willst du andeuten, dass du in ein halbes Dutzend Läden auf der Main Street eingebrochen bist, damit Riley was zu tun hat und in Hope’s Crossing bleibt?“

„Claire Renée!“ Ruth klang ehrlich entsetzt. „Dir ist absolut klar, dass Katherine so etwas niemals machen würde, egal, wie gut Chief McKnight in seinem Job sein mag, und egal, wie sehr der Stadtrat ihn halten will.“

Alex verdrehte die Augen, und Claire biss sich innen auf die Wangen, froh darüber, dass sie an diesem schrecklichen Tag überhaupt noch etwas lustig finden konnte.

„Natürlich weiß ich das, Mom“, erwiderte sie. „Ein Witz. Mal wieder.“

„Eigentlich gar keine schlechte Idee.“ Katherine lächelte. „Schade, dass ich nicht vorher draufgekommen bin. Wenn ich es gewesen wäre, hätte ich allerdings nicht so ein Chaos hinterlassen. Und mit Sicherheit hätte ich das Hochzeitkleid der armen Genevieve nicht zerschlitzt.“

Dieser Anruf war Claire wirklich schwergefallen. Genevieve hatte es verständlicherweise nicht besonders gut aufgenommen, dass ihr Hochzeitskleid zerstört worden war. Daraufhin hatte Claire mit dem Designer telefoniert, der versprochen hatte, das gleiche Kleid innerhalb der nächsten Wochen noch einmal zu schicken – gegen einen Aufpreis natürlich. Claire musste die Kosten übernehmen, bis ihre Versicherung für den Schaden bezahlte, das war Claire allerdings unwichtig. Hauptsache, das Ganze führte nicht zu einem Streit mit der Beaumont-Familie.

„Katherine, du hast deine Ohren doch überall.“ Alex fuhr mit geschickten Fingern fort, die Perlen zu sortieren, während sie sprach. „Was glauben denn die Leute, wer hinter dieser Einbruchserie steckt?“

„Als ich vor einer Stunde im Diner vorbeigeschaut habe, gab es jede Menge Gerüchte. Von der ukrainischen Mafia über kalifornische Gangs bis hin zu irgendeiner Regierungsverschwörung war alles dabei. Riley wird eine Menge zu tun haben, diesen ganzen verrückten Hinweisen nachzugehen.“

„Er wird den Fall lösen.“ Mary klang äußerst überzeugt. „Dieser Junge ist von Geburt an äußerst dickköpfig. Er wird nicht aufgeben, bevor er die Einbrüche aufgeklärt und die Verbrecher hinter Gitter gebracht hat. Egal, wie schwer es wird.“

„Mit anderen Worten meint Ma damit, dass ihr einziger Sohn hinterlistig und fies ist“, erklärte Alex.

Und manipulativ und niederträchtig“, fügte Maura hinzu.

„Nicht zu vergessen: störrisch wie ein Esel“, schlug Claire vor. Durch die jahrelangen Streitereien mit Riley hatte sie sich das Recht verdient, mit den anderen über ihn herzuziehen, obwohl sie nicht seine Schwester war.

Alle Frauen lachten, außer Ruth, die die Lippen zusammenpresste. Trotz ihrer Freundschaft mit Mary Ella konnte sie Riley nicht ausstehen und fand nichts, aber auch gar nichts, was ihn betraf, amüsant. Sie konnte nicht vergessen, wie viel Ärger er in seiner Jugend verursacht und wie sehr er seine Mutter verletzt hatte. Alle anderen aber kicherten noch, als die Türglocke bimmelte und besagter Mann in den Laden trat.

So wie er dastand, das dunkle Haar zerzaust vom kalten Wind, einen Anflug von Dreitagebart auf Kinn und Wangen, schien er Unmengen überschüssiges Testosteron zu verströmen. Claire stellte sich vor, wie es wäre, mit den Fingern über seine Bartstoppeln zu streichen, die Linien seines kantigen Kinns nachzuzeichnen und das Grübchen in seinem Mundwinkel zu berühren.

Hitze schoss in ihre Wangen. Was, in drei Teufels Namen, war eigentlich ihr Problem? Es musste der Stress sein. Nur so konnte sie sich diese vollkommen unpassende Reaktion erklären.

Riley musterte die Gruppe kichernder Frauen, und Claire stellte fest, dass sie nicht die Einzige war, die seinem Blick auswich. Doch wahrscheinlich war sie die Einzige, deren Hormone gerade Purzelbäume schlugen.

„Okay, warum habe ich urplötzlich das Gefühl, dass meine Ohren heiß werden sollten?“, murmelte er.

„Dafür gibt es keinen Grund, Darling“, versicherte Mary Ella eilig, zwinkerte dabei aber den anderen zu.

„Sind wir etwa ein wenig narzisstisch veranlagt?“, fragte Alex süffisant.

Statt einer Antwort zog er an dem dunklen Haar seiner Schwester, dann beugte er sich vor und küsste seine Mutter auf die Wange. Claire war nah genug neben ihm, um seinen Duft einzuatmen, erdig und männlich.

„Wie nett von euch allen, Claire zu helfen. Scheint so, als ob das hier Monate dauern würde.“

„Sag ich doch“, erwiderte Ruth murrend.

„Ich schätze, du kennst hier alle“, sagte Mary Ella. „Oh, von Evie einmal abgesehen. Evie Blanchard, das ist der neue Polizeichef von Hope’s Crossing und mein Baby, J. Riley McKnight. Evie arbeitet für Claire.“

Riley warf seiner Mutter einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ich würde es vorziehen, Jüngster genannt zu werden und nicht ‚mein Baby‘, dennoch danke, Ma. Freut mich, Sie kennenzulernen, Evie.“

Er schüttelte Evies Hand, und Claire rechnete damit, dass er sofort beginnen würde, seinen Charme spielen zu lassen. Evie war eine schöne Frau, zart und blond, sie wirkte zerbrechlich – was sie nicht war –, vor allem heute mit den leichten Schatten unter den großen blauen Augen. Aber Riley schaute sie nur höflich und fast schon distanziert an.

„Wie laufen die Ermittlungen?“, erkundigte sich Maura. „Wir haben gerade darüber gesprochen. Bist du vielleicht hier, weil ihr die kleinen Scheißer geschnappt habt?“

Er zog eine Augenbraue hoch. „Maur, sagt man so was? Und das ausgerechnet vor Mrs Tatum und Stadträtin Thorne. Reiß dich zusammen, sonst wird Ma dir noch den Mund mit Seife auswaschen.“

„Sehr richtig“, bestätigte Mary Ella, die praktischerweise vergessen zu haben schien, welche Schimpfworte sie selbst heute schon von sich gegeben hatte.

Maura hatte noch nie interessiert, was andere von ihr hielten – etwas, wofür Claire sie ehrlich bewunderte. „Du hast doch gesehen, was die hier angerichtet haben. Als was würdest du sie bezeichnen?“

„Der Punkt geht an dich.“

„Ich habe wirklich Glück gehabt, dass sie meinen Buchladen nicht überfallen haben.“

„Also habt ihr sie nun geschnappt oder nicht?“, mischte sich Alex ein.

„Wir arbeiten daran. Ich muss Claire noch ein paar Fragen stellen.“

„Bitte, wir würden auch gern erfahren, was los ist.“ Aus reiner Neugier hatte Ruth offensichtlich beschlossen, ihre Abneigung Riley gegenüber einen Moment lang zu vergessen.

„Wenn es euch nicht stört, würde ich gern allein mit Claire sprechen.“

Ruth versuchte gar nicht erst, ihre Enttäuschung zu verbergen, während Claire sich erhob und ihm voraus in ihr Büro ging. Riley schloss die Tür, machte es sich auf dem Besucherstuhl bequem und rieb sich über die Stirn. Er sieht müde aus, dachte sie. Sein Tag war wahrscheinlich noch anstrengender gewesen als ihrer. Sie hatte schließlich nur mit einem Einbruch zu tun, er allerdings musste sich mit einer ganzen Einbruchsserie auseinandersetzen.

„Möchtest du Kaffee?“, fragte sie. „Oder Tee?“

„Nein, vielen Dank. Noch mehr Koffein, und ich springe durch die Gegend wie ein Grashüpfer, wenn der Rasen gemäht wird.“

„Gibt es Neuigkeiten?“

„Ich schätze, so könnte man es nennen. Viel ist es nicht gerade, aber ich habe dir schließlich versprochen, dich auf dem Laufenden zu halten. Wir haben einen möglichen Augenzeugen gefunden, der ein verdächtiges Fahrzeug vor dem Pizzaladen beobachtet hat. In den frühen Morgenstunden. Einen neueren dunkelblauen oder grünen oder schwarzen Pick-up. Groß. Der Augenzeuge war sich nicht sicher, ob es sich um einen Dodge oder einen Ford handelte.“

„Super. So was fährt ungefähr die Hälfte der Leute hier.“

„Ich weiß, aber es ist besser als nichts. Außerdem sind nicht alle Überwachungskameras in den anderen Läden deaktiviert worden. Im Fahrradgeschäft zeigen die Aufnahmen drei Personen am Tatort. Allerdings tragen sie Skimasken und billige Wegwerf-Regenmäntel über ihren Parkas, damit man ihre Kleidung nicht erkennen kann.“

Beschämt stellte sie fest, dass sie bisher kaum einen Gedanken an die anderen Geschäfte verschwendet hatte. „Haben sie großen Schaden angerichtet?“

„Unterschiedlich. Meistens wurden Computer geklaut und Bargeld. Ein Luxusfahrrad bei Mike’s Bike.“ Trotz der Müdigkeit wurde sein Blick auf einmal scharf. „Vandalismus gab es allerdings nur bei dir.“

Ich Glückskind, schoss es ihr durch den Sinn. „Ich verstehe immer noch nicht, wieso. Vielleicht waren sie sauer, weil sie nicht viel Wertvolles gefunden haben.“

„Kann sein. Oder es ist etwas Persönliches. Tut mir leid, das fragen zu müssen, Claire, aber kennst du irgendjemanden, der etwas gegen dich hat, von Dr. Arsch einmal abgesehen?“

Sie starrte ihn an und begann dann zu lachen. Sie konnte einfach nicht anders. „Jeff? Du denkst, Jeff ist darin verwickelt? Das ist doch völlig verrückt! Er würde so etwas niemals tun. Wie auch immer, er hat überhaupt keinen Grund, sauer auf mich zu sein. Wenn überhaupt, dann …“

„Du auf ihn?“

Ihr Gelächter erstarb. „Jeff und ich bemühen uns sehr, gut miteinander auszukommen. Der Kinder wegen.“

„Ah, die berühmte einvernehmliche Scheidung – eine Seltenheit!“ Obwohl er einen neckenden Ton angeschlagen hatte, bemerkte sie etwas in seinem Blick, eine gewisse Bitterkeit – wahrscheinlich dachte er an die Scheidung seiner eigenen Eltern. Sie und Alex hatten damals gerade mit ihrem Senior Year begonnen, mussten also ungefähr siebzehn gewesen sein und Riley vierzehn. Auch wenn sie die ganze Geschichte natürlich vor allem von Alex gehört hatte, wusste sie, dass alle sechs McKnight-Kinder verwirrt und wütend gewesen waren, völlig verzweifelt darüber, dass diese so scheinbar glückliche Familie von heute auf morgen einfach zerbrochen war.

Riley hatte am meisten gelitten, als einziger „Mann“ im Haus, nachdem der Vater Hope’s Crossing so plötzlich verlassen hatte, um seine wissenschaftlichen Ambitionen zu verfolgen.

„Wir haben hart daran gearbeitet, sie so einvernehmlich wie möglich zu gestalten“, entgegnete sie steif. Sie sprach wirklich nicht gern über ihre Scheidung.

„Was ist mit seiner neuen Frau? Wir glauben, dass zumindest eine der Personen auf dem Film eine Frau ist.“

Sie versuchte sich vorzustellen, wie Holly mit einer Horde Einbrecher durch den Ort streifte, Geschäfte überfiel, Fahrräder und Computer stahl und im String Fever Genevieve Beaumonts Hochzeitskleid zerschlitzte. Das war in etwa genauso absurd wie der Gedanke, dass Jeff der Bandenchef wäre.

„Meinst du damit etwa, dass du eine Frau verdächtigst, die im fünften Monat schwanger ist?“

Da war sein Grübchen wieder. „Unter dem Plastikregenmantel ist es nicht allzu leicht zu erkennen, ob sie schwanger ist oder nicht. Aber okay, wahrscheinlich eher nicht.“

„Kleiner Tipp von mir. Du solltest Holly nicht unbedingt in einen kleinen Raum mit einer nackten Glühbirne sperren, damit du sie befragen kannst.“

Jetzt schenkte er ihr ein breites Grinsen, die Müdigkeit war aus seinem Gesicht verschwunden. Sie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was für ein Quälgeist er früher gewesen war, was ihr aber ziemlich schwerfiel, denn dieses Grinsen jagte ihr wohlige Schauer über den Rücken … etwas, das sie ewig nicht mehr erlebt hatte.

„Es würde den Ermittlungen helfen, wenn du in Ruhe darüber nachdenkst, wer wütend auf dich sein könnte. Vielleicht fragst du auch deine Mitarbeiter, ob ihnen jemand einfällt, jemand, der etwas gegen dich hat oder gegen sie.“

Sie wollte sich gar nicht erst denken, dass irgendwo da draußen jemand existierte, der sie oder eine ihrer Angestellten nicht leiden konnte. Katherine arbeitete manchmal für sie, aber sie war die beliebteste Frau der Stadt. Evie lebte noch gar nicht lange genug in Hope’s Crossing, um sich Feinde gemacht zu haben – von Brodie Thorne vielleicht abgesehen, Katherines Sohn, der Evie aus irgendeinem Grund nicht ausstehen konnte. Brodie war jedoch einer der erfolgreichsten Geschäftsmänner der Stadt. Da konnte sie sich ja sogar noch eher Holly und Jeff als eine Art Bonnie und Clyde vorstellen.

Damit blieb noch Mauras Tochter Layla übrig, die nach der Schule und samstags im Laden aushalf.

Und natürlich Claire selbst.

„Das mache ich“, meinte sie. „Ich bin dir wirklich dankbar, dass du extra vorbeigeschaut hast.“

„Gern geschehen.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Wie wäre es, wenn du dich erkenntlich zeigst und mir verrätst, was die da draußen über mich gesagt haben, als ich den Laden betreten habe?“

Sie spürte, wie ihr Gesicht heiß wurde – was natürlich absolut albern war. „Ähm, was für ein guter Polizist du bist“, stieß sie hervor.

Er lächelte. „Hmm. Warum glaube ich dir das nicht?“

„Weil du ein ziemlich misstrauischer Mensch bist?“

„Praktisch für einen Cop. Aber egal, ich hatte einfach gehofft, es wäre was Anrüchiges gewesen.“

Bevor sie darauf etwas entgegnen konnte, erklang von draußen die Glocke, da jemand die Tür aufriss. Eine Sekunde später stürmte ihr achtjähriger Sohn ins Büro.

Dass ihr Laden nur ein paar Straßen von der Schule entfernt lag, hatte viele Vorteile. Zum Beispiel konnten ihre Kinder nach Schulschluss einfach vorbeikommen, wenn Jeff oder Claires Mutter keine Zeit hatten, sie abzuholen.

Macy bastelte dann gerne Armbänder und Ohrringe für ihre Freunde, sie hatte ein sehr gutes Gespür für Stil. Claire überließ ihr Perlen und anderes Zubehör, dafür musste Macy bei der Inventur helfen oder ab und zu leichtere Büroaufgaben erledigen.

Owen interessierte sich nicht besonders für Perlen und Edelsteine, durfte allerdings, sobald er unter ihrem strengen Blick seine Hausaufgaben gemacht hatte, eine Stunde lang Nintendo auf der Konsole in ihrem Büro spielen – die von den Einbrechern offenbar übersehen worden war. Da zu Hause keine Computerspiele erlaubt waren, war er immer ganz wild darauf, ins String Fever zu kommen.

Sie war froh über diese zusätzlichen Stunden mit ihren Kindern – zumindest wenn die beiden sich ausnahmsweise mal nicht stritten. Was im Moment leider nicht der Fall zu sein schien.

„Macy hat einen Freund, Macy hat einen Freund“, sang Owen laut, die Wollmütze bedeckte sein blondes Haar, seine schmalen Schultern verschwanden fast unter dem riesigen Snowboardparka, den er unbedingt hatte haben wollen.

„Halt die Klappe!“ Macy, die ihm auf den Fersen folgte, schaffte es irgendwie, zugleich stinksauer und etwas besorgt über die Reaktion ihrer Mutter dreinzuschauen. „Du weißt doch gar nichts.“

„Ich weiß, dass du mit Toby Kingston nach der Schule zusammengestanden hast, und du hast gelacht und total bescheuert ausgesehen.“ Owen begann zu schielen und ließ die Unterlippe hängen – offenbar seine Interpretation einer liebeskranken Zwölfjährigen.

„Habe ich nicht.“ Macy lief rot an, sowie sie Riley im Besucherstuhl entdeckte. „Mom, er soll aufhören!“

„Owen, hör auf, deine Schwester zu ärgern“, rief Claire automatisch.

„Ich hab sie nicht geärgert! Ich sage nichts als die Wahrheit! Du hättest sie sehen sollen! Macy und Toby sitzen unter einem Baum. K-U-S-S …“ Er brach mitten im Satz ab, denn endlich hatte er bemerkt, dass noch jemand im Büro war. „Sorry. Hi.“

Riley betrachtete die Geschwister belustigt. Kein Wunder, konnte man ihn doch mehr oder weniger als Autor des Ratgebers „Wie ich meine ältere Schwester ärgere“ bezeichnen. Oder in seinem Fall fünf ältere Schwestern. „Hey.“

„Owen, Macy, das ist Chief McKnight.“

Macy stellte ihre Umhängetasche auf dem Boden ab. „Anna Kramer hat erzählt, dass einige Läden in Hope’s Crossing überfallen worden sind. Und String Fever auch. Stimmt das?“

Obwohl sie ihre Kinder nicht unnötig aufregen wollte, konnte Claire ihnen schlecht die Wahrheit verheimlichen. „Ja. Sie haben meinen Computer gestohlen und etwas Geld aus der Kasse genommen. Und sie haben sämtliche Schubladen aufgerissen und den Inhalt auf dem Boden verteilt. Deswegen sind Grandma und die anderen da. Sie helfen mir, die Perlen zu sortieren.“

„Warum hast du mich nicht angerufen?“ Macy starrte ihre Mutter mit einem vorwurfsvollen Blick an, einem Blick, den sie in letzter Zeit perfektioniert hatte. „Ich musste es ausgerechnet von Anna erfahren, der größten Klatschtante der ganzen Schule.“

„Ich habe deine Mom gebeten, nicht zu vielen Leuten von dem Einbruch zu erzählen, solange wir an dem Fall arbeiten“, wandte Riley ein.

Macy wirkte beeindruckt. „Wow, so richtige Ermittlungsarbeit?“

Sein Grübchen blitzte auf. „So richtige.“

„Du bist der Onkel von Jace, oder?“, wollte Owen wissen. Er und Jace, der jüngste Sohn von Rileys Schwester Angie, waren praktisch unzertrennlich.

„Schuldig.“

„Jace ist mein bester Freund. Wir gehen in die gleiche Klasse.“

„Dann trittst du heute Abend beim Spring Fling bestimmt auch auf.“

„Klar. Dieses Jahr führen wir ein patriotisches Stück auf. Ich spiele Abraham Lincoln.“

„Du solltest mal seinen bescheuerten Hut sehen“, rief Macy.

„Klappe. Du bist ja nur neidisch. Abraham Lincoln war immerhin der große Befreier! Als du beim Spring Fling mitgemacht hast, musstest du irgendeine doofe Schönheit spielen.“

Und weiter geht’s. Claire seufzte. Die beiden zankten sich einfach über alles, darüber, wer im Auto wo sitzen oder wer Chester füttern durfte.

Sie kämpfte gegen drohende Kopfschmerzen an und entschied sich für ihr Lieblingsmanöver: Ablenkung. „Macy, frag Evie, ob du ihr mit den Perlen helfen kannst.“

Kaum hatte ihre Tochter das Büro verlassen, wandte sie sich an Owen: „Wenn du deine Hausaufgaben fertig hast, kannst du das Lego-Star-Wars-Videospiel spielen, das dein Vater dir am Wochenende gekauft hat. Und dann gehen wir nach Hause und stecken dich in dein Kostüm für das Stück.“

„Können wir bei McDonald’s essen?“

Er spürte immer ganz genau, wann sie mal wieder zu gestresst und müde war, um gesundes Essen auf den Tisch zu bringen. „Warten wir mal ab, was aus deinen Hausaufgaben wird.“

Schon hatte er seine Schulmappe aus dem Rucksack gezerrt und legte einen ganzen Stapel Unterlagen auf den Schreibtisch. Riley stand auf, um ihm Platz zu machen.

„Ich muss dann mal los. Gib mir Bescheid, wenn dir noch irgendwas einfällt, egal, wie unbedeutend es dir vorkommt. Es könnte genau das Detail sein, das uns noch fehlt.“

„Das werde ich. Danke noch einmal für deine Hilfe.“

„Du kannst mir danken, sobald ich die Dre…“, er unterbrach sich im letzten Moment mit einem entschuldigenden Blick auf Owen. „… die dreisten Kerle erwischt habe. Viel Glück heute Abend, Abe. Du warst immer mein Lieblingspräsident.“

Owen grinste, breitete seine Sachen auf dem Tisch aus und griff nach einem Bleistift. Claire folgte Riley zurück in den Laden, wo er sich von den Frauen verabschiedete, die noch immer unermüdlich die Perlen sortierten.

„Wow. Das sieht wirklich nach einem schlimmen Durcheinander aus“, kommentierte er das Szenario.

„Wir kümmern uns schon darum“, entgegnete seine Mutter. „Sorg du einfach dafür, dass die Kerle gefasst werden, die Claire das angetan haben.“

„Nicht, dass du mich unter Druck setzen würdest. Bin schon auf dem Weg, Ma.“ Er küsste seine Mutter auf den Kopf mit den grau melierten Locken und eilte zur Tür.

3. Kapitel

Manche Dinge ändern sich nie, dachte Riley. Er saß in der Aula der Grundschule von Hope’s Crossing neben seiner zweitältesten Schwester Angie und hatte das Gefühl, auf einer Zeitreise zu sein. Hier sah es noch genauso aus wie vor fünfundzwanzig Jahren. Dieselben knarrenden Klappstühle, dieselben roten Samtvorhänge vor der Bühne.

Seit über dreißig Jahren führte die jeweils dritte Klasse der Grundschule beim Spring Fling ein Theaterstück auf. Riley konnte sich noch lebhaft an die Darbietung seiner Klasse erinnern, eine Hommage an die Goldsucher, die hier ihr Land abgesteckt hatten. Trotz der strengen Warnungen der alten Mrs Appleton hatte er sich damals von der Begeisterung der Zuschauermenge so mitreißen lassen, dass er während eines Songs wie ein Rockstar von der Bühne ins Publikum gesprungen war. Seine Landung im Schoß eines mürrischen Lehrers war in den heiligen Hallen der Hope’s Crossing Grundschule bis heute legendär.

Er war lange von zu Hause fort gewesen und hatte diese kleinstädtischen Traditionen immer gehasst. Doch jetzt, fünfzehn Jahre später, wunderte er sich selbst darüber, dass er sie auf einmal als irgendwie tröstlich empfand.

Er hatte sich sehr verändert in den vergangenen Jahren und die Stadt natürlich auch. Aber manches war beim Alten geblieben. Die Bratkartoffeln im Center of Hope Café waren noch immer die besten der Welt. Die Berge, die die Stadt umgaben, erhoben sich genauso dramatisch und majestätisch in den Himmel wie damals, als er gegangen war. Und der Spring Fling zog noch immer eine große Zuschauermenge an.

Er hatte sich gefreut, nach Hause zurückzukehren, und sich gleichermaßen davor gefürchtet. Die Jahre als Cop in der harten Realität von Oakland hatten ihn mindestens genauso geprägt wie seine Jugend hier. Wenn man jahrelang mit Morden, organisierter Kriminalität und Vergewaltigungsfällen zu tun hatte, kam man da nicht unbeschadet heraus. Als der ehemalige Chief der Polizei von Hope’s Crossing ihn fragte, ob er nach seiner Pensionierung seinen Posten übernehmen wolle, hatte Riley zunächst gedacht, dass er gar nicht mehr in der Lage wäre, in so einer ruhigen, friedlichen Gegend zu arbeiten.

Doch wie er sich jetzt mit seiner Familie in der Aula befand, schienen diese Befürchtungen mit einem Mal meilenweit entfernt. Die Zuschauer applaudierten frenetisch, als Owen Bradford seine anrührende Rede über Brüder, die gegen Brüder kämpfen, beendet hatte, und Riley ließ den Blick von der Bühne über die Sitzreihe schweifen, in der Claire neben ihrem bescheuerten Exmann und dieser aufgetakelten Schönheit saß, die er am Morgen im String Fever angetroffen hatte. Claires Tochter hatte sich neben diese neue Frau gesetzt, nicht neben ihre Mutter. Eigenartig.

Wie konnte Claire nur so ruhig und gleichmütig wirken? War ihre Ruhe nur gespielt, oder interessierte es sie wirklich nicht, dass Jeff sie gegen ein neueres, jüngeres Modell eingetauscht hatte?

Aber das ging ihn nichts an. Selbst wenn ein Dutzend Exmänner um sie herum verteilt gewesen wären wie diese glitzernden Perlen in ihrem Laden, würde es ihn nichts angehen.

Wie beunruhigend, dass er von Claire Bradford noch genauso fasziniert war wie damals als dummer, kleiner Junge. Was Claire wohl dazu sagen würde, wenn sie wüsste, dass sie früher seine Traumfrau gewesen war?

Hastig richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Bühne, wo sein Neffe als Erzähler gerade Betsy Ross vorstellte. Was das alles mit einer Frühlingsfeier zu tun haben sollte, war ihm schleierhaft. Doch wahrscheinlich war es nach dreißig Jahren nicht so leicht, sich mal etwas Originelleres für die Drittklässler einfallen zu lassen.

Die Zuschauer jedenfalls schienen sich nicht daran zu stören. Kaum war das letzte Wort gesprochen, sprangen alle auf und begannen mit großer Begeisterung zu klatschen. Die kleinen Schauspieler strahlten, während der Vorhang mehrmals aufging, damit sie sich verbeugen konnten.

„Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, Riley.“ Angie lächelte ihm zu, nachdem der Applaus abgeebbt war und die Leute ihre Mäntel und Taschen zusammensuchten. „Es bedeutete Jace so viel, dass du gekommen bist.“

„Ich habe in den letzten Jahren einiges verpasst. Es fühlt sich gut an, wieder da zu sein.“

Sie berührte seinen Arm auf ihre ganz typische Art. Angie war für sie alle wie eine kleine Mutter gewesen. Er liebte jede einzelne seiner Schwestern und stand Alex wahrscheinlich am nächsten, dennoch hatte er für Angie einen ganz speziellen Platz in seinem Herzen reserviert. In der dunklen Zeit, als ihr Vater einfach abgehauen war, hatte sie ihn immer in die Arme geschlossen, wenn seine Mutter selbst zu unglücklich gewesen war, um Trost zu spenden.

„Du bleibst doch noch etwas, oder? Angie hat ihre berühmten Zimtplätzchen gebacken“, sagte Jim, ihr Mann.

Angie und Jim waren so ziemlich die normalsten und gesündesten Menschen, die er jemals kennengelernt hatte. Nach zwanzig Jahren Ehe hielten sie noch immer Händchen und himmelten einander an.

„Und du hast deinem Lieblingspolizisten vorher keine vorbeigebracht?“, zog er seine Schwester auf.

Sie schnitt eine Grimasse. „Hab ich vergessen, sorry. Ich habe mich noch immer nicht daran gewöhnt, dass du wieder zu Hause bist und ich dich jederzeit mit Keksen verwöhnen kann. Ich habe aber noch ein Extrablech gebacken, es könnte also sein, dass irgendwo noch ein paar Krümel rumliegen. Die kann ich dir morgen bringen.“

„Das war nur ein Scherz. Du musst mich nicht mehr so verwöhnen.“

„Kann ich aber, falls ich will. Und ich will. Ich bin einfach nur froh, dass du wieder hier bist.“

Das konnte er von sich nicht gerade behaupten. Es war eine schwierige Entscheidung gewesen, und noch war ihm nicht klar, ob er die richtige Wahl getroffen hatte. Weiter als Undercoveragent zu arbeiten, dazu war er nicht länger in der Lage gewesen. Er hatte kurz davor gestanden, seine Dienstmarke abzugeben und seinen Job für immer an den Nagel zu hängen – wenn Chief Coleman ihn nicht angerufen hätte, würde Riley jetzt vielleicht irgendwo in Alaska als Bauarbeiter sein Geld verdienen. Denn für mehr fühlte er sich – von der Polizeiarbeit einmal abgesehen – nicht qualifiziert.

Alaska war allerdings immer noch eine Option. Er hatte auf einer dreimonatigen Probezeit bestanden, um herauszufinden, ob er überhaupt noch in Hope’s Crossing leben konnte. Sollte er also feststellen, dass das Leben als Kleinstadtpolizist seiner Psyche genauso wenig guttat wie die Arbeit in Oakland, dann würde er den nächsten Winter eben in der Tundra verbringen.

„Hey, McKnight! Der Stadt muss es ja echt mies gehen, wenn sie einen erbärmlichen Typen wie dich zurückholt.“

Er drehte sich um und grinste, sowie er seinen alten Freund erkannte. Monte Richardson war einmal der beste Quarterback des Footballteams von Hope’s Crossing gewesen. Jetzt hatte er schütteres Haar, einen kleinen Bauch, einen dicken buschigen Schnurrbart und sah aus wie ein zufriedener Ehemann und Vater – dem schlafenden Baby in seinem Arm nach zu urteilen.

„Hey, Monte.“ Irgendwie gelang es ihnen, sich um das schlafende Baby herum die Hand zu schütteln. „Ich dachte, ich würde dir das nächste Mal über den Weg laufen, wenn ich dich wegen Trunkenheit und Ruhestörung festnehme.“

Monte lachte. „Mich doch nicht, Mann. Ich habe mich total verändert. Ich trinke höchstens mal ein, zwei Bier, wenn ich das Montagabendspiel im Fernsehen anschaue. Bist jederzeit eingeladen.“

Riley schüttelte den Kopf. „Wie sind die Helden gefallen! Was ist nur aus deinem Motto ‚Saufen bis zum Umfallen‘ geworden?“, erwiderte er lachend.

„Das Leben kam dazwischen, Mann. Kinder, Familie. Ist ein echter Höllentrip. Solltest du auch mal versuchen.“

Das war nichts für ihn, wie er schon vor langer Zeit herausgefunden hatte. Familie bedeutete nichts anderes als Chaos und Unsicherheit, Wahnsinn und Schmerz. Seiner Erfahrung nach war das Leben sowieso schon anstrengend genug, warum noch zusätzliche Probleme heraufbeschwören?

Gerne hätte er sich noch länger unterhalten, aber da wurden sie von Bürgermeister Beaumont unterbrochen, der Monte mit einem höflich herablassenden Lächeln begrüßte und dann Riley zehn Minuten lang über das ausquetschte, was für ihn offenbar das Wichtigste war: die Zerstörung des Hochzeitskleids seiner Tochter.

„Sie müssen die Verbrecher schnell fassen“, befahl der Bürgermeister schließlich in strengem Ton. „Gennie und meine Frau wollen Blut sehen! Wir können nur hoffen, dass die beiden diesen Typen nicht als Erstes auf die Spur kommen. Denn dann hätten Sie gleich noch einen Mordfall am Hals.“

Dann wurde der Bürgermeister zum Glück von einem Stadtrat angesprochen, und Riley nutzte diesen Moment, um sich mit einem kurzen Winken zu verabschieden.

Doch er kam nur langsam voran. Auch das war Segen und Fluch einer Kleinstadt. Jeder wollte mit ihm sprechen, alte Zeiten aufleben lassen und erfahren, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war. Und natürlich die vier Einbrüche, zu denen jeder seinen Senf abgeben wollte.

Der Polizeichef einer Kleinstadt zu sein unterschied sich nicht sehr von dem Job als Undercoveragent, wo es vor allem darum ging, sich unauffällig unter die Leute zu mischen. Nur dass er jetzt nicht mit Drogendealern und Zuhältern herumhing, sondern höfliche Konversation mit anständigen Leuten betrieb, Kontaktpflege sozusagen, etwas, womit er sich nicht besonders wohl in seiner Haut fühlte.

Noch merkwürdiger wurde es, als er auf J. D. Nyman traf, einen seiner Mitarbeiter, der sich ebenfalls um den Posten des Polizeichefs beworben hatte. Der Mann machte kein Geheimnis daraus, dass er Riley für diese Stelle nicht für qualifiziert genug hielt.

„Officer Nyman“, sagte Riley. „Gibt es schon was Neues vom kriminaltechnischen Labor?“

„Nein“, antwortete der Mann unverhohlen grob und drehte ihm dann den Rücken zu, um sich weiter zu unterhalten.

Riley wollte ihn schon zurechtweisen, entschied dann aber, dass dies nicht der richtige Ort dafür war. Stattdessen lief er aus der Aula in die Halle, wo er an der Garderobe mit Claire Bradford zusammenstieß, die gerade nach einem grauen Wollmantel griff.

Sie sieht müde aus, dachte er. Unter ihren großen blauen Augen, von denen er so oft geträumt hatte, lagen dunkle Schatten. Sie lächelte. „Hallo, Chief McKnight.“

Die Wärme in ihrer Stimme tat ihm gut, vor allem nach Nymans Unhöflichkeit. „Wie es scheint, hast du dich doch noch von dem guten Doktor lösen können.“

Er nahm ihr sanft den Mantel ab und half ihr hinein. Ihre Lippen wurden schmal, ob seinetwegen oder wegen der Erwähnung des Doktors wusste er nicht. „Holly war müde, deswegen sind sie früh nach Hause gegangen.“

Sie hatte immer schon für Jeff Bradford geschwärmt, und dafür hasste er diesen Kerl. Kaum hatte Jeff sie irgendwann ebenfalls bemerkt, war mit ihr überhaupt nichts mehr anzufangen gewesen.

Selbst damals schon hatte sie immer davon geträumt, eines Tages in einem der alten historischen Backsteinhäuser von Hope’s Crossing zu leben und eine Familie zu gründen.

Nun hatte sich ihr Wunsch nicht so ganz erfüllt, und das tat ihm wirklich leid für sie. Wenn es jemand verdient hatte, das Leben zu bekommen, nach dem er sich sehnte, dann Claire Tatum Bradford. Als Kind war sie durch die Hölle gegangen und sollte eigentlich ganz oben auf der Liste für ein Happy End stehen.

War sie verzweifelt, weil Bradford ihr den Laufpass gegeben hatte? Hoffentlich nicht. Riley war vierzehn gewesen, als sein Vater verschwunden und seine Mutter vollkommen zusammengebrochen war. Er konnte sich noch gut an die Nächte erinnern, in denen er von ihrem Schluchzen aufgewacht war. Keiner konnte begreifen, dass James McKnight seine Frau und seine sechs Kinder tatsächlich im Stich gelassen hatte.

Das war auch so eine Sache, wenn man nach Hause zurückkehrte. Erinnerungen, die man jahrelang verdrängt hatte, drangen wieder an die Oberfläche. Hastig richtete er seine Aufmerksamkeit auf Claires Sohn.

„Toller Auftritt.“ Er schüttelte mit feierlichem Ernst Owens Hand. „Deine Rede hat mir am besten gefallen.“

Der Junge grinste ihn an. „Danke. Ich bin superfroh, dass es vorbei ist.“

„Ich auch.“ Ein Junge, der mit seinem flammend roten Haar und den Sommersprossen einen ziemlich untypischen Franklin D. Roosevelt dargestellt hatte, strahlte ihn an.

„Das ist Jordie. Wir bringen ihn nach Hause“, erklärte Owen. „Seine Eltern konnten nicht kommen, weil sie die Kotzeritis haben.“

Seine Schwester verdrehte die Augen. „Musst du immer so eklig sein?“

Er steckte einen Finger in den Mund und gab ein würgendes Geräusch von sich. Seine Mutter warf ihm einen strengen Blick zu.

„Carrie und Don haben die Grippe, die Armen. Ich habe ihnen angeboten, Jordan mitzunehmen“, wandte sie sich an Riley.

Typisch Claire, ständig kümmerte sie sich um andere. „Nun, dann fahr bitte vorsichtig. Es hat zu schneien begonnen. Ich hatte ganz vergessen, wie schön der Frühling in den Rockies sein kann.“

„Ich habe Allradantrieb.“

„Allradantrieb bringt bei Glatteis gar nichts“, erwiderte er, doch bevor sie noch etwas entgegnen konnte, klingelte sein Handy.

„Entschuldige, Claire, das ist wichtig.“

Schulterzuckend fuhr sie fort, den Jungs in Jacken und Handschuhe zu helfen.

„Ja, Chief“, legte Tammy los. „Ich habe gerade einen Anruf von Harry Lange bekommen. In der Silver Strike Road wird vermutlich gerade in ein Ferienhaus eingebrochen. Er sagte, die Besitzer hätten ihm erzählt, dass sie erst im Juni wieder zurückkommen wollen, aber jetzt hat er Licht bemerkt. Er denkt, dass es sich um Jugendliche handelt. Und stellen Sie sich vor: Harry meint außerdem, dass sie einen dunklen großen Pick-up fahren, so wie er auch bei den anderen Einbrüchen gesehen wurde.“

„Hat er das Kennzeichen?“

„Nein. Aufgrund der Entfernung konnte er das Nummernschild nicht erkennen, und näher rangehen möchte er nicht. Was soll ich tun? Jess ist gerade bei einer Familienstreitigkeit drüben in der Claimjumper-Wohnanlage, und Marty kümmert sich um einen Blechschaden in der Highland Road. Soll ich einen von ihnen zurückrufen oder das Sheriff Department bitten, sich darum zu kümmern?“

„Ich kann schneller da sein als jeder andere. Lassen Sie den Sheriff ein paar Leute zur Verstärkung schicken, nur für den Fall.“

„In Ordnung, Chief.“

Und schon hielt er auf den Ausgang zu. „Sorry“, rief er über die Schulter. „Ein Notfall.“

Er konnte nicht sagen, welche Augen größer waren, Claires oder die der Kinder.

„Schnappst du jetzt die Typen, die den Computer meiner Mom geklaut haben?“, fragte Owen.

„Das habe ich vor.“

Dann warf er Claire noch ein letztes, entschuldigendes Lächeln zu und stürmte hinaus. Kaum eine Minute später fuhr er vom Schulparkplatz und raste Richtung Canyon Road östlich des Silver Strike Reservoirs.

Dicke Schneeflocken wirbelten durch die Luft, herzlich willkommen in den Rockies. Zumindest herrschte wenig Verkehr auf den Straßen. Er war noch zwei Meilen von Harry Langes Haus entfernt, da knisterte Tammys Stimme aus dem Funkgerät. „Chief, die Verdächtigen haben offenbar das Grundstück verlassen und sind jetzt auf der Silver Strike Road Richtung Stadt unterwegs.“

Was nichts anderes bedeutete, als dass sie ihm direkt entgegenfuhren. Er hatte also gute Chancen, sie mit der Beute zu kriegen und somit mit den anderen Einbrüchen in Verbindung bringen zu können.

„Zehn-vier, Tammy.“

Er drehte um, dankbar für all die Jahre, in denen er über diese steilen Bergstraßen gekurvt war. Dies hier war der einzige Weg, der zum Silver Strike Canyon führte und in einer Sackgasse beim Skiresort endete. Die Verdächtigen mussten also irgendwann auf ihrem Weg zurück in die Stadt an ihm vorbeikommen.

Er bog in eine Parkbucht, hielt unter einer großen Kiefer, schaltete Motor und Licht aus und begann, in der Kälte zu warten.

Normalerweise hasste er es zu warten. Diese Ungeduld war wohl die logische Konsequenz aus seiner Vergangenheit als jüngstes von sechs Kindern und dazu einziger Junge in einem Haus mit nur zwei kleinen Badezimmern. Es kam ihm so vor, als ob er einen Großteil seiner Kindheit damit verbracht hätte zu warten, während jemand stundenlang sein Haar föhnte oder in der Badewanne lag oder einen Roman schrieb oder was, zum Teufel, die sonst da immer getan hatten.

Auf das Erscheinen von Tatverdächtigen zu warten war allerdings etwas ganz anderes, das machte ihm nichts aus. Im Gegenteil.

Viel Zeit, die Vorfreude auszukosten, blieb ihm nicht. Nur ein paar Minuten waren vergangen, als er das Röhren eines starken Motors in der kalten Nacht hörte und dann ein dunkler Pick-up an ihm vorbeipreschte, schnell genug, dass er zumindest einen Strafzettel ausstellen konnte, falls doch kein anderes Delikt vorliegen sollte.

Er wartete, bis der Wagen um die nächste Kurve war, bevor er ihm folgte. Obwohl der Schneefall heftiger geworden war, konnte er das Fahrzeug klar erkennen, einen höher gelegten Dodge Ram mit Überrollbügel. Er gab das Kennzeichen per Funk durch.

„Verstanden, Chief. Das Auto ist zugelassen auf … ähm, Bürgermeister Beaumont.“

Oh, Mist. Riley überlegte angestrengt. Den Bürgermeister und seine Frau hatte er gerade erst beim Spring Fling getroffen, von denen konnte also keiner hinter dem Steuer sitzen. Was, wenn der Pick-up gestohlen worden war?

„Die Beaumonts haben doch einen Sohn, oder?“

„Ja. Charlie. Siebzehn oder so, ziemlich wilder Bursche, wie meine Töchter behaupten.“

Charlie, du steckst in ernsten Schwierigkeiten. Er war nun nahe genug an dem Fahrzeug, um den kleinen Mistkerl zu stoppen. Er schaltete das Blaulicht an und beschleunigte.

Kurz dachte er, es würde einfach werden. Nach wenigen Sekunden bremste der Pick-up auf vierzig Stundenkilometer ab, und Riley konzentrierte sich mehr auf die schneebedeckte Straße als auf das Adrenalin, das durch seine Venen pumpte.

Zwar hielt der Dogde nicht an, doch Riley vermutete, dass Charlie Beaumont auf dieser engen Straße mit den Bergen rechts und dem Abhang links nur nach einer guten Stelle zum Halten suchte. Nach etwa zwei Minuten schoss der Wagen mit einem Mal nach vorn und begann auf der eisigen Straße zu schlingern.

Verdammt. Der Idiot wollte abhauen. Bei den Straßenverhältnissen.

Er beschleunigte nun auch und griff nach dem Funkgerät. „Der Verdächtige versucht zu fliehen. Nehme Verfolgung auf. Brauche Verstärkung. Wo sind die Leute vom Sheriff’s Department?“

Eine Männerstimme, die er nicht kannte, antwortete: „Kurz vor dem Silver Strike Canyon, Boss.“

„Baut eine Straßensperre an der Mündung des Canyons auf. Niemand darf rein oder raus.“

In diesem Moment sah er aus der anderen Richtung Scheinwerfer auf sich zukommen. Sein Magen verkrampfte sich. Zu spät für eine Straßensperre, verflucht noch mal. Es kam ihm schon jemand entgegen. Und wahrscheinlich nicht nur ein Fahrzeug.

Sosehr er den kleinen Mistkerl schnappen wollte – auch wenn sein Vater ein mächtiger Mann war –, ging die Sicherheit der anderen Straßenteilnehmer vor. Er musste die Verfolgung einstellen, damit niemand zu Schaden kam, und einfach hoffen, dass die angeforderten Polizisten die Straßensperre rechtzeitig aufstellen würden. Doch selbst wenn Charlie Beaumont irgendwie entwischte, wusste Riley ja, wo er ihn finden konnte.

Riley stellte das Blaulicht ab, damit der Junge wusste, dass er die Verfolgung aufgegeben hatte. Aber das schien den Fahrer – aufgepeitscht von Adrenalin und was sonst noch – nicht zu interessieren. Der Wagen fuhr noch immer gefährlich schnell auf der kurvigen, dunklen Bergstraße.

Und dann geschah alles auf einmal. In der nächsten Kurve kam Charlie auf die andere Fahrbahn ab. Riley sah, wie der entgegenkommende Fahrer wie wild aufblinkte und das Auto an den Straßenrand lenkte, um einem Zusammenstoß auszuweichen. Riley hielt die Luft an. Eine Sekunde lang dachte er, das andere Fahrzeug würde es noch zurück auf die Straße schaffen, doch dann hatte er nicht einmal mehr Zeit für ein Stoßgebet, denn der Wagen raste durch eine Lücke in der Leitplanke.

„Oh Scheiße, oh Scheiße, oh Scheiße!“

Riley bremste scharf ab, spürte, wie die Räder durchdrehten und sein Auto ins Schleudern geriet. Nachdem er die Kontrolle zurückgewonnen hatte, stellte er fest, dass Charlie Beaumonts Pick-up nirgendwo mehr zu sehen war. Wie hatte er so schnell entkommen können?

Er riss das Funkgerät zu sich und forderte einen Rettungswagen an, schrie, dass ein Auto ins Wasser gestürzt war. Ohne noch auf eine Antwort zu warten, schnappte er sich die wasserfeste Taschenlampe und ein Brecheisen aus dem Kofferraum, dann stürzte er zum Rand des Abhangs.

Die Kälte ließ seine Haut brennen, während er das dunkle Wasser mit Blicken absuchte. Schließlich erfasste der Strahl seiner Taschenlampe einen Wagen ungefähr fünf Meter vom Ufer entfernt. Es hatte sich nicht überschlagen, was ein gutes Zeichen war, allerdings war die Fahrerseite bedenklich zur Seite geneigt, ein Teil der Windschutzscheibe befand sich bereits unter Wasser.

Riley rutschte den Abhang hinunter und war schon fast unten angekommen, da hörte er über sich Stimmen, die bei dem Wind kaum zu verstehen waren.

„Was kann ich tun?“, rief ein Mann von der Straße aus. „Soll ich Hilfe rufen?“

Er erkannte die Stimme nicht und konnte von hier unten auch nicht das Gesicht sehen. „Das habe ich schon“, schrie er zurück. „Halten Sie nach dem Rettungswagen Ausschau, und zeigen Sie ihm den Weg.“

Bevor er nicht die Lage abschätzen konnte, wollte er keinen weiteren Zivilisten bei sich haben, um den er sich Sorgen machen musste.

„Soll ich nach den anderen sehen?“

Riley, der gerade seine Taschenlampe in den Hosenbund steckte und sein Pistolenhalfter abschnallte, hielt mitten in der Bewegung inne.

„Den anderen?“

„Ja. Dieser Pick-up. Er ist hinter der Kurve gegen einen Baum geprallt.“

Rileys Kehle schnürte sich zusammen. Er war so damit beschäftigt gewesen, voller Entsetzen zu beobachten, wie dieses Auto hier ins Wasser gesegelt war, dass er von dem Unfall des anderen Wagens nichts mitbekommen hatte.

Einen Moment lang wusste er nicht, was er tun sollte, dann zerrte er sich den zweiten Stiefel vom Fuß. Seinetwegen konnten der oder die anderen verrotten, während sie auf Hilfe warteten. Wenn Charlie Beaumont nicht so ein verdammter Idiot gewesen wäre, wäre nichts von alldem geschehen. Seiner Ansicht nach standen unschuldige Opfer ganz oben auf der Rettungsliste.

„Ja, machen Sie das“, antwortete er dem Mann, den er nun als Harry Lange erkannte. Wobei er sich fragte, warum der reichste Mann der Stadt Einbrechern im Nachbarhaus hinterherspionierte und mitten in der Nacht bei einem Verkehrsunfall auftauchte. „Funktioniert Ihr Handy da oben?“

„Nicht einwandfrei, aber ich kann es versuchen.“

„Rufen Sie Neun-Eins-Eins an, und sagen Sie, dass wir es jetzt mit zwei Unfällen zu tun haben. Wir brauchen alle verfügbaren Kräfte hier oben.“

„Verstanden.“

Die Wageninsassen mussten gerettet werden, und er hatte schon viel zu viel Zeit verloren. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass Lange die Notrufzentrale erreichen würde. Er holte einmal tief und langsam Luft, versuchte, sich gegen die Kälte zu stählen, und stieg ins Wasser.

Ein Schock jagte durch seinen ganzen Körper, es war, als ob Eisblöcke seine Füße und Waden umschlossen. Er ignorierte den Schmerz und watete weiter.

Nach ein paar Metern hatte das erbarmungslos kalte Wasser seine Hüfte erreicht. Schnee und Wind peitschten um ihn, jeder Atemzug schien in seine Lungen zu schneiden. Er war sich der bitteren Kälte zwar bewusst, konzentrierte sich aber auf das, was zu tun war.

„Hilfe. Bitte, wir brauchen Hilfe!“

Der verzweifelte Schrei ließ ihn heftiger zusammenzucken als die Kälte. Es handelte sich um eine Kinderstimme, ein junges Mädchen vielleicht, nass, durchgefroren, wahrscheinlich verletzt.

Kinder. Verdammt noch mal.

„Ich komme. Ich bin gleich da.“

Im milchigen Mondlicht konnte er jetzt sehen, dass es sich um einen kleinen Geländewagen handelte, einen Toyota wahrscheinlich. Er konnte ein paar Köpfe ausmachen und hörte jetzt auch weitere Kinderstimmen. Er versuchte, noch schneller voranzukommen, dann tauchte er einfach unter und schwamm die letzten Meter.

Mit eisigen Händen zog er die Taschenlampe aus dem Hosenbund und leuchtete durch die Windschutzscheibe. Jemand lag zusammengesunken über dem Lenkrad und dem ausgelösten Airbag. Als er den Lichtstrahl auf den Rücksitz richtete, entdeckte er drei blasse Gesichter mit ängstlichen Augen, die ihn anstarrten.

Er versuchte, die Tür zu öffnen, doch die ließ sich wegen des Wassers nicht bewegen. „Könnt ihr das Fenster öffnen?“, brüllte er.

„Nein, die funktionieren nicht.“

Elektrische Fenster waren natürlich nicht gerade hilfreich, wenn die Autobatterie im Wasser schwamm. Er nahm das Brecheisen in die Hand. „Ihr müsst weg vom Fenster und eure Gesichter mit den Händen schützen. Ich werde jetzt das Fenster einschlagen, okay?“

„Okay.“

„Seid ihr so weit?“

„Ja.“

Er hieb mit dem Brecheisen ins Fenster und wischte dann mit dem nassen Ärmel die Scherben weg.

„Ich dachte, uns hätte niemand gesehen. Und dass wir die ganze Nacht hierbleiben müssen“, presste das Mädchen weinend hervor. Ihm kam die Stimme bekannt vor, doch er konnte das Gesicht nicht richtig erkennen. Als er die Taschenlampe auf sie richtete, um nach möglichen Verletzungen zu sehen, erstarrte er.

Macy Bradford.

Das andere Kind, das sie an sich gedrückt hielt, war Owen, daneben hockte der rothaarige, sommersprossige Junge. Jordie oder so.

Er starrte zu der bewegungslosen Frau im Vordersitz. „Claire? Claire. Honey? Antworte mir.“

Sie sagte nichts, er vernahm allerdings ein leises Stöhnen. Hastig fühlte er ihren Puls. Er war schwach, aber regelmäßig. Am liebsten hätte er sie genauer untersucht, doch jetzt musste er erst einmal die verängstigten Kinder aus dem Wasser ziehen und an Land bringen, wo bereits weitere Leute den Abhang herunterkletterten.

„Seid ihr verletzt?“

„Mir ist kalt. Ich habe einen Schnitt im Gesicht“, antwortete Jordie schluchzend. „Und meine Schulter tut weh.“

„Mein Arm“, stieß Owen wimmernd aus. „Ich glaube, er ist gebrochen.“

„Ich bin okay“, behauptete Macy zwar, dennoch war Riley sich ziemlich sicher, dass sie log. Er konnte nicht auf die Sanitäter warten, die vielleicht noch eine Viertelstunde oder länger brauchen würden, außerdem hatte er keine Ahnung, wie es bei dem anderen Unfall aussah.

Er musste seinem Bauchgefühl vertrauen und alles vergessen, was er je gelernt hatte … zum Beispiel, dass Verletzte nicht bewegt werden durften. Doch jetzt hatte er keine andere Wahl.

„Macy, ich werde erst die Jungs an Land bringen, und dann komme ich zurück, um dich zu holen, okay? Dort drüben sind Leute, die euch zur Straße hinaufhelfen und aufwärmen. Verstehst du?“

„Ist meine Mom okay?“ Ihre Stimme zitterte vor Angst, und seine Brust zog sich schmerzhaft zusammen.

„Ich verspreche dir, dass ich alles tun werde, damit ihr geholfen wird. Warte, bis ich mich um die Jungs gekümmert habe. Und während ich weg bin, sprich mit deiner Mom, okay? Seid ihr bereit, Jungs?“

„Mhm.“ Owen glitt schniefend über den Sitz, Riley legte ihn sich über die Schulter und nahm dann so vorsichtig wie möglich den anderen Jungen unter den Arm.

Der Weg zurück im Mondlicht mit den wirbelnden Schneeflocken erschien ihm geradezu surreal. Einmal wäre er beinahe gestolpert, konnte aber gerade noch das Gleichgewicht halten. Als er fast an Land war, rannten ihm ein paar Leute entgegen und nahmen ihm die beiden Jungs ab.

„Meine Frau ist Krankenschwester“, erklärte der Mann, der Jordie hochhob. „Sie wartet am Ufer.“

„Ich schätze, sie müssen sich vor allem aufwärmen. Er hier hat Schmerzen im Arm, und der andere sagt, dass seine Schulter wehtut.“

Zwei Männer trugen die Jungen ans Ufer, der dritte wandte sich Riley zu. „Ist da noch jemand drin?“

Nun erst bemerkte Riley, dass er fast noch ein Junge war. „Zwei weitere Personen, eine mit unbekannten Verletzungen.“

„Ich helfe Ihnen.“

Er wollte niemanden sonst in Gefahr bringen, aber dieser Junge sah kräftig aus, muskulös wie eine Bulldogge. Wahrscheinlich der Sohn eines Farmers, der von Kindesbeinen an Heuballen gewogen und mit jungen Stieren gekämpft hatte. „Sehr gut. Wenn du das Mädchen aus dem Wasser holen kannst, kümmere ich mich um dessen Mom.“

Riley konnte schon seit einiger Zeit seine Füße nicht mehr spüren. Der Schnee fiel noch heftiger, der Wind peitschte über das Wasser und zerrte an seinen nassen Kleidern. Es war ihm egal. Claire brauchte seine Hilfe.

„Wie ist dein Name, Junge?“, fragte er, nachdem sie sich auf den Weg gemacht hatten.

„Joe Redmond.“

Was für ein Zufall. Redmond war zwar ein gängiger Name in dieser Gegend, aber er war sicher, dass der Junge irgendwie mit Lisa verwandt war, seiner ehemaligen Freundin.

Sobald sie den Wagen erreicht hatten, leuchtete Riley auf den Rücksitz. Der Junge rief erstaunt: „Mace, bist du das?“

„Ja. Hey, Joey.“

„Wie geht es deiner Mom?“, fragte Riley.

„Ich glaube, sie kommt langsam zu Bewusstsein. Ich habe versucht, sie zum Sprechen zu bringen, und sie hat ein paar Mal gestöhnt.“

„Das hast du gut gemacht, Schatz. Ich kümmere mich jetzt um sie. Joe, bist du sicher, dass du Macy tragen kannst?“

„Aber klar. Komm schon, Kleine.“

Riley wartete noch, bis Macy sicher in Joeys Armen lag, bevor er seine ganze Aufmerksamkeit auf Claire richtete. „Claire? Liebling, kannst du mich hören?“

Sie stöhnte wieder, ein ermutigendes Zeichen.

„Ich muss noch ein Fenster einschlagen. Erst werde ich dein Gesicht abdecken, okay?“ Er konnte nur hoffen, dass sie ihn verstand und nicht etwa das Gefühl bekam zu ersticken. Nachdem er ihr Gesicht mit ihrem Schal geschützt hatte, watete er um das Auto herum. Dieses Fenster war schon gesplittert, er brauchte nur einen Schlag, um es komplett zu zerschmettern. So wie das Fahrzeug sich zur Seite neigte, ging er davon aus, dass es auf der Fahrerseite gelandet war. Ihr Körper hatte den Großteil des Aufpralls abbekommen, somit war sie sicherlich schwerer verletzt als die Kinder auf dem Rücksitz.

Im Wagen war das Wasser schon bis zu ihrer Hüfte gestiegen, sie zitterte unkontrolliert. Schuldgefühle ließen ihn erschauern, schlimmer als das eisige Wasser. Niemals hätte er bei diesen Wetterverhältnissen diese Verfolgungsjagd beginnen dürfen. Die Straßensperre hätte genügt, um das Fluchtauto aufzuhalten.

Als er den Schal von ihrem Gesicht nahm, blinzelte sie ihn an, der Anblick ihrer erweiterten Pupillen und ihrer Blässe versetzte ihm einen schmerzhaften Stich ins Herz.

„Kalt“, stöhnte sie.

„Ich weiß, Honey. Ich hole dich hier raus, sobald ich weiß, wie ich dich am besten bewegen kann. Wo hast du Schmerzen?“

Als sie die Augen schloss, sah er, dass Blut von ihrer Schläfe tropfte.

„Was … ist geschehen?“

„Ein Unfall. Du bist von der Straße abgekommen, um einen Frontalzusammenstoß zu vermeiden. Wahrscheinlich hast du deinen Kindern das Leben gerettet.“ Er zerrte den schlaffen Airbag zur Seite und hantierte an ihrem Sicherheitsgurt herum.

Eine Sekunde später öffnete sie die Augen und begann, sich fieberhaft zu bewegen. „Meine Kinder?“

„Halt still. Ihnen geht es gut. Ein paar Schrammen, aber sie sind schon an Land und wärmen sich gerade auf. Nichts passiert.“

Sie sank zurück in den Sitz. Sein Funkgerät quäkte, mit steifen Fingern drehte er die Lautstärke herunter, damit er mit ihr sprechen konnte.

„Wo tut es weh, Claire?“, fragte er wieder, strenger diesmal.

„Beine. Handgelenke. Ähm, Kopf. Alles.“ Das letzte Wort war nur noch ein Wimmern.

„Ich möchte, dass du dich nicht bewegst, bis wir eine Trage hier haben. Der Rettungswagen muss jeden Moment kommen. Wir müssen einfach noch kurz warten.“

„Meine Kinder. Ich muss zu meinen Kindern.“

„Denen geht es gut. Sie sind in Sicherheit.“

„Versprich es mir. Versprich mir, dass du dich um sie kümmerst.“

„Ich bleibe hier bei dir, bis wir dich aus dem Wasser haben. Dann kümmere ich mich um sie.“ Er strich mit einer Hand über ihr Haar, Blut quoll aus einem Schnitt auf ihrer Stirn. „Halt einfach durch, Liebling.“

„Das ist langsam nicht mehr lustig.“

Trotz allem hätte er beinahe gelacht, obwohl ihm noch nie im Leben so verdammt kalt gewesen war. Außerdem raubten ihm die Schuldgefühle beinahe die Luft zum Atmen. „Nein, könnte ich auch nicht behaupten. Schätze, das soll es auch nicht sein.“

„Erst mein Laden, jetzt das.“

„Ich weiß. Du hattest einen ziemlich harten Tag. Wahrscheinlich den härtesten überhaupt.“

„Bescheuertes Horoskop“, murmelte sie aus irgendeinem Grund, den er nicht verstand. Er hätte sie ja gefragt, aber im Moment zählte nur eines: sie in Sicherheit zu bringen.

4. Kapitel

Wo, zum Teufel, blieben die Sanitäter?

Riley starrte hinauf zur Straße, wo kein Blaulicht zu sehen war – außer seinem eigenen. Er konnte erkennen, dass die Kinder versorgt wurden, aber der Rettungswagen war nirgends in Sicht. Wenn die Notärzte von Hope’s Crossing so langsam auf einen Notruf reagierten, musste er mit dem Feuerwehrchef wohl mal ein ernstes Wörtchen reden.

„K…kalt“, wimmerte Claire.

„Ich weiß, Schatz. Halte durch.“ Er wickelte die Decke noch fester um sie. Langsam wurde es eng. Je länger sie bei den eisigen Temperaturen hier draußen waren, desto größer die Gefahr einer Hypothermie.

Er hatte ganz vergessen, wie bitterkalt Frühjahrsstürme in den hohen Rocky Mountains sein konnten. Es war schon fast Ende April, Herrgott noch mal, dennoch musste die Temperatur minus fünf Grad betragen, und der Wind machte es nur noch schlimmer.

Claire verlor immer wieder das Bewusstsein, die Wunde über ihrer linken Schläfe blutete heftig. Sie musste verdammt noch mal schnell aus dem Wasser. Alles in ihm schrie danach, sie in die Arme zu nehmen und in Sicherheit zu bringen, es machte ihn schier verrückt, nur hilflos herumzustehen. Doch er durfte nicht riskieren, ihr noch weitere Verletzungen zuzufügen. Das Beste, das Einzige, was er tun konnte, war, ihr gut zuzureden, bis die Rettungssanitäter mit der Trage auftauchten, um sie aus dem Wasser zu holen.

Er drückte ihren Schal gegen die Wunde. „Claire, Liebes, du musst bei mir bleiben. Nur noch ein paar Minuten, das ist alles.“

Sie stöhnte leise, und er strich ihr erneut das Haar aus der Stirn. „Ich weiß, Liebling, ich bringe dich hier raus. Nur noch einen Moment.“

Er musste daran denken, wie strahlend und schön sie vorhin noch ausgesehen hatte, trotz des Schocks über den Einbruch. Sie jetzt so zu sehen – verängstigt und verletzt – brach ihm fast das Herz.

Sie wurde wieder ohnmächtig. Es war wichtig, sie wach zu halten.

„Claire! Claire!“

Widerwillig öffnete sie die Augen.

„Erzähl mir was über String Fever.“

„Mein Laden.“

„Ich weiß. Ich war heute dort, schon vergessen? Ich hätte nie gedacht, dass du mal einen Schmuckladen aufmachst. Ich habe geglaubt, du würdest Lehrerin werden wie meine Mutter. Hast du das nicht studiert?“

Sie nickte schwach. „Ich habe ein paar Jahre unterrichtet. Dritte Klasse. Als … Macy … klein war.“

„Wie bist du dann darauf gekommen, ein eigenes Geschäft zu eröffnen?“ Eigentlich interessierte es ihn nicht allzu sehr – okay, wenn er ehrlich war, fand er so ziemlich alles, was sie betraf, unerwartet faszinierend – aber vor allem musste er es schaffen, dass sie immer weitersprach.

Seine Taktik ging auf. Ihre Augen wurden etwas klarer, vielleicht schimmerte in ihnen sogar ein wenig Stolz. „Habe für Katherine Thorne gearbeitet … vor der … Scheidung. Nicht wegen des Geldes … nur zum Spaß. Nachdem Jeff mich verlassen hat … fragte sie mich … ob ich ihren Laden kaufen wollte.“

Das Bild von Katherine Thorne stieg vor seinem inneren Auge auf, dieses sechsundsechzig Jahre alte, ein Meter fünfzig große und vierundvierzig Kilo leichte Energiebündel. Trotz ihrer kleinen, zierlichen Statur verfügte sie über einen eisernen Willen. Hatte Katherine ihren Laden wirklich verkaufen wollen, oder war das nur ihre Art gewesen, der frisch geschiedenen Claire Halt zu bieten? So großzügig wie Katherine war, hätte ihn das nicht gewundert.

Auch hatte er Claires Formulierung sehr genau mitbekommen. Nachdem Jeff mich verlassen hat. Er hatte angenommen, dass die Trennung in beiderseitigem Einvernehmen gewesen war. Doch offenbar sah Claire das – zumindest unbewusst – anders.

Selbst jetzt, wo er sich eigentlich auf nichts anderes konzentrieren wollte als auf Claires Rettung, fragte er sich, wie ein Mann so dumm sein konnte, eine Frau wie Claire für irgendeine zwanzigjährige Tussi sitzen zu lassen. Und im Moment konnte er nicht sagen, auf wen er wütender war. Auf Jeff Bradford oder auf diesen blöden kleinen Mistkerl, der diesen Unfall verursacht hatte.

Wieder schlossen sich ihre Augenlider zitternd. Er fluchte leise. Wo, zum Teufel, blieb der Rettungsdienst?

„Macht es Spaß, Geschäftsfrau zu sein?“

„W…was?“

„Dein Laden. Arbeitest du gern?“

„In meinen Laden wurde eingebrochen.“

Es gefiel ihm nicht, wie wirr sie klang. „Ich weiß. Das Gute ist aber, dass ich jetzt ziemlich sicher weiß, wer es war.“

Lieber tausende ungelöste Fälle als das hier, dachte er, und dann begann er sich wieder Vorwürfe wegen der Verfolgungsjagd zu machen, bis er in der Dunkelheit endlich die blinkenden Lichter eines Rettungswagens entdeckte.

Durch den dicht fallenden Schnee beobachtete Riley ungeduldig, wie die Sanitäter mit einer Trage den Abhang hinunterkamen, und redete irgendwelchen Unsinn auf Claire ein. Was genau, hätte er selbst nicht sagen können. Irgendwas von wegen, dass seine Mom und seine Schwestern ihn wahrscheinlich umbringen würden, weil er Claire so lange in dem eisigen Wasser liegen ließ, und über das Haus, das er in ihrer Straße gemietet hatte, und über einen Urlaubstrip in die Wärme, wenn das hier vorbei war. Und dann endlich wateten die Sanitäter in Taucheranzügen durch das eiskalte Wasser auf sie zu.

„Wird verdammt noch mal auch Zeit“, brummte er. „Wart ihr erst noch einen Kaffee trinken?“

„Sorry, Chief.“ Der erste Rettungsassistent sah aus wie ein Kind mit dem blond gesträhnten Haar und der waschbärartigen Skibrillenbräune eines eingefleischten Ski- oder Snowboardfahrers.

„Es dauerte eine Weile, bis wir an dem anderen Unfall vorbeikamen“, erklärte ein älterer Sanitäter mit einem buschigen dunklen Schnauzbart. „Was haben wir hier?“

Riley schob seinen Ärger zur Seite. „Frau, sechsunddreißig Jahre, wahrscheinliche Kopf-, Arm- und Beinverletzungen. Steht unter Schock. Gefahr von Hypothermie natürlich. Sie wurde in den letzten zehn Minuten immer wieder ohnmächtig. Da ich ihre Verletzungen nicht richtig sehen kann, wollte ich sie ohne Trage nicht bewegen. Aber wenn ihr noch etwas länger gebraucht hättet, wäre mir wohl nichts anderes übrig geblieben.“

„Jetzt sind wir da.“ Der Mann schaute ins Innere des Wagens, seine Augen weiteten sich.

„Hey, Claire.“

Sie blickte ihn an, und dann begriff Riley, warum der Mann ihm bekannt vorgekommen war. Er handelte sich um ihren Cousin, Doug Van Duran, ein paar Jahre jünger als er.

„Hey, Dougie.“

„Da steckst du ja ganz schön in Schwierigkeiten, Claire.“

„Ja.“ Ihr Blick war starr vor Angst und Verwirrung, als die Rettungshelfer mit ihren starken Taschenlampen in den Wagen leuchteten. „Meine Kinder?“

„Denen geht’s gut“, erklärte Riley wieder. „Weißt du noch, ich habe dir gesagt, dass wir sie an Land gebracht haben. Entspann dich jetzt einfach, und lass die Männer ihre Arbeit erledigen.“

Er musste zugeben, dass die Sanitäter genau wussten, was zu tun war. Er stand daneben, beobachtete, wie sie Claires Verletzungen abschätzten, ihren Hals und Rücken stabilisierten und sie dann vorsichtig aus dem Wagen zogen.

„Wir haben hier alles im Griff, Chief, Sie sollten jetzt zu dem anderen Unfall“, sagte Van Duran nach einem Moment.

„Ich bleibe, bis Claire und die Kinder in Sicherheit sind. Dann kümmere ich mich um den anderen Fall.“

Doug warf ihm einen wachsamen Blick zu. „Sind Sie sicher? Ich meine, Claires Verletzungen sind ziemlich übel, aber nicht lebensgefährlich, und ihre Kinder haben nur ein paar Schrammen abbekommen.“

„Ja. Und?“

„Ich meine ja nur, dass der andere Unfall sehr hässlich war. Ein Toter, zwei Schwerverletzte. Der Sheriff hat einen Hubschrauber angefordert.“

Ein Toter. Verdammt. Er schloss die Augen. Wie viele Jugendliche waren in dem Pick-up gewesen? Okay, es handelte sich bei ihnen vermutlich um Einbrecher, und sie waren dumm genug gewesen, zu fliehen, statt sich zu stellen, dennoch verdiente es niemand, wegen ein paar idiotischer Entscheidungen zu sterben.

„Wir können auf jeden Fall noch jemanden brauchen, der uns hilft, sie aus dem Wasser zu tragen. Doch wir schaffen das ohne Sie, wenn Sie lieber zu dem anderen Unfall wollen.“

Natürlich war es seine Aufgabe, an einem Unfallort mit Todesfolge in seinem Zuständigkeitsbereich zu sein, vor allem nachdem er selbst in die Sache verwickelt war, trotzdem konnte er Claire jetzt nicht allein lassen. Noch nicht.

„Nein, wir bringen Claire erst zum Rettungswagen. Ich habe ihr und den Kindern versprochen, bei ihr zu bleiben.“

Es schien noch immer eine Ewigkeit zu dauern, bevor Claire endlich auf der Trage lag und sie an Land gebracht werden konnte. Am schwierigsten war es, sie unbeschadet den schneebedeckten, rutschigen Hügel bis zur Straße hinaufzumanövrieren. Sobald sie endlich oben angekommen waren, sprang Macy Bradford aus einem Auto, ihr Gesicht weiß und ängstlich in dem schneegefilterten Licht der Scheinwerfer, den Blick auf Claire geheftet.

„Mom!“, schrie sie.

Claires Augenlider flatterten. „Macy. Mein tapferes Mädchen.“

„Bist du okay?“

„Das werde ich sein. Und du und Owen und Jordie?“

„Mir geht’s gut. Uns geht’s gut. Man wollte uns ins Krankenhaus fahren, aber ich … wir wollten auf dich warten.“

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