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Himmelsee – Über den Wellen leuchtet das Glück (Himmelsee 1)

Als Buch hier erhältlich:

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Die neue Reihe von Bestsellerautorin Tanja Janz: Himmelsee an der Ostsee

Linna Franke kehrt mit ihrem kleinen Sohn von Düsseldorf in ihren Heimatort Himmelsee an der Ostseeküste zurück, als ihre Mutter ins Krankenhaus muss. Linna hatte Himmelsee vergessen wollen, nun holt alles sie wieder ein: dass sie zwischen den Brüdern Nik und Jörn stand und nach einem tragischen Unfall jede Freundschaft zerbrach. Während sie im Familienhotel Kranichglück aushilft, begegnet sie alten Bekannten wieder und kehrt zu ihren Wurzeln zurück. Und plötzlich tun sich neue Wege für sie auf – nicht nur beruflich, besonders emotional. Denn sowohl Jörn als auch Nik sind ebenfalls in Himmelsee, und sie alle drei stehen plötzlich wieder dort, wo alles begann: an der schimmernden Ostsee hinter dem Kiefernwald.


  • Erscheinungstag: 15.04.2025
  • Aus der Serie: Himmelsee
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009017

Leseprobe

Tanja Janz

Himmelsee

Über den Wellen leuchtet das Glück

Roman

HarperCollins

Für Christiane und Tatjana
Wenn die Kraniche fliegen, tragen sie das Glück auf ihren Schwingen.

An einem sonnigen Julitag am Düsseldorfer Flughafen

Linna schloss die Tür des Check-in-Bereichs hinter sich und atmete tief durch. Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee, der von einem nahe gelegenen Bistro in ihre Nase zog, und das flirrende Stimmengewirr der Reisenden um sie herum waren für sie eine vertraute Melodie. Sie war umgeben vom geschäftigen Treiben des Düsseldorfer Flughafens: das Klappern von Kofferrädern auf dem glatten Boden, das Rufen von Durchsagen in verschiedenen Sprachen und das fröhliche Lachen von Kindern, die mit ihren Eltern auf dem Weg zu neuen Urlaubsabenteuern waren. Doch heute nahm sie mehr Dissonanzen wahr als sonst.

Sie wandte sich der großen Anzeigetafel zu, die die Ankunftszeiten der Maschinen aus der ganzen Welt ankündigte. Ihr Herz sank, als sie die rot blinkende Verspätung neben Iljas Flugnummer sah. »Kairo – 3 Stunden Verspätung« stand dort in großen, leuchtenden Buchstaben.

»Nicht schon wieder«, murmelte sie leise und ließ den Blick weiter zur Zeitanzeige wandern. Miko hatte sich so sehr auf den Nachmittag gefreut. Seine Augen hatten geleuchtet, als sein Vater versprochen hatte, ihn endlich einmal vom Kindergarten abzuholen. Wie oft er den anderen Kindern stolz erzählt hatte, dass sein Papa Pilot war und Menschen mit einem Flugzeug an die schönsten Orte der Welt brachte, konnte sie nur erahnen. Dafür konnte Linna sich ziemlich lebhaft vorstellen, wie enttäuscht ihr gemeinsamer Sohn sein würde, wenn er erfuhr, dass sein Papa es doch nicht schaffte. Es war nicht das erste Mal, dass die Pläne durch unvorhersehbare Turbulenzen in der Luftfahrt durcheinandergeraten waren. Linna kam es vor, als wäre sie in einem endlosen Kreislauf aus Enttäuschungen gefangen, die jedes Mal auch noch sie selbst überbringen musste.

»Hey, Linna! Alles in Ordnung?« Ihre Freundin und Kollegin Sarah, die mit ihr am Check-in arbeitete, trat an sie heran. Auf ihren Lippen lag ein warmes Lächeln. Offenbar las sie ihr die Sorgen an den Augen ab. Sie stellte sich neben sie und fixierte die Zeiten auf der Anzeigetafel.

In der Ferne erklang das Rattern eines Gepäckwagens, das vom aufgeregten Geschrei einer Gruppe Touristen übertönt wurde, die sich in einer Mischung aus Englisch, Deutsch und Spanisch verständigten.

»Iljas Flug hat Verspätung.« Linna seufzte und starrte auf die rot blinkenden Ziffern.

Sarah verzog den Mund. »Verspätungen gehören doch zum Tagesgeschäft in der Flugbranche.«

»Erkläre das mal unserem Sohn. Miko hatte sich so darauf gefreut, heute endlich mal von Ilja abgeholt zu werden. Vermutlich hat er es groß vor seinen Kindergartenfreunden angekündigt.« Linna schüttelte bekümmert den Kopf. »Ich kann ihm nicht schon wieder erklären, dass sein Papa nicht kommen kann.«

Sarah nickte mitfühlend. »Das ist hart für Miko. Ich kann mir gut vorstellen, wie enttäuscht er sein wird. Aber du machst das Beste daraus, Linna. Du bist eine großartige Mutter.«

Linna musste ob des Lobs ihrer Freundin lächeln. »Das weiß ich, aber manchmal fühle ich mich einfach so allein in der Rolle«, gestand sie und spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. »Ilja ist ständig unterwegs, und ich versuche, alles zu jonglieren – den Job, Miko, die Beziehung. Es ist einfach … viel.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Sarah sanft, während im Hintergrund eine Stimme durch den Lautsprecher die Ankunft eines weiteren Fluges aus London ankündigte. »Aber du bist stark. Und du bist nicht allein. Wenn du Hilfe brauchst, sag Bescheid. Vielleicht kann ich Miko mal abholen oder mit ihm spielen, wenn Ilja nicht da ist.«

Linna lächelte dankbar. »Das ist wirklich nett von dir. Ich schätze es sehr, dass du für mich da bist.« Ihre Gedanken wanderten kurz zu ihrer Familie, die weit entfernt an der deutschen Ostseeküste lebte. Eigentlich war es doch die Aufgabe von Familienangehörigen, in einer derartigen Situation einzuspringen.

»Immer! Und denk daran, dass es okay ist, sich manchmal überfordert zu fühlen.« Sie legte eine Hand auf Linnas Schulter. »Ich weiß nicht, ob ich es so gut managen könnte, wenn ich eine Familie hätte. Du machst das großartig, auch wenn es sich nicht immer so anfühlt.«

Linna nickte und atmete tief durch. Natürlich. Es nützte auch nichts, sich im Kummer zu vergraben. Aber sie merkte, dass in letzter Zeit ihre Kräfte schwanden. Vielleicht war es an der Zeit, sich nicht nur um andere zu kümmern, sondern auch mal um sich selbst. Sie wollte Miko die beste Mutter sein, die sie sein konnte. Vielleicht brauchte sie dafür tatsächlich hin und wieder ein wenig Unterstützung. »Danke, Sarah! Ich werde darüber nachdenken«, erwiderte sie und wandte sich wieder der Anzeigetafel zu. »Und ich kann Miko ja eine kleine Überraschung mitbringen – als Entschädigung dafür, dass sein Vater nicht kommen kann.«

»Das klingt nach einem guten Plan! Und wer weiß, mit viel Glück kommt Ilja doch noch rechtzeitig«, fügte Sarah mit einem aufmunternden Lächeln hinzu.

Linna hoffte es zwar, doch die Chancen standen denkbar schlecht.

Um sie herum summte das Leben des Flughafens weiter – ein ständiger Fluss von Menschen, Geschichten und Träumen, die in die große, weite Welt hinausflogen und zurückkehrten.

Linna saß hinter dem Steuer ihres kleinen, silbernen Toyota und fuhr durch die malerischen Straßen von Düsseldorf-Kaiserswerth. Die Frühlingssonne schien warm durch die Fensterscheiben auf ihre Unterarme, während ihr Blick über die charmanten Häuser und die hohen Bäume entlang der Straße glitt, die in sattem Grün blühten. Auf dem Beifahrersitz lag eine kleine, bunt verpackte Überraschung – ein neues Spielzeug, das sie für Miko ausgesucht hatte.

Den Feuerwehrhubschrauber von Lego hatte er sich schon lange gewünscht. Sie hoffte, dass er die Enttäuschung über Iljas Abwesenheit ein wenig mildern würde. »Der Hubschrauber wird ihm gefallen«, murmelte sie und lächelte, während sie an die leuchtenden Augen ihres Sohnes dachte. Doch gleichzeitig überkam sie auch ein schlechtes Gewissen, weil sie Miko mit einem teuren Geschenk trösten wollte. Ihr war bewusst, dass keine Spielzeuge der Welt das Fehlen eines Elternteils wettmachen konnten.

Als sie den Kindergarten erreichte, kamen ihr Eltern entgegen, die ebenfalls ihre Kinder abholten. Sie grüßte sie und spürte wie immer Vorfreude darauf, ihren Sohn nach einem Arbeitstag wiederzusehen. Miko war wirklich ein Sonnenschein. Er war so voller Energie und Freude, dass sie in seiner Gegenwart meist alle Sorgen vergaß.

Sie betrat das Grundstück der Kindertagesstätte und folgte dem Kinderlachen bis zu der großen Spielfläche, die auf der geschützten Rückseite des Gebäudes lag. Bei dem schönen Wetter spielten und tobten die Kinder draußen.

Als Miko sie entdeckte, rannte er sogleich mit offenen Armen auf sie zu. »Mama!«, rief er voller Freude und sprang in ihre Umarmung.

»Na, mein Schatz.« Linna drückte ihn fest an sich. »War es heute schön im Kindergarten?«

»Wir haben eine Riesenburg gebaut.« Der Junge warf beide Arme in die Luft. »Und dann haben wir Obstraten mit verbundenen Augen gespielt. Ich habe alle Sorten erkannt. Nur bei der Ananas musste ich einen Moment überlegen.«

»Wow! Das hört sich aber spannend an.« Sie strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht. »Ob ich da überhaupt mit meiner Überraschung mithalten kann?«

Mikos Augen leuchteten auf, als sie das Geschenk aus ihrer Tasche zog. »Was ist das? Was ist das?«, fragte er aufgeregt und zappelte vor Freude.

Linna überreichte ihm das bunte Päckchen. Sofort begann er das Geschenkpapier aufzureißen. Doch als er das Spielzeug sah, das er sich gewünscht hatte, schien die Freude bloß für einen kurzen Moment anzuhalten, bis er an ihr vorbeischaute.

»Mama, wo ist denn Papa?«, fragte er plötzlich.

Mist! Miko hat mein Ablenkungsmanöver glatt durchschaut, schoss es ihr durch den Kopf. »Papas Flugzeug hat heute leider Verspätung, mein Schatz. Er kann dich nicht abholen, weil er noch in Ägypten am Flughafen ist«, antwortete sie und strich ihm liebevoll über den Kopf.

Mikos Miene verfinsterte sich. Die anfängliche Freude wich schnell Enttäuschung. Seine Augen füllten sich mit Tränen. »Aber er hat gesagt, dass er kommt!« Er stampfte mit einem Fuß auf. »Alle anderen Kinder haben ihren Papa! Warum kann ich nicht meinen haben?«

Linna kniete sich vor ihn, um ihm mit einem Taschentuch die Tränen von den Wangen zu wischen. »Ich weiß, mein Liebling. Es tut mir wirklich leid. Ich verstehe, dass du traurig bist. Der Papa wäre gerne gekommen. Ich wünschte, er hätte es geschafft.« Sie hob eine Hand, um den Gruß einer Erzieherin zu erwidern, die zu ihnen herübersah.

Miko schluchzte leise und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich will auch einen Papa wie die anderen Kinder. Warum ist er immer weg?«

Linna spürte, wie ihr Herz in viele kleine Stücke zerbrach. Sie wusste, dass sie die Gefühle ihres Kindes ernst nehmen musste. »Ich bin auch traurig, Miko. Es wäre schön, wenn der Papa öfter zu Hause wäre.«

Sie fühlte, dass es an der Zeit war, die Notbremse zu ziehen. Sie konnte nicht länger großzügig über Iljas dauernde Abwesenheit hinwegsehen. Sie musste eine Entscheidung treffen, die in erster Linie das Wohlergehen ihres Kindes berücksichtigte.

»Na, komm.« Sie nahm seine freie Hand. »Lass uns deine Kindergartentasche holen, dann fahren wir nach Hause und probieren dein neues Flugzeug aus.«

Obwohl die Tränen noch in seinen Augen standen, nickte Miko tapfer. »Vielleicht ist der Papa ja gleich zu Hause. Dann kann er mit mir spielen.«

»Vielleicht.« Linna lächelte bekümmert und winkte den Erzieherinnen noch einmal zu.

Während sie zum Auto gingen, erzählte Miko lebhaft, was er noch an diesem Tag erlebt hatte. Linna war froh, dass er nicht mehr weinte. Es war höchste Zeit, etwas Grundlegendes zu verändern. Es lag in ihrer Verantwortung als Mutter, dass Miko die Aufmerksamkeit bekam, die er brauchte.

Die Straßenlaternen brannten bereits, als Linna den Vorhang zur Seite zog und durch das Wohnzimmerfenster auf den Vorgarten ihres Reihenhauses blickte. Laut der Internetseite des Flughafens war Ilja vor einer guten halben Stunde aus Kairo gelandet. Vor einer Stunde hatte sie Miko unter Protest ins Bett gebracht, ihm aber versprochen, dass sein Vater sofort zu ihm kommen würde, wenn er zu Hause war. Miko wollte solange wach bleiben, war dann jedoch wenig später in seinem Bett eingeschlafen.

Sie hatte sich ins Wohnzimmer zurückgezogen und mit Sarah telefoniert, um ihr von ihrem Entschluss zu berichten. Ihre Freundin hatte sofort ihre Hilfe angeboten, Linna hatte dankbar angenommen. Was hätte sie auch anderes tun können?

Sie zog den Vorhang wieder zu und schaltete die Tischlampe ein, die auf einem Sideboard stand und einen warmen Schein auf die Wände des Wohnzimmers warf. Über der Kommode hing ein Spiegel, in dem Linna sich nun betrachtete. Mit einer Hand strich sie eine lockige Strähne ihres kastanienbraunen Haars aus dem Gesicht. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab, und ihr Gesicht wirkte schmaler als sonst.

Sie wandte sich ab und setzte sich auf das große, bequeme Sofa, das sie erst vor Kurzem mit Ilja gekauft hatte. Ihre Füße hüllte sie in eine kuschelige Decke. Eine Weile saß sie einfach nur so da und horchte auf den eigenen Atem. Dann starrte sie auf den leeren Platz neben sich. Sie überlegte, wann ihr Mann das letzte Mal dort gesessen hatte, konnte sich allerdings an keinen konkreten Augenblick erinnern.

Keine Frage, sein Job sicherte den Wohlstand der Familie. Ohne sein Pilotengehalt hätten sie sich nie das hübsche Haus in Kaiserswerth leisten können und Miko kaum all die schönen Spielsachen schenken können, die er so liebte. Aber konnten materielle Dinge auf Dauer die Abwesenheit eines Vaters kaschieren und seine persönliche Zuwendung ersetzen? Linna seufzte schwer. Sie kannte die Antwort auf die Frage.

Die Stille des Hauses fühlte sich zunehmend erdrückend an. Sie wusste, dass Ilja nun bald nach Hause kommen würde. Der Gedanke lag schwer auf ihrer Brust, sodass sie mühevoll atmete.

Als sie das Drehen des Schlüssels im Schloss hörte, setzte Linna sich gerader auf die Couch. Wenig später ging die Tür auf, und Ilja betrat das Haus. Sofort spürte sie eine gewisse Anspannung in der Luft. Langsamen Schrittes kam er ins Wohnzimmer.

Er sah müde aus, seine Augen waren von der langen Reise gerötet, und seine Gesichtszüge waren von den Strapazen des Fliegens gezeichnet. »Hey«, sagte er leise zur Begrüßung und gähnte hinter der vorgehaltenen Hand. »Was für ein Tag!«

Linna konnte seine Erleichterung darüber hören, dass er endlich zu Hause war. »Hey«, antwortete sie und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, was nicht ganz gelang. »Miko schläft schon.«

Ilja nickte und ließ sich auf den Sessel ihr gegenüber fallen. »Ich habe es vermasselt, oder?«, murmelte er und fuhr sich mit beiden Händen über die Augen.

Linna spürte, wie sich ihr die Kehle langsam zuschnürte. »Ja, so ziemlich. Er hat auf dich gewartet. Aber …« Sie hielt inne, unsicher, wie sie das Gespräch beginnen sollte. Umständlich räusperte sie sich. »Aber ich denke, wir müssen mal reden.«

Ilja sah sie an, dann runzelte er die Stirn. In seinem Blick lag Besorgnis. »Was ist los?«

»Es ist … es ist einfach etwas viel in letzter Zeit«, begann sie und spürte, wie Tränen in ihren Augen brannten. »Miko vermisst dich, Ilja. Er hat gesagt, dass er einen Papa wie die anderen Kinder haben will. Und ich … ich fühle mich so allein. Allein mit allem.«

Sofort senkte er den Blick. Linna erkannte die Schuldgefühle, die seine Miene spiegelte. »Ich weiß, dass ich oft weg bin. Mein Pilotenjob nimmt mich mehr ein, als mir lieb ist. Es tut mir sehr leid, Linna. Am liebsten wäre ich immer für euch da.«

»Ich weiß, dass du es gerne wärst«, entgegnete sie sanft. »Aber es ist nicht genug, etwas nur zu wollen. Ich kann einfach nicht so weitermachen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe das Gefühl, dass wir uns immer weiter voneinander entfernen.«

Ein Moment der Stille setzte ein, in dem nur das leise Ticken der antiken Wanduhr zu hören war. Linna spürte, wie die Gefühle allmählich aus ihr herauszubrechen drohten. Sie stand auf und trat ans Fenster, um blicklos auf die dunklen Schatten zu starren. »Ich denke, wir sollten eine Auszeit voneinander nehmen«, sagte sie schließlich mit fester Stimme. Die Worte fühlten sich wie ein schwerer Stein an, der in den Raum fiel. »Ich möchte mit Miko vorübergehend zu Sarah ziehen.«

Iljas Gesichtsausdruck veränderte sich. Eine Mischung aus Schock und Traurigkeit glitt über seine Miene. »Du willst ausziehen?«, fragte er fast tonlos. »Das ist nicht die Lösung, Linna.«

»Dessen bin ich mir bewusst«, erwiderte sie und zuckte die Schultern. »Aber ich glaube, dass es für den Moment das Beste für uns ist. Für uns und für unseren Sohn. Ich brauche Raum, um nachzudenken. Miko braucht Stabilität und Verlässlichkeit. Sarah hat eine große Wohnung, und sie hat angeboten, uns zu helfen.«

»Und was ist mit uns?«, fragte Ilja, seine Stimme war brüchig. »Was bedeutet das für unsere Beziehung?« Er blickte auf den silbernen Verlobungsring an seiner rechten Hand, den er mit zwei Fingern drehte.

»Ich weiß es nicht«, gestand Linna leise und spürte, wie ihr Tränen über die Wange liefen. Ihr fiel der Schritt nicht leicht. Sie wandte sich um und hielt sich an der Lehne der Couch fest, bevor sie darauf Platz nahm. »Ich kann nur einfach nicht mehr so tun, als wäre alles in Ordnung. Ich liebe dich, Ilja, aber ich kann nicht länger in dieser Unsicherheit leben – und Miko kann das auch nicht.«

Er stand auf und ging zu dem Fenster, an dem sie zuvor gestanden hatte. Tief versenkte er seine Hände in die Hosentaschen und starrte eine Weile stumm in die Dunkelheit. »Ich wollte immer der beste Partner und der beste Vater sein. Scheinbar habe ich es total vermasselt.«

»Du hast nicht versagt«, widersprach sie und erhob sich erneut, um sich ihm zu nähern. »Aber wir müssen ehrlich zueinander sein. Wir müssen herausfinden, was wir wirklich wollen und tatsächlich können.«

Er drehte sich zu ihr um. In seinen Augen spiegelte sich Schmerz wider. »Ich will euch nicht verlieren, Linna. Dich nicht und Miko auch nicht.«

»Ich will dich auch nicht verlieren«, flüsterte sie und berührte ihn leicht am Arm. »Und gerade deswegen brauche ich den räumlichen Abstand. Ich muss mir über einiges klar werden.«

Ilja nickte langsam, während er sichtlich um Fassung rang. »Ich werde dich vermissen«, brachte er leise hervor. »Ich werde euch beide vermissen.«

»Wir sind ja nicht weit weg«, antwortete Linna und legte eine Hand auf seine Schulter. »Wir sind immer noch eine Familie, egal, wo wir sind.«

Ilja drehte sich zu ihr. »Wann zieht ihr zu Sarah?«

»Morgen.« Sie wich seinem Blick aus. »Ich habe Mikos und meine Taschen schon gepackt.«

Ohne ein weiteres Wort umarmte Ilja sie fest. Linna spürte die vertraute Wärme seines Körpers, die sie für einen kurzen Augenblick tröstete. Doch sie wusste, dass sie den ersten Schritt in eine ungewisse Zukunft gemacht hatte – einen Schritt, der notwendig war, wenn sie die Gefühle für ihre einst große Liebe retten wollte, die sie nach wie vor noch für ihn empfand.

Kapitel 1

Die Morgensonne schien durch das Fenster in die geräumige Küche der Altbauwohnung. Sarah stand am Herd und bereitete Rührei zu, während Miko auf dem Boden mit seinen Legosteinen spielte. Sie summte fröhlich vor sich hin und schlug ein weiteres Ei in eine Schüssel, das sie würzte und dann mit einer Gabel verquirlte.

Linna saß an dem großen Holztisch und trank eine Tasse frisch gebrühten Kaffee. Es war Samstag, und sie hatte frei. Vor ihr und Miko lag ein entspannter Tag, den sie vermutlich an der frischen Luft verbringen würden.

Plötzlich vibrierte ihr Handy auf dem Tisch. »Das ist bestimmt Ilja.«

Sarah drehte sich zu ihr. »Die tägliche Gutenmorgennachricht mit der Frage, ob ihr noch lebt«, merkte sie lachend an.

»So ungefähr.« Schmunzelnd griff Linna nach ihrem Handy. Als sie den Namen auf dem Bildschirm sah, zog sie überrascht die Augenbrauen hoch. »Oh!«

»Was schreibt er denn?«, fragte Sarah, ohne sich erneut umzuwenden.

»Das war gar nicht Ilja. Es ist eine Sprachnachricht meiner Schwester.«

Seit sie Himmelsee verlassen hatte, hatte sie regelmäßig mit Jule telefoniert, aber sie hatten sich aufgrund der Entfernung nur selten gesehen. Ihre Eltern waren das letzte Mal vor zwei Jahren in Düsseldorf bei ihnen zu Besuch gewesen. Das familiengeführte Hotel an der Ostsee ließ nicht viel Spielraum für private Reisen. Linna ging zum Fenster und blickte hinaus, während sie das Handy an ihr Ohr drückte und der Stimme ihrer Schwester lauschte.

»Hallo, Linna! Hier ist Jule.« Sie klang zögerlich. Dann holte sie hörbar Luft. »Komm bitte nach Hause. Papa und ich brauchen dich. Mama geht es nicht gut!«, sprudelte es aus ihr heraus. Fast panisch fügte ihre Schwester hinzu: »Bitte, komm!«

Eine Pause entstand, dann folgte ein Knacken. Die Sprachnachricht war beendet. Linna blieb einen Moment regungslos sitzen, bis sie Sarah ansah.

»Meine Mutter hatte einen Schwächeanfall. Sarah, ich muss ganz schnell nach Himmelsee fahren.« Eine Woge von starken widersprüchlichen Gefühlen erfasste sie, sie rieb sich die kalten Finger. Ihre Mutter war immer so stark gewesen. Der Gedanke daran, dass es ihr so schlecht ging, erschütterte sie zutiefst. Aber Himmelsee hatte sie aus gutem Grund verlassen. Konnte sie jetzt dorthin zurückkehren nach all den Jahren? Es stand nicht zur Debatte, sie musste.

Sarah drehte sich sofort um, ihr Lächeln war verschwunden. »Oje! Das klingt ernst. Was sagt deine Schwester noch?«

»Jule und Papa brauchen meine Hilfe im Hotel. Ich muss mich gleich mit Miko zu ihnen auf den Weg machen.« Abrupt sprang Linna auf und begann, durch die Wohnung zu hasten.

In Windeseile raffte sie Mikos und ihre Sachen zusammen. Sie warf ihre Kleidung in Taschen, sammelte das Spielzeug ihres Sohnes zusammen und räumte es eilig in eine grüne Aufbewahrungsbox.

»Ich schmiere euch ein paar Brote für die Fahrt.« Sarah war zu ihr getreten und legte ihr die Hand auf die Schulter.

»Danke. Tut mir wirklich leid, dass wir so Knall auf Fall aufbrechen müssen.« Linna fuhr sich konfus durch ihre Locken.

»Das macht doch nichts. Miko bekommt von mir noch Frühstück, ja?«

»Du bist wirklich ein Engel.« Sie lächelte Sarah dankbar an.

»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Sie zwinkerte ihr zu. »Pack ganz in Ruhe zu Ende, ich kümmere mich währenddessen um den kleinen Sonnenschein.«

»Danke, Sarah. Ich rufe dann mal Ilja an«, murmelte Linna und ließ sich mit dem Handy in der Hand auf das Gästebett sinken, auf dem sie die letzten Wochen geschlafen hatte. Sie wusste, dass sie ihn informieren musste, wenngleich sie nicht sicher war, wie er auf die Nachricht reagieren würde. »Ilja?«, sagte sie, als er abnahm.

»Linna! Ist was mit Miko? Du klingst aufgeregt.«

»Miko geht es gut«, beruhigte sie ihn. »Ich habe eine Sprachnachricht meiner Schwester bekommen. Meine Mutter hatte einen Schwächeanfall. Ich muss sofort mit Miko nach Himmelsee.«

»Was?«, fragte Ilja anteilnehmend. »Wie schlimm ist es denn?«

»Schlimm genug, wenn Jule sich meldet und mich um Hilfe bittet. Das hat sie bisher noch nie getan«, erklärte Linna, während sie versuchte, die Nerven zu behalten.

»Das klingt wirklich dringend. Wie lange wirst du mit Miko voraussichtlich fort sein?«, erkundigte er sich leicht angespannt.

»Keine Ahnung. Es könnte aber eine Weile dauern. Ich lasse mich bei der Arbeit beurlauben«, antwortete sie, während sie gespannt auf Iljas Reaktion wartete.

»Also gut … Ich verstehe, dass du an die Ostsee fahren musst. Unter diesen Umständen möchte ich nicht darauf bestehen, Miko regelmäßig sehen zu können«, erwiderte er scheinbar gefasst.

»Danke, Ilja. Es tut mir wirklich leid, dass alles in letzter Zeit so kompliziert ist«, murmelte sie.

»Ich hoffe, dass es deiner Mutter bald wieder besser geht«, fügte er hinzu, ohne auf ihre Worte einzugehen. »Grüß sie von mir.«

Linna nickte, obwohl er es nicht sehen konnte. »Ich hoffe es auch«, sagte sie leise und beendete das Gespräch.

Eine halbe Stunde später luden Sarah und sie gemeinsam die Taschen in den Kofferraum ihres Autos, während Miko fröhlich um sie herumtollte. Er freute sich darauf, zu Oma und Opa an die Ostsee zu fahren. Und weil es für ihn ein wunderbares Abenteuer zu sein schien, wollte sie ihn nicht mit ihren Sorgen belasten.

»Du schaffst das, Linna«, machte Sarah ihr Mut, als sie die letzte Tasche ins Auto gehievt hatte. »Ich bin mir sicher, dass deine Mutter bald wieder auf den Beinen sein wird.«

»Dein Wort ins Gottes Ohr.« Linna nahm Sarah in den Arm und drückte sie. »Danke für alles. Du hast einiges bei mir gut.«

»Ach was! Das war doch selbstverständlich.« Sarah lächelte aufmunternd. »Und mach dir keine Sorgen wegen der Arbeit, hörst du? Ich werde dich gut vertreten. Und ich fahre dann jetzt auch los.« Sie drückte auf die Fernbedienung ihres Autoschlüssels, die Lichter ihres VWs leuchteten auf. »Fahrt vorsichtig und melde dich, wenn du angekommen bist!«

»Wird gemacht«, versprach Linna. »Und dir wünsche ich eine ruhige Schicht.«

Sarah hob schmunzelnd die Augenbrauen. »In der Ferienzeit und ruhig? Mal abwarten.« Sie stieg ins Auto und hob noch einmal die Hand, bevor sie den Wagen startete und Richtung Flughafen losfuhr.

Linna setzte Miko in den Kindersitz auf der Rückbank und schnallte ihn fest. Erst als sie sich hinter das Steuer gesetzt hatte, fiel ihr auf, dass sie Jule noch gar nicht geantwortet hatte. Kopfschüttelnd nahm sie ihr Handy aus der Handtasche und tippte mit einem Finger die Stelle im Messenger an, an der das Mikrofon platziert war.

»Hallo, Jule! Miko und ich machen uns jetzt auf den Weg zu euch nach Himmelsee. Grüße Mama und Papa von uns. Bald sind wir da!« Linna beendete die Aufnahme und startete den Motor.

Mit einem letzten Blick auf die vertraute Düsseldorfer Umgebung fuhr sie los. Ihr Herz war voller Sorge um ihre Mutter, und die Ungewissheit nagte an ihr. Was würde sie in ihrer alten Heimat erwarten?

Sieben Stunden später atmete Linna tief ein, als sie das Auto auf dem Parkplatz vor dem Strandhotel Kranichglück abstellte. Der unverkennbare Duft von salziger Meeresluft strömte durch das heruntergelassene Fenster auf der Fahrerseite. Die Sonne schien hell von einem nahezu wolkenlosen Himmel.

Das Hotel lag direkt hinter den Dünen, nur einen kurzen Spaziergang vom feinsandigen Strand entfernt. Von den Balkonen aus bot sich ein weiter Blick auf das schimmernde Blau der Ostsee. Strandkörbe standen ordentlich aufgereiht auf der großen Terrasse, bereit für die Gäste, die sich hier nach einem Tag am Meer entspannen wollten.

Möwen kreisten durch die Lüfte, während Urlauber fröhlich lachend am Hotel vorbeiflanierten und den warmen Julitag zu genießen schienen. Manche mit Eiswaffeln in der Hand, andere mit Sonnenhut und Badetasche auf dem Weg zur Promenade. Es war Hochsaison in Himmelsee, und das Kranichglück, mit seinen weiß gestrichenen Balkonen und dem maritimen Flair, war mittendrin im lebhaften Treiben.

Als sie aus dem Auto stieg, erblickte Linna schon ihre Schwester am Hoteleingang. Sie hatte sie anscheinend bereits erwartet.

Schnell schnallte sie Miko auf seinem Kindersitz los und half ihm aus dem Auto.

»Linna! Miko!«, rief Jule, bevor sie beide nacheinander in eine herzliche Umarmung zog.

Miko, der mit seinen fünf Jahren etwas schüchtern war, lächelte verlegen. »Hallo.«

»Du kannst dich bestimmt nicht mehr an mich erinnern«, sagte Jule.

»Nein.« Er schüttelte den Kopf.

»Ich bin deine Tante Jule, die Schwester von deiner Mama«, erklärte sie und hockte sich hin, um auf Augenhöhe mit ihm zu sprechen.

Miko überlegte einen Moment. »Okay. Dann gehörst du zur Familie?«

Jule nickte. »Richtig. Du bist mein Neffe.«

Mikos Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Ist gut, Tante Jule.«

Linna lachte und wechselte einen dankbaren Blick mit ihrer Schwester. »Dann wäre das ja auch geklärt.«

»Lasst uns reingehen. Ihr seid bestimmt müde und hungrig von der langen Fahrt. Drinnen gibt es frisch gebackene Kekse.« Jule bedeutete ihnen hineinzugehen.

»Ach, es geht eigentlich.« Linna öffnete den Kofferraum. »Ich nehme sofort unser Gepäck mit.«

»Warte! Ich helfe dir.« Jule trat zuvorkommend neben sie und nahm ihr eine große Tasche ab. »Ich bin so froh, dass ihr da seid.« Sie warf Linna einen besorgten Blick zu. »Mama liegt seit gestern im Krankenhaus, und ich mache mir wirklich Sorgen um sie.«

»Wie ist das denn passiert?«

Jule hob die Schultern. »Du kennst sie doch. Nie lässt sie sich helfen. Immer will sie alles alleine machen und tut so, als wäre sie nicht längst in einem Alter, in dem andere ihre wohlverdiente Rente genießen.«

»Ich muss unbedingt gleich zu ihr«, antwortete Linna und spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Lass uns schnell das Gepäck abstellen, dann können wir von mir aus gleich zu Mutti fahren.«

Das Reisegepäck in Händen und Miko im Schlepptau, betraten sie das Hotel Kranichglück. Auch hier war das geschäftige Treiben der Sommersaison in vollem Gange. Die Lobby war hell erleuchtet, es duftete unverkennbar nach frisch gebackenen Keksen. Unter das Stimmengewirr der Gäste mischte sich das Klirren von Geschirr. Es war genau, wie Linna es in Erinnerung hatte. Sie spürte, wie sich langsam ein Gefühl von Nachhausekommen in ihr regte.

Sie ging mit Jule zur Rezeption, um dort ihre Koffer abzustellen. Während ihre Schwester für Miko und sie den Schlüssel einer geräumigen Suite heraussuchte, entdeckte Miko ein anderes Kind in der Lobby. Seine Augen leuchteten auf. Er rannte sofort zu dem anderen Jungen, der gerade mit einem ferngesteuerten Auto spielte. Linna beobachtete lächelnd, wie beide Kinder schnell Freundschaft schlossen und der etwa gleichaltrige Junge Miko auch mal mit dem ferngesteuerten Auto fahren ließ.

Nachdem sie ihre Sachen in der Suite abgestellt hatten und Miko den versprochenen Keks bekommen hatte, brachen sie mit dem Hotelfirmenwagen zum Krankenhaus auf. Die Fahrt dorthin war nur kurz, aber Linna kam es wie eine Ewigkeit vor.

Im Krankenhaus empfing sie das glatte Gegenteil der heimeligen Atmosphäre im Hotel Kranichglück. Der beißende Geruch von Desinfektionsmittel lag in der Luft, und von irgendwoher erklang das monotone Piepen eines Überwachungsgeräts. Menschen in weißen Kitteln eilten umher, während Patienten und deren Angehörige in Wartebereichen besorgt in ihre Gedanken versunken waren. Wieder einmal fragte sich Linna, wie man in einem Krankenhaus überhaupt gesund werden sollte. Sie dachte an ihre Blinddarm-OP zurück, die mindestens schon fünfzehn Jahre her war. Damals war sie heilfroh gewesen, als sie das Krankenhaus wieder hatte verlassen können. Denn mit jedem Tag länger hatte sie sich kränker gefühlt, als sie gewesen war.

Als sie das Zimmer ihrer Mutter betraten, erhellte sich deren Miene. »Linna! Mein Schatz! Was machst du denn hier?« Ihre Stimme war nicht so kräftig wie sonst, aber die Freude in ihren Augen unübersehbar.

Ihr Vater, der auf einem Stuhl neben dem Bett ihrer Mutter gesessen hatte, war aufgesprungen. Linna umarmte ihn zuerst und dann ihre Mutter.

»Ich kann doch nicht in Düsseldorf bleiben, wenn es dir so schlecht geht.« Sie lächelte und nahm die Hand ihrer Mutter, die sich warm und sehr zart anfühlte. »Wie geht es dir denn, Mutti?«

»Tja, was soll ich sagen? Ich muss wohl noch eine Weile hierbleiben, aber das wird schon wieder«, antwortete ihre Mutter und lächelte schwach.

»Ich bin auch da, Omi.« Miko hatte sich in der allgemeinen Aufregung unbemerkt an das Bett seiner Großmutter gestellt.

»Ach, mein Schätzchen. Natürlich bist du da.« Linnas Mutter strich ihrem Enkel sanft über das Haar und betrachtete ihn. »Du bist ein richtig großer Junge geworden. Weißt du das, Miko?«

Er nickte. »Nächstes Jahr komme ich ja schon in die Schule.«

»Da darf man nicht mehr so klein sein.« Linnas Vater hob seinen Enkel auf den Arm und drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange.

Die Stimmung im Krankenzimmer war nun gelöster, und die Wangen von Linnas Mutter wirkten rosiger als noch wenige Minuten zuvor.

Eine halbe Stunde darauf kam ein Arzt herein, um nach dem Befinden von Linnas Mutter zu fragen. Nachdem er den Puls seiner Patientin gemessen und ein paar Notizen in einer Akte gemacht hatte, stellte Linna sich ihm vor. Dabei ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf und fragte direkt nach der Diagnose ihrer Mutter.

»Es handelt sich um einen vorübergehenden Schwächeanfall«, erklärte der Arzt mit ruhiger Stimme. »Trotz allem eine ernst zu nehmende Sache.«

Linna verschränkte die Arme vor der Brust. »Und wie kommt so was zustande?«

Er hob eine Schulter. »Vor allem durch übermäßigen Stress und auch Überanstrengung. Das soll leicht zu finden sein, wenn man ein Hotel führt, habe ich gehört.«

»Ich sag meiner Frau immer wieder, dass sie sich nicht so viel zumuten soll. Aber sie hört nicht auf mich!«, beklagte sich Linnas Vater.

Der Arzt nickte verständnisvoll. »Häufig ist es so, dass Angehörige eine sich anbahnende Überlastung eher sehen als die betroffene Person. Deswegen wird sich Ihre Frau auch noch einige Tage mit unserer Vollpension begnügen müssen.« Um seine Mundwinkel zuckte es verdächtig.

»Ich werde bleiben und so lange im Hotel helfen, wie ich gebraucht werde«, erklärte Linna ihren Eltern, als der Arzt gegangen war.

»Ach, mein Mädchen, das ist doch wirklich nicht nötig«, wandte ihre Mutter ein. »In ein paar Tagen bin ich wieder wie neu.«

»Umso besser«, entgegnete Linna und warf ihrer Schwester einen eindringlichen Blick zu. Jule nickte ihr unmerklich zu. Sie wussten beide, dass Widerspruch zwecklos war. Deswegen ließen sie die Worte ihrer Mutter unwidersprochen stehen und brachen keinen Streit vom Zaun.

Linna war klar, dass sie nicht einfach wieder abreisen konnte. Ihre Entscheidung war gefallen. Himmelsee würde für eine Weile wieder ihr Zuhause sein. Für Miko würde es wie Urlaub sein, und sie wollte alles tun, um ihren Eltern und ihrer Schwester in dieser schwierigen Zeit beizustehen.

Der Abend senkte sich sanft über Himmelsee. Die letzten Sonnenstrahlen tauchten den Himmel in warme Gold- und Rosatöne. Linna schlenderte barfuß über den feinen, noch warmen Sandstrand und genoss die entspannte Atmosphäre.

In den Händen hielt sie ihre Sandalen, das sanfte Rauschen der Wellen begleitete ihre Schritte. Lächelnd dachte sie daran, was Miko jetzt erleben würde. Ihr Vater kümmerte sich gerade im Hotel um ihn. Bevor sie sich auf den Weg gemacht hatte, hatte sie sie im Hotelrestaurant bei einer Partie Mensch ärgere dich nicht gesehen. Linna wusste ihren Sohn in den besten Händen und war dankbar für die Gelegenheit, einen Moment für sich zu haben. Sie musste die Dinge des Tages in Ruhe Revue passieren lassen und ihre Gedanken sortieren.

Vor kaum vierundzwanzig Stunden hätte sie im Traum nicht daran gedacht, dass sie so kurze Zeit später durch den weißen Sand Himmelsees marschieren würde. Der Wind spielte mit ihren Locken, aus der Ferne erklang der Ruf einer Möwe. 

Einen Moment lang schloss sie die Augen, um genussvoll die salzige Luft einzuatmen, die so unvergleichbar nach ihrem Zuhause roch. Sie bohrte ihre Füße tiefer in den Sand und fühlte eine angenehme Kühle. Sie wollte bewusst wieder in Himmelsee ankommen, diesen Ort möglichst mit allen Sinnen erfahren.

Während sie so dastand, überkam sie plötzlich ein Gefühl der Melancholie. Alte Erinnerungen stürmten auf einmal auf sie ein. Aus einer Zeit, als alles noch unbeschwert schien. Glückliche Momente drängten sich in ihr Bewusstsein, die sogleich von einer unsagbaren Trauer überschattet wurden.

Sie öffnete wieder die Augen, und ihr war, als könnte sie eine junge Frau auf der Seebrücke stehen sehen: Anika, ihre beste Freundin, mit der sie durch dick und dünn gegangen war und der sie ewige Freundschaft geschworen hatte. Anika, die viel zu früh aus ihrem jungen Leben gerissen worden war und deren Tod sie bis heute nicht verwunden hatte. Der Verlust war damals wie ein Tornado über sie hinweggedonnert. Sie hatte die ersten Tage nach Anikas Unfall in einer Art Schockzustand verbracht. Seitdem schien das Ereignis wie eine dunkle Wolke über ihr zu schweben. Sie hatte es nicht ertragen können, an diesem Ort zu bleiben, damals. Vor zehn Jahren hatte sie nicht anders gekonnt, als davor zu flüchten. Aber nun war sie endlich wieder hier, und sie spürte, dass es höchste Zeit war, sich auch dem Vergangenen zu stellen.

Langsam ging sie weiter zur Seebrücke, die sich wie ein schmaler Steg über dem Meer erstreckte. Die Holzplanken knarrten wie früher bei jedem ihrer Schritte, das warme Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich glitzernd auf der Wasseroberfläche. Hier, an genau dieser Stelle, hatte sie viele glückliche Stunden mit Anika verbracht. Hier hatten sie sich erzählt, in wen sie heimlich verliebt gewesen waren, sich den ersten Liebeskummer von der Seele geweint oder waren gedanklich in eine Zukunft voller Abenteuer gereist, in denen sie die Heldinnen gewesen waren und es keine Grenzen gegeben hatte.

Der Steg war für sie unweigerlich mit ihrem Lachen, ihren Träumen und dem Versprechen verbunden, immer füreinander da zu sein. Doch dieses Versprechen hatte sie nicht einhalten können. Das Schicksal war dazwischengekommen und hatte Linna sich in die Ferne flüchten lassen, um dem unerträglichen Schmerz zu entkommen, der seit Anikas Tod für sie mit Himmelsee unwiderruflich verbunden war.

Doch nun, da sie zurück war, wurde ihr bewusst, dass sie davor nicht länger davonlaufen konnte. Ohne die Entscheidung bewusst zu fällen, schlug sie den Weg Richtung Friedhof an der Seemannskirche ein.

Ihr wurde das Herz schwer, doch ihre Füße trugen sie Schritt für Schritt weiter. So schlenderte sie durch die malerischen Straßen von Himmelsee. Die reetgedeckten Häuser, die sich hier aneinanderreihten, strahlten eine gefällige Gemütlichkeit aus. Die bunten Darßer Türen leuchteten in den sanften Abendfarben und schienen Geschichten von der See aus längst vergangenen Zeiten zu erzählen.

Linna hielt kurz inne, um die Schönheit der Umgebung auf sich wirken zu lassen. Hier, in der friedlichen Kulisse ihres Heimatorts, schien die Zeit stillzustehen. Für einen Augenblick gestattete sie es sich, den Blick zu heben, ließ die Schultern sinken und die Sorgen von sich fallen, um tiefen Frieden in ihrem Herzen zu fühlen.

Je näher sie dem Friedhof kam, desto stärker spürte sie wieder die Bürde der Erinnerungen. Die bunten Türen hatte sie einst auch mit Anika bewundert. Anika hatte oft gelacht, manchmal recht wilde Pläne geschmiedet und von einem zukünftigen Leben als Kapitänin geträumt, um die alte Familientradition fortzuführen und als erste Frau in ihrer Ahnenreihe zur See zu fahren. Dieser Traum war seit jenem verhängnisvollen Tag vor rund zehn Jahren für immer verloren.

Als sie schließlich den kleinen Friedhof an der Kirche erreichte, umfing sie eine friedliche Stille. Die alten Bäume schienen die Zeit zu bewahren, und auf den Gräbern lagen die letzten Sonnenstrahlen des Tages.

Linna ging langsam zum Familiengrab der Friedrichs, das sie während ihrer Abwesenheit gedanklich so oft besucht und es doch nie gewagt hatte, persönlich hier zu erscheinen.

Am Grabstein wucherte etwas Moos, ansonsten war alles schön gepflegt. Jemand hatte eine Kerze in einem Windlicht angezündet, das rechts des Steins aufgestellt worden war. Fast fühlte sie sich etwas beschämt, weil sie nach so langer Zeit mit leeren Händen am Grab ihrer besten Freundin stand.

»Anika«, flüsterte sie, als sie sich langsam niederkniete und ihre Hand sanft über den kühlen Stein gleiten ließ. »Ich bin wieder da, Anika.«

Die Worte schienen in der Stille zu verhallen, doch in ihrem Herzen spürte sie eine Art Resonanz, als würde ihre Freundin ihr antworten. Linna wusste, dass es richtig war, zurückzukehren und sich den Schatten ihrer Vergangenheit zu stellen. Und vielleicht, nur vielleicht, konnte sie eines Tages einen Weg finden, um das Geschehene zu akzeptieren und sich zu verzeihen.

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