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Heat 2

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Atemberaubend und herausfordernd wie sein filmischer Vorgänger erzählt Heat 2von den gefährlichen Machenschaften international operierender Krimineller sowie von den Polizeibeamten, die ihnen auf der Spur sind.

Gewohnt bildgewaltig und nervenaufreibend spannend erzählt Mann die prägendsten Jahre des Mordermittlers Vincent Hanna (gespielt von Oscargewinner Al Pacino) sowie der Gangsterbande um Neil McCauley (Oscargewinner Robert De Niro) und geht zudem weit über die Kinohandlung heraus: Von den Straßen L.A.s bis zu einem jenseits der mexikanischen Grenze operierenden Geldwäschering - Michael Mann zeichnet ein actionreiches Porträt der Männer und Frauen, die gezwungen sind, zwischen den rivalisierenden Welten dies- und jenseits des Gesetzes zu wandeln.

Heat 2 ist fesselnd, bewegend und tragisch – ein Meisterwerk des Thriller-Genres von einem der wichtigsten Filmschaffenden Amerikas.


  • Erscheinungstag: 27.09.2022
  • Seitenanzahl: 688
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365002285

Leseprobe

PROLOG

Am Donnerstag, den 7. September 1995, um 11.32 Uhr wurde die Far East National Bank in der 444 South Flower Street in Los Angeles von drei Männern überfallen: Neil McCauley, Michael Cerrito und Chris Shiherlis. Ein vierter, Donald Breedan, fuhr den Fluchtwagen. Die Far East National war ein Bargeldverteilzentrum und verfügte über große Barbestände. Die Bankangestellten lösten zwei Telco- und einen Handyalarm aus, aber die Signale gingen ins Nichts. In der Nacht zuvor hatte Cerrito sich durch die Decke der Tiefgarage der Bank gebohrt, um Zugang zu den CPUs des Alarmsystems im Stockwerk darüber zu bekommen, und drei Platinen ausgetauscht. Zwanzig Minuten vor dem Überfall schaltete die Alarmanlage sich selbst und alle Kamerasysteme aus. Um 11.50 Uhr verließen McCauley, Cerrito und Shiherlis einer nach dem anderen die Bank mit 12,8 Millionen Dollar Bargeld in Seesäcken über den Schultern.

Fünf Minuten zuvor, um 11.45 Uhr, hatte Vincent Hanna vom Raub- und Morddezernat des LAPD einen Hinweis auf den bewaffneten Raubüberfall erhalten. Hanna, seine Detectives und uniformierte Polizeieinheiten eilten zur Bank, als McCauley, Cerrito und Shiherlis gerade den Bürgersteig überquerten. In den nächsten Sekunden entbrannte in der Innenstadt von L. A. ein Straßenkrieg.

*

Hanna war dieser Bande auf den Fersen, seit er am Tatort eines brutalen Überfalls auf einen Geldtransporter angekommen war. Als er vorfuhr, erwartete ihn ein typischer Tatort: die geregelte Ordnung von Bordsteinen, Laternenpfählen und Stromkästen. Dann zeigten sich die Anomalien: Gehirnmasse, Knochensplitter, Blutlachen, der Unterboden eines gepanzerten Vans, der auf der Seite lag wie ein eisernes Mammut.

Die Identität der bewaffneten Räuber war unbekannt. Hanna sah jedoch auf den ersten Blick, dass es sich um eine hochkarätige Profitruppe handeln musste.

Es gab genug Anzeichen, zurückgebliebene Scherben und andere Hinterlassenschaften, die ihm Informationen darüber lieferten, was passiert war. Indem er den Weg zurückverfolgte, auf dem sie dorthin gelangt waren, konnte Hanna den Ablauf der Ereignisse rekonstruieren und die Methodik dieser Bande entschlüsseln. Sie hatten sich einen Ort mit guten Fluchtwegen ausgesucht – mit Auffahrten auf zwei Freeways. Sie ignorierten Kleingeld, und die zwei Minuten, die sie für den Überfall gebraucht hatten, verrieten ihm, dass sie wussten, wie lange das LAPD brauchte, um auf einen 211, den Code für einen Überfall, zu reagieren.

Der geschickte Einsatz von Hohlladungen, um die präzise rechteckige Öffnung in die Panzerplatte zu schneiden, sagte Hanna, dass diese Bande bei ihrem Beutezug perfekt zusammenarbeitete und auch ausgeklügelte, hochkarätige Einbrüche durchziehen konnte. Das bedeutete, sie waren in der Lage, die verschiedensten Coups zu realisieren, ganz gleich was es dazu brauchte. Und wenn sie ihre Vorbereitungen abgeschlossen hatten, konnten sie im Handumdrehen zuschlagen. Sie hatten zwei Wachen in Schutzkleidung ausgeschaltet, als einer der beiden Männer nach der Waffe in seinem Knöchelhalfter gegriffen hatte. Den dritten erschossen sie aus kalter Berechnung: Warum sollten sie einen lebenden Zeugen hinterlassen, wenn ohnehin Mord im Spiel war? Wer dieser Bande in die Quere kam, der hatte ein Problem.

Hanna nahm das alles auf, bevor er sich an die Detectives, die Kriminaltechniker und uniformierten Beamten anderer Abteilungen wandte.

Die RHD, die Abteilung für Raub- und Morddelikte, war die Eliteeinheit für Schwerverbrechen beim LAPD. Ihr Zuständigkeitsbereich erstreckte sich über die ganze Stadt. Hanna war befugt, jeden Fall jeder Abteilung an sich zu ziehen. Und diesen Fall wollte er. Also übernahm die RHD.

Durch sein Informantennetzwerk konnte Hanna ein Mitglied der Bande identifizieren, Michael Cerrito. Dessen Überwachung führte Hanna zu den anderen Bandenmitgliedern mit Ausnahme des flüchtigen McCauley. Hanna wusste aufgrund der Fähigkeiten dieser Bande, wie unwahrscheinlich es war, dass sie an einem Tatort genügend physische Beweise hinterlassen würde, um sie mit dem Verbrechen in Verbindung zu bringen. Also bestand Hannas Strategie darin, sie zu überwachen, herauszufinden, was sie als Nächstes planten, und vor Ort zu sein, wenn sie durch die Tür marschierten.

Neil McCauley registrierte, dass jemand ihn beschattete. Er reagierte jedoch ruhig und gelassen, denn Gelassenheit macht schnell. Hast bewirkt das Gegenteil. Shiherlis befand sich gerade in einem Depot für Edelmetalle und bohrte um drei Uhr morgens mit einem Hohlbohrer ein Loch in die Tür eines Metalltresors. Cerrito hockte auf einem Telefonmast und überwachte die Leitungen, mit denen er die Alarmanlage lahmgelegt hatte. Trejo stand Schmiere und umkreiste den Häuserblock.

Draußen auf dem Bürgersteig wehte die Nachtluft kühl über Neils Gesicht, während er die dunklen, leeren Straßen beobachtete. Er hörte ein Geräusch. Wie von einer Blechplatte, gegen die ein fester Gegenstand prallt. Ein solches Geräusch war hier eigentlich deplatziert. Es kam von einer Reihe Lieferwagen, die auf der anderen Straßenseite auf dem Parkplatz einer Großbäckerei standen. Das Geräusch gehörte hier nicht hin. Die Wagen sollten eigentlich leer sein. Aber offenkundig waren sie es nicht.

Ruhig ging Neil wieder in das Gebäude. Shiherlis war fast fertig damit, das Schließfach mit dem Hohlbohrer zu knacken, und dann wäre Sesam offen gewesen. Aber Neil gab den Befehl, sofort abzubrechen. Sie ließen Werkzeug, Arbeitskleidung und sechs Wochen Vorbereitung einfach liegen. Sie waren extrem diszipliniert.

Hanna beobachtete das Geschehen auf Infrarotbildern der versteckten Kameras im Lieferwagen einer Bäckerei. Seine SWAT-Teams hatten gut versteckt Stellung bezogen.

Er ließ sie entwischen. Mit einem einfachen Einbruch gab er sich nicht zufrieden. Er wollte sie endgültig festnageln.

Neil versammelte Shiherlis, Cerrito und Trejo vor einem DWP-Umspannwerk, wo die freiliegenden Hochspannungsleitungen so viele Interferenzen verursachten, dass alle Übertragungen von Transpondern, die sie an ihren Autos vielleicht noch nicht gefunden hatten, verzerrt wurden.

Sie mussten sich auf der Stelle entscheiden: Entweder sie trennten sich augenblicklich und gingen ihrer Wege, oder sie fanden heraus, wer ihnen in die Quere gekommen war, entledigten sich der Überwachung, blieben und nahmen die Bank aus.

Für Chris Shiherlis war das keine Frage. Seine Ehre stand auf Messers Schneide. Er war zuverlässig, vollkommen sachlich und fokussiert, wenn er bei einem Job ganz in seinem Element war. Sie hatten monatelang gute Beute gemacht. Nur im normalen Leben war Chris ein Versager. Als geläuterter Glücksspieljunkie hatte er zwei Monate zuvor an einem Samstagmorgen in Santa Anita einen Rückfall erlitten. Er verlor einen Haufen Geld im dritten Rennen und fing an, willkürlich auf »Metakoinzidenzen« zu wetten, die auf Zahlen und Namen basierten. Darunter auch auf ein Pferd namens Dominick, nur weil es so hieß wie sein Sohn. Auch dieses Pferd verlor. Er verprasste die Hälfte des Geldes, das Charlene und er nach eineinhalb Jahren solider Gewinne angespart hatten.

Danach hatte Charlene die Nase voll. Sie wollte für sich und ihren Sohn ein erwachsenes Leben. Sie hatte sich selbst aus dem Dreck gezogen. Für sie war Chris immer noch »ein Kind, das einfach nur älter wird«. Deshalb war Chris bereit, das Risiko einzugehen, die Polizisten, die sie beschattet hatten, abzuschütteln und die elf bis zwölf Millionen Dollar der Bank zu kassieren.

*

Neil saß in einem Cadillac im nächtlichen Schatten unter den hohen Rampen des Autobahnkreuzes 105110 und ließ sich von seinem Ausputzer und Mittelsmann Nate ein Paket mit Informationen über die Gegenseite aushändigen, darunter die Personalakte von Vincent Hanna.

Nate war ein Bankräuber der alten Schule aus Südkalifornien. Er und McCauley hatten zusammen in der McNeil-Bundesstrafanstalt in Puget Sound gesessen. Jetzt vermittelte Nate Einbrüche und war Neils Hehler. Er war vorsichtig, groß, dürr wie ein Skelett, hatte strähniges langes Haar und arbeitete in seiner blau beleuchteten Lounge in Encino, dem Blue Room. Und in diesem Moment suchte er nach überzeugenden Worten, um eine eindringliche Warnung zu formulieren.

Dieser Vincent Hanna von der RHD machte den Job nicht, um »zu dienen und zu schützen«. Er war auch kein Karrierist, der die Verwaltungsleiter hochkletterte. Er war bereits in dritter Ehe verheiratet, weil er nachts unentwegt auf der Jagd war. Er war einer dieser engagierten Typen. Und er hatte Neils Team auf dem Schirm – alle außer Neil selbst.

Neils Mantra lautete, man hatte in dreißig Sekunden verschwunden zu sein, wenn man um die Ecke Gefahr witterte. Nate erinnerte ihn daran. Hanna konnte sich Fehler leisten. Er konnte treffen oder vorbeischießen. Neil durfte sich keinen einzigen Fehlschuss erlauben.

Neil überlegte und verwarf den Gedanken in Bausch und Bogen. Aber er hielt es nicht für nötig, jemandem zu erklären, warum er bleiben, seinen eigenen Grundsatz über den Haufen werfen, Hanna abschütteln und die Bank trotz des Risikos ausnehmen würde.

Niemand brauchte das zu wissen. Anfangs hatte er sich selbst noch eingeredet, dass Eady nur ein One-Night-Stand gewesen war und er sich mit der Erinnerung daran begnügen würde. Ihr Leben war Lichtjahre vom Leben Neil McCauleys entfernt. Sie war eine freiberufliche Grafikdesignerin, die ursprünglich aus den Blue Ridge Mountains stammte und tagsüber in einem Architekturbuchladen in Santa Monica arbeitete. Mit ihr hatte sich eine Tür geöffnet, an deren Existenz Neil nicht mehr geglaubt hatte. Diese Tür war etliche Jahre zuvor auf einer blutbefleckten zweispurigen Landstraße außerhalb von Mexicali zugefallen. Doch er wollte mit dieser Frau zusammen sein. Dieser Coup und das Leben, das die Beute ihnen irgendwo weit weg bescheren könnte, war der Grund, warum er bleiben würde. Er hatte das nicht geplant, aber eine Zukunft ohne sie zählte für ihn nicht mehr.

*

Nachdem Vincent Hanna entdeckt hatte, dass seine Überwachung von Neil McCauley aufgeflogen war, stellte er sich Neil von Angesicht zu Angesicht.

Denn Hanna war klar, dass es keinen Unterschied mehr machte, ob er sich versteckte oder nicht.

Er winkte McCauley auf dem Freeway 105 rechts ran. Er wollte so viel wie möglich über McCauley erfahren, und wenn er mit ihm sprach, konnte er mehr herausfinden als durch die gescheiterte Überwachung.

Auch McCauley wusste, dass er in nicht allzu ferner Zukunft nur einen Sekundenbruchteil Zeit haben könnte, um intuitiv zu entscheiden, welchen Kurs er einschlagen sollte. Deshalb wollte er sich einen konkreten Eindruck von Hanna verschaffen.

Sie setzten sich ins Kate Mantilini am Wilshire Boulevard. Sie kannten beide die bloßen Fakten über den anderen, aber die waren farblos. Jeder der beiden Männer studierte den anderen eingehend und gnadenlos. Sie waren wie Raubtiere.

Neil wusste von Hannas ausgebrannten Ehen. Hanna räumte ein, dies sei der Preis dafür, dass er sein Leben damit zubrachte, Typen wie Neil zu jagen. Neil gestand, dass auch er eine Frau hatte. Allerdings sprach er nicht über sie und verriet auch nicht, was er eines Nachts zu ihr gesagt hatte: Mein Leben ist ein Zeiger, der bei null anfängt und dann in den Minusbereich ausschlägt, eine doppelte Niete. Doch das galt nur, bis sie ins Spiel kam. Er hatte Eady überzeugt, mit ihm zu verschwinden.

Obwohl beide Männer nichts verrieten, was sie kompromittieren könnte, unterhielten sie sich mit dieser besonderen Intimität, die sich manchmal zwischen Fremden ergibt. Und sie stellten fest, dass sie die reale Welt und die Art und Weise, wie das Leben auf sie einprügelte, auf ganz ähnliche Weise wahrnahmen.

Hanna wurde von Träumen heimgesucht, von Leichen an einem langen Tisch, die ihn alle anstarrten, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Blicke waren vorwurfsvoll. McCauley jedoch scherte sich nicht um Vorwürfe. Er träumte, dass er nicht mehr atmen konnte, dass er zu ertrinken drohte. Vielleicht liefe ihm ja die Zeit davon, merkte Hanna an. Beide wussten, dass das Leben kurz war, dass sie wie Fußspuren im Sand waren, die nur existierten, bis die Flut kam. Und beide steuerten mit offenen Augen der Zukunft entgegen, die auf sie zuraste. Brutal. In mancher Hinsicht waren sie absolute Gegensätze, aber sie hatten beide die gleiche Vorstellung davon, wie die Welt funktionierte, frei von Illusionen und Selbsttäuschungen.

Und jeder von ihnen würde den anderen, ohne zu zögern, umlegen. Auch das wussten sie.

Aber das würde vielleicht niemals passieren. Vielleicht sahen sie sich ja nie wieder.

So endete das Treffen.

*

Bei dem Chaos während des Banküberfalls auf die Far East Bank wurde Breedan am Steuer des Lincoln von Hannas Detectives Drucker und Casals getötet. Cerrito, der einen Fünfjährigen als Schutzschild benutzte, bekam von Hanna eine Kugel in den Kopf. Hannas Partner Bosko wurde von Shiherlis erschossen. Drei Uniformierte des LAPD starben, und elf wurden verwundet, drei davon schwer. Shiherlis wurde von einem 5,56-Millimeter-Geschoss mit einer Geschwindigkeit von neunhundertfünfundvierzig Meter pro Sekunde oberhalb seiner Schutzweste getroffen. Das Geschoss schleuderte ihn zu Boden, zertrümmerte sein Schlüsselbein und spickte seinen oberen Brustkorb mit Knochensplittern. Neil schleppte ihn auf einen Supermarktparkplatz, wo er einen Kombi stahl. Sie mussten, so schnell wie möglich, aus L. A. verschwinden.

Neil sollte es nicht schaffen.

Hanna erledigte ihn unter den Anflugleuchten am Ende einer Landebahn des LAX. In einem Camaro in der Einfahrt neben dem Airport Marquee Hotel am Century Boulevard wartete Eady vergeblich auf ihn.

Nur Chris Shiherlis überlebte.

TEIL EINS

Los Angeles, 1995

1

Nächtliche Lichtblitze durchdringen die Lamellen der Jalousien, rosa und blaues Neonlicht von dem koreanischen Einkaufszentrum an der Ecke. Scheinwerfer von abbiegenden Autos jagen Schatten über die Decke. Musik dröhnt durch den Boden aus einem Musikgeschäft herauf. Sie trommelt wie ein Puls durch Chris Shiherlis’ Schulter und Nacken.

Steh auf.

Das schafft er nicht.

Steh auf, verdammt. Sofort.

Shiherlis öffnet die Augen.

Er ist nicht tot. Tote werden nicht von K-Pop durchpulst, der aus dem Boden wummert. Tote bluten nicht.

Zu Hause ist er auch nicht. Sein Zuhause ist ein Ranchhaus, eingepasst in die Anonymität des San Fernando Valley. Das hier ist eine Matratze auf einem Metallbettgestell in einer Zimmerecke. Es ist keine Gefängniszelle. Sondern eine Wohnung im Obergeschoss. Koreatown.

Die Augen fallen ihm zu, als er sich noch einmal vom Oxycodon überfluten lässt. Dann wird er wieder wach.

Wie bin ich hierhergekommen?

Der K-Pop vermischt sich mit stakkatoartigen Schüssen, die durch die Schlucht zwischen den schwarzen Glasgebäuden donnern. Sirenen hallen durch die Stadt und kommen näher. Er erinnert sich an die hin- und herpendelnde Last des Geldsacks, den er sich mit dem Gurt auf den Rücken geschnallt hatte. An Breedan, getroffen, totes Fleisch am Steuer. Ein Hinterhalt. Reflexartige Drei-Schuss-Salven, eine nach der anderen. Kein Zögern. LAPD im Anmarsch. Cops. Überlegene Feuerkraft, um Zivilisten zu überwältigen. Zivilisten? Hier hast du deine Überwältigung, Arschloch! Greift den Hinterhalt an! Schwarz-weißes Blech wird durchsiebt. Der Klang treibt dir den Puls in den Kopf und lässt deine Schädeldecke explodieren.

Die Musik dröhnt, laut und fremd. Benutze sie.

»Fokussiert euch, Augen«, zischt er.

Schatten und rosa Licht von der Straße streifen die schmutzigen Wände. Das Bett, das billige Laken, er in Boxershorts. Seine Kleidung liegt gefaltet auf einem metallenen Gartenstuhl. Ein ausgeschalteter Fernseher steht auf einem Couchtisch. Alte Zigarettenstummel liegen auf einer zerbrochenen Untertasse, zerdrückte Bierdosen in einem Papierkorb. Draußen ertönen Stimmen.

Die Wunde kreischt. Die Knochensplitter haben seine Schlüsselbeinarterie nicht durchtrennt, sonst wäre er tot. Der Hundedoktor, Dr. Bob, ein Tierarzt. Chris hatte gehört, wie er das zu Neil sagte, als der ihn festhielt.

Chris kämpft sich verzweifelt an die Oberfläche.

Steh auf, verdammt!

Er versucht sich umzudrehen und aufzusetzen. Seine Schulter- und Nackenmuskeln werfen ihn zurück. Er schreit vor Schmerz.

Wie ist er hierhergekommen? Von Venice aus ist er wieder zu Nate gefahren. Wütendes Hupen riss ihn an einer roten Ampel, die auf Grün schaltete, aus seiner Benommenheit. Er erinnert sich daran, wie er über den dunklen Sepulveda-Pass zurück nach Encino fuhr. Er traute sich nicht, die 405 zu nehmen.

Venice. Die Geste der Blackjackdealerin. Ihre Hand gleitet langsam durch die Luft. Das Kartenziehen ist vorbei. Sie hat angerufen und eine Nachricht hinterlassen. Nate war dagegen, aber er ist trotzdem losgefahren. Nach Venice. Er hat sich aus dem Auto geschleppt und sie auf dem Balkon warten sehen.

Ihre Augen, das Lächeln – einladend, wie bei ihrer ersten Begegnung. Dann dieser Ausdruck, der sich über ihr Gesicht senkte, der alles überschattete und ihn warnte.

Die Tür in Koreatown öffnet sich. Nate kommt herein.

Er ist groß und trägt einen cremefarbenen Kurzmantel mit zwei Knöpfen und eine Westernkrawatte. Das strähnige blonde Haar ist mit Brillantine nach hinten gekämmt, der Siebzigerjahreschnurrbart hängt ihm ins fleckige Gesicht. Seine Augen, schnell und klein, mustern Shiherlis von Kopf bis Fuß, taxieren ihn in aller Ruhe.

Wie spät ist es?

Nate schließt die Jalousien. »Was?«

Wie lange bin ich schon hier?

Worte. Er hört sie in seinem Kopf. Sie ergeben einen Sinn. Kommen sie auch aus seinem Mund?

Nate beugt sich über ihn. »Halt still.«

Er rückt den Gartenstuhl neben das Bett, setzt sich hin und zieht vorsichtig das Klebeband von der Mullbinde, die die Schusswunde bedeckt.

Das kleine 5,56-Millimeter-Geschoss war mit hoher Geschwindigkeit eingedrungen wie eine Sidewinder-Rakete und hatte seinen Zweck erfüllt: Es hatte ein riesiges Loch in seinen Körper geschlagen und Knochen in Splitter verwandelt. Chris erinnert sich, wie er auf dem Rücken auf dem Asphalt lag, wie er adrenalindurchströmt und völlig klar schräge Blicke auf Polizeiwagen warf, die in Stücke geschossen wurden. Ich kann mich nicht bewegen. Neil zog ihn hoch.

Nate hebt den Verband ab. Die Nähte sind schwarz, die Haut rot und heiß.

Im Licht der Deckenlampe kann er nur Silhouetten sehen. Nate knurrt, nickt und drückt das Klebeband wieder auf Chris’ Haut. Er stützt sich auf seine Ellbogen und blickt Chris forschend in die Augen.

»Bist du hier bei mir oder in Disneyland?« Seine Stimme ist tief und heiser.

Chris nickt.

»Ich muss dich hier wegschaffen. Und zwar schleunigst.«

Nate bewegt Sachen. Ware. Ihn. Beute. Alles.

»Charlene«, krächzt Chris.

»Du hast nur ein paar Stunden. Dann war’s das.«

Sein Sohn, seine Frau. Charlene ist nicht hier …

»Neil?«, fragt Chris.

Nates Augen werden kalt, ausdruckslos. Die beherrschte Reaktion eines Mannes, der schon vieles schlimm hat enden sehen.

»Du willst bleiben? Dann bist du erledigt«, stellt Nate fest. »Nur daran solltest du denken.«

»Neil …«

»Pack deinen Scheiß zusammen. Ich bin gleich wieder da.« Nate zögert, schüttelt fast unmerklich den Kopf, dann geht er zur Tür.

Chris sieht ihn da stehen, rosa und blau gestreift vom Licht der Neonröhren auf der anderen Straßenseite. Er versucht seine Stimme durch den Raum zu Nate zu schicken, bevor der geht, den Boomboxbeat des K-Pops unter ihnen zu übertönen. Gayo nennen sie die Musik. Schüttle nicht einfach den Kopf, Mann, und verschwinde dann!

Die Tür fällt ins Schloss.

2

Vincent Hanna geht neben der Glasscheibe auf und ab und betrachtet prüfend den Raum. Draußen prasselt die Brandung mit einem Trommelwirbel an den Strand. Das Meer ist dunkel, kobaltblau. Die Spitzen der niedrigen Kumuluswolken überziehen sich mit gesponnenem Gold, der Anblick erinnert an Tressen an einer Ausgehuniform. Sonnenaufgang. Sechs Uhr morgens. Das Haus ist leer. Neil McCauley hat hier gewohnt. Er wird nicht zurückkehren.

Hanna ist hier, weil dieser Ort ihm etwas sagen soll. Er möchte, dass McCauley noch einmal mit ihm spricht. Es ist noch keine sechs Stunden her, dass er die drei Schüsse abgefeuert hat, die McCauley niederstreckten. Er hat McCauley während des Todeskampfs die Hand gehalten. Sie hatten sich verstanden, als wären sie die einzigen Menschen auf dem Planeten. Allein, isoliert in dem, was sie waren, doch nur sie wussten, wie alles wirklich zusammenhing.

Auf seiner linken Handfläche haftet noch die Erinnerung an die Berührung.

Er durchquert Neils Wohnbereich und sieht sich um. Ihm läuft die Zeit langsam davon. Er sucht nach irgendetwas – Informationen, Daten. Aber die Hartholzböden werfen nur ein Echo, wenn er darübergeht. Das Geräusch der brechenden Wellen hallt durch die Fenster. Das Glasgeländer auf dem Balkon ist mit Möwenkot bedeckt.

McCauley lebte hier nicht, in diesem weißen Raum. Er schlief hier, aß hier, trank den Single Malt aus der Flasche auf dem Tresen. Aber wirklich bewohnt hat McCauley diesen Ort nie.

Er war nur eine Zwischenstation.

Keine Bindungen. In dreißig Sekunden alles und jeden hinter sich lassen, wenn die Gefahr hinter der Ecke auftaucht. Das hatte er Hanna gesagt.

Wer war dann das Mädchen im Camaro?

Draußen erhellt die aufgehende Sonne den Himmel über dem dunklen Meer. Hanna wendet sich von den Fenstern ab.

Alles ist weg. McCauleys Anteil an einer achtstelligen Millonenbeute. Cerrito. Trejo. Breedan.

Alle, bis auf den letzten Mann, Chris Shiherlis. Er ist irgendwo da draußen. Aber wo? Sergeant Jamal Drucker betritt das Wohnzimmer von der Rückseite des Hauses. Er bewegt sich wie eine Karbonklinge, ruhig und scharf. Sein braunes Gesicht wirkt im schwachen Licht ernst. »Hier hinten ist nichts, Vincent.«

»Schnipsel? Flecken? Krümel?«

Seine Gedanken schweifen ab … Jemand aus Michael Boskos Familie müsste jetzt im Leichenschauhaus sein. Davor fürchtet er sich. Entweder sind sie dort oder im Bestattungsinstitut. Der gleichgültige Ausdruck auf Shiherlis’ Gesicht, als er schoss. Kein Zögern. Drei Kugeln, die Bosko töteten. Aber wo ist Shiherlis? Hannas Chancen, ihm näher zu kommen, schwinden in gleichmäßig abgemessenen Einheiten, als würde eine Uhr langsam herunterticken. Mit der üblichen Gleichgültigkeit entreißt ihm die Zeit seine Optionen.

Drucker wirkt müde, aber seine tiefe Stimme klingt klar und konzentriert. »Drei identische weiße Hemden im Kleiderschrank. Bücher – Mechanische Metallurgie, Camus, Marc Aurel. Fragen Sie mich nicht, warum.«

Warum überrascht ihn das nicht? »Keine Frauensachen? Lippenstift, Wimperntusche, Dessous, Tampons, Gummihandschuhe in Pink oder Türkis auf dem Abflussrohr unter der Spüle? Was ist im Kühlschrank? Joghurt? Himbeeren? Tiefkühlkost? Etwas anderes als Fertiggerichte?«

»Eine Flasche Wodka.«

Aber McCauley hatte eine Frau. Ihr Gesichtsausdruck unter den braunen, strähnigen Haaren war gequält, als sie neben dem Camaro stand. Sie ist auf den körnigen Sicherheitsvideos des Hotels zu sehen, steht da mit hängenden Schultern, als McCauley sich von ihr abwendet und rennt, verfolgt von Hanna. Die Kennzeichen am Camaro passen nicht zum Wagen. Keine Frage, es war McCauleys Auto. Wer ist sie?

Hanna sieht Drucker an. »Sie wollte mit ihm abhauen.«

»Wer?«

»Das Mädchen aus dem Camaro.«

»Vielleicht ist sie schon weg.«

»Sie sieht nicht aus, als hätte sie zur Bande gehört. Wo würde sie ohne ihn hingehen? Vielleicht weiß sie, wer Neils Flucht organisiert. Wer auch immer es ist, jetzt greift Shiherlis auf seine Dienste zurück. Er wird wohl kaum am Drive-in beim Flughafen einchecken. Shiherlis ist nicht aufgetaucht, weil er geschnallt hat, dass wir Charlene überwachen. Ihm ist klar, dass Charlene nirgendwohin geht. Das heißt, er ist auf der Flucht. Allein. Wer auch immer McCauleys Abgang arrangiert hat, das ist derjenige, zu dem er gehen wird.«

Er dreht sich um und mustert den Raum.

»Sagt uns irgendetwas an diesem beschissenen, sterilen, weißen, von Möwen vollgekackten Ort, wer das sein könnte?«

Er betrachtet das Wohnzimmer, das in der aufkommenden Morgendämmerung in einem bläulichen Lichtschein liegt. Sein Puls pocht spürbar. Er versucht Informationen aufzusaugen. Aber in diesem Haus gibt es nichts als glänzende Oberflächen.

Was kann mir das sagen?

Nichts. Warum bin ich noch hier?

Er versucht Neils Präsenz zu erspüren, dort zu stehen, wo Neil stand, zu sehen, was er sah. Eine gewisse Melancholie hält ihn auf dem Holzparkett. Ein Leben ist vorbei, unwiderruflich, das Leben eines Mannes, den er kannte.

Sie wussten, wie der andere über persönliche Dinge dachte, als sie sich bei Kate Mantilini gegenübersaßen. Und doch hatte Hanna damals nichts weiter Verwertbares über den Mann in Erfahrung gebracht.

Drucker geht in die Küche. Antiseptisch glänzende Geräte. Ein makelloser Tresen. Ein Stift neben der gestrigen L. A. Times. Er schlägt die Zeitung auf, sucht nach gekritzelten Notizen, Telefonnummern, Namen, Daten, Fluginformationen. Darunter liegt ein Fachbuch.

»Vincent«, sagt Drucker. »Spannungsbrüche in Titan

Hanna kommt näher.

Drucker reicht ihm das Buch. »Tolle Leseliste … Kalter, nüchterner Scheiß.«

Auf der Rückseite klebt noch das Preisschild. »Hennessey und Ingalls. Kennen Sie den Laden?«

»In Santa Monica, ja. Eine Buchhandlung für Kunst und Architektur.« Hanna blättert durch die dicken Seiten. Eine Quittung steckt dazwischen. »Er hat das Buch letzten Monat gekauft. Und bar bezahlt.«

Das Brandungsrauschen dringt durch die Fenster. Hanna hält die Quittung hoch. Drucker wählt bereits.

»Holen Sie den Geschäftsführer an den Apparat. Neil war vor drei Wochen in diesem Laden und hat das hier gekauft. Wer war bei ihm? Wer hat ihn bedient? Wer hat kassiert?«

Drucker geht hinaus. Hanna bleibt stehen, den Ozean vor Augen.

In der Nacht zuvor waren die Flugzeuge über ihn hinweggedröhnt. Er spürte den schnellen Puls von Neil McCauley in seiner linken Hand. Jetzt hört Hanna nur noch die Brandung. Seine rechte Hand berührt das Fensterglas.

Neil, vielleicht auch Chris, hatte hier gestanden, genau hier, so wie er jetzt. Da, wo ich jetzt bin und durch dieses Glas schaue. Er versucht Neils Denkweise heraufzubeschwören. Allein in der endlosen Weite – bis auf diesen Körper, diesen Organismus … der wahrnimmt, bis er nicht mehr ist. Das ist es, was Neil denken würde.

Hanna hielt Neils Hand, als sein Körper von Krämpfen geschüttelt wurde, ausgelöst durch den Schock der ausblutenden Arterien. Wenn es sein müsste, würde er genau dasselbe wieder tun, aber das ändert nichts an diesem Moment. Beides ist echt.

Er wendet sich vom Meer ab.

Er klopft beim Weggehen mit den Fingerknöcheln gegen das Glas. Das Geräusch hört sich in der Dämmerung wie eine Gebetsmühle an.

3

Nate lehnt sich an die Haube des Münztelefons, den Hörer am Ohr, und beobachtet den morgendlichen Verkehr und die Fußgänger. »Debe ir hoy. Absolutamente«, sagt er in dem Angeleno-Spanisch der weißen Jungs.

Heute muss Shiherlis verschwinden. Länger zu warten, kommt nicht infrage.

Er steht vor einer schrillen Drogerie in Koreatown und hält eine prall gefüllte Plastiktüte mit medizinischem Material, Gatorade, einem Einwegrasierer und noch ein paar Kleinigkeiten in der Hand.

»Die Hälfte im Voraus – la mitad antes. Mitad después. Der Rest, wenn er dort ankommt.« Er hört zu. Er beobachtet. Die Leute beäugen ihn, wenn sie auf dem Bürgersteig vorbeigehen, diesen hochgewachsenen, abgerissenen weißen Rockabillytypen, der eine Bolo-Krawatte aus den Fünfzigerjahren trägt.

»El carro – das Auto ist bei mir zu Hause. In der Garage. Blue Room. Ja. Azul.« Er nickt. »A qué hora?« Er schaut auf seine Uhr. »Dann ist er bereit.«

Er legt auf, checkt die Straße ab, tritt etwas zurück, damit der Cholo, der sich ihm von links nähert, nicht hinter ihm durchgehen kann. Knastgewohnheiten sind schwer abzuschütteln. Er schlängelt sich im Zickzack über die Straße und schlüpft durch den schmalen Eingang die Treppe hinauf in das Atelier über dem Musikladen und der Reinigung, wo er Shiherlis versteckt hat.

Drinnen hört Chris seine Schritte. Benommen setzt er sich auf die Bettkante.

Ihm ist schwindelig, aber er muss aufstehen. Die Fleischmaschine. Das bin nicht ich. Ich bin ich, ich bin hier drin. Steh auf, Körper. Los jetzt!

Nate kommt herein. Chris treibt sich an, will endlich aufstehen.

Irgendetwas krampft in seinem Bauch, der Vagusnerv, Übelkeit, der Raum dreht sich.

Steh auf, du Wichser!

Das Tageslicht ist wie eine heiße Stahlplatte vor dem Fenster. Die Wirkung des Schmerzmittels lässt nach. Der Schmerz beißt wieder zu. Er braucht einen klaren Kopf, auch wenn das bedeutet, dass jeder Atemzug qualvoll sticht.

Nate lässt eine raschelnde Plastiktüte auf das Bett fallen. »Du verschwindest heute, Bruder. Du musst bald los.«

Chris ist ausgedörrt und hat pochende Kopfschmerzen. Dehydrierung und Blutverlust. Er öffnet eine Literflasche Gatorade und trinkt die Hälfte davon aus. Nate schüttelt frische Mullbinden, antibiotische Salbe und ein Fläschchen mit verschreibungspflichtigen Tabletten aus der Tüte.

»Breitbandantibiotikum. Komm mir nicht mit Allergien.« Er nimmt eine Flasche mit Wasserstoffperoxid und Wattebällchen in die Hand. »Zieh dein Hemd aus. Ich wechsle deinen Verband.«

Chris zieht das Hemd aus und setzt sich mühsam auf die Bettkante. Der Verkehrslärm und das Licht im Zimmer scheinen an- und abzuschwellen und erzeugen ein pulsierendes, flackerndes Gefühl. Chris’ Zunge fühlt sich träge an.

»Charlene«, bringt er heraus.

Nate zieht den angerosteten Gartenstuhl neben das Bett, setzt sich und entfernt das Pflaster und den alten Verband von seiner Schulter. Die Luft fühlt sich auf Chris’ Haut seltsam lebendig an. Er beugt sich vor.

»Charlene?«

»Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört.«

»Ich muss zu ihr …«

»Wirklich …? Woher hast du gewusst, wo sie war?«

»Sie hat mich angerufen und es mir gesagt.«

Nate sieht ihn kalt an. »Und was sagt dir das?«

Keine Antwort.

»Das läuft nicht. Der Bulle, den du angeschossen hast?«, erwidert Nate. »Tot. Einer von Vincent Hannas Team. Dazu noch drei andere. Jeder Uniformierte mit Augen im Kopf hält nach dir Ausschau.«

Chris’ Stimme wird kräftiger. »Ich muss sie rausholen.«

Nate richtet sich auf und unterbricht seine Bemühungen, die Wunde zu versorgen. »Dann lasse ich dich jetzt hier allein, Mann. Willst du das? Dann bleibt dir nur noch ein Loch in der Erde, um zu verschwinden.«

Chris reißt sich hoch. Tolle Idee. Der Schmerz dröhnt durch ihn hindurch wie ein riesiger Gong.

Nate wartet, bis er sich erholt hat. »Du kannst sie nur rausholen, wenn du zuerst rauskommst. Und dann solltest du es gründlich vorbereiten.«

Chris atmet tief durch. »Wie konnten sie an Charlene rankommen?«

»Woher soll ich das wissen?« Nate wirft ihm einen ausdruckslosen Blick zu, der besagt: Halt die Klappe! »Ich habe Neil gewarnt. Er hat nicht zugehört. Aber du hörst mir jetzt verdammt noch mal zu, wenn ich mit dir rede!«

Aber wie? Wie konnte es so schiefgehen?

Chris kann sich einfach nicht konzentrieren. Alles, was er sieht, ist Charlenes Blackjack-Dealer-Gestik.

Überall waren Polizisten. Sie hat ihr Leben riskiert, um ihm ein Signal zu geben. Wie hatten sie herausgefunden, wo sie sich verkrochen hatte?

»Was ist mit der Schulter?«, fragt Nate.

»Ich fange gleich mit Tennis an.« Chris beißt die Zähne gegen den Schmerz zusammen. Er versucht zu denken.

Dann dringt es zu ihm durch, das, was er nicht wissen wollte, aber jetzt doch weiß.

Nate sieht es. »Richtig.«

Neil ist erledigt. Seine Bande ist erledigt. Und Charlene hat ihn aufgegeben.

Es führt kein Weg daran vorbei. Wem gehörte der Unterschlupf in Venice? Wo die Bullen bereits gewartet haben …

Trotz Hanna und dem Raub- und Morddezernat haben sie den Bruch gemacht. Es lief alles gut. Cool. Bis es schiefging.

Wurde sie eingelocht? Hat sie ihn reingelegt und dann ihre Meinung geändert? Sein Magen verkrampft sich plötzlich, und er krümmt sich.

»Was ist passiert?« Die Frage stellt er vor allem sich selbst.

Er spricht jetzt viel deutlicher. Nate ignoriert ihn ostentativ. Er reinigt die Nähte auf seiner Brust mit dem Peroxid. Dann nimmt er eine medizinische Schere, schneidet Stücke vom Klebeband ab und bereitet den neuen Verband vor.

»Ich weiß nicht alles«, erwidert er ungerührt.

Chris versucht langsamer zu atmen. Nate trägt ein antibiotisches Gel auf, deckt die Arbeit des Tierarztes mit sterilen Mullbinden ab und legt den Verband an.

Chris will Nate nicht ansehen. Am liebsten würde er ihn schlagen. Er will ein Loch in die Wand treten, gleich nachdem er sich die eigene Schulter abgerissen hat.

»Du bewegst dich nicht schnell genug, also musst du sofort damit anfangen. Jemand kommt dich abholen, okay? Wenn du zögerst, weil du blöde Ideen hast, werden sie verschwinden – denn bezahlt werden sie sowieso, also ist es ihnen scheißegal. Ich werde versuchen, mich bald zu melden.«

Nate dreht sich um. Chris hält ihn am Arm fest. »Was ist passiert?«

Diese Kälte in Nates Augen. So geht er mit Verlusten um.

»Ich habe ihn gewarnt. Er hatte es geschafft. Aber auf dem Weg zum LAX hat er einen Umweg gemacht, um diesen verdammten Waingro umzulegen, und ist in eine Falle getappt. Dieser Bulle, Hanna, hat ihn irgendwo auf dem Flughafen erschossen.«

»Hat er Waingro erwischt?«

»Hat er.«

4

Hennessey und Ingalls ist menschenleer. Die Geschäftsführerin ist erschüttert. Es ist acht Uhr morgens. Der Wilshire Boulevard, der an der Third Street Promenade beginnt, erwacht gerade. Der Fußgängerweg ist abgespritzt und glänzt feucht. Der helle Dielenboden und die Bücherregale des Ladens glänzen auch. Die Geschäftsführerin ruft das Überwachungsvideo vom Verkaufstag auf. Hanna hat McCauleys Buch und den Kaufbeleg. Sie lässt die Aufnahmen im Schnelldurchlauf ablaufen. Hanna steht, Kaugummi kauend, mit verschränkten Armen dicht hinter ihr, wippt auf den Ballen, den Blick auf den Bildschirm gerichtet. Sie fummelt an den Knöpfen herum. Den Umgang mit der Polizei ist sie nicht gewohnt. Drucker geht hinter ihm hin und her.

Als sich die Uhr auf dem Bildschirm dem Zeitstempel auf der Quittung nähert, erstarrt Hanna.

Da ist McCauley.

Grauer Anzug, weißes Hemd. Mr. Anonymous. Er bewegt sich präzise, während er die Technikabteilung durchstöbert und das Buch auswählt, das Hanna gerade in der Hand hält. Beherrscht, konzentriert, wachsam. Neil blättert das Buch durch. Die Kamera erfasst Detailaufnahmen verschiedener Stahlsorten unter einem Rasterelektronenmikroskop.

Eine Frau geht hinter McCauley den Gang entlang. Sie wirft einen Blick auf ihn und das Buch, und bewegt sich langsamer, als sie vorbeigeht. Neil schenkt ihr keine Aufmerksamkeit.

»Stopp!«, befiehlt Hanna. »Spulen Sie zurück.«

Die Geschäftsführerin spult das Band zurück und spielt es wieder ab. Hanna deutet auf den Bildschirm. »Wer ist das?«

Sie sieht ihn stirnrunzelnd an. »Das ist Eady. Sie arbeitet hier. Hat hier gearbeitet.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Sie hat vor zwei Tagen gekündigt.«

Hanna ist wie elektrisiert. Er sagt nur ein Wort. »Bingo.«

Hohe Wangenknochen und große Augen. Ihr welliges braunes Haar könnte einem präraffaelitischen Gemälde entsprungen sein. Sie bewegt sich athletisch, ihre Kleidung ist feminin. Ihr Verhalten erinnert ihn an ein Reh, das sich einer viel befahrenen Straße nähert.

Es ist die Frau, die neben dem Camaro steht.

Drucker lässt sich Eadys vollständigen Namen, Adresse, Sozialversicherungs- und Führerscheinnummer geben und bedankt sich bei der Geschäftsführerin, während er auf dem Weg zur Tür die Kurzwahl der RHD drückt, damit sie ihr auf den Zahn fühlen. Hanna ist bereits nach draußen gelaufen.

5

Das Haus schmiegt sich an einen Hang oberhalb des Sunset Plaza, ein bescheidenes Heim mit einem enormen Blick über das weitläufige Straßennetz des Talbeckens. Blauer Himmel, strahlender Sonnenschein. Das Gebäude hat die klaren Linien einer leeren Leinwand. Eine Rostlaube von Honda Civic parkt in der Einfahrt. Andere Fahrzeuge sind nicht zu sehen. Auf der Straße rührt sich nichts, alle Rollläden sind heruntergelassen. Hanna führt drei Detectives und vier uniformierte Polizisten die Einfahrt hinauf. Drucker und er nehmen sich mit zwei Uniformierten die Vordertür vor. Casals und die anderen gehen auf die Rückseite des Hauses. Hanna kribbelt es in den Fingern. All diese Ungewissheiten setzen ihm zu, die Möglichkeiten, die Dringlichkeit. Er klopft an die Tür, aber sie bauen sich daneben auf, Hanna mit seiner Fünfundvierziger-Combat-Commander in der Hand und Drucker mit einer Schrotflinte.

Keine Antwort. Er klopft erneut.

»Aufbrechen?« Der Uniformierte hinter ihm trägt eine kompakte Ramme in den Händen.

Dann klickt das Schloss, und die Tür öffnet sich. Im schattigen Eingangsbereich steht die Frau, an der Hanna vor dem Flughafenhotel vorbeigelaufen ist.

Hanna packt ihr Handgelenk, zerrt sie nach draußen und stößt sie an die Wand. Eine Polizistin führt eine schnelle Leibesvisitation durch.

»Gesichert!«, ruft Casals von drinnen.

Hanna zeigt seinen Ausweis. »Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für Ihr Haus.«

Sie starrt erst ihn an, dann Drucker. »Bin ich verhaftet?«

»Ja, aber wie es weitergeht, hängt davon ab, was Sie in den nächsten fünf Minuten tun«, erwidert Hanna.

Sie blinzelt. Ihr Gesicht ist kreidebleich, ihre Augen sind gerötet, ihr Haar ist zerzaust. Sie trägt eine alte Trainingshose und das T-Shirt einer Indieband. Hanna nimmt sie am Arm und führt sie ins Haus, in die moderne Küche und das Wohnzimmer, in dem behelfsmäßig ein Grafikdesignstudio eingerichtet wurde. Von dem Balkon vor der Fensterfront hat man einen freien Blick auf die Stadt. Dort stehen Uniformierte und starren wie schwarz gekleidete Geier durch das Glas in die Wohnung. Drucker öffnet die Balkontür und lässt sie ein.

»Draußen ist alles sauber«, meldet einer.

Shiherlis ist nicht da. Kein Wunder. Hanna hört das Ticken, mit dem die Sekunden verrinnen. Er bedeutet Eady, sich auf einen Hocker neben dem Fernseher zu setzen.

Drucker geht an sein Funkgerät, schiebt den Ohrhörer tiefer in seinen Gehörgang. Hört zu. Dann beendet er das Gespräch und winkt Hanna zur Seite.

Hanna dreht sich so, dass Eady sie nicht hören kann. Drucker flüstert ihm zu: »Sie ist vollkommen sauber. Keine Vorstrafen. Nicht mal ein Strafzettel.« Hanna dreht sich wieder zu ihr um.

Eady steht mit geballten Fäusten da, als wäre sie eigentlich woanders und wüsste nicht, wohin mit ihrem Körper, bis Hanna sie zu dem Hocker winkt. Die Polizistin mit den geöffneten Handschellen schickt er mit einer Handbewegung weg.

»Wissen Sie, was ich will?«

Sie schüttelt den Kopf.

»Alles, was Sie über Neil McCauley und seine Bande wissen. Lügen Sie nicht, und verschweigen Sie nichts. Wenn Sie nicht wegen Beihilfe in den Knast wandern wollen, reden Sie mit mir.«

Sie zuckt zusammen. »Ich wusste nicht, wer er war. Und ich weiß nichts über eine Bande.«

Hanna schlägt mit der flachen Hand auf den Fernseher. »Das Ding hier funktioniert doch, oder nicht? KNBC kommt hier kristallklar an. Sie haben die Berichterstattung von dem Banküberfall in der Innenstadt gesehen.«

»Er hat mir gesagt, er sei ein Geschäftsmann.«

»Und das haben Sie ihm geglaubt? Was hat er Ihnen erzählt, was er verkauft?«

»Er sagte, er reist viel und handelt mit Metall.«

Das stimmt mit dem überein, was McCauley ihm gesagt hat, aber Hanna lässt es sich nicht anmerken. Er rückt näher an sie heran. »Kommen Sie schon, also wirklich! Sie haben sein Foto in den Nachrichten gesehen! Und Sie sind trotzdem in sein Auto gesprungen und zum Airport Marquee Hotel gefahren, wo um Sie herum Chaos und Mord tobten. Feuerwehrautos, Polizisten, Leute, die wie verrückt herumrannten, Hubschrauber, das ganze Programm. Und Sie dachten, er verkauft Küchenschränke aus Metall oder so was?«

Einen Moment lang wirkt sie wie jemand, der in einem brennenden Gebäude gefangen ist, während die Wände um sie herum einstürzen.

»Ich wusste es bis gestern Abend nicht. Und ich musste tun, was er sagte.« Sie sucht nach Worten, nach einer Erklärung. Sie schafft es nicht. »Er hat es mir erst kurz vor dem Ende gesagt. Und dann … Ja, ich bin trotzdem mit ihm gegangen.«

McCauley wollte sie bei seinem Fluchtversuch an der Seite haben. Sie hat ihre ganze Welt aufgegeben, um mit ihm zu gehen.

Sie hatte in der offenen Tür des Camaro gestanden und zugesehen, wie McCauley vor ihr zurückwich und davonrannte. Wie sie ihm hinterhergesehen hatte. Erstarrt. Verwirrt. Jetzt versteht Hanna. Verloren. Hanna kann ihre Trauer erkennen. Ihr kurzer Ausblick auf ein anderes Leben, eine wilde, heiße Leidenschaft mit diesem intensiven Mann, war vorbei.

Er weiß, dass sie unschuldig darin verwickelt gewesen ist. Juristisch betrachtet, könnte ein Staatsanwalt versuchen, sie als Komplizin abzustempeln. Aber das ist sie nicht.

»Hören Sie zu, Eady. Ich kann Sie beschützen«, sagt er. »Aber Sie müssen mir alles erzählen. Und zwar sofort. Mit wem hatte Neil noch Kontakt?«

Sie reißt sich zusammen. »Michael. Er hat einen Freund namens Michael erwähnt. Das war einer der Männer, die in der Innenstadt erschossen worden sind.«

»Cerrito«, springt Drucker ein.

Sie nickt. »Er sagte …«, ihre Stimme bricht. »Er sagte: ›Wenn es regnet, wirst du nass. Michael kannte die Risiken.‹«

Sie schluckt. Hanna weiß, was sie denkt. Ich kannte sie auch.

Die Detectives um sie herum verbreiten eine rastlose Energie im Raum. Wie eine Heimsuchung, denkt sie. So etwas hat sie noch nie erlebt. Sie durchsuchen alles auf eine rücksichtslose Art und Weise, als sei es ihr unbestreitbares Recht, Unordnung zu schaffen. Es ist, als wäre alles, was sie berühren, nicht mehr … ihres. Sie wird die Dinge vielleicht dorthin zurücklegen, wo sie gewesen sind, aber es wird nicht dasselbe sein. Ihre persönlichen Besitztümer gehören ihr nicht mehr. Sie werden ihrer Bedeutung beraubt. Es sind keine Erinnerungsstücke mehr. Nur noch unbelebte Objekte. Die sorgfältige Anordnung von Pastellfarben. Gewalztes Japanpapier, kostbar durch seine Qualität und die Sorgfalt bei der Herstellung, ist nichts mehr weiter als irgendein beliebiger Gegenstand, seit die dicken Finger eines Detectives die Bögen durchblättern.

Hanna holt sie ins Hier und Jetzt zurück. »Sehen Sie mich an. He, Eady! Bleiben Sie bei mir.«

Leicht benommen richtet sie ihren Blick wieder auf Hanna und nimmt ihn zum ersten Mal richtig wahr.

Er registriert es. Alle Nachrichtensendungen eröffnen mit der Meldung, dass McCauley bei einer Schießerei am LAX getötet wurde. Von einem Polizisten.

Sie kämpft dagegen an, zieht nicht die letzte Schlussfolgerung, obwohl Hanna vor ihr steht. Dann zittert sie, als hätte sie einen elektrischen Schlag bekommen.

»Über wen hat McCauley noch gesprochen?«, fragt Hanna. »Shiherlis? Chris?«

»Nein.« Ihr Blick wird stechend. »Ich habe Sie gesehen. Draußen vor dem Hotel.«

»Trejo? Breedan? Ihre Ehefrauen, Freundinnen, Kinder?«

»Nein. Er war immer allein.« Sie schüttelt den Kopf. »Sie haben ihn erschossen, stimmt’s?«

»Und Sie sind mit ihm gegangen, obwohl Sie wussten, wer er war.«

Er erwidert unnachgiebig ihren Blick. Sie schwankt, und ihre Augen werden dunkel und glänzend. Fast unhörbar sagt sie: »Wenn es regnet, wird man nass.«

Hanna rührt sich nicht, senkt aber die Stimme. »Mit wem hat er noch Kontakt gehabt?«

Sie fährt sich mit den Fingern durchs Haar und zuckt mit den Schultern. »Auf dem Weg zum Flughafen hat er einen Zwischenstopp eingelegt. Er hat an der Hintertür einer Bar mit einem Mann geredet.«

Hannas Aufmerksamkeit fokussiert sich auf diesen einen Punkt. »Welche Bar? Welcher Mann?«

»Irgendwo in North Hollywood, in der Nähe vom Burbank Boulevard. Ich kenne die Adresse nicht. Backstein und Wellblech, Efeu an den Wänden. Das Blue irgendwas.«

Casals geht an sein Funkgerät.

»Beschreiben Sie diesen Mann«, fordert Hanna sie auf.

»Um die fünfzig, strähniges blondes Haar, Schnurrbart. Er trug Nylonklamotten. Machte auf Siebziger.«

Hannas Puls schlägt schneller. Er nickt seinen Männern zu.

Casals hat die Bar bereits ausfindig gemacht und zwei Einheiten beauftragt, sie aus einer Entfernung von zwei Blocks zu überwachen.

Hanna schreibt etwas auf die Rückseite seiner Visitenkarte und gibt sie Eady. »Die Polizistin dort drüben wird Ihnen Handschellen anlegen und Sie in die Innenstadt bringen. Wir müssen Sie festnehmen. Haben Sie einen Anwalt?«

Hat sie nicht. Ihre Fähigkeit, das zu verarbeiten, was ihr widerfährt, verschwindet in einem schwarzen Loch. Hanna sieht es.

»Rufen Sie diese Nummer an. Sie gehört einem Anwalt. Er besorgt Ihnen einen Kautionsvermittler. Wenn jemand anderes sie verhören will, haben Sie das Recht, auf die Anwesenheit Ihres Anwalts zu bestehen. Haben Sie das verstanden?«

Sie nickt und sieht ihm direkt in die Augen. Er versteht, warum Neil sie mit in sein Leben in Freiheit nehmen wollte.

»Falls Ihnen noch etwas einfällt, das mir helfen könnte, rufen Sie mich an. Denken Sie nicht lange nach, zögern Sie nicht, rufen Sie einfach an.« Bevor er hinausgeht, setzt er noch hinzu: »Und ja, ich musste ihn erschießen.«

Ihre Blicke treffen sich erneut für einen kurzen Moment. Dann ändert sich ihr Gesichtsausdruck. Jetzt sagt er: Noch etwas? Aber da gibt es nichts mehr. Alles ist vorbei.

6

Die Sonne brennt vom Himmel, als Hanna und das SWAT-Team den Blue Room stürmen. Die Bar ist ein düsteres Szenelokal in einer heruntergekommenen Geschäftsstraße.

Der Durchsuchungsbefehl kam um dreizehn Uhr. Hanna, sein Team, die Uniformierten und das SWAT-Team näherten sich der Bar von der Straße aus. Sie blockierten beide Enden einer Gasse mit schwarz-weißen Streifenwagen und schalteten eine Überwachungskamera aus.

Wenn Shiherlis hier ist, ist er bis an die Zähne bewaffnet. Wer könnte noch im Haus sein?

Hanna trägt eine Kevlarweste und hält eine halbautomatische Benelli Kaliber zwölf in den Händen. Er steht in dem kontrollierten Gedränge, das entsteht, wenn sich eine SWAT-Einheit zu ihrem taktischen Ballett aufstellt, Körper an Körper mit präzise ausgerichteten Füßen. Er nickt dem Anführer des SWAT-Teams zu, der ein Sturmgewehr quer vor die Brust hält, den Lauf nach oben gerichtet. Der Mann hebt eine Hand und zählt mit den Fingern herunter. Lautloser Angriff. Er ballt die Faust zur Null, schlägt mit der Hand wie mit einem Beil auf die Tür und setzt sich in Bewegung.

Die Tür ist nicht verschlossen. Sie sind drin. Blitzschnell kontrollieren und sichern sie den Raum. Ein langer Tresen erstreckt sich vor der linken Wand, dahinter ein Spiegel; Flaschen glänzen im schummrigen Licht. Ein paar frühe Trinker stehen an der Theke oder sitzen an wackeligen Tischen. »Gangsta’s Paradise« dröhnt aus der Jukebox. Der Barkeeper dreht sich um.

Hanna schreit mit den anderen. »Keine Bewegung! Ich will Ihre Hände sehen!«

Ein SWAT-Officer brüllt die Gäste an. »Alle an die Wand, Hände hinter den Kopf!«

Ein zweites Team rückt vor, steigt im taktischen Gänsemarsch eine Treppe hoch.

Der Barkeeper tritt zurück und hebt die Hände über den Kopf. Ein Gast flüchtet zur Eingangstür. Als er sie aufstößt, packt Drucker ihn am Kragen. Er und Casals, der mit einer Remington 870 bewaffnet ist, dringen in den Raum ein.

Hanna steuert auf den großen Mann zu, der an der Bar steht. Seine Hände sind zu sehen, und in einer hält er eine Kaffeetasse. Das ist der Mann, den Eady beschrieben hat. Ein älterer, hartgesottener Kerl aus Südkalifornien, strähniges graublondes Haar, kühle Augen, die Hanna im Spiegel beobachten.

»Hände auf die Theke!«, befiehlt Hanna.

Der Bursche gehorcht. Er riecht nach Eau de Toilette – Brut – und chemisch gereinigtem Nylon. Er mustert Hanna im Spiegel mit einem eisigen Blick. Er wird gefilzt. Einer vom SWAT-Team wirft die Schlüssel und die Brieftasche des Mannes auf den Tresen.

Hanna klappt die Brieftasche auf. Die gleichen eisblauen Augen starren ihm aus dem Führerschein entgegen.

Hanna liest den Namen. »Nathan. Wir unterhalten uns jetzt über einen gemeinsamen Freund.«

Nate dreht sich um. Seine Miene ist ausdruckslos. »Kenne ich Sie?«

»Woher soll ich wissen, ob Sie mich kennen? Aber ich kenne sie. Und ich kenne einen Typen, den Sie kennen. Neil McCauley.«

Nates Gesichtsausdruck ist völlig leer.

»Wer?«

»Ihr Kumpel.«

»Da klingelt nichts bei mir.«

»Es klingelt nichts? So wie ding-dong, die Post ist da? Diese Glocke? Oder die Überwachungskamera hinter dem Haus? Zeigt sie vielleicht Sie und McCauley zusammen am Hintereingang? Wie hoch stehen die Chancen?«

»Gesichert!«, ruft einer der SWAT-Officers aus dem Obergeschoss.

Der Leiter des SWAT-Teams kommt durch den Flur. »Alles klar.«

Chris Shiherlis ist nicht da.

»Zufällig sind die Chancen gleich null«, erwidert Nate.

Hanna spürt, wie der Zorn heiß in ihm aufwallt. Äußerlich präsentiert er ein Lächeln, scharf wie die Sense des Schnitters. »Gut. Denn Zurückspulen und Löschen würde für etwas sprechen, das wir ›Schuldbewusstsein‹ nennen.« Er sieht sich um, nimmt alles in sich auf. »Da andere Sie mit ihm gesehen haben.«

»Warum lügen Sie?«, mischt sich Drucker ein. »Wenn Sie lügen wollen, dann lügen Sie bei etwas, was wir möglicherweise nicht beweisen können. Lügen, was Neil betrifft? Mit der Lüge kommen Sie nicht weit. Also, warum lügen Sie?«

Nate sieht sich um, betrachtet verächtlich seine vom LAPD besetzte Bar. »Ich weiß noch immer nicht, wovon Sie reden.«

»Tatsächlich?« Hanna zuckt mit den Schultern. »Shiherlis, Christopher. Ich nehme an, Sie sind der Mittelsmann – Schrägstrich – Helfer. Im Moment erwartet Sie zumindest eine Anklage wegen Beihilfe zum Raubüberfall auf einen Geldtransporter mit drei damit verbundenen Morden und zu einem Banküberfall, einschließlich des Mordes an einem LAPD-Sergeant während der Tat, einem meiner Partner, und drei uniformierten Beamten. Dazu die Ermordung von Roger Van Zant und, zusätzlich zu dem bereits zuvor erwähnten Gemetzel, die Ermordung eines Arschlochs namens Waingro …« Er beugt sich dicht zu dem Mann. »… durch Neil, Ihren Kumpel, der mir persönlich gesagt hat, dass er nie zurückkehren würde. Was er auch nicht tun wird.«

Der Blick aus Nates kalten blauen Augen, eingebettet in die rosafarbenen Flecken der geplatzten Kapillaren, gleitet über Hanna hinweg, nimmt ihn kaum wahr. »Abteilung Raub und Mord, hm? RHD. Ziehen Sie Ihre Show woanders ab.«

Hanna ist ruhig wie stehendes Gewässer. »Shiherlis könnte mir durch die Lappen gehen oder nicht. Sie schaffen das nicht. Für Sie nehme ich mir jede Menge Zeit.«

Nate blickt skeptisch weg, dann sieht er Hanna direkt an. »Wenn Sie einen Grund haben, verhaften Sie mich. Wenn nicht, schadet Ihre Anwesenheit meinem Mittagsgeschäft.«

»Ja, klar …« Hanna konzentriert sich plötzlich auf etwas anderes und wirft einen Blick hinter sich. Officers durchsuchen das Hinterzimmerbüro. Das kann Stunden dauern. Hanna nimmt Drucker zur Seite.

»Das ist Zeitverschwendung«, sagt Hanna gedämpft. »Mit dem Typen zu reden, ist, als würde man mit einem toten Tier am Straßenrand quatschen.«

»Wie geht es weiter?«, will Drucker wissen.

»Mit ihm? Wenn wir ihn einkassieren? Einen Ex-Knacki der alten Schule? Wir setzen einen jungen Kerl auf ihn an, der ihn zermürben soll. Aber der wird nicht viel aus ihm rauskriegen. Chris Shiherlis …« Er überlegt. »Casals hat Shiherlis oberhalb der Weste getroffen, ihm das Schlüsselbein zertrümmert. Er ist zu kaputt, um einen kommerziellen Flug zu riskieren. Vielleicht hatte Mister Helfershelfer da drüben nicht genug Zeit, ein Privatflugzeug zu besorgen, einen Flugplan zu erstellen, es legal wirken zu lassen und so weiter. Shiherlis ist zwar auf der Flucht, aber nicht auf dem Luftweg.«

»Fahndungsaufrufe an sämtliche Behörden in Kalifornien«, sagt Drucker. »Mit Führerscheinfoto und Fahndungsfoto.«

Hanna denkt darüber nach. »Er wird nicht mehr so aussehen wie früher.« Er wirft einen Blick durch die Hintertür in die Gasse und tippt mit der Hand gegen sein Bein. »Er wird seinen Surferpferdeschwanz loswerden, das Haar kurz schneiden, vielleicht dunkel färben. Unser Zeichner soll eine Skizze anfertigen. Neue Fahndung.«

»Wenn er keine Zeit hat«, sagt Drucker, »fährt er nach Mexiko.«

»Und er wird nicht mit dem Rucksack durch die Wüste reisen«, sagt Hanna. »Verständige die Grenzübergänge. Schick die neue Zeichnung und die Fahndungsmeldung an den Zoll, die Grenzpolizei, die mexikanische Einwanderungsbehörde und die Justizbehörden von Baja, Sonora, Chihuahua, Coahuila, Nuevo León und Tamaulipas. Ich will, dass jeder gottverdammte Grenzübergang von San Diego bis Brownsville mit seinem Foto tapeziert wird.«

Ein SWAT-Officer kommt durch die Hintertür aus der Gasse herein. »Lieutenant?«

Hanna dreht sich um.

Der Mann deutet mit dem Daumen über seine Schulter. »Hier draußen gibt es eine Garage. Wollen Sie sich die mal ansehen?«

Hanna folgt ihm in die Gasse und um eine Ecke. Das Tor der Garage ist hochgefahren. Hanna bleibt stehen und wirft einen Blick hinein.

Der frische Ölfleck ist noch nicht in den Beton eingesickert. Jemand ist weggefahren. Kürzlich.

7

Der Freeway rauscht vorbei, während das Auto nach Osten durch die Wüste rollt. Das Radio dröhnt. Talkshows und Mariachi aus Tecate werden immer schwächer und verrauschter. Der Nachmittag ist eine Mischung aus weißer Sonne und Schmerz. Die Interstate 8. Chris kennt die Straße. Die Frau, die das Auto fährt, kennt er nicht.

Los Angeles liegt hinter ihm. Alles, was bleibt, ist ein Ölfleck von diesem Auto auf dem Boden von Nates leerer Garage.

Der Schmerz ist zurück. Hier auf der Straße ist er ungeschützt. Er kann sich nicht mit Percocet betäuben. Er öffnet die Augen und erträgt eine weitere Sekunde des Schmerzes, als seine Nacken- und Rückenmuskeln, die am Schlüsselbein verankert sind, an den gebrochenen und wieder gerichteten Knochen ziehen. Die Nähte sind groß und grob. Weltklassejob, Dr. Bob. Ein Freund schleppt dich zu einem Tierarzt, und du bekommst die Knochen in Veterinärqualität zusammengeflickt.

Die Leere in ihm fühlt sich kalt und verbittert an. Wenn er nicht nachdenkt, ist Neil immer noch da, so lange, bis seine Erinnerung ihn eines Besseren belehrt. Als Nate es ihm in Koreatown mit seinem ausdruckslosen Blick mitgeteilt hatte, war ihm ein ganzes Feuerwerk aufgegangen.

Nate hatte sich hingesetzt und zu ihm gebeugt. Jemand wird dich abholen. Die nächste Person, die hierherkommt, ist dein Ticket nach draußen. Bei der Gelegenheit bekommst du auch neue Papiere. Keine Sorge, sie sind überzeugend.

Wohin?, fragte Chris wie betäubt. Wohin fahre ich?

Nach Süden. Nate beschrieb die Route.

Chris brummte der Schädel. Mein Anteil an der Beute …

Ist dir sicher. Ich richte ein Konto über einen Delaware Trust ein. Du kannst per Telefon, Fax oder Computer darauf zugreifen. Aber dort, wo du hingehst, solltest du nur im Notfall Geld abheben. Keine Extravaganzen. Du darfst nicht auffallen.

Ich muss Charlene und Dominick etwas davon zukommen lassen.

Charlene. Sie hatte ihn in eine Falle gelockt. Warum?

Bitterböse Wut durchströmte ihn. Hatten sie gedroht, ihr Dominick wegzunehmen? Diese verdammten Drecksäcke!

Nate wirkte nachdenklich. Ich kümmere mich darum, aber ich kann ihr nur Bargeld besorgen. Nichts, was Spuren hinterlässt. Und das auch nicht sofort. Er stand auf. Ich verschwinde jetzt.

Chris kämpfte sich auf die Beine und schüttelte Nates Hand. Danke.

Das geht schon in Ordnung. Nate hob zum Abschied das Kinn. Jumpin’ Jack Flash, halt dich bedeckt.

Die Person, die ihn abgeholt hat, sitzt jetzt am Steuer. Sie trägt Jeans, Reeboks, vier Zoll große goldene Ohrringe und hat ein Tattoo von ihrem Enkelkind auf dem Unterarm. Sie ist garantiert keine vierzig. Und sieht aus, als könnte sie einen Chrysler stemmen.

Er beobachtet sie beim Fahren. Sie fährt schon seit Stunden. »Wie heißt du?«

Sie wirft ihm einen Seitenblick zu. Vielleicht überrascht es sie, dass er noch einigermaßen bei sich ist.

»Spielt keine Rolle.«

»Du kennst meinen Namen«, erwidert er.

»Jeffrey Bergman, Calgary, Alberta, Kanada.«

Ihre Stimme klingt nach East L. A. Im Unterschlupf hatte sie ihm die Beretta abgenommen und seine Brieftasche verlangt. Er hatte widerwillig gehorcht. Dann verpasste sie ihm einen frischen Verband, gab ihm ein schickes Hemd, ein legeres Sakko und dazu eine dunkle Sonnenbrille, um den glasigen Glanz der Medikamente in seinen blauen Augen zu kaschieren. Sie setzte ihn auf dem Beifahrersitz des Chevys und fuhr los, während er von einem klebrig-süßen Rausch in schreiende Schmerzen glitt.

»Du brauchst nur zu wissen, dass meine Familie schon lange mit Nate zusammenarbeitet und ich den Job erledige, für den man mich bezahlt«, fährt sie fort. »Wenn du mir nicht traust, lasse ich dich hier raus. Dann kannst du, verdammt noch mal, trampen.«

Er versucht beide Hände zu heben, eine beschwichtigende Geste. Sein linker Arm schreit auf, und es flimmert ihm weiß vor den Augen. Er lehnt sich keuchend gegen das Fenster.

»Fahr weiter«, sagt er.

Sie deutet mit einem Nicken auf das Handschuhfach. »Da drin ist ein Umschlag mit deinem kanadischen Pass und einer neuen Brieftasche mit Führerschein, Kreditkarten, Familienfotos. Dazu amerikanische und kanadische Dollar und ein paar Pesos.«

Er nimmt den Umschlag und schiebt den Reisepass und die Brieftasche in seine Tasche.

Er atmet aus und wendet sich ihr zu. »Wie geht es Ihnen? Ich bin der verdammte Jeffrey Bergman.«

Sie verzieht die Lippen, vielleicht ist es ein Lächeln. »Frida fucking Kahlo.«

Und jetzt hält sie am helllichten Nachmittag an einer Tankstelle.

»Nate hat mir gesagt, ich soll anrufen und mich melden. Mach dir keinen Kopf, sondern reiß dich einfach zusammen.«

Sie steigt aus und geht zu einem Münztelefon. Chris macht sich auf den Weg zur Toilette. Sein Schädel brummt, und er bemüht sich, gerade zu gehen. Er wäscht sich das Gesicht mit lauwarmem Wasser. In dem schmutzigen Spiegel sieht er aus wie ein Vampir: blass, die Lippen blau angelaufen, der Blick zu fiebrig. Reiß dich zusammen. Als er herauskommt, legt Frida gerade den Hörer auf. Sie hat eine unbeteiligte Miene aufgesetzt, aber ihre Augen zucken unruhig hin und her.

»Was?«, fragt er.

»Das LAPD hat eine Razzia in Nates Bar durchgeführt. Er hat ihnen nichts verraten, aber sie brauchten auch keine Infos von ihm. Sie sind nicht dumm.«

»Was noch? Da ist doch noch etwas.«

»Sie haben eine neue Polizeizeichnung in die Fahndung gegeben.« Sie wirft ihm einen Blick zu. »Eine Skizze von dir, sieht dir ziemlich ähnlich, so wie du jetzt aussiehst. Sie schicken es bestimmt an beide Seiten der Grenze. Wir müssen los.«

Sie rauscht durch flaches Ackerland, vorbei an Wohnwagenparks, billigen Minimärkten, Gestrüpp und Sand. Die Grenze verläuft ein paar Meilen rechts von ihnen. Der Freeway ist neu asphaltiert worden, und die Straße wird von weit mehr vorstädtischen Fertighäusern gesäumt als noch ’88.

»Mexicali«, stellt Chris fest.

»Einfacher Übergang«, sagt Frida. »Warst du schon mal da?«

»Vergiss es.«

»Glaubst du, es gibt ein Problem?« Sie sieht ihn an. »Einen Grund, warum du da nicht sein willst? Mach dir keine Sorgen. Wir bleiben nicht.«

»Warum gehen wir dann hier rüber?«

»Eine Stunde südlich ist ein Flugplatz. Bleib mal locker.«

Er schließt die Augen und wendet den Kopf. Aber die Erinnerung lässt sich nicht zurückdrängen. Ein heruntergekommenes Motel im Chinastil. Der Bruch. Dieser Rausch, Mann. Und dann … Dann ist ihm, als würde er Mesquite und Schießpulver riechen – und Blut. Wie sich die Dinge wenden können. Wie man verlieren oder gewinnen kann. Im Handumdrehen.

Sollte Chris Charlene jemals verlieren, würde er denjenigen vernichten, der sie ihm weggenommen hat. Er würde ihn verdampfen wie eine H-Bombe.

Das Sonnenlicht wird von der Motorhaube reflektiert. Es schießt wie ein Blitz durch seinen Schädel.

Neil hats hinter sich, hatte Nate gesagt.

Nate hatte auch gesagt: Hanna ist ein Wichser. Und momentan treibt sich Hanna in der Stadt herum und mobilisiert jeden, den er kriegen kann. Er hat nur einen Gedanken: dich. Du hast seinen Partner getötet.

Jetzt ist Chris allein. Weit weg von zu Hause. Es gibt nur einen Weg, das zu ändern. Weitermachen. Das ist die letzte Chance. Wirf sie nicht weg.

Eine Meile hinter El Centro verlässt Frida Kahlo die Interstate und hält an. Der Nachmittag neigt sich dem Abend entgegen, lange Schatten fallen über die Felder.

Sie hält an. »Nimm deine Sonnenbrille ab. Lass mich deine Augen sehen.«

Chris setzt sie ab und starrt sie an. »Klar genug?«

»Ja. Du fährst uns rüber.«

»Warum?«

Sie steigt aus. »Sag, ich sei deine Tante, wenn sie fragen. Oder das Kindermädchen, wenn du dich dann besser fühlst.«

Das Schneidende in ihrer Stimme stört ihn eigentlich nicht. Er setzt sich hinter das Lenkrad. Mit dem Ärmel tupft er sich den Schweiß aus dem Gesicht und fährt vorsichtig zurück auf die Straße. Sein Puls schlägt schneller. Er pocht in der Schulterwunde wie ein Hammer.

Fünf Meilen südlich der I-8, in Calexico, nähern sie sich dem Grenzkontrollpunkt. Vor ihnen stehen vier Autos in der Schlange. Einfacher Übergang, klar. Am amerikanischen Kontrollpunkt kümmert es niemanden, ob man die Vereinigten Staaten verlässt. Es sei denn, man ist ein Drogenhändler oder ein Verbrecher.

Oder man wird in L. A. gesucht, weil man einen Bullen umgenietet hat.

Chris wird langsamer und reiht sich in die Schlange ein. Der Tag wird kühler. Bald wird die Sonne untergehen. Ein Agent steht vorne an der Spitze der Schlange und kaut scheinbar teilnahmslos Kaugummi. Aber da ist ein beleuchtetes Postenhäuschen mit einem Wachmann, mit Flyern und Postern an der Wand.

Der Kaugummikauer beobachtet, wie die Autos vorfahren. Die Haltung eines Polizisten, die Finger hinter den Gürtel gehakt, verspiegelte Sonnenbrille. Er bittet jeden, die Fenster herunterzukurbeln. Er winkt ein Auto durch, spricht mit dem nächsten Fahrer. Fragt nach dem Ausweis.

Chris befingert seine Jackentasche. »Die Papiere sind gut«, versichert Frida.

Er hält seine Hand über der Brieftasche.

»Jeffrey?«, sagt sie. »Chris?«

Er beobachtet den Polizisten.

Was für Leute das sind! Ihre Aufgabe? Seine Frau zu bedrohen. Seinen Sohn zu bedrohen. Sie sind bereit, das Leben seines schönen, strahlenden Jungen zu ruinieren, nur um ihn zu fassen.

Frida legt ihre Hand auf seine. Er dreht sich abrupt um. Sie greift in seine Tasche und holt die Brieftasche heraus. Er versucht sie aufzuhalten, aber sie wird fündig. Unter den gefälschten Familienfotos ist auch der Schnappschuss, den er im Unterschlupf in Koreatown eingesteckt hat: Dominick in Charlenes Armen, Chris an ihrer Seite, lachend, durch und durch Sonnenschein.

Frida schiebt den Schnappschuss in ihre Jeanstasche und gibt die Brieftasche zurück. Sie sagt nichts. Chris will am liebsten die Tür aufstoßen und sie aus dem Auto treten. Stattdessen umklammert er das Lenkrad fester.

Die beiden Autos vor ihm werden durchgewinkt. Der Grenzpolizist, Spiegelsonnenbrille, Mr. Bombastic, winkt ihn vorwärts, mit diesem »Du gehörst mir«-Winken. Chris hält an. In der Kabine wirft der gelangweilte Beamte mit dem grauen Bürstenhaarschnitt einen Blick auf den Computerbildschirm. Und auf die Flugblätter, die an der Wand hängen. Und dann aus dem Fenster auf ihn.

Dann zurück zu den Flugblättern.

Der mit der Spiegelsonnenbrille scannt das Gesicht von Chris, als er anhält.

Chris fährt das Fenster runter. Versucht gelangweilt zu wirken. Fühlt sich aufgedreht. Frida fängt an zu weinen.

»Wohin wollen Sie?«, fragt Spiegelsonnenbrille.

»Mexicali«, antwortet Chris.

Frida zieht ein Bündel Kleenex aus ihrer Handtasche und weint hinein, echte Tränen.

Sonnenbrille beugt sich zu ihnen herunter. Sieht sie an, sieht Chris an. »Ist alles in Ordnung?«

»Ihre Großmutter hatte einen Schlaganfall. Alle machen sich Sorgen. Wir versuchen rechtzeitig dort zu sein, bevor …«

Frida sieht ihn mit feuchten Augen an. »Tut mir leid, Officer. Es war ein schlimmer Tag.«

Der ältere Wachmann, Bürstenhaarschnitt, kommt aus der Kabine und geht auf die beiden zu. Chris verkrampft sich. Scheiße, sie hat im Unterschlupf die Beretta an sich genommen – warum hat er ihr das erlaubt? Sie bringt sie beide noch …

Bürstenhaarschnitt winkt Spiegelbrille. »Offerman.«

Spiegelbrille betrachtet Chris ausgiebig – registriert seine Müdigkeit, seine Schwäche, seine Anfälligkeit. Chris ist unbewaffnet. Er kann sich kaum bewegen. Falls der Mann die Fahrertür aufreißt, kann er Gas geben, Sonnenbrille niederwalzen und über die Grenze fahren, bevor der Kerl wieder auf die Beine kommt.

Bürstenhaarschnitt stapft näher heran. »Komm schon«, sagt er nachdrücklich. Brille sieht Chris und Frida an. »Ich hoffe, Ihre Großmutter schafft es. Fahren Sie weiter.«

Dann folgt er Bürstenhaarschnitt zu dem Auto, das hinter ihnen in der Schlange steht. Chris fährt langsam weiter. Seine Hände sind verkrampft, den Schmerz in seiner Schulter möchte er am liebsten hinausschreien. Er wirft einen Blick in den Rückspiegel.

Die beiden Wachen nähern sich dem Auto hinter ihrem von beiden Seiten, die Hände an den Waffen in ihren Holstern. Bürstenhaarschnitt fordert den Fahrer auf, sein Fenster herunterzulassen.

»Was ist da los?«, fragt Chris.

»Fahr weiter.«

Er fährt und kann kaum noch etwas sehen, weil sogar sein Blickfeld vor Schmerzen pulsiert. Werd bloß nicht ohnmächtig.

»Das ist mein Bruder«, erklärt Frida.

»Wer?«

»Der Typ im Auto hinter uns. Ich habe ihn vom Münztelefon aus angerufen, als wir angehalten haben. Er sieht aus wie du …« Sie dreht sich um. »Jedenfalls ähnlich genug.«

Er würde am liebsten lachen. Er schaut wieder in den Rückspiegel. Der Fahrer steigt aus dem Auto und gibt seinen Führerschein ab. Er ist groß, hat kurzes dunkles Haar und trägt eine Sonnenbrille, die er nach Aufforderung der Beamten jetzt abnehmen muss.

»Elisa …«

»Was?«

»Ich meine Frida.«

»Neun, zehn!« Sie legt die Taschentücher weg.

Sie fahren durch den mexikanischen Checkpoint. Dann sind sie in Mexicali. Palmen, Cambios, Touristenhotels, einladende chinesische Pagoden in Rot, Grün und Gold neben dem großen Schild mit der Aufschrift »BIENVENIDOS A MEXICALI«.

Nein, verdammt! Es führt immer alles zu diesem Ort zurück, richtig? Ich gehe rückwärts. Ins Feuer. Ins Nichts.

»Ich bleibe nicht hier«, erklärt er. »Hier gibt es nichts für mich.«

»Das machst du nicht. Beruhige dich«, befiehlt Frida.

Er fährt weiter, bis sie sagt: »Halt an.«

Das staubige Ackerland erstreckt sich bis zum Horizont. Er hält auf dem unbefestigten Seitenstreifen. Sie steigt aus und öffnet den Kofferraum. Als sie zurückkommt, reicht sie ihm einen schwarzen Ziegelstein von einem Satellitentelefon.

»Du hast eine Minute«, sagt sie. »Keine Sekunde länger.«

Sie schlendert in Richtung der Felder, die Hände in den Taschen, um ihm Privatsphäre zu geben. Er steigt aus dem Auto und lehnt sich an die Motorhaube. Er packt das Telefon, atmet tief ein und tippt die Nummer.

Er hört Rauschen, ein elektronisches Ping, und dann endlich ihre Stimme. »Hallo.«

Entfernt, blechern, körperlos, aber da. Sie ist nicht verhaftet worden. Sie ist nicht geflüchtet. Sie ist zu Hause.

»Baby«, sagt Chris.

Statisches Rauschen. Nichts. Bis er ein Geräusch hört, das von Charlene kommen könnte, die schwer ausatmet.

»Geht es dir gut?«, fragt sie.

Nicht mal annähernd. Und vielleicht nie wieder. Aber das weiß sie. Und er hat nur noch fünfundvierzig Sekunden Zeit. In diesem Moment zählt nur eines.

»Wie geht es Dominick?«, fragt er.

»Er schläft in meinem Schoß. Tief und fest.«

Sein Herz beruhigt sich. »Hör zu und glaub mir, was ich sage. Eines Tages. Irgendwie. Wenn ich bereit und in Sicherheit bin, werden wir wieder zusammen sein.«

Das Rauschen wird lauter. Endlose Sekunden lang gibt es keine Antwort. Am Rande des Feldes schaut Frida auf ihre Uhr und geht auf ihn zu.

»Charlene«, sagt Chris.

»Ich hab’s gehört«, sagt sie.

Der Verkehr rollt vorbei: der Lastwagen einer Farm, ein Tankwagen mit Benzin. Chris nickt und schließt die Augen. Er hört, wie Frida näher kommt.

»Ich weiß nicht, was passiert ist«, sagt er. »Erklär es mir nicht. Ich will es nicht wissen. Ich nehme nur mit, dass du alles riskiert hast, um mich zu warnen.«

Frida deutet auf das Telefon.

»Ich liebe dich«, sagt er zu Charlene. »Bleib stark.«

Charlenes Stimme ist geisterhaft. »Du auch.« Ein Geräusch, vielleicht ein Lachen oder ein Schluchzen. »Immer.«

Frida nimmt ihm das Telefon ab, fast sanft, und beendet das Gespräch. Chris sinkt auf den Fahrersitz. Der Himmel flirrt. Frida legt das Telefon zurück in den Kofferraum. Dann holt sie ein Feuerzeug aus ihrer Handtasche. Sie nimmt den Schnappschuss mit Dominick und Charlene und zündet ihn an. Sie hält das Foto eine Sekunde lang zwischen den Fingern, die Flamme flackert rot und verzehrt es. Dann lässt sie es fallen, drückt es mit dem Absatz in den Sand und steigt wieder ins Auto.

Sie schlägt die Tür zu. »Fahr los.«

»Wohin?« Er klingt hohl.

»An den Bergen vorbei. Bis dahin ist es dunkel. Ein Flugzeug ist unterwegs.«

»Wohin fliege ich?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass ich dich zum Flugzeug bringen soll. Sie sagten, es wäre ein sehr langer Flug.«

Als er auf den Highway gelangt, blickt er zurück. Der Sonnenuntergang färbt den Himmel violett und orange. Er fährt das Fenster herunter. Die Luft ist abendlich kühl. In den Seitenspiegeln sieht er die andere Seite der Grenze, die Lichter von Kalifornien, die wie eine Fata Morgana schimmern. Nichts ist anders einen Meter diesseits der Grenze, außer dass alles anders ist. Er verlässt das Land des Todes.

Und fährt in das Land des Todes.

Neil, Bro.

Charlene. Dominick.

Eines Tages komme ich zurück. Irgendwie.

Er starrt in die Wüste und auf die blau-braunen Berge, die sich am Horizont im Dunst abzeichnen. Dies hier ist das Land des Blutes und der Geister. Der unerledigten Aufgaben. Atmen, schärft er sich ein. Atme einfach, verdammt.

TEIL ZWEI

1988

8

Las Vegas

Chris Shiherlis ist nur achtzehn Stunden in der Stadt, aber die Stunden in Vegas zählen wie Hundejahre. In einem schmutzigen schwarzen Corvette Cabrio rauscht er zum Eingang vom Caesars Palace. Es ist ein glühend heißer Tag. Die Hitze erschlägt einen. Die Bennies überlagern das Marihuana und geben dem Licht am Himmel und dem Blut in seinen Adern einen sanften Zoom. Er wirft die Schlüssel dem Parkwächter zu. Morgen früh fliegt er nach Chicago, aber heute hat er eine Rolle Geldscheine zum Verprassen in der Tasche. Dazu neue Klamotten, ein blaues Seidenhemd. Frischer Haarschnitt, eine Wayfarer-Sonnenbrille. Er setzt sie zackig ab, als er durch die Tür schreitet. Er fühlt sich kugelsicher.

Craps, Blackjack und Sportwetten – es ist ein Fest. Er gleitet durch das Geschrei, die Musik, das mechanische Klicken der Spielautomaten, das Klingeln der Jackpots, das Klappern der Vierteldollars, wenn sie sich in die Eimer ergießen, die passionierte Omas mit Zigaretten in den Mundwinkeln unter die Schlitze halten. Heiße Frauen am Roulettetisch. Dunkelheit und Licht und Magie. Er ist hier, will zaubern und den Gewinn abschöpfen. Presto.

Als er tiefer in das Casino schlendert, sieht er sie.

Sie steht neben einem älteren Mann am Würfeltisch. Über ihr schimmert bernsteinfarbenes Licht, Neon und Glitzer leuchten hinter ihr. Hell und schattig. Alles verblasst für einen Moment – der unglaubliche Lärm, die Erregung und die Möglichkeiten. Alles wird unscharf, nur sie nicht. Samt und Sonnenschein. Sturm und Geschmeidigkeit. Sie schaut auf, über den Tisch, in die Menge, und ihr Blick streift ihn.

Der Blitz schlägt ein.

Ihr schwarzes Haar glänzt wie das von Kleopatra. Das ärmellose schwarze Spandexkleid zeigt jede noch so langsame Bewegung und jeden Muskel ihres kraftvollen Körpers. Glatte bronzene Haut. Eine Halskette mit einem massiven türkis- und granatbesetzten Kruzifix, das auf ihrer Brust ruht. Durch und durch amerikanische Jugend und dazu dunkle, wissende Augen.

Die Gäste am Tisch sind aufgedreht. Der ältere Mann, schwarzer Anzug, seidiges Haar, so stechende Augen wie ein New Yorker Banker, nimmt die Würfel und wirft der Frau einen Blick zu. Sie streicht mit der Hand über seinen Arm, beugt sich vor und bläst auf die Würfel. Sein Blick verharrt einen Moment zu lange auf ihr. Besitzergreifend. Unsicher. Ohne Vertrauen.

Der Kerl sieht aus wie ein Verlierer, denkt Chris. Das göttliche Licht im Raum hat die Würfel gesegnet, aber dem Mann mangelt es an Überzeugung.

Chris hält sich zurück. Der Banker lässt die Würfel rollen. Die Leute am Tisch stöhnen.

Ich wusste es.

Chris kurvt um den Tisch herum, lässt sich Zeit und geht in Richtung Sportwetten. Die Geldrolle in seiner Tasche will ausgegeben werden.

Der Banker kippt mit saurer Miene den letzten Schluck seines Whiskeys hinunter. Die Frau streichelt ihm den Rücken, zuvorkommend und mitfühlend.

Sie arbeitet, denkt Chris. Sie ist dreiundzwanzig, vielleicht vierundzwanzig, steht mit beiden Beinen im Leben und erledigt die ihr übertragenen Aufgaben. Sie füttert sein Ego, sieht großartig aus, an seinem Arm allerdings auch ziemlich verrucht, und überzeugt ihn, dass er ein Gewinner ist. Selbst wenn er sie für ihre Zeit bezahlt, sollte der Banker wissen, was für ein Glückspilz er ist.

Chris nähert sich dem Tisch. Es herrscht ein Höllenlärm, und der Croupier muss schreien, um gehört zu werden. Chris beugt sich dicht zu der Frau.

»Bist du beschäftigt?«, fragt er.

Sie sieht ihn nicht an, leckt sich die Lippen. Der Banker stellt den leeren Whiskeytumbler ab und mustert Chris.

»Offensichtlich«, sagt sie.

»Wie lange?«

Unter ihren langen Wimpern sieht sie ihn an. Einen Moment wirkt ihr Blick nüchtern, abcheckend. Ein guter Kandidat? Ein Verlierer?

Dann dreht sich der Banker auf seinem Stuhl herum. »Wie bitte?« Ein Pulsschlag Pause. »Verpiss dich.« Er strafft die Schultern, als wollte er sich prügeln.

Chris’ Augen werden ausdruckslos. Er starrt den Mann an. Es ist ein Blick aus einer anderen Welt. Der Banker spürt das Eis, das zwischen den Schulterblättern seine Wirbelsäule hinaufkriecht.

Er blinzelt tatsächlich.

»Sie haben verloren, weil Sie wussten, dass Sie verlieren würden«, belehrt ihn Chris.

Der Mann steht auf und packt den Arm der Frau. »Gehen wir.« Er stößt sie an. Sie bleibt regungslos stehen. »Cinnamon, komm schon.«

Sie geht mit, aber ihr Blick gleitet zurück zu Chris. In diesem Moment lächelt er. »Bis später.«

Sie findet ihn, drei Stunden später. Er hat sechs Riesen auf das Lakers-Spiel gesetzt. Sie gleitet in den Raum, setzt sich ihm gegenüber und schlägt die langen Beine übereinander. Sie stützt ihre Unterarme auf die Lehnen des Stuhls, träge wie eine Raubkatze. Die Fingernägel leuchten scharlachrot. Ihre Augen sind ruhig, in ihnen ist etwas Steinhartes verankert. Hinter ihr blinkt eine Reihe von Fernsehbildschirmen. Bulls gegen die Pistons. Juventus gegen Mailand. Belmont Park. Ihre Augen reißen ihn von all dem weg.

»Hungrig?«, fragt Chris.

»Ich bin fast am Verhungern.«

»Das Steakhaus hier …«

»… ist maßlos überteuert. Ich kenne einen besseren Laden.«

Er erhebt sich. »Mein Auto steht draußen.«

Der ganze Raum folgt ihr mit Blicken, als sie ihn nach draußen führt. Sie ist so magisch, dass er fast erwartet, Münzen und Schlüssel aus den Taschen der Leute würden sich in die Luft erheben und durch das Casino fliegen.

»Ich bin Chris.«

»Charlene.«

»Nicht Cinnamon?«

Sie verdreht die Augen.

Er hinterlässt verbranntes Gummi auf der Ausfahrt.

Sie essen in einem kleinen Restaurant im Osten der Stadt. Dim Sum. Als sie das Restaurant verlassen, streckt sie die Hand aus. »Schlüssel«, sagt sie.

Sie fahren zum Strip und teilen sich unterwegs einen Blunt. Charlene fährt, als wäre sie in Indianapolis ausgebildet worden. Selbstbewusst, geschmeidig und reaktionsschnell. Sie hat alles unter Kontrolle, ohne über die Stränge zu schlagen. Der Motor schnurrt unter ihrer Führung.

Sie wäre eine gute Fluchtwagenfahrerin, denkt Chris. Jemand, auf den man sich verlassen könnte. Eine Frau, die alle Wenns und Abers und Alternativrouten durchdacht hat und nie ausflippt. Die dich jedes Mal sicher nach Hause bringt.

»Was grinst du so?«, überschreit sie den Wind und das Brummen des Motors.

»Magie«, sagt er.

Sie betreten das Mirage durch den Casinoraum. Die Nacht zieht auf, pulsierend, die Energie rollt direkt in ihn hinein.

Er dreht sich zu ihr herum. »Ich habe hier ein Zimmer. Willst du das hier überspringen?«

»Bitte, ja«, sagt sie.

Er führt sie zum Aufzug. »Du bist keine Spielerin?«

»Ich spiele jeden Tag.« Sie sagt es leichthin, aber in ihrer Stimme schwingt ein Unterton mit. Dann schaut sie ihn von oben bis unten an. »Und an manchen Tagen riskiere ich verdammt viel.«

Es ist drei Uhr morgens, als sie endlich die schwarze Perücke abnimmt, diese glatte Verkleidung, und ihre rotblonden Locken ausschüttelt. Sie sitzt auf ihm, reitet ihn, verschlingt ihn, elektrisiert ihn. Die leere Flasche Veuve steht kopfüber im Eiskübel. Das Heroin trägt ihn auf seinem warmen, süßen Fluss der Euphorie. Ruhig und zentriert und strahlend schön. In den Glasfenstern spiegelt sich das pulsierende Geflecht aus Licht von draußen.

Chris fährt mit den Händen an ihren Schenkeln entlang. Sie nimmt seine Handgelenke und streckt sie über seinen Kopf.

»Baby«, sagt er.

Sie bewegt sich rhythmisch. Er atmet ein und schließt die Augen. Er spürt, wie die Welle über ihn hinwegfegt. Er umklammert sie, stöhnt und hält sich fest. Ihre Fingernägel graben sich in seine Unterarme. Sie wirft ihren Kopf zurück und schreit.

Dann liegt sie auf ihm, keucht.

»Woher kommst du?«, fragt er schließlich.

»Das ist keine Frage für heute Abend.« Sie wird weicher und rollt sich von ihm herunter. »Es ist nicht romantisch, und du willst von diesem Ort nichts hören.«

»Alles an dir ist romantisch.«

»Still. Brich den Zauber nicht.«

Er stützt sich auf einen Ellbogen, streicht mit den Fingerrücken über ihren Bauch, dann beugt er sich vor und küsst ihre nackte Haut. Sie seufzt und lächelt mit der entspannten Befriedigung einer Löwin, die gerade gesättigt wurde.

Er zieht sie an sich und spürt bereits die süße Verlockung des Schlafes. Aber sie atmet tief ein, steht auf und fängt an, sich anzuziehen.

»Du musst nicht gehen«, sagt Chris.

»Ich muss arbeiten. Und das hier ist keine Arbeit.«

»Du musst trotzdem nicht gehen.« Er überlegt, wie er es ausdrücken soll. »Ich übernehme die Kosten … für die Nacht.«

Sie hält inne.

»Nein.« Er setzt sich auf und presst sich die Handballen auf die Augen. »Ich meine, ich will nicht, dass dir jemand Ärger macht. Das hier ist …« Er deutet auf sie beide. »… etwas zwischen uns.« Er will nicht, dass sie denkt, er wollte sie kaufen. »Du hast dir Zeit für mich genommen. Lass mich das wiedergutmachen.«

»Du meinst, bei …« Sie lacht. »… meinem Begleitservicemanager aka Zuhälter?«

»Charlene …«

Sie steigt in ihr Kleid und zieht es ruckelnd hoch. »Es ist nur Arbeit, Baby. Aber es ist Arbeit.«

Er fühlt eine heiße Kohle in seiner Brust. »Jaja. Wer ist er? Lass mich das klären.«

Sie hebt die Perücke auf. »Alter, lass es.«

»Ich will es aber.«

Sie kniet sich auf das Bett und drückt ihre Fingerspitzen auf seine Lippen. »Du bist perfekt. Das hier ist perfekt. Und jetzt muss ich gehen.«

»Wie finde ich dich wieder? Wie ist deine Nummer?«

»Ein Romantiker und ein Optimist. Wow!« Sie zieht ihre Schuhe an und schnappt sich ihre Handtasche. »Bist du morgen noch hier?«

»Nein. Ich reise ab. Arbeit.«

Sie lächelt. Es wirkt melancholisch. Dann zuckt sie mit den Schultern, als hätte sie nichts anderes erwartet.

Und ist zur Tür hinaus.

Er tritt auf den Balkon mit Blick auf den Hoteleingang. Die Nachtluft streicht kühl über seine Haut. Die Geräusche des Verkehrs und das Lachen auf der Straße dringen zu ihm hoch. Eine Minute später sieht er, wie sie das Hotel verlässt. Den Rücken gerade, gewappnet für die Nacht. Sie hebt die Hand und ruft ein Taxi.

Manager. Ihrem Tonfall und ihrem Blick nach zu urteilen, hat sie ein schlechtes Geschäft gemacht.

Ihr Zuhälter.

Das Taxi fährt an, die Lichter vom Strip gleiten darüber. Dann verschwindet es außer Sicht. Magical Mystery Tour.

Er steht auf und lässt die Nacht durch sich hindurch prickeln. Er hat es gesehen. Bevor sie in das Taxi stieg, hat sie zurückgeschaut. Sie hat nach oben geblickt.

Er wird zurückkommen. Er wird sie finden.

9

Das Diner deutet wie ein Schiffsbug in die Richtung der sechsspurigen Kreuzung. Das Viertel Near Northwest Side Chicago ist am Montagmorgen um 8.25 Uhr in Bewegung. Der Verkehr staut sich an der Ampel an der Diversey. Anzugträger, Männer und Frauen, drängeln sich auf dem Bürgersteig vorbei, streben mit gekrümmten Schultern und schwingenden Aktentaschen in Richtung der L, der Hochbahn. Der Himmel ist blau, die Bäume, die den Bürgersteig säumen, sind üppig grün. Die Kreuzung mit den sechs Ausfahrten ist von Backsteingebäuden umgeben.

Neil McCauley sitzt allein an der Theke des Diners. Der Tresen folgt der Form des Lokals. Letzteres bildet ein gleichschenkliges Dreieck mit Fenstern an zwei Seiten, die einen weiten Blick erlauben. Die Hälfte der Stühle ist besetzt, Teller und Besteck klappern. Auf einem Regal hinter dem Grill läuft ein Musiksender im TV: »Simply Irresistible«. Der Song läuft überall. Das Video zeigt einen Mann in einem schicken schwarzen Anzug, Frauen mit roten Lippen und glitzernden Stilettos. Wenn man das in Folsom zeigen würde, würden brüllende Männer die Wände zum Einsturz bringen. Neil trinkt seinen Kaffee. Niemand im Diner redet. Alle sind mit den Gedanken bei der Sun-Times oder der Tribune und ihrem Essen. Das Licht, das durch die östlichen Fensterscheiben fällt, ist fahl. Verfremdend.

Der Grillmeister kommt mit einer Kaffeekanne in der Hand aus dem Hinterzimmer. Er wartet auf Kunden.

»Nachschenken?«, fragt er.

»Klar.«

Der Typ schenkt ein. Er ist weiß, sieht aus wie siebenundvierzig, achtundvierzig. Eine Schachtel Zigaretten beult die Tasche seiner Schürze aus. Zweiundvierzig. Neil achtet auf die muskulösen Unterarme und die doppelt so großen Handgelenke. Er vermutet, dass der Typ früher als Installateur gearbeitet hat. In solchen Berufen gibt es heute keine Jobs mehr. Die gestärkten Manschetten an seinem tadellos gebügelten Hemd, diese penible Perfektion, verraten, dass er gesessen hat. Die kaputten Kapillaren auf der Nase entlarven ihn als Trinker. Der Typ ist auf der Durchreise, denkt Neil. Ein Schnellimbisskoch, der sechs, acht Wochen lang Arbeit annimmt und dann weiterzieht. Seinem melodischen Akzent nach stammt er aus den Appalachen und wohnt in einem möblierten Zimmer in Uptown, zwischen Wilson und Broadway. Neil nickt dankend, und der Mann verschwindet wieder hinter dem Grill.

Neil hebt die Kaffeetasse an seine Lippen. Er hat einen freien Blick durch die gegenüberliegenden Fenster.

Ihn interessiert ein Bürogebäude aus dem Jahr 1922 auf der anderen Straßenseite. Es wurde gebaut, als sieben Stockwerke noch ein Grund zum Stolz waren. An dem Fahnenmast, der über dem Eingang aus der Wand ragt, weht eine neue, strahlend saubere Flagge. Im Erdgeschoss befindet sich die Prosperity Savings & Loan.

Die S&L ist ein kleines Unternehmen. Das hier ist ihr einziger Standort. Ursprünglich war es mal eine stolze Bank aus den Zwanzigerjahren, die während der Depression unterging.

In der Glastür des Diners blitzt Sonnenlicht auf, als Chris hereinkommt. Er schiebt sich auf den Hocker neben Neil.

»Durch seine Höhe ist der Verteilerkasten von den Gleisen der Linie L aus sichtbar, aber er wird von den Bäumen abgeschirmt«, sagt er. »Züge sind verdammt laut, wenn man sich auf der Straße unter den Gleisen befindet.«

Chris nimmt eine laminierte Speisekarte in die Hand und legt sie gleich wieder zurück. Er streicht sich das blonde Haar aus den Augen. Er ist kühl, beherrscht, und seine Augen sind ausdruckslos. Aber Neil kennt die Energie unter der Oberfläche. Chris ist immer aufgedreht, selbst wenn er sich völlig ruhig gibt. Er kann ohne Vorwarnung explodieren. Im Moment vibriert diese Spannung irgendwo tief in ihm. Jetzt ist Arbeit angesagt. Sie beobachten die Fenster auf der anderen Straßenseite. Beide sehen, wie drei Angestellte und der stellvertretende Manager um 8.32 Uhr durch die Seitentür die S&L betreten. Die Bank öffnet um neun Uhr.

»Wir müssen um fünf Uhr morgens wieder draußen sein«, sagt Neil.

Chris’ Blick bleibt auf die Seitentür des Gebäudes auf der anderen Straßenseite gerichtet. Der Grillmeister kommt auf sie zu und wischt sich die Hände an seiner Schürze ab. Chris winkt energisch ab. Der Mann nimmt Neils leeren Teller und verschwindet.

»Wo treffen wir Grimes?«, fragt Neil.

»Im Belden Deli. Zwei Meilen östlich von hier. In der Clark Street.«

Neil schaut auf seine Uhr. Sie haben noch vier Stunden Zeit. »Kümmern wir uns um das Material. Hast du das Geld für die Hardware?«

»Alles da.«

Sie teilen die Liste auf. Handschuhe, Schutzbrille, Gehörschutz. Wasser und Lebensmittel. Werkzeugkoffer für Mechaniker. Elektrogeräte. Nur handelsübliche Ware, gekauft in einem großen Laden, in dem sich niemand an ihren Einkauf erinnern wird.

Die speziellere Milwaukee-Tool-Kreissäge, den Winkelschleifer und die schwere Bohrmaschine mit Stativ hat Cerrito bereits besorgt.

»Ich will die Strecke auskundschaften«, erklärt Neil. »Wann kommen die Fahrzeuge?«

»In drei Tagen.«

Sie werden den Anfahrtsweg abfahren, den Fluchtweg und die Ausweichrouten. Die Stellen, wo sie die Fahrzeuge deponieren werden und die, an denen sie das gesamte Werkzeug und ihre Kleidung entsorgen werden, um keine Beweise zu hinterlassen, die sie mit dem Überfall in Verbindung bringen. Sie werden den Ort nach Kameras absuchen. Sie werden bei der Stadt anrufen, um herauszufinden, wo am Wochenende Bauarbeiten an Gas- und Stromleitungen geplant sind. Die nächstgelegene Polizeistation ist anderthalb Meilen entfernt. Neil kennt die Reaktionszeiten der Polizei auf eine Einbruchsmeldung, weiß, wie viele Einheiten in jeder Schicht patrouillieren und um welche Uhrzeit die Schicht beginnt und endet. Er weiß nicht, wie der Personalstand während des Cubs-Spiels am Samstagnachmittag aussieht, aber heute findet auch ein Spiel statt. Er wird es herausfinden.

»Es werden zusätzliche Polizisten auf Streife gehen«, sagt er. »Es wird warm werden, über zwanzig Grad. Bei solchen Temperaturen laufen sie gerne herum. Der Eröffnungspitch des Spiels ist um zwei Uhr.«

Hinter dem Grill mustert der Manager erst Neil und dann die anderen Kunden. An einem Ecktisch sitzt ein Mädchen in einem T-Shirt der DePaul University, das sein Lehrbuch ignoriert und Chris einen sehnsüchtigen Blick zuwirft. Keine Zeit zum Verweilen.

Neil nickt dem Manager zu und wirft einen Schein auf den Tresen. Der Mann sieht Neil kurz an und nickt ebenfalls. »Gehen wir.«

10

Das Belden ist ein klassischer jüdischer Feinkostladen in Chicago, dessen Bänke und Tische zur Mittagszeit überfüllt sind. Auf dem Parkplatz geht Neil prüfend um einen unauffälligen viertürigen Chevy herum. Er sieht aus wie ein Zweihunderttausend-Meilen-Arbeitsesel von Hertz oder dem Chicago Police Department – genau das, was er will. Ein Punkt für Aaron Grimes.

Drinnen sitzt Grimes in einer Nische und trommelt mit den Daumen auf die Tischplatte. Die Gespräche um ihn herum dröhnen von der Decke und den Fenstern zurück. Vor ihm liegt ein halb gegessenes Pastramisandwich. Er beißt ab, als ein Typ auf ihn zukommt und sich ihm gegenüber hinsetzt. Jung, durchtrainiert, mit blondem Haar und toten, kalten Augen. Ein Surfersoziopath in Jeans und Flanellhemd. Grimes wischt sich die Krümel vom Mund und streckt seine Hand aus.

»Bist du Chris?«

Chris schüttelt seine Hand und hält sie fest. Sein Griff ist kühl und unerbittlich, so wie sein Blick. In seine leeren blauen Augen zu sehen, ist, als ob man nachts in den schwarzen Ozean starrt – man weiß, dass dort gefährliche, haarsträubende Dinge unter der Oberfläche lauern. Grimes kriegt nicht mal mit, wie ein weiterer Typ neben ihm auf die Bank rutscht, während Chris seine Hand hält. Plötzlich wird er von dem Burschen gefilzt. Shiherlis’ Griff ist wie Stahl.

Der Zweite wirkt verdammt stark, wenn man weiß, wo man hinschauen muss. Keine aufgeblasenen Eitelkeitsmuskeln, sondern kernig und wie gemeißelt, dazu kurze schwarze Haare und ein fester Kiefer. Ein gestärktes weißes Hemd unter einer schwarzen Baseballjacke. Fliegerbrille, alte Schule. Emotionslos und effizient tastet er Grimes ab, als ob es für ihn so natürlich wäre wie das Atmen. Grimes sieht sich um. Jetzt entdeckt er den dritten im Bunde, einen Rotfuchs mit einem harten Blick. Der sagt dir, dass er dich bedenkenlos aufschlitzen würde. Er steht im Eingangsbereich des Ladens neben dem Münztelefon und behält beiläufig die Umgebung im Auge.

McCauley beendet die Leibesvisitation und wendet sich ab. Shiherlis lässt seine Hand los und lehnt sich zurück.

»Das Pastrami ist gut«, sagt Grimes. »Und das Truthahnsandwich auch.«

»Ist das deine Karre da draußen?«, erkundigt sich McCauley.

»Die ist vergeben. Wenn du willst, besorge ich dir auch so eine«, erwidert Grimes.

»Nichts Heißes«, sagt McCauley. »Es muss legal sein und eine Verkehrskontrolle überstehen.«

»Ist klar.« Grimes streicht sein T-Shirt glatt. »Geht eine Birne kaputt und du wirst angehalten, sind Zulassung und Versicherung kein Problem. Keine Mängel, keine Meldung als gestohlen, saubere Karren.«

»Kennzeichen?«

»Falls ein Cop die Kennzeichen überprüft, stellt er nur fest, dass sie in Springfield auf eine Leasingfirma registriert sind.«

»Führerscheine.«

»Die sind dann fertig.«

»Zwei Limousinen, ein Van ohne Seitenfenster«, sagt McCauley. »Wie organisierst du die Lieferung?«

»Ich habe eine Garage auf der West Side, hinter einer Werkstatt für Nutzfahrzeuge. Ich gebe dir den Schlüssel für die Garage. Die Schlüssel für die Autos und den Lieferwagen liegen unter der Fußmatte.«

»Kein Schickimicki, nichts, was Aufmerksamkeit erregt.«

»Langweilig und zuverlässig. Nichts Auffälliges.«

»Wem gehört diese Autowerkstatt?«

»Meinem Onkel. Ich leite sie.«

»Stellt er keine Fragen?«

»Er ist nie da.« Grimes schüttelt den Kopf. »Bist du sicher, dass du nur die beiden Schrottkarren und den Van willst?«

»Habe ich was anderes gesagt?«

»War nur eine Frage, mehr nicht. Ich habe mich gefragt, warum du nicht etwas Schnelleres willst …«

»Warum?«

»Ich habe mich gefragt …«

»Frag dich lieber nicht.« McCauley nimmt seine Sonnenbrille ab. »Ich bezahle dich für einen Job, und du erledigst ihn.« Sein Blick röntgt Grimes geradezu. »Frag mich nicht nach Sachen, die dich nichts angehen.«

Grimes spürt die Kälte. Er würde am liebsten verschwinden, aber er kommt nicht aus der Nische weg. Der Typ ist kein Angeber. Er kommt von der Küste und wurde von einem Kerl mit ausgezeichneten Verbindungen hergeschickt. Sie sind wegen etwas Großem hier. Grimes will das nicht mit Überheblichkeit oder Übereifer vermasseln.

»Drei Fahrzeuge, jedes sechs Riesen, die Hälfte im Voraus«, sagt er.

»Es sind Landkarten im Handschuhfach, auf dem Boden liegen McDonald’s-Kartons und im Aschenbecher Kaugummipapier. Ein Rosenkranz hängt am Rückspiegel im Lieferwagen. Sauber, aber benutzt.«

»Geht klar.«

McCauley greift in seine Jacke und holt einen Umschlag heraus. Grimes mustert ihn.

McCauleys Miene ist undurchdringlich. »Du erzählst niemandem, welche Autos du besorgst, warum du das tust oder für wen sie bestimmt sind …« McCauley lässt den Satz offen.

»Ich bin cool.«

McCauley reicht ihm den Umschlag. Er knistert und liegt schwer in seiner Hand. Er lugt hinein. Die Scheine sind ganz neu und frisch, noch nie gefaltet. Sie bilden ein schlankes, dünnes Paket. Neuntausend Dollar.

Grimes wartet eine Sekunde. Dann spürt er McCauleys Blick und stopft den Umschlag in seine Jeanstasche.

McCauley steht auf und geht zur Tür. Shiherlis schlendert hinter ihm her. Der Mann in der Lobby folgt ihnen, nachdem sie das Lokal verlassen haben.

Grimes starrt aus den vorderen Fenstern. McCauley geht weiter, ohne sich umzudrehen.

*

Als Grimes aus dem Belden kommt, sind McCauley und seine Männer verschwunden. Grimes ist weiterhin aufgeregt und argwöhnisch. Er macht hier Geschäfte mit einer hochkarätigen Bande, die im ganzen Land operiert. Damit ist er eine Sprosse in der Nahrungskette hinaufgeklettert. Er steigt in den Chevy auf dem Parkplatz, lässt den Motor aufheulen und fährt durch den zähen Straßenverkehr nach Westen. Die Sonne brennt auf den Asphalt herab, auf die Bürgersteige und die niedrigen gelben Backsteinhäuser. Als er seine Werkstatt erreicht, zeigt ihm die Uhr im Armaturenbrett, dass er sich nur zwei Minuten verspätet hat.

Am Ende der Gasse wartet ein Mann im schattigen Fahrerhaus seines Pick-ups und trommelt mit den Fingern auf das Lenkrad. Seine Nummer zwei, Hank, sitzt auf dem Beifahrersitz.

Grimes hält an und steigt aus. Der Mann wirft einen vielsagenden Blick auf seine Uhr. Er ist gereizt. Sein Gesicht ist nicht zu sehen, aber das Zifferblatt blinkt in der Sonne.

Grimes lächelt und geht mit dem Chevy-Schlüssel in der Hand auf den Truck zu. »Ich war mit einem anderen Kunden beschäftigt. Tut mir leid.«

Der Mann verschränkt die Arme. »Kunde? Welcher andere Kunde?«

Grimes schüttelt den Kopf. »Ein anderer Kunde eben.«

Der Mann rührt sich nicht, die Knöchel verkrampft, die Schultern hochgezogen. »Kannst du nicht drüber reden?« Er wirft Hank einen kurzen Seitenblick zu und blickt dann wieder Grimes an. Sein Tonfall wechselt von wütend zu amüsiert. »Belieferst du jetzt Spione?«

Grimes bleibt ruhig und hält ihm die Wagenschlüssel hin.

Der Mann schnappt sich die Schlüssel des Chevys aus Grimes’ Hand. »CIA

Er wirft Hank die Schlüssel zu. Der steigt aus dem Wagen und geht zu dem Auto. Grimes tritt zurück.

»Nummernschilder und der Rest sind im Kofferraum«, sagt Grimes. »Alles cool.«

Der Mann lässt den Motor an. »Ich treffe später deinen Schwager. Ich werde ihm ausrichten, dass er dich nicht stören soll, weil du in geheimer Mission unterwegs bist.«

Er legt den Gang ein. Hank setzt sich hinter das Steuer des Chevys. Sie fahren lachend los. Grimes’ Hand hängt regungslos in der Luft.

11

Alexander Dalecki – so heißt er für die Frau, die auf dem Wohnzimmertisch Lines zieht – steht nackt an der Küchentheke und gießt Johnnie Walker Black Label in zwei Gläser. Die Frau, Ginger, ist ebenso nackt. Ihr zerzaustes rotes Haar steht wild in alle Richtungen vom Kopf ab. Ziemlich absurd bei einer Friseurin. Sie will es noch einmal versuchen, weil er es beim ersten Mal nicht geschafft hat, und sie glaubt, dass Koks ihn über die Ziellinie bringen wird. Aber sie ist schon kurz davor, die Wände hochzukriechen. Sie zieht eine weitere Line durch einen aufgerollten Zwanziger und wirft sich mit einem Aufschrei in die Sofakissen. Alex muss sie wieder runterholen. Sie beide. Er schenkt ihr einen Doppelten ein.

Das Klopfen an der Tür erschreckt ihn: zwei laute Schläge mit der Faust.

Ginger taucht wieder auf, aufgekratzt wie die Braut von Frankenstein. »Alex? Erwartest du Besuch?«

Er wirft einen Blick durch das Guckloch der Tür. Hank steht draußen und wippt auf und nieder, wie immer, wenn er aufgedreht ist, und sieht sich misstrauisch im Flur um.

Alex wendet sich an Ginger. »Zieh dich an. Sofort.«

Sie schmollt. Er zerrt sie auf die Füße und schiebt sie ins Schlafzimmer. Hank klopft wieder.

»Moment noch!«, ruft Alex.

Seine Haut ist überempfindlich. Die Lichter scheinen ihn anzuzischen. Es ist ein unangenehmes Geräusch. Er zieht sich einen Pullover über und schließt die Haustür auf. Hank schlüpft herein. Hank Svoboda scheint immer seitwärts zu gleiten, durch alle Ritzen und so geschmeidig wie Öl.

»Du bist nicht ans Telefon gegangen«, sagt er.

»Ich war anderweitig beschäftigt.«

»Es läuft bereits.«

Alex wird schlagartig nüchtern. »Du sagtest – du sagtest einundzwanzig Uhr.«

»Es ist 20.30 Uhr. Zieh dich an!«

Hanks flaches slawisches Gesicht wirkt wie eine Bratpfanne, mit der er ihm den Kopf einschlagen will.

»Gib mir ein paar Sekunden«, sagt Alex.

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