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Gott baut um

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Krippen, Lichter, Tannenzweige: Einmal im Jahr, zur Weihnachtszeit, verkleidet sich die Welt. Der Grund dafür ist eine biblische Geschichte, die ein Wunder in Aussicht stellt: Auf der Erde könnten Friede, Glück und Eintracht herrschen. Einmal im Jahr träumen wir von diesem Wunder, und Ulrich Knellwolf erzählt davon in ganz unterschiedlichen Geschichten. Durch erstaunliche Erlebnisse erfahren seine Könige, Hirten, Diebe und Liebespaare, und wir mit ihnen, was Weihnachten bedeutet: die Ahnung von einer anderen, besseren Welt. Knellwolfs klare, bildhafte Erzählungen lassen diese Ahnung lebendig und fühlbar werden und laden uns so zum Schmökern und Vorlesen ein.


  • Erscheinungstag: 30.09.2013
  • Seitenanzahl: 144
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312005741

Leseprobe

Vorwort: Die Kraft einer Geschichte

In Schaufenstern stehen Weihnachtskrippen, an Baukranen leuchtet nächtlicherweile der Stern von Bethlehem, in Werbespots treten die heiligen drei Könige auf, Straßen sind mit Lichtern geschmückt – es ist, als habe die Welt sich verkleidet. Niemals im Jahr verwandelt sie sich, vom Wechsel der Jahreszeiten abgesehen, so stark wie in der Weihnachtszeit.

Grund dafür sind zwei Geschichten aus der Bibel, genauer aus ihrem zweiten Teil, dem sogenannten Neuen Testament. Die eine steht im Evangelium des Matthäus und erzählt von drei Astrologen, die einem Stern folgen, der sie nach Bethlehem führt, wo sie dem neugeborenen König der Juden Gold, Weihrauch und Myrrhe als Huldigungsgeschenk bringen. Die andere Geschichte steht beim Evangelisten Lukas. Wegen einer vom römischen Kaiser angeordneten Volkszählung muss ein junges Paar aus Nazareth in Galiläa in den Heimatort des Mannes, nach Bethlehem in Judäa, reisen. Dort findet es keine Unterkunft, obwohl die Frau hochschwanger ist. Das Kind kommt zur Welt und wird in eine Futterkrippe gelegt. Hirten, von Engeln darauf hingewiesen, dass dieses Kind ihr Heiland sei, besuchen es und verbreiten die Nachricht seiner Ankunft.

Die Geschichte im Matthäus-Evangelium umfasst etwa ein Dutzend Sätze, die im Lukas-Evangelium rund zwanzig. Es sind also kurze Geschichten. Der Volksmund macht sie noch kürzer. Denn er hat erkannt, dass zwei Geschichten weniger eingängig sind als eine. Darum schweißt er die zwei biblischen Weihnachtsgeschichten mit sicherem Instinkt für Wirkung zu einer zusammen, indem er die matthäischen Astrologen aufgrund ihrer Geschenke zu drei Königen macht und neben die Hirten in den Stall von Bethlehem vor die Krippe stellt. In dieser Form ist die Weihnachtsgeschichte erstaunlicherweise derart beeindruckend, dass sie für ein paar Tage das Gesicht eines großen Teils der Welt verwandelt.

Was macht die Geschichte so beeindruckend? Vermutlich die Spannung, dass der König und Bringer des Heils nicht in einem Palast, sondern in einem Stall, nicht in höfischer Gesellschaft, sondern inmitten von gewöhnlichem Volk geboren wird. Der Auftritt der drei Könige schwächt die Spannung nicht ab, sondern verstärkt sie noch. Die Geschichte sagt: Wahrhaftes Königtum zeigt sich im Heruntersteigen vom Thron. Wirkliche Hoheit ist sich nicht zu nobel, zu den Niedrigen zu kommen. Herrschaft erfüllt ihren Sinn, wenn der Herr sich zum Knecht des Lebens seiner Knechte macht. Da leuchtet für einen Augenblick die Ahnung einer neuen Welt auf. Vielleicht der vollkommenen Welt. Wer hätte eine solche Ahnung nicht nötig? Wem täte sie nicht gut?

Die Weihnachtsgeschichte wird noch eindrücklicher, wenn wir wissen, was aus dem Kind in der Krippe wurde. Ein Wanderprediger, der allen, die Ohren hatten zu hören, den Anbruch der vollkommenen Welt verkündete, und der dafür zum Tod verurteilt und gekreuzigt wurde. Die Spannung «König in der Krippe» hat in der Spannung «König am Kreuz» ihre Fortsetzung und Steigerung bis zur Zerreißprobe. Jesus bringt es zum Ausdruck mit seinem protestierenden Schrei, warum Gott ihn verlassen habe.

Wir sollten dieses Protestelement nicht übersehen, wenn wir fragen, weshalb die Weihnachtsgeschichte so starken Eindruck macht. Unter der Lieblichkeit von Engelsgesang und Königsgeschenken schwelt eine Aggression. Im Hören und Erzählen der Weihnachtsgeschichte wird sie aktuell. Die Aggression stellt sich auf die Seite des Krippenkindes und fragt anklagend, warum Gott nicht helfe, wenn die Welt einem Säugling so grob mitspielt.

Dieses protestierende «Warum?» provoziert den geheimnisvoll verborgenen Gott. Er kann sich fortan von dem Krippenkind und Kreuzesopfer Jesus und von der in ihm aufleuchtenden vollkommenen Welt nicht mehr lossagen. Die Geschichte von Krippe und Kreuz mit ihrer unterschwelligen und schließlich offenen Aggression bindet Gott – nein, angemessen muss es heißen: Mit der Geschichte von Krippe und Kreuz bindet sich Gott und tritt hervor als Schöpfer der werdenden vollkommenen Welt, in welcher das klagende und anklagende «Warum?» hinfällig werden wird.

Weil sich das im Erzählen und Hören der Geschichte von Krippe und Kreuz ereignet, ist sie die Grundlage des Glaubens. Damit der Glaube entstehen kann, muss die Geschichte von Krippe und Kreuz also erzählt werden. Die vier Evangelisten des Neuen Testaments machen’s uns, jeder auf seine Weise, vor. Auch Johannes, dessen «Weihnachtsgeschichte» eine reichlich abstrakte Reflexion über das Wort ist, das Gott ist und Fleisch ward. Und sogar Markus, der auf eine Weihnachtsgeschichte wahrscheinlich bewusst verzichtet, damit sie nicht zur harmlosen Lieblichkeit verkomme. Es soll nicht vergessen werden, dass Krippe und Kreuz zusammengehören und als eine Geschichte den Glauben schaffen. Den Glauben, der die vollkommene, nicht bloß eine vorübergehend verkleidete Welt erwartet.

Gott baut um

Eines Tages merkte Gott, dass er einsam geworden war. Hatte er nicht die Welt geschaffen, um Gesellschaft zu haben? Hatte er nicht die Menschen nach seinem Bild geformt, um mit ihnen sprechen zu können? Das war lange her. Nun saß Gott in seinem Himmel und fühlte sich sehr allein.

Seit er die Welt geschaffen hatte, sah er es als seine Pflicht an, darin zum Rechten zu sehen und dafür zu sorgen, dass sie nicht an der Unordnung zugrunde ging, die die Menschen so gern anrichteten. Das machte ihm viel Arbeit, mehr, als er bei der Schöpfung vermutet hatte. Allmählich spürte Gott, dass diese Arbeit ihn ermüdete und die ständige Beaufsichtigung der Menschen ihn missmutig machte.

«Da sitze ich die ganze Zeit auf dem Richterstuhl und verurteile Übeltäter, und die Menschen haben zwar Respekt vor mir und sogar Angst, aber gern haben sie mich nicht. Die Welt, wie ich sie geschaffen habe, wird im Innersten von Gesetzen zusammengehalten. Das macht sie zu einem Gerichtshof, und in einem Gerichtshof lebt sich’s nicht fröhlich miteinander. Kein Wunder, dass ich so einsam bin», sagte Gott zu sich selbst.

Er überlegte, was zu tun sei. Wie er im Überlegen seine Augen durch die Welt schweifen ließ, sah Gott in einer kleinen Stadt namens Nazareth in Galiläa einen Burschen und ein Mädchen, die gerade dabei waren, sich ineinander zu verlieben. Aber ihrer Liebe stand viel entgegen. Denn der Bursche kam aus einer angesehenen Handwerkerfamilie, die sogar den König David zu ihren Vorfahren zählte. Die Eltern des Mädchens hingegen waren zwar wohlhabend, aber eine Mischehe, der Vater war Israelit, die Mutter Syrerin, wie es in Galiläa oft vorkam. Gesellschaftliche und religiöse Gesetze standen einer Verbindung der beiden jungen Leute entgegen. Das bedrückte Joseph, so hieß der Bursche, und Maria, so hieß das Mädchen. Joseph überlegte sich, Maria zu verlassen, und Maria dachte, vielleicht wäre es gescheiter, auf Joseph zu verzichten.

Gott sah es und dachte: Schade, die zwei wären ein schönes Paar. Und mit einemmal war ihm klar, was er ändern musste. Es durfte nicht sein, dass in seiner Schöpfung die Gesetze über die Liebe bestimmten. Gut herauskommen konnte es für die Welt und ihn selbst nur, wenn die Liebe stärker war als die Gesetze.

Darum blies Gott beiden, Maria und Joseph, einen starken Hauch Liebe ins Herz. Er war so stark, dass die beiden sich über alle Hürden hinwegsetzten, einander liebten und miteinander von daheim durchbrannten, um sich bei der Volkszählung in Josephs Heimatgemeinde Bethlehem als richtiges Ehepaar registrieren zu lassen. Gott schaute zu und hatte Freude an ihnen und auch daran, dass das Mädchen alsbald ein Kind erwartete. Und erst recht freute er sich, als das Kind in Bethlehem geboren wurde. Dass es in einem Stall geschah, fand er sehr passend; er beschloss: «Dieses Kind soll mein Botschafter der Liebe für die Welt werden und ihr sagen, dass ich die Schöpfung umbaue. Nicht mehr Gesetze werden ihre Grundlage sein, sondern die Liebe.» Und Gott schickte einen Stern nach Bethlehem, dass er über dem Stall leuchte, wo sein Botschafter zur Welt gekommen war.

Seither ist Gott dabei, die Schöpfung nach seinem neuen Plan der Liebe umzubauen. Vorläufig muss er selbst noch im Himmel ausharren und darüber wachen, dass wir die Gesetze beachten, damit uns die Welt nicht über dem Kopf zusammenbricht. Wenn aber der Umbau fertig ist, dann zieht Gott selbst aus dem Himmel aus und nimmt Wohnsitz in der Welt mitten unter uns, und wir werden fröhlich miteinander leben wie eine große Familie. Denn dann wird die Welt der Himmel sein.

Vom Vierundzwanzigsten auf
den Fünfundzwanzigsten

Der Mann stand, hinter einem Busch gut versteckt, dem Haus gegenüber. Er war ganz in Schwarz gekleidet. Er schaute auf die Ausfahrt, den Garten, das Haus. Es war später Nachmittag, der vierundzwanzigste Dezember.

Der Besitzer des Hauses war vor einer Stunde heimgekommen. Der schwarzgekleidete Mann hatte ihn gesehen, weiter unten in der Straße stehend. Jetzt sah er, wie der Besitzer aus der Haustür kam, sportlich gekleidet, einen Koffer in beiden Händen. Er ging zum Wagen und legte die Koffer hinein. Hinter ihm stand der Italiener mit Skiern. Der Besitzer schnallte die Skier am Träger auf dem Dach des Wagens fest. Zuletzt brachte der Italiener einen kleinen Tannenbaum. Der Besitzer band den Tannenbaum auf die Skier. Die Frau kam heraus, auch sie sportlich angezogen. Die beiden stiegen ein. Der Italiener winkte. Unter der Haustür stand die Frau des Italieners und winkte auch. Der schwarzgekleidete Mann sah, wie der Besitzer mit seiner Frau die Straße hinunterfuhr und wie der Italiener und seine Frau wieder in dem Haus verschwanden.

Damit hatte er nicht gerechnet. Er war davon ausgegangen, dass der Italiener und seine Frau über die Festtage nach Hause fahren würden und dass das Haus leer stünde. Er blieb unschlüssig in seinem Versteck. Es begann zu dämmern. Er sah, wie in dem Haus Lichter angingen. Nach einer Weile erloschen sie wieder. Die Haustür ging auf. Der Italiener kam heraus. Er trug einen kleinen Koffer. Hinter ihm kam seine Frau. Sie verschloss sorgfältig die Tür. Der Italiener und seine Frau gingen um das Haus herum. Der schwarzgekleidete Mann hörte, wie hinter dem Haus ein Wagen gestartet wurde. In einem kleinen Fiat fuhren der Italiener und seine Frau die Straße hinunter. Der schwarzgekleidete Mann schaute ihnen nach. Er lächelte. Er würde ungestört sein und seine Ruhe haben.

Er wartete, bis es noch dunkler war. Aus einigen Fenstern leuchteten schon Kerzen von Weihnachtsbäumen. Der schwarzgekleidete Mann überquerte die Straße. Kein Mensch war zu sehen. Er hörte einen abgerissenen Fetzen des Liedes «Stille Nacht, heilige Nacht» aus einem geöffneten Fenster. Das Fenster wurde schnell wieder geschlossen.

Der schwarzgekleidete Mann betrat den Garten. Er ging zur Rückseite des Hauses. In der rechten Tasche des schwarzen Regenmantels hielt er den Glasschneider. In der linken Tasche fühlte er das kurze, mit Stoff umwickelte Stück Eisenrohr.

Ohne den Mantel auszuziehen, kletterte der schwarzgekleidete Mann auf den Balkon des ersten Stockwerks. Oben nahm er den Glasschneider aus der Manteltasche, ritzte auf der Höhe der Klinke eine halbmondförmige Linie in das Glas der Balkontür und schlug das Stück Glas mit dem Eisenrohr ein. Es klirrte nicht, als es innen auf den Boden fiel. Es musste ein Teppich im Zimmer liegen.

Der schwarzgekleidete Mann streckte die Hand durch die Öffnung im Glas, drehte den innen steckenden Schlüssel, öffnete die Tür und ging hinein. Da es dunkel war, trat er auf das herausgeschnittene Stück Glas. Es zerbrach knirschend.

Das Haus war gut geheizt. Erst jetzt merkte der schwarzgekleidete Mann, dass er gefroren hatte. Er rieb die Hände und machte ruckartige Bewegungen mit den Schultern. Dann zog er die schwarzen Handschuhe wieder an. Er holte eine Taschenlampe aus der Hosentasche und begann, von einem Zimmer des Hauses zum andern zu gehen. Er nahm noch nichts weg. Er wollte sich zuerst umsehen. Er hatte Zeit.

Als er alles gesehen hatte, ging er in die Küche. Er öffnete den Kühlschrank und nahm eine angeschnittene Salami heraus. Er suchte das Brot und fand es. Beides trug er ins Wohnzimmer. Im Esszimmer stand eine Flasche Bordeaux auf der Anrichte. Er nahm sie mit und holte ein Glas. Er setzte sich in einen der tiefen Sessel, öffnete die Flasche, trank und aß von der Salami und dem Brot. Es wurde ihm warm. Der Wein floss wie ein warmer Strom durch ihn hindurch. Der schwarzgekleidete Mann wurde schläfrig. Er lehnte den Kopf zurück. Er konnte es sich leisten, ein wenig zu schlafen.

Er erwachte von den Stimmen und dem Licht. Sie lachten. Sie redeten italienisch durcheinander. Sie standen um ihn herum. Es mussten viele sein. Den Italiener kannte er vom Sehen.

«Was du hier machen?», fragte der Italiener. «Einbrechen?» Der schwarzgekleidete Mann zuckte mit den Schultern. «Bon Natale», rief eine weibliche Stimme im Hintergrund. Gläser klirrten gegeneinander. Einer brachte gefüllte Gläser. Er gab eines dem Italiener und eines auch dem schwarzgekleideten Mann. «Buon Natale», rief er und lachte. Eine Frauenstimme begann ein Weihnachtslied zu singen.

«Va bene, Buon Natale», sagte der Italiener und machte eine wegwerfende Bewegung. «Wir glücklich. Meine Frau heute hat bekommen eine figlio. Eine Sohn. Du verstehen?» Er stieß mit dem schwarzgekleideten Mann an. Als es niemand sah, zog dieser die schwarzen Handschuhe aus und stopfte sie in die Manteltaschen. Sie tranken. Später aßen sie Spaghetti, die die Frauen gekocht hatten. Der schwarzgekleidete Mann saß beim Essen wie ein Freund zwischen den Freunden des Italieners. Alle aßen, tranken, dann sangen sie Weihnachtslieder und andere Lieder und tranken wieder. Sie feierten, bis es dämmerte.

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