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Ghost Flight - Jagd durch den Dschungel

hier erhältlich:

Will Jaeger, Ex-Elitesoldat und Gründer von Enduro Adventures, erhält den Auftrag seines Lebens: Für eine TV-Show soll er mit einer Gruppe von Kandidaten ein mysteriöses Flugzeugwrack aus dem 2. Weltkrieg im brasilianischen Dschungel bergen. Doch bei den Vorbereitungen stirbt sein Freund Smithy. Die Polizei wertet den mysteriösen Tod als Unglück. Ein Symbol, das der Tote trägt, lässt Will jedoch Böses erahnen. Denn er hat es schon einmal gesehen: in den Hinterlassenschaften seines Großvaters, des legendären Nazi-Jägers …

»Das packende Thrillerdebüt von Abenteurer Bear Grylls.«
The Times

»Riesige Spinnen, tödliche Piranhas, böse Nazis und der Tod hinter jeder Ecke. Was will man mehr?«
Buzz Magazine

»Mit Ghost Flight gelingt Bear Grylls ein überzeugender Start einer Roman-Reihe um Ex-Elitesoldat Will Jaeger. Ein Roman, der gekonnt Spannung, Action und politisches Weltgeschehenverknüpft und damit von der ersten Seite an fesselt.«
wewantmedia.de


  • Erscheinungstag: 03.04.2018
  • Aus der Serie: Will Jaeger
  • Bandnummer: 1
  • Seitenanzahl: 560
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959677547
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dieses Buch ist meinem verstorbenen Großvater gewidmet,
Brigadegeneral William Edward Harvey Grylls, Order of the British Empire,
15/19th King’s Royal Hussars und
befehlshabender Offizier der Target Force.

Von uns gegangen, aber nicht vergessen.

ANMERKUNGEN DES AUTORS

Mein Großvater, Brigadier William Edward Harvey Grylls, Order of the British Empire, 15/19th King’s Royal Hussars – und befehlshabender Offizier der Target Force, der verdeckt operierenden Kampfeinheit, die kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs von Winston Churchill gegründet wurde. Die Einheit war einer der geheimsten Einsatzverbände, die je vom Kriegsministerium zusammengestellt wurden, und sie wurde fast ausschließlich damit beauftragt, geheime Technologien, Waffen, Wissenschaftler und hochrangige Nazi-Offiziere aufzuspüren und zu schützen, zu dem Zweck, die Alliierten im Kampf gegen die neue Supermacht der Welt, den neuen Feind, zu unterstützen: die Sowjets.

Niemand in unserer Familie wusste irgendetwas von seiner geheimen Rolle als Befehlshaber der T-Force bis viele Jahre nach seinem Tod, als Informationen freigegeben wurden, die zuvor aufgrund der Siebzig-Jahre-Regel des Gesetzes zum Schutz von Staatsgeheimnissen verborgen waren – ein Offenlegungsprozess, der dieses Buch inspiriert hat.

Mein Großvater war ein Mann weniger Worte, aber ich erinnere mich liebevoll an ihn, aus Zeiten, als ich ein Kind war. Pfeife rauchend, mysteriös, von trockenem Witz und geliebt von jenen, die er anführte.

Für mich jedoch war er immer bloß Opa Ted.

Harper’s Magazine, Oktober 1946

TAUSENDE GEHEIMNISSE

Von C. Lester Walker

Jemand schrieb kürzlich an den Wright-Field-Luftstützpunkt und erklärte, er wüsste, dass dieses Land eine große Menge feindlicher Kriegsgeheimnisse angesammelt habe … und ob er wohl, bitte, alles über deutsche Düsentriebwerke zugeschickt bekommen könne. Die Dokumentenabteilung der Army Air Forces schrieb zurück:

»Leider nein – das wären fünfzig Tonnen.«

Hinzu kommt, dass die fünfzig Tonnen nur ein Bruchteil dessen sind, was heute die unzweifelhaft größte Sammlung beschlagnahmter feindlicher Kriegsgeheimnisse darstellt, die je zusammengetragen wurde. Falls Sie jemals an Kriegsgeheimnisse gedacht haben – und wer hat das nicht? – und glaubten, diese kämen in Zahlen von Sechs oder Sieben … dann könnte es Sie interessieren zu erfahren, dass die Kriegsgeheimnisse dieser Sammlung in die Tausende gehen; dass die Menge an Dokumenten so groß wie ein Berg ist und dass nie zuvor etwas gesehen wurde, das auch nur annähernd damit vergleichbar wäre.

Daily Mail, März 1988

DIE PAPERCLIP-VERSCHWÖRUNG

Von Tom Bower

Die Paperclip-Verschwörung war der Höhepunkt eines erstaunlichen Ringens unter den Alliierten unmittelbar nach dem Krieg, um die Beute aus Nazi-Deutschland an sich zu reißen. Nur Wochen nach Hitlers Niederlage wählten hochrangige Offiziere des Pentagon etliche als »begeisterte Nazis« eingestufte Männer aus, um aus ihnen ehrenwerte amerikanische Bürger zu machen.

Während in England ein politischer Streit Pläne verhinderte, derartig beschuldigte Deutsche zum Zwecke des wirtschaftlichen Aufschwungs anzuheuern, nahmen die Franzosen und Russen jeden auf, unabhängig ihrer Verbrechen, während die Amerikaner, durch ein Netz aus Täuschung und Hinterlist, die blutrünstigen Akten ihrer Nazi-Wissenschaftler reinwuschen.

Die technischen Fähigkeiten der Deutschen sind durch Hunderte Berichte belegt, verfasst von alliierten Ermittlern, die nicht davor zurückschreckten, die »erstaunlichen Errungenschaften« und »großartigen Erfindungen« der Deutschen zu beschreiben.

Und so ist es tatsächlich Hitler, der zuletzt lacht.

The Sunday Times, Dezember 2014

RIESIGE ANLAGE MIT »TERROR-WAFFEN« DER NAZIS IN ÖSTERREICH GEFUNDEN

Von Bojan Pancevski

In Österreich wurde ein geheimer unterirdischer Komplex entdeckt, der kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs von den Nazis errichtet wurde, vermutlich zu dem Zweck, dort Massenvernichtungswaffen zu entwickeln, darunter eine Atombombe.

Die riesige Anlage wurde letzte Woche nahe der Stadt St. Georgen an der Gusen entdeckt. Man geht davon aus, dass sie mit dem nahe gelegenen unterirdischen Produktionskomplex B8 Bergkristall verbunden ist, in welchem die Messerschmitt Me 262 produziert wurde, der erste flugfähige Düsenkampfjet, der in der Endphase des Krieges eine kurzzeitige Bedrohung für die alliierten Luftstreitkräfte darstellte. Freigegebene Geheimdienstdokumente sowie Zeugenberichte halfen dem Grabungsleiter, den verborgenen Eingang aufzuspüren.

»Dies war ein gigantischer Industriekomplex und höchstwahrscheinlich die größte geheime Waffenproduktionsanlage des ›Dritten Reichs‹«, erklärte Andreas Sulzer, ein österreichischer Dokumentarfilmer, der die Grabungen leitet.

Sulzer versammelte ein Team aus Historikern und fand weitere Beweise von Wissenschaftlern, die an dem geheimen Projekt arbeiteten, das von SS-General Hans Kammler geleitet wurde. Kammler beaufsichtigte Hitlers Raketenprogramm, zu dem auch die V2-Rakete gehörte, die am Ende des Krieges gegen London eingesetzt wurde.

Er besaß den Ruf eines brillanten, aber skrupellosen Kommandeurs, der die Blaupausen für die Gaskammern und Krematorien genehmigte, die im Vernichtungslager von Auschwitz in Südpolen zum Einsatz kamen. Es halten sich Gerüchte, dass er von den Amerikanern gefangen genommen wurde und nach dem Krieg eine neue Identität erhielt.

Sulzers Ausgrabungen wurden letzten Mittwoch von örtlichen Beamten gestoppt, da keine Genehmigung für Grabungen auf historischem Boden vorlag. Doch er bleibt zuversichtlich, die Grabungen kommenden Monat fortsetzen zu können. »Gefangene aus Konzentrationslagern in ganz Europa wurden anhand ihrer Fachkenntnisse handverlesen – Physiker, Chemiker und andere Experten –, um an diesem monströsen Projekt zu arbeiten, und wir sind es den Opfern schuldig, die Anlage endlich zugänglich zu machen und die Wahrheit zu enthüllen«, sagte Sulzer.

1

Seine Augen öffneten sich.

Langsam.

Wimper um Wimper schälte er die Lider zurück, mühevoll gegen die dicke Kruste getrockneten Blutes ankämpfend, die beide Lider miteinander verschmolzen hatte. Risse bildeten sich, nach und nach, wie berstendes Glas über blutunterlaufenen Augäpfeln. Das gleißende Licht schien seine Netzhaut zu versengen, als wäre ein Laser darauf gerichtet. Aber von wem? Wer waren die Feinde … seine Peiniger? Und wo in Gottes Namen waren sie?

Er konnte sich nicht an das Geringste erinnern.

Welcher Tag war heute? Oder welches Jahr? Wie war er hierhergekommen – wo auch immer »hier« war?

Das Sonnenlicht schmerzte höllisch, aber wenigstens konnte er langsam wieder sehen, Stück für Stück.

Der erste klare Gegenstand, den Will Jaeger erkennen konnte, war die Kakerlake. Sie trieb langsam in den Fokus; verschwommen, fremd und monströs begann sie, sein gesamtes Sichtfeld auszufüllen.

Soweit er das sagen konnte, schien sein Kopf seitlich auf dem Boden zu liegen. Beton. Bedeckt mit einer dicken bräunlichen Schlacke aus weiß Gott was. So wie sein Kopf lag, sah es aus, als käme die Kakerlake direkt auf ihn zu, als würde sie ihm direkt in die linke Augenhöhle kriechen wollen.

Das Vieh tastete mit seinen Fühlern nach ihm, verschwand im letzten Moment aus seinem Blickfeld und krabbelte direkt an seiner Nasenspitze vorbei. Und dann spürte Jaeger, wie es die Seite seines Kopfes hinaufkroch.

Die Kakerlake stoppte irgendwo neben seiner rechten Schläfe – die, die am weitesten vom Boden entfernt war und offen dalag.

Sie begann, mit ihren Vorderbeinen und Mundwerkzeugen herumzutasten.

Als würde sie etwas suchen. Etwas schmecken.

Jaeger spürte, wie sie zu kauen begann. In Haut biss. Insektenkiefer, die sich einen Weg gruben. Er nahm das zischende, hohle Klicken der gezackten Mundzangen wahr, als sie Fetzen faulenden Fleisches herausrissen. Und dann – als der Schrei lautlos über seine Lippen drang – spürte er, dass noch Dutzende weitere über seinen Körper krochen … als wäre er schon lange tot.

Jaeger rang die Wellen von Ekel nieder, während nur eine Frage durch sein Gehirn jagte: Wieso konnte er sich selbst nicht schreien hören?

Mit übermenschlicher Anstrengung bewegte er seinen rechten Arm.

Es war nur ein winziges Stück, fühlte sich jedoch an, als versuche er, die ganze Welt anzuheben. Jeden Zentimeter, den er den Arm zu heben vermochte, begleiteten sein Schultergelenk und sein Ellenbogen mit lauten Schmerzensschreien, während seine Muskeln unter der jämmerlichen Anstrengung zitterten, die er ihnen abverlangte.

Er kam sich vor wie ein Krüppel.

Was in Gottes Namen war ihm zugestoßen?

Was hatten sie ihm angetan?

Er biss die Zähne zusammen und konzentrierte sich auf die schiere Willenskraft, mit der er den Arm an den Kopf zog, die Hand zu seinem Ohr schleppte und verzweifelt darin herumtastete. Die Finger berührten … Beine. Schuppige, dürre, grausame Insektenbeine, jedes davon zuckend und pulsierend, als es versuchte, den Körper der Kakerlake tiefer in seinen Gehörgang zu schieben.

Zieh sie da raus! Zieh sie raus! Zieh sie RAAAUUUSSS!

Er verspürte den Drang, sich zu übergeben, doch da war nichts in seinen Eingeweiden. Nur ein dreckiger, trockener Film aus Beinahe-Tod, der alles bedeckte – seine Magenschleimhaut, seine Kehle, seinen Mund; selbst seine Nasenlöcher.

Oh, scheiße! Seine Nasenlöcher. Sie versuchten, auch dort in ihn hineinzukriechen!

Jaeger schrie erneut auf. Länger. Verzweifelter. Das ist keine Art zu sterben. Bitte, Gott, nicht so …

Wieder und wieder tasteten seine Finger nach seinen Körperöffnungen. Die Kakerlaken traten um sich und zischten ihm ihren Insektenzorn entgegen, als er sie gewaltsam herauszerrte.

Irgendwann begannen tröpfchenweise wieder Töne an seine Sinne zu gelangen. Als Erstes hallten seine eigenen, verzweifelten Schreie durch seine blutigen Ohren. Dann erst bemerkte er, wie sich ein weiteres Geräusch dazugesellte – etwas noch Schaurigeres als der Klang von Insekten, die fest entschlossen waren, sich an seinem Gehirn fett zu fressen.

Eine menschliche Stimme.

Kehlig. Grausam. Eine Stimme, die sich an Schmerzen weidete.

Sein Wärter.

Die Stimme ließ alles wie einen Sturzbach auf ihn zurückfluten. Black-Beach-Gefängnis. Der Knast am Ende der Welt. Ein Ort, an den Menschen geschickt wurden, um furchtbar gefoltert zu werden – und um zu sterben. Man hatte Jaeger für ein Verbrechen hier hineingeworfen, das er nie begangen hatte, auf den Befehl eines verrückten und blutrünstigen Diktators – und damit hatte der echte Horror erst begonnen.

Verglichen damit, in dieser Hölle aufzuwachen, bevorzugte Jaeger sogar den dunklen Frieden der Bewusstlosigkeit. Alles war besser als die Wochen, die er weggesperrt an diesem Ort verbracht hatte, der schlimmer war als die Verdammnis: seine Gefängniszelle. Sein Grab.

Er zwang seinen Verstand, wieder davonzugleiten, zurück zu den weichen, formlos wabernden Schatten von Grau, die ihn beschützt hatten, bevor etwas – was war es gewesen? – ihn wieder hinauf in diese unerträgliche Gegenwart geschleift hatte.

Die Bewegungen seines rechten Arms wurden schwächer und schwächer.

Er sackte wieder zu Boden.

Sollten die Kakerlaken sich an seinem Hirn gütlich tun.

Selbst das war besser.

Dann traf ihn erneut das, was ihn geweckt hatte – ein Schwall kalter Flüssigkeit im Gesicht, wie der Schlag einer Welle am Meer. Nur der Geruch war anders. Nicht das eisklare, belebende Aroma des Ozeans. Dieser Geruch war übel. Der salzig-scharfe Geruch eines Pissbeckens, das seit Jahren keinen Tropfen Reinigungsmittel mehr gesehen hatte.

Sein Foltermeister lachte erneut.

Das war ihm eine echte Freude.

Dem Gefangenen den Inhalt des Pisseimers ins Gesicht schütten – was könnte mehr Spaß bringen?

Jaeger spuckte die faulige Flüssigkeit aus. Blinzelte sie aus seinen brennenden Augen. Zumindest hatte der Stoß faulender Flüssigkeit die Kakerlaken vertrieben. Sein Verstand suchte nach den passenden Worten – den erlesensten Kraftausdrücken, die er seinem Folterer ins Gesicht schleudern konnte.

Ein Lebensbeweis. Ein Zeichen des Widerstands.

»Geh und …«, begann Jaeger zu sprechen; die Art von Beleidigung auszukrächzen, die ihm unter Garantie weitere Schläge mit dem Gummischlauch einbringen würde, den er zu fürchten gelernt hatte.

Wenn er sich jedoch nicht widersetzte, wäre er am Ende. Widerstand war alles, was er kannte.

Doch er kam nicht dazu, die Worte zu beenden. Sie gefroren ihm in der Kehle.

Mit einem Mal mischte sich eine weitere Stimme ein. Eine, die so vertraut war – so brüderlich –, dass Jaeger für einige lange Augenblicke sicher war, nur zu träumen. Die Beschwörung war zunächst leise, wurde jedoch lauter und kräftiger; ein rhythmischer Sprechgesang, auf wundersame Weise erfüllt mit der Verheißung des Unmöglichen …

»Ka mate, ka mate. Ka ora, ka ora.

Ka mate, ka mate! Ka ora, ka ora!«

Jaeger würde diese Stimme überall erkennen.

Takavesi Raffara. Wie konnte er hier sein?

Als sie Teamkameraden in der Rugbymannschaft der British Army gewesen waren, hatte Raff jedes Mal den Haka angeführt – den traditionellen Kriegstanz der Maori vor Spielbeginn. Jedes Mal. Er hatte sich das Hemd vom Leib gerissen, die Fäuste geballt und sich vorgebeugt, um Auge in Auge mit dem gegnerischen Team zu stehen. Er schlug sich die Hände gegen seine massige Brust, mit Beinen wie Baumstämme, Armen wie Rammböcke, während der Rest seines Teams – darunter auch Jaeger – ihn flankierte: furchtlos, unaufhaltsam.

Er hatte die Augen so weit aufgerissen, dass sie ihm fast aus dem Schädel fielen, mit geschwollener Zunge, das Gesicht gefroren im starren Grinsen des herausfordernden Kriegers, während er die Worte hinausgeschmettert hatte.

»KA MATE! KA MATE! KA ORA! KA ORA!« Werde ich sterben? Werde ich sterben? Werde ich leben? Werde ich leben?

Raff hatte sich als ebenso unerbittlich erwiesen, wenn man Schulter an Schulter neben ihm auf dem Schlachtfeld stand. Der ultimative Kampfgefährte. Als Maori geboren und vom Schicksal zum Royal Marines Commando bestimmt, hatte er gemeinsam mit Jaeger in allen vier Winkeln der Erde als Soldat gedient, und er war einer seiner engsten Brüder.

Jaeger schwenkte seine Augen nach rechts, in die Richtung, aus der der Gesang kam.

Am Rande seines Sichtfeldes konnte er mit Mühe eine Person erkennen. Riesig, sodass selbst die Gefängniswärter dagegen klein wirkten. Lächelnd wie ein Strahl puren Sonnenlichts, das nach einem düsteren, scheinbar endlosen Sturm durch die Wolken bricht.

»Raff?« Das einzelne Wort klang brüchig, untermalt von kaum verhohlenem Unglauben.

»Ja. Ich bin’s.« Dieses Lächeln. »Hab dich schon in schlimmerem Zustand gesehen, Kumpel. Zum Beispiel damals, als ich dich aus der Bar in Amsterdam geschleift hab. Trotzdem besser, wenn wir dich etwas rausputzen. Ich bin hier, um dich abzuholen, Kumpel. Wir schaffen dich hier raus und fliegen mit der British Airways nach London – erster Klasse.«

Jaeger antwortete nicht. Was sollte er schon sagen? Wie konnte Raff hier sein, an diesem Ort, scheinbar zum Greifen nah?

»Wir verschwinden jetzt besser«, drängelte Raff. »Bevor dein Freund Major Mojo hier es sich anders überlegt.«

»Yah, Bob Marley!« Jaegers Folterer rang sich eine falsche Heiterkeit hinter bösartig zusammengekniffenen Augen ab. »Bob Marley – du bist ’n echter Komiker, Mann.«

Raff grinste von Ohr zu Ohr.

Er war der einzige Mann, den Jaeger je getroffen hatte, der jemanden mit einem Blick anlächeln konnte, der einem das Blut gefrieren ließ. Der Vergleich mit Bob Marley musste sich auf Raffs Haare beziehen – er trug sie lang, in Zöpfen, wie es bei den Maori Tradition war. Und wie schon viele Männer auf dem Rugbyfeld hatten lernen müssen, reagierte Raff nicht besonders gut darauf, wenn man seiner Frisurenwahl keinen Respekt entgegenbrachte.

»Schließen Sie die Zelle auf«, gab Raff knirschend zurück. »Mein Freund Mr. Jaeger und ich – wir reisen ab.«

2

Der Jeep entfernte sich vom Black-Beach-Gefängnis, Raffs massige Gestalt über das Lenkrad gebeugt. Er reichte Jaeger eine Flasche Wasser.

»Trink.« Er zeigte mit dem Daumen auf den Rücksitz. »In der Kühlbox ist noch mehr. Trink so viel davon, wie du kannst. Du bist dehydriert, und wir haben einen höllischen Tag vor uns.«

Raff versank in Schweigen, in Gedanken bei der Reise, die vor ihnen lag.

Jaeger unterbrach die Stille nicht.

Nach mehreren Wochen im Gefängnis war sein Körper eine einzige brennende Wunde. Jedes Gelenk schrie vor Schmerz. Es schien, als wäre ein halbes Leben vergangen, seit man ihn in diese Zelle geworfen hatte; seit er in einem Fahrzeug irgendwohin gefahren war; seit sein Körper der vollen Wucht von Biokos tropischer Sonne ausgesetzt gewesen war.

Bei jedem Stoß des Fahrzeugs verzog er vor Schmerz das Gesicht. Sie folgten der Küstenstraße – ein schmaler Streifen Asphalt, der nach Malabo führte, Biokos einziger größerer Stadt. Es gab ausnehmend wenig gepflasterte Straßen in dem winzigen afrikanischen Inselstaat. Der Ölreichtum diente zum größten Teil der Finanzierung eines neuen Palasts für den Präsidenten oder einem Neuzugang für seine Flotte riesiger Jachten oder der Fütterung seiner Schweizer Bankkonten.

Raff deutete auf das Handschuhfach. »Da drin liegt eine Sonnenbrille, Kumpel. Du siehst aus, als hättest du zu kämpfen.«

»Ist ’ne Weile her, dass ich die Sonne gesehen habe.«

Jaeger öffnete das Fach und holte etwas heraus, das wie ein Modell von Oakley aussah. Er musterte es einen Augenblick. »Eine Kopie? Du warst schon immer ein verdammter Geizkragen.«

Raff lachte. »Wer wagt, gewinnt.«

Jaeger ließ ein Lächeln auf sein geschundenes Gesicht kriechen. Es tat höllisch weh und fühlte sich an, als hätte er sein ganzes Leben lang noch nie gelächelt. Als würde das Lächeln sein Gesicht in zwei Hälften reißen.

Während der vergangenen Wochen hatte Jaeger sich an den Gedanken gewöhnt, dass er nie wieder aus dieser Gefängniszelle herauskommen würde. Niemand, der etwas hätte ändern können, wusste auch nur, dass er dort war. Er war sich sicher gewesen, dass er in Black Beach sterben würde, unsichtbar und vergessen, und dass man ihn, wie so viele Leichen vor ihm, zu den Haien werfen würde.

Er konnte es noch immer nicht ganz fassen – er war am Leben und frei.

Sein Gefängniswärter hatte ihn durch den schattigen Keller hinausgeführt, der die Folternischen beherbergte. Er hatte ihn wortlos an blutbefleckten Wänden vorbeigeführt. An dem Ort, an dem der Müll abgeladen wurde, inklusive der Körper derjenigen, die in ihren Zellen gestorben waren und darauf warteten, ins Meer geworfen zu werden.

Jaeger konnte sich nicht vorstellen, was für einen Deal Raff gemacht hatte, um ihn dort rauszuholen.

Niemand entkam aus dem Black-Beach-Gefängnis.

Niemals.

»Wie hast du mich gefunden?« Jaeger ließ die Frage wuchtig in die Stille fallen.

Raff zuckte die Achseln. »War nicht einfach. Wir waren zu mehreren dran: Feaney, Carson, ich.« Er lachte. »Freust du dich, dass wir uns die Mühe gemacht haben?«

Jaeger zuckte ebenfalls die Achseln. »Major Mojo und ich haben uns gerade näher kennengelernt. Netter Typ. Die Sorte Mann, die man sich für seine Schwester wünscht.« Er warf dem großen Maori einen Blick zu. »Aber wie hast du mich gefunden? Und warum …«

»Immer für dich da, Kamerad. Plus …«, ein Schatten fiel über Raffs Miene. »Du wirst in London gebraucht. Ein Auftrag. Für uns beide.«

»Was für ein Auftrag?«

Raffs Ausdruck verfinsterte sich noch mehr. »Ich erzähle dir alles, wenn wir hier raus sind – denn vorher gibt’s keinen Auftrag.«

Jaeger nahm einen großen Schluck Wasser. Kühles, klares Wasser aus der Flasche – es schmeckte wie süßer Nektar verglichen mit dem, wovon er in Black Beach hatte leben müssen.

»Also, was passiert jetzt? Du hast mich aus Black Beach rausgeholt. Das bedeutet nicht, dass wir von der Hölleninsel runter sind. So nennen sie die hier in der Gegend.«

»Ja, hab ich gehört. Der Deal, den ich mit Major Mojo geschlossen habe, sieht vor, dass er seine dritte Zahlung erhält, sobald du und ich im Flieger nach London sitzen. Allerdings werden wir nicht in diesem Flugzeug sitzen. Am Flughafen wird er versuchen, sich uns zu schnappen. Er wird ein Empfangskomitee bereitstellen. Er wird behaupten, dass ich dir geholfen hätte, aus Black Beach zu entkommen, und dass er uns wieder eingefangen hat. So hat er zwei Mal Zahltag – einmal von uns und einmal vom Präsidenten.«

Jaeger erschauerte. Es war der Präsident von Bioko gewesen – Honore Chambara –, der seine Festnahme angeordnet hatte. Etwa vor einem Monat hatte es einen Staatsstreich gegeben. Söldner hatten die andere Hälfte von Äquatorialguinea eingenommen – dem Land, dessen Inselhauptstadt Bioko war –, die Hälfte, die auf der anderen Seite des Ozeans lag und Teil des afrikanischen Festlandes war.

Als Reaktion hatte Präsident Chambara alle Ausländer auf Bioko zusammengetrieben – was nicht viele waren. Jaeger war einer davon gewesen, und die Durchsuchung seiner Hütte hatte einige seiner Erinnerungsstücke aus seiner Zeit als Soldat zutage gefördert.

Sobald Chambara davon erfahren hatte, war er überzeugt davon gewesen, dass Jaeger in den Putsch verwickelt gewesen sein musste. Der Insider. Was er nicht war. Er war aus einer Reihe ganz anderer – und harmloser – Gründe hier auf Bioko, aber Chambara ließ sich nicht davon überzeugen. Auf Befehl des Präsidenten hatte man Jaeger ins Black-Beach-Gefängnis geworfen, wo Major Mojo sein Bestes gegeben hatte, um ihn zu brechen. Ihn dazu zu zwingen, zu gestehen.

Jaeger setzte die Sonnenbrille auf. »Du hast recht – wir kommen hier nie über den Flughafen raus. Hast du einen Plan B?«

Raff warf ihm einen Blick zu. »Ich hab gehört, du hättest hier als Lehrer gearbeitet. Als Englischlehrer. In einem Dorf an der Nordspitze der Insel. Ich habe es besucht. Eine Gruppe Fischer dort ist der Meinung, dass du das Beste bist, das je auf der Hölleninsel passiert ist. Hast ihren Kindern Lesen und Schreiben beigebracht. Mehr als Präsident Chugga je getan hat.« Er machte eine Pause. »Sie haben ein Kanu vorbereitet, damit wir es nach Nigeria schaffen.«

Jaeger dachte einen Augenblick darüber nach. Er hatte knapp drei Jahre auf Bioko verbracht und die örtlichen Fischergemeinden gut kennengelernt. Ein Trip durch den Golf von Guinea im Kanu – das war machbar. Unter Umständen.

»Das sind ungefähr dreißig Kilometer«, sagte er. »Die Fischer machen das von Zeit zu Zeit – wenn das Wetter ruhig ist. Hast du eine Karte?«

Raff deutete auf eine kleine Reisetasche zu Jaegers Füßen. Jaeger griff danach, was schmerzte, und wühlte durch den Inhalt. Er fand die Karte, faltete sie auseinander und sondierte die Lage. Bioko lag in der Beuge Afrikas – eine winzige Insel voller Dschungel, weniger als hundert Kilometer lang und knapp fünfzig Kilometer breit.

Das nächstgelegene afrikanische Land war Kamerun im Nordwesten und Nigeria noch weiter im Westen. Knappe zweihundert Kilometer weiter südlich lag das, was bis vor Kurzem die andere Hälfte von Präsident Chambaras Herrschaftsbereich gewesen war – der Festlandteil von Äquatorialguinea –, bevor die Putschisten es in Besitz genommen hatten.

»Kamerun ist dichter«, stellte Jaeger fest.

»Kamerun? Nigeria?« Raff zuckte mit den Achseln. »Im Augenblick ist es überall besser als hier.«

»Wie lange bis zur Dämmerung?«, erkundigte sich Jaeger. Er hatte seine Uhr an Chambaras Schläger verloren, lange bevor man ihn in seine Zelle in Black Beach geschleift hatte. »Im Schutz der Dunkelheit könnten wir es vielleicht schaffen.«

»Sechs Stunden. Ich gebe dir maximal eine Stunde im Hotel. Du wirst dir die ganze Scheiße abschrubben und Wasser schlucken, denn du wirst es auf keinen Fall schaffen, solange du dehydriert bist. Wie ich sagte, es wird noch ein langer Tag.«

»Weiß Mojo, in welchem Hotel du abgestiegen bist?«

Raff schnaubte. »Hat keinen Sinn, es zu verheimlichen. Auf einer Insel dieser Größe – da kennt jeder jeden. Jetzt, wo ich das sage – ein bisschen wie bei uns zu Hause …« Seine Zähne funkelten im Sonnenlicht. »Mojo wird uns keine Schwierigkeiten machen – nicht in den nächsten Stunden. Er wird sichergehen, dass das Geld angekommen ist – und bis dahin sind wir längst verschwunden.«

Jaeger trank aus der Wasserflasche und zwang sich Schluck um Schluck die ausgedörrte Kehle hinab. Das Problem war: Sein Magen war auf die Größe einer Walnuss geschrumpft. Wenn man ihn nicht zu Tode geprügelt und gefoltert hätte, hätte ihn der Hunger bald erledigt, so viel stand fest.

»Lehrer.« Raff grinste verschwörerisch. »Also, was hast du wirklich ausgeheckt?«

»Ich hab Kinder was gelehrt.«

»Na klar. Lehrer für Kinder. Und du hast nicht das Geringste mit dem Putsch zu schaffen?«

»Präsident Chugga hat nicht aufgehört, mir dieselbe Frage zu stellen. Zwischen den Schlägen. Er könnte einen Mann wie dich gebrauchen.«

»Okay, du hast Kindern was beigebracht. Englisch. In einem Fischerdorf.«

»Ich hab Kindern was beigebracht.« Jaeger schaute aus dem Fenster. Das Lächeln war komplett von seinem Gesicht verschwunden. »Und wenn du es wissen musst: Ich brauchte einen Ort, an dem ich mich verstecken konnte. Bioko – das Arschloch am Ende des Universums. Ich hätte nie gedacht, dass mich irgendjemand hier findet.« Er machte eine Pause. »Hab mich wohl geirrt.«

Der Boxenstopp im Hotel tat Jaeger mehr als gut. Er hatte geduscht. Drei Mal. Beim dritten Mal war das Wasser, das kreiselnd im Abfluss verschwand, sogar sauber gewesen.

Er hatte sich eine Ladung Rehydrations-Salze reingezwungen. Er hatte sich den Bart gestutzt – nach fünf Wochen –, war aber nicht so weit gegangen, sich zu rasieren. Dafür war keine Zeit gewesen.

Und er hatte sich auf Schäden untersucht. Wundersamerweise schienen es nicht viele zu sein. Er war achtunddreißig und hatte sich auf der Insel fit gehalten. Davor hatte er ein Jahrzehnt in einer Eliteeinheit des Militärs gedient. Er war also am Gipfel der körperlichen Leistungsfähigkeit gewesen, als sie ihn in seine Zelle geworfen hatten. Vielleicht war das der Grund, dass er relativ unbeschadet aus dem Black Beach herausgekommen war.

Er schätzte, dass er ein paar Brüche in den Fingern hatte. Dasselbe in den Zehen.

Nichts, das nicht heilen würde.

Ein schneller Kleiderwechsel, und er saß wieder neben Raff im SUV, der in östlicher Richtung aus Malabo herausfuhr, in den dichten, tropischen Busch. Zunächst fuhr er über das Lenkrad gebeugt wie eine Oma, mit höchstens fünfzig Kilometer pro Stunde. So überprüfte er, ob ihnen jemand folgte. Die wenigen Bewohner Biokos, die das Glück hatten, ein Auto zu besitzen, fuhren alle wie der sprichwörtliche Henker.

Hätte ein Fahrzeug an ihnen drangeklebt, wäre es auf eine Meile aufgefallen.

Als sie auf den winzigen Feldweg einbogen, der sich in Richtung Nordostküste wandte, war klar, dass ihnen niemand folgte.

Major Mojo schien fest davon überzeugt zu sein, dass sie über den Flughafen verschwinden würden. Theoretisch gab es keinen anderen Weg von der Insel – nicht, solange man sein Glück nicht bei den tropischen Stürmen und gierigen Haien herausfordern wollte, die Bioko umkreisten.

Und es gab nur sehr wenige, die das je taten.

3

Ibrahim machte eine Geste in Richtung des Strandes vor dem Dorf Fernao. Seine Hütte stand dicht genug, dass das Rauschen der Wellen durch die dünnen Lehmwände drang.

»Wir haben ein Kanu vorbereitet. Es ist mit Wasser ausgestattet und Nahrung.« Der Dorfälteste machte eine Pause und berührte Jaegers Schulter. »Wir werden Sie niemals vergessen, vor allem nicht die Kinder.«

»Vielen Dank«, antwortete Jaeger. »Ich auch nicht. Ihr habt mich alle auf mehr Arten gerettet, als ich ausdrücken könnte.«

Der Anführer warf einen kurzen Blick auf jemanden, der neben ihm stand – ein junger, drahtig-muskulöser Mann. »Mein Sohn ist einer der besten Seeleute in ganz Bioko … Sie sind sicher, dass Sie sich nicht von ihm hinüberbringen lassen möchten? Sie wissen, dass er das mit Freuden tun würde.«

Jaeger schüttelte den Kopf. »Wenn Präsident Chambara erfährt, dass ich entkommen bin, wird er sich auf jede Art rächen, auf die er es kann. Ihm wird alles als Ausrede dienen. Wir verabschieden uns hier. Es geht nicht anders.«

Der Anführer stand auf. »Es waren drei gute Jahre, William. Inschallah, Sie werden es über den Golf schaffen und von dort in Ihre Heimat. Und eines Tages, wenn der Fluch von Chambara ein Ende hat, Inschallah, werden Sie zurückkehren und uns besuchen.«

»Inschallah«, gab Jaeger zurück. Er und der Anführer gaben sich die Hand. »Das wäre schön.«

Jaeger betrachtete eine Weile die Reihe der Gesichter, die die Hütte umkreisten. Kinder. Staubig, abgewetzt, halb nackt – aber glücklich. Vielleicht war es das, was diese Kinder ihn gelehrt hatten – die Bedeutung des Glücklichseins.

Sein Blick kehrte zum Anführer zurück. »Erzählen Sie ihnen, weshalb ich gehen musste, aber erst, wenn wir wirklich fort sind.«

Der Anführer lächelte. »Das werde ich. Und jetzt geht. Sie haben hier viel Gutes bewirkt. Gehen Sie in diesem Wissen, und mit Leichtigkeit in Ihrem Herzen.«

Jaeger und Raff machten sich auf in Richtung Strand. Sie liefen im Schutz der dichtesten Gruppen von Palmen. Je weniger Leute sahen, wie sie flohen, desto weniger gerieten in Gefahr, Opfer irgendeiner Vergeltung zu werden.

Es war Raff, der das Schweigen unterbrach. Er konnte sehen, wie schwer es seinem Freund fiel, seine kleinen Schützlinge zurückzulassen.

»Inschallah?«, fragte er. »Die Dorfbewohner hier sind Moslems?«

»Ja, das sind sie. Und weißt du was? Es sind einige der gutherzigsten Menschen, die ich je getroffen habe.«

Raff musterte ihn. »Drei Jahre allein auf Bioko Island, und leck mich am Arsch, die alte Jaeger-Bombe ist weich geworden.«

Jaeger ließ ein gequältes Lächeln aufblitzen. Vielleicht hatte Raff recht. Vielleicht war er das.

Sie näherten sich dem makellos weißen Strand, als jemand herangelaufen kam und sie einholte. Schwer nach Luft keuchend, barfüßig, mit nacktem Oberkörper und mit nichts bekleidet als einer zerschlissenen Jeans, kam ein höchstens achtjähriger Junge neben ihnen zum Stehen. Der Ausdruck auf seinem Gesicht war Panik am Rande des Entsetzens.

»Sir, Sir!« Er griff nach Jaegers Hand. »Sie kommen. Die Männer von Präsident Chambara. Mein Vater – jemand hat eine Warnung gefunkt. Sie kommen! Um Sie zu finden! Um Sie zurückzubringen!«

Jaeger ging in die Hocke, bis er auf Augenhöhe mit dem Jungen war. »Little Mo, hör mir zu: Niemand wird mich zurückbringen.« Er nahm sich die gefälschte Oakley ab und drückte sie dem Kind in die Hand. Dann zerzauste er dem Jungen das staubige, drahtige Haar. »Zeig mal, wie du damit aussiehst«, drängte er.

Little Mo setzte sich die Sonnenbrille auf die Nase. Sie war so groß, dass er sie mit den Händen festhalten musste.

Jaeger grinste. »Dude! Du siehst fantastisch aus! Aber versteck sie gut – wenigstens bis Chambaras Männer weg sind.« Er machte eine Pause. »Jetzt lauf. Renn zurück zu deinem Vater. Bleib im Haus. Und Mo, sag ihm von mir – danke für die Warnung.«

Der Junge umarmte Jaeger ein letztes Mal, voller Zögern angesichts ihres Abschieds, bevor er davonflitzte, während ihm Tränen in den Augen brannten.

Jaeger und Raff sanken in den Schutz des nahe gelegenen Buschs. Sie hockten sich hin, so dicht beieinander, dass sie flüstern konnten. Jaeger griff nach Raffs Handgelenk, um kurz auf die Uhr zu schauen.

»Noch knapp zwei Stunden bis zur Dunkelheit«, murmelte er. »Zwei Möglichkeiten. Erstens: Wir versuchen es jetzt, im vollen Tageslicht. Zweitens: Wir bleiben versteckt und schleichen uns bei Einbruch der Dunkelheit davon. So wie ich Chambara kenne, wird er seine schnellen Patrouillenboote rausschicken, die den Ozean absuchen, zusätzlich zu den Männern, die er direkt ins Dorf schickt. Es sind höchstens vierzig Minuten mit dem Boot von Malabo. Wir werden gerade erst nasse Füße haben, wenn sie uns am Strand umzingeln. Was bedeutet: keine Wahl. Wir warten auf die Dunkelheit.«

Raff nickte. »Kumpel, du bist seit drei Jahren hier. Du kennst die örtlichen Gegebenheiten. Aber wir brauchen ein Versteck, in dem niemand auch nur auf die Idee kommt, nach uns zu suchen.«

Sein Blick suchte die Umgebung ab und kam auf der dunklen, brütenden Vegetation zum Ruhen, die am anderen Ende des Strands lag. »Mangrovensumpf. Schlangen, Krokodile, Moskitos, Skorpione, Blutegel und hüfttiefer, nach Scheiße stinkender Schlamm. Der letzte Ort, an dem irgendein vernünftiger Mensch sich je würde verstecken wollen.«

Raff kramte tief in seiner Tasche und zog ein markant aussehendes Messer hervor. Er reichte es Jaeger. »Halte es bereit. Nur für den Fall.«

Jaeger zog es aus dem Futteral und glitt mit dem Daumen über die zwölf Zentimeter lange Klinge, um ihre Schärfe zu testen. »Noch ’ne Fälschung?«

Raff sah ihn finster an. »Bei Waffen gibt’s für mich keine halben Sachen.«

»Nun dann, Chambaras Männer sind unterwegs«, grübelte Jaeger laut, »zweifellos, um uns zurück nach Black Beach zu schleifen. Und wir haben nur eine Klinge zwischen uns und …«

Raff zog eine zweite, identische Klinge hervor. »Glaub mir: Dass ich auch nur diese beiden durch Biokos Flughafen bekommen habe, gleicht einem Wunder.«

Jaeger lächelte freudlos. »Okay, eine Klinge für jeden: Wir sind unaufhaltsam.«

Die zwei Männer liefen geduckt durch das Palmenwäldchen auf das Sumpfland zu.

Von außen betrachtet wirkte das Labyrinth aus verflochtenen Wurzeln und Zweigen undurchdringlich. Unverdrossen ließ Raff sich auf den Boden fallen und schlängelte sich bäuchlings voran. Er schlüpfte durch unmögliche Lücken, während ihm unsichtbare Sumpfbewohner aus dem Weg krochen und krabbelten. Er hielt nicht an, bis er gute zwanzig Meter in den Sumpf vorgedrungen war. Jaeger folgte ihm dichtauf.

Das Letzte, was Jaeger am Strand getan hatte, war, sich ein paar alte Palmwedel zu schnappen und rückwärts über den Sand zu laufen, während er damit ihre Spuren verwischte. Als er sich tief in die Mangroven hineingewunden hatte, waren die letzten Hinweise darauf, dass sie sich hier versteckten, weggewischt.

Die beiden Männer sanken tiefer in den übel riechenden schwarzen Schlamm, der den Grund des Sumpfes bildete. Als sie fertig waren, ragten bloß noch ihre Köpfe heraus, und selbst die waren mit einem dicken Film Schlick und Schmutz überzogen. Das Einzige, was sie von ihrer Umgebung abhob, war das Weiß ihrer Augen.

Jaeger konnte spüren, wie die dunkle Oberfläche des Sumpfes um ihn herum vor Leben brodelte und kochte. »Da krieg ich glatt Heimweh nach Black Beach«, stieß er leise aus.

Raff grunzte zustimmend. Nur das Aufblitzen seiner Zähne verriet seine Position.

Jaegers Blick wanderte über das Flechtwerk aus Holz, das eine dicht geknüpfte Kathedrale über ihren Köpfen formte. Selbst die größte Mangrove war nicht dicker als ein Handgelenk und stieg kaum sieben Meter in die Höhe. Aber wo die Wurzeln aus dem Wasser ragten und täglich von den Gezeiten abgespült wurden, wuchsen sie gute zwei Meter und mehr pfeilgerade nach oben.

Raff nahm eine davon in die Hand und sägte sie mit der gezackten Seite seines Messers auf Höhe des Bodens durch. Er setzte einen zweiten Schnitt an, etwa einen Meter höher, und reichte Jaeger das Stück Holz.

Jaeger warf ihm einen fragenden Blick zu.

»Krav Maga«, brummte Raff. »Stockkampf mit Corporal Carter. Klingelt da was?«

Jaeger lächelte. Wie könnte er das vergessen?

Er nahm sein Messer und begann, ein Ende des harten, stabilen Holzes anzuspitzen.

Nach und nach nahm ein spitzer, kurzer Speer Form an.

Corporal Carter war ihr Ausbilder in Waffenkunst gewesen, ganz zu schweigen vom Nahkampf. Er und Raff hatten Jaegers Einheit in Krav Maga ausgebildet, eine Hybrid-Kampfkunst, die in Israel entwickelt worden war. Eine Mischung aus Kung Fu und brutalem Straßenkampf, die einem zeigte, wie man in echten Kampfsituationen überlebte.

Anders als die meisten Martial-Arts-Techniken ging es bei Krav Maga darum, den Kampf möglichst schnell zu beenden, indem man seinem Gegner maximalen Schaden zufügte. »Gezielten Ganzkörperschaden«, hatte Carter das stets genannt: Schaden, der den Zweck hatte, tödlich zu sein. Es gab keine Regeln, und alle Bewegungen zielten darauf ab, die verletzlichsten Stellen des Körpers zu treffen: die Augen, Nase, Hals, Schritt und Knie. Und zwar mit aller Kraft.

Die goldenen Regeln des Krav Maga waren Schnelligkeit, Aggressivität und Überraschung. Und dass man als Erster zuschlug und improvisierte Waffen nutzte. Man kämpfte mit allem, was man in die Hände bekam: Holzplanken, Eisenstangen, sogar zerbrochene Flaschen.

Oder ein angespitzter Holzpfahl, geschnitzt aus einer Mangrovenwurzel.

Chambaras Männer erschienen kurz vor der Dämmerung.

Es waren zwei Dutzend von ihnen in einem Lastwagen. Sie liefen ans andere Ende des Strands und schwärmten aus, um ihn einmal der Länge nach abzusuchen. Sie hielten an jedem der Einbaum-Kanus und drehten es um, als erwarteten sie, dass ihre Beute sich unter einem davon versteckte.

Es war der offensichtliche Ort, um genau das zu tun, weshalb es absolut keine Wahl für Jaeger und Raff gewesen war.

Die Soldaten der Bioko-Armee feuerten wahllos aus ihren G3-Sturmgewehren und jagten Löcher in etliche der Boote. Aber es gab wenig System in ihrem Vorgehen, und Jaeger merkte sich genau, welche Kanus keine Kugeln abbekommen hatten.

Die Soldaten brauchten nicht lange, um das Kanu zu finden, das mit Vorräten vollgepackt war. Befehle wurden über den Strand gerufen. Zwei Soldaten in Tarnkleidung liefen ins Dorf und kehrten eine Minute später mit einer winzigen Gestalt über der Schulter zurück. Sie wurde in den Sand zu Füßen des Kommandanten geworfen.

Jaeger kannte den Kommandanten, einen großen, übergewichtigen Mann, von einem seiner vielen Besuche in Black Beach, wo er die Befragungen und Folterungen überwacht hatte.

Der Kommandant trat der mit dem Gesicht nach unten liegenden Gestalt kräftig in die Rippen.

Little Mo stieß einen gedämpften Schrei aus. Er hallte mitleiderregend über den dämmrigen Strand.

Jaeger presste die Kiefer aufeinander. Der Junge des Anführers war auch für ihn wie ein Sohn gewesen. Er war ein kluger Schüler gewesen, aber mit einem albernen Grinsen, das Jaeger immer zum Lachen gebracht hatte. Und er hatte sich als Ass beim Strandfußball erwiesen, ihrer liebsten Freizeitbeschäftigung, sobald der tägliche Unterricht erledigt gewesen war.

Aber das war nicht der einzige Grund gewesen, dass Jaeger und Mo so eine enge Bindung aufgebaut hatten. In vielerlei Hinsicht erinnerte Little Mo Jaeger an seinen eigenen Sohn.

Oder zumindest an den Sohn, den er einmal gehabt hatte.

4

»Mr. Jaeger!« Der Ruf hallte durch die Luft und riss Jaeger aus seinen düsteren Gedanken.

»Mr. William Jaeger. Ja, ich erinnere mich an Sie, Sie Feigling. Und wie Sie sehen, habe ich den Jungen.« Eine riesige Hand griff nach unten und zerrte Little Mo an den Haarwurzeln nach oben, bis er nur noch auf den Zehenspitzen balancierte. »Er hat noch eine Minute zu leben. EINE MINUTE! Ihr weißen Bastarde zeigt euch, JETZT! Oder dieser Junge endet mit einer Kugel zwischen den Augen!«

Jaeger wechselte einen ernsten Blick mit Raff. Der große Maori schüttelte den Kopf. »Kumpel, du weißt, wie das läuft«, flüsterte er. »Wenn wir uns ergeben, dann ist das ganze Dorf verloren – und mit ihm wir beide und Little Mo.«

Ohne zu antworten, schaute Jaeger zurück zu den Soldaten. Raff hatte recht, doch der Anblick des Jungen, der auf Zehenspitzen tanzte, während der Kommandant ihn festhielt, brannte sich in Jaegers Schädel. Es ließ seine Gedanken zu einer lange verschütteten Erinnerung springen – zu einem abgelegenen Hügel in den Bergen und einer zerfetzten, von einem Messer aufgeschlitzten Zeltplane …

Jaeger spürte einen schweren Arm, der ihn packte, kräftig, ihn zurückhaltend. »Ruhig, Kumpel, ruhig«, wisperte Raff. »Ich meinte das ernst. Wenn du dich jetzt blicken lässt, sind wir alle tot …«

»Die Minute ist um!«, brüllte der Kommandant. »KOMMT RAUS! Sofort!«

Jaeger hörte das scharfe, stählerne Chink-Chink, als eine Kugel in den Lauf geladen wurde. Der Kommandant bewegte die Waffe blitzschnell und drückte Little Mo die Mündung fest gegen die Schläfe. »ICH ZÄHLE VON ZEHN RUNTER. Dann, und glaubt mir das, ihr britischen Bastarde, schieße ich!«

Der Kommandant richtete sich an die Sanddünen, blitzte mit seiner Taschenlampe über die Büschel aus Gras, in der Hoffnung, Raff und Jaeger zu erblicken.

»Zehn, neun, acht …«

Eine neue Stimme erklang über dem dunkler werdenden Strand. Die kindlichen Rufe übertönten die Stimme des Kommandanten: »Sir! Sir! Bitte! Bitte!«

»Sieben, sechs, fünf … Ja, Junge, bettle deine weißen Freunde an, dich zu retten … drei …«

Jaeger spürte, wie sein großer Maori-Freund ihn in den Schlamm drückte, während sein Verstand voller Entsetzen von einer fernen Erinnerung zur nächsten sprang: zu einem brutalen Angriff auf einer dunklen, eisigen Bergflanke. Zu Blut im ersten Schnee des Winters. Zu dem Augenblick, in dem sein Leben implodiert war … ins Hier und Jetzt. Zu Little Mo.

»Zwei! Eins! ES IST VORBEI!«

Der Kommandant drückte ab.

Ein einzelnes Mündungsfeuer tauchte den Strand für eine Sekunde in ein Spiel aus grellem Licht und Schatten. Er ließ den Schopf des Jungen los, und der winzige Körper sackte auf dem Sand zusammen.

Jaeger wandte den Kopf voller Schmerz ab und drückte ihn fest gegen die Mangrovenwurzeln. Hätte Raff ihn nicht niedergedrückt, wäre er aus seinem Versteck gestürmt, Messer und spitzen Stock in der Hand, mit Mordlust in den Augen.

Und er wäre draufgegangen.

Es wäre ihm scheißegal gewesen.

Der Kommandant bellte eine Reihe abgehackter Befehle. Männer in Tarnanzügen rannten in alle Richtungen, einige zurück ins Dorf, andere an je ein Ende des Strands. Einer kam schlitternd am Rande des Sumpfes zum Stehen.

»Nun, dann spielen wir unser kleines Spielchen weiter«, kündigte der Kommandant an und blickte immer noch suchend in alle Richtungen. »Wir schnappen uns das nächste Kind. Ich bin ein geduldiger Mann. Ich habe alle Zeit der Welt. Ich freue mich direkt darauf, jeden einzelnen Ihrer Schüler zu erschießen, Mr. Jaeger, wenn es das ist, was nötig ist. Kommen Sie raus. Oder sind Sie der jämmerliche weiße Feigling, für den ich Sie immer gehalten habe? Beweisen – Sie – mir – das – Gegenteil!«

Jaeger bemerkte, wie Raff sich bewegte. Er schlich behutsam vorwärts, glitt bäuchlings durch den Schlamm wie eine riesige, gespenstische Schlange. Für einen winzigen Augenblick blickte er über seine Schulter.

»Lust, mit einem Feuerwerk abzutreten?«, flüsterte er.

Jaeger nickte grimmig. »Schnelligkeit. Aggressivität …«

»Überraschung«, beendete Raff das Mantra.

Jaeger glitt vorwärts und folgte der Spur, die Raff hinterließ. Dabei wunderte er sich darüber, wie geschmeidig der große Maori sich bewegen konnte, jagen konnte. Leise – wie ein Tier. Ein geborenes Raubtier. Im Laufe der Jahre hatte Raff Jaeger so viele dieser Fähigkeiten beigebracht: die völlige Überzeugung und Konzentration, die man benötigte, um zu jagen und zu töten.

Aber Raff blieb der Meister. Der Beste, den es je gegeben hatte.

Er glitt aus dem Sumpf wie ein körperloser Schatten, gerade als ein weiteres unglückseliges Kind auf den Strand geschleppt wurde. Der Kommandant fing an, dem Kind in den Bauch zu treten, während seine Männer das grausame Spektakel vor ihnen mit einem Grinsen verfolgten.

Es war dieser Moment, den Raff nutzte. Eingehüllt in die Dunkelheit, schlich er auf den Wachmann zu, der vor dem Sumpf stand. Mit einer fließenden Bewegung schlang er ihm den linken Arm um Hals und Mund und hielt ihn in einem eisernen Würgegriff. Er riss das Kinn des Mannes nach oben und zur Seite und verhinderte so jede Möglichkeit auf einen Schrei. Im gleichen Moment fuhr sein rechter Arm herum und versenkte die Klinge seines Messers bis zum Griff im Hals des Mannes, bevor er das Messer nach vorne stieß und Halsschlagader und Luftröhre durchtrennte.

Für einige Sekunden hielt Raff den verwundeten Soldaten fest, während sein Leben ihm in die Lungen sickerte und den Mann in seinem eigenen Blut ertränkte. Ohne einen Ton ließ er die Leiche auf den Sand sinken. Einen Augenblick später war er zurück beim Sumpf, das Sturmgewehr des Toten in seinen blutüberströmten Händen.

Er ging in die Hocke und weitete den Ausgang für Jaeger.

»Komm schon!«, zischte er. »Legen wir los!«

Jaeger spürte die Bewegung im Augenwinkel. Aus dem Nichts war eine Gestalt aufgetaucht, das Sturmgewehr zum Zielen erhoben, Raff direkt in der Schusslinie.

Jaeger ließ sein Messer fliegen.

Die Bewegung war instinktiv. Die Klinge surrte durch die Dämmerung, wirbelte im Flug und glitt tief in die Gedärme der Gestalt.

Der Schütze schrie.

Seine Waffe ging los, aber die Schüsse streuten und schlugen irgendwo weitab vom Ziel ein. Als die Echos der Schüsse verklangen, stand Jaeger auf und sprintete los, den hölzernen Speer in einer Hand erhoben.

Er hatte den Schützen erkannt.

Er sprang und rammte dem Mann den Holzpfahl in die Brust. Er spürte, wie das spitze Holz Rippen spaltete und durch Muskeln und Sehnen glitt, als er es mit aller Kraft hineinstieß. Als er das Sturmgewehr des Mannes packte, hatte er ihn in den Strand genagelt – der Pfahl war glatt durch die Seite seiner Brust und Schulter hindurchgestoßen.

Major Mojo, Jaegers einstiger Folterer, schrie und zappelte wie ein aufgespießtes Schwein – aber er würde nirgendwo mehr hingehen, so viel war sicher.

In einer geschmeidigen Bewegung hob Jaeger das Gewehr, löste die Sicherung und eröffnete das Feuer. Die Kugeln zerrissen die Dunkelheit, als die Mündung kurze Stöße von Leuchtspurmunition ausspie.

Jaeger zielte auf den Rumpf. Kopfschüsse waren schön und gut für einen Ausflug auf den Schießstand, aber in einem echten Feuergefecht zielte man auf die Eingeweide. Sie waren das größte Ziel, und nur wenige überlebten je einen Bauchschuss.

Er schwenkte die Waffe über den Strand, suchte nach der Gestalt des Kommandanten. Er sah das Kind aus dem Dorf, das sich wand, bis es frei war und in die Sicherheit eines nahen Palmenwäldchens rannte. Jaeger gab einen zornigen Feuerstoß ab und sah zu, wie der Kommandant herumwirbelte und losrannte. Die Leuchtspurmunition zerfetzte dem Mann die Hacken und schlug in seinen Oberkörper ein.

Jaeger spürte, wie Furcht und Unentschlossenheit durch die Reihen des Feindes wogten, als ihr Anführer zu Boden ging, vor Angst und Schmerz schreiend im Todeskampf.

Mit einem Mal glichen sie einer geköpften Schlange.

Jetzt war der Moment, dies als Vorteil zu nutzen.

»Munwechsel!«, rief Jaeger, als er ein volles Magazin aus der Tasche seines ehemaligen Wärters zog und es in die Waffe rammte. »Los! Los! Los!«

Raff brauchte keine zweite Aufforderung.

In Sekundenbruchteilen war er auf den Füßen und stürmte vorwärts, während er seinen Kriegsschrei ausstieß und Jaeger ihm Feuerschutz gab. Als der dunkle, Furcht einflößende Maori-Gigant vorwärtspreschte, sah Jaeger, wie die ersten Feinde herumwirbelten und davonstoben.

Raff lief dreißig Meter, dann sank er auf ein Knie und eröffnete eine unablässige Reihe gezielter Schüsse. Nun war er es, der Jaeger zurief: »LOOOOOOOOOOS!«

Jaeger erhob sich aus dem Sand, die Waffe an der Schulter, all seinen aufgestauten Zorn und seine Wut als Fokus für den Kampf nutzend. Er sprintete vorwärts, nur seine Augen und gebleckten Zähne waren hinter dem dunklen Film aus Sumpfschlick sichtbar, der ihn von Kopf bis Fuß einhüllte. Er donnerte über den offenen Strand, während seine Mündung Feuer spie.

In wenigen Augenblicken waren die letzten von Präsident Chambaras Männern geflohen. Raff und Jaeger jagten sie mit gezielten Feuerstößen durch die Palmenwäldchen, bis kein Feind mehr zu sehen war.

Nur Sekunden danach versank der dunkle Streifen Sand in Stille – mit Ausnahme der stöhnenden Geräusche der Sterbenden und Verletzten.

Ohne Zeit zu verschwenden, suchten die beiden Männer das Kanu von Chief Ibrahim und schleiften es in die Brandung. Der große, dickwandige Einbaum war schwerfällig an Land, und es kostete sie alle Kraft, um es in die Wellen zu hieven. Sie wollten es gerade abstoßen, als Jaeger Raff bedeutete, noch zu warten.

Er trippelte durch die Wellen und überquerte den Strand bis zu der Stelle, an der eine Gestalt in den blutgetränkten Sand genagelt war. Er ruckelte an dem Speer, bis er ihn hinausziehen konnte, wuchtete sich den verwundeten Mann auf die Schulter und ging den Weg zurück, den er gekommen war, wo er den halb ohnmächtigen Leib seines Kerkermeisters in die Mitte des Bootes warf.

»Planänderung!«, rief er Raff zu, als sie mit dem Boot tiefer ins Wasser liefen. »Mojo begleitet uns. Und wir fahren nach Osten und Süden. Chambaras Männer werden annehmen, dass wir nach Norden fahren, in Richtung Kamerun oder Nigeria. Es wird ihnen nie in den Sinn kommen, dass wir in die Gegenrichtung fahren, zurück in ihr eigenes Land.«

Raff sprang an Bord des Kanus und streckte die Hand aus, um Jaeger zu helfen. »Weshalb wollen wir zurück in Präsident Chuggas Höllenloch fahren?«

»Wir schaffen’s bis zum Festland. Es ist doppelt so weit, aber sie werden nie auf die Idee kommen, uns zu folgen. Und es ist nicht länger Chambaras Gebiet, schon vergessen? Wir nehmen Kontakt mit den Putschisten auf und versuchen unser Glück mit ihnen.«

Raff grinste. »Ka mate! Ka mate! Ka ora! Ka ora! Lass uns hier verflixt noch mal verschwinden.«

Sie paddelten das Boot weiter aufs Meer hinaus, während Jaeger in den Gesang einstimmte. Bald wurden sie von der Finsternis verschluckt.

5

»Okay, Gentlemen, es wird Sie freuen, zu erfahren, dass wir Sie reinlassen. Es brauchte nur ein paar Telefonate. Es scheint, als eile Ihnen Ihr Ruf voraus.«

Der Akzent war breites Südafrikanisch, die Gestalt vor ihnen untersetzt, aber stämmig, mit dem fleischigen, bärtigen, roten Gesicht eines Buren. Der Körperbau war das Ergebnis einer Jugend voller Rugbyspiele, heftiger Trinkgelage und einer Armeezeit im afrikanischen Busch, bevor das Alter und die Gicht zugeschlagen hatten.

Aber Pieter Boerke war nicht hier, um zu kämpfen; er war der Anführer des Staatsstreichs, und er hatte eine Armee weitaus jüngerer, kräftigerer Männer, die den Angriff ausführten.

»Sie planen immer noch, Bioko einzunehmen?«, fragte Jaeger. »Der Wonga-Putsch ist nie so richtig aus den Startlöchern gekommen …«

Einige Jahre zuvor hatte es schon einmal einen Versuch gegeben, Präsident Chambara aus dem Amt zu entfernen. Es hatte in einem ziemlichen Debakel geendet, was der Sache den spöttischen Spitznamen »Der Wonga-Putsch« eingebracht hatte, da »Wonga« ein in England geläufiger flapsiger Begriff für Geld war und der Putsch vornehmlich von reichen Financiers und Bankmanagern angeleiert worden war.

Boerke schnaubte. »Ich leite hier eine gänzlich andere Operation. Das hier ist der ›Hab-dich-Putsch‹. Chambara ist erledigt. Die internationale Gemeinschaft, die Ölkonzerne, die Bevölkerung von Bioko – jeder will ihn loswerden. Wer wollte das nicht? Der Kerl ist ein Monster. Er isst Menschen – meistens seine Lieblingsgefangenen.« Er musterte Jaeger. »Ich wette, Sie waren ziemlich froh, aus Black Beach rauszukommen, hm?«

Jaeger lächelte. Die kleine Regung tat immer noch weh, vor allem nach der dreitägigen Überquerung des Golfs von Guinea, während der sie von tropischen Stürmen herumgewirbelt und mit Gischt besprüht worden waren.

»Meine C-130er werden mit Waffen beladen, während wir uns hier unterhalten«, fuhr Boerke fort. »Das Luftshuttle fliegt von Nigeria aus. Wir bereiten uns auf den letzten Stoß vor. Wo wir gerade davon sprechen: Ich könnte ein paar Extraleute gebrauchen – Leute, die das Zielgebiet gut kennen.« Er warf den beiden Männern einen auffordernden Blick zu. »Lust, mitzumachen?«

Jaeger warf Raff einen Blick zu. »Meinem großen Maori-Freund hier zufolge haben wir zu Hause in England etwas zu erledigen.«

»Unglücklicherweise«, knurrte Raff. »Nach einer Kostprobe von Präsident Chuggas Gastfreundschaft hätte ich große Lust, ihm die Vordertür einzutreten.«

»Das kann ich mir vorstellen.« Boerke stieß einen Lacher aus. »Letzte Chance, Jungs. Ich könnte euch brauchen. Das könnte ich wirklich. Ich meine, ihr seid aus Black Beach entkommen. Das schafft keiner. Ihr habt euch mit ein paar Zahnstochern und einem Flaschenöffner den Weg von der Insel gekämpft. Und eine Dreitagesreise hierher im Kanu überstanden. Wie ich schon sagte, ich könnte euch gebrauchen.«

Jaeger hob die Hände. »Ein anderes Mal. Ich bin fertig mit Bioko.«

»Verstanden.« Boerke stand auf, ein Energiebündel, das hinter seinem Schreibtisch vor- und zurücklief. »Nun, ich kann euch hier mit der nächsten C-130 rausschaffen. Sobald ihr in Nigeria seid, setzen wir euch in einen British-Airways-Flug direkt nach London. Niemand wird euch Fragen stellen. Das ist das Mindeste, was ich für euch tun kann, nachdem ihr uns diesen kleinen Scheißhaufen geliefert habt.« Er deutete mit dem Daumen über seine Schulter. Die in dicke Bandagen gehüllte Gestalt von Major Mojo hockte zusammengesunken in einer Ecke des Raums. Nach drei Tagen auf See und den erlittenen Verletzungen war der Mann kaum bei Bewusstsein.

Raff blickte verächtlich hinüber. »Ich würde es zu schätzen wissen, wenn ihr ihm dieselbe Behandlung zukommen lassen könntet, die er meinem Freund hier hat angedeihen lassen. Mit Zinsen. Falls er überlebt.«

Boerke ließ ein Lächeln aufblitzen. »Kein Problem. Wir haben eine Menge Fragen, die wir ihm stellen können. Und denkt daran, wir sind Südafrikaner. Wir nehmen keine Gefangenen. Gibt es sonst noch etwas, was ich für euch Jungs tun kann, bevor wir unserer Wege gehen?«

Jaeger zögerte einen Augenblick. Sein Instinkt verriet ihm, dass er dem Südafrikaner vertrauen konnte, zumal sie beide der Bruderschaft der Krieger angehörten. Wenn er Chief Ibrahim irgendwie Geld zukommen lassen wollte, war Boerke im Augenblick seine einzige Möglichkeit.

Er zog einen Papierumschlag aus der Tasche. »Wenn Sie Bioko eingenommen haben, könnten Sie das hier dem Anführer des Dorfes Fernao geben? Es ist ein Nummernkonto in Zürich, mit allen Zugangsinformationen. Da ist ein ansehnlicher Geldbetrag drauf – was Raff an Mojo gezahlt hat, um mich rauszuhauen. Es ist unsere Schuld, dass der Sohn des Anführers gestorben ist. Geld wird ihn niemals zurückbringen, aber vielleicht ist es ein Anfang.«

»Betrachten Sie es als erledigt«, bestätigte Boerke. »Aber eins noch. Indem Sie diesen Scheißhaufen Mojo hierhergebracht haben, haben Sie etwas wirklich Gutes getan. Er kennt Chambaras Verteidigungspläne in- und auswendig. Wenn ein Kind auf Bioko sterben musste, um diesen Grad an Insiderinformation zu sichern, ist das bedauernswert. Hoffen wir, dass sein Tod vielen anderen das Leben schenkt.«

»Ja, vielleicht. Hoffen wir es«, räumte Jaeger ein. »Aber er war keines von Ihren Kindern. Oder Ihr vielversprechendster Schüler.«

»Glauben Sie mir, wenn Chambara fort ist, wird jedes Kind auf Bioko eine deutlich bessere Zukunft haben. Scheiße, Mann, das Land sollte reich sein. Es hat Öl, Gas, Bodenschätze – die ganze Palette. Wenn wir Chambaras Jachten verkaufen, uns seine Bankkonten im Ausland schnappen – wir werden ein gutes Fundament legen. Also, gibt es sonst noch etwas?«

»Vielleicht noch eine Sache …«, begann Jaeger. »Sie wissen, dass ich drei Jahre dort war. Das ist eine Menge Zeit an einem Ort wie Bioko. Um es kurz zu machen, ich habe mich mit der Geschichte der Insel beschäftigt. Zweiter Weltkrieg. Gegen Kriegsende haben die Briten eine streng geheime Operation gestartet, um ein feindliches Schiff auszuspionieren. Die Duchessa. Ein Frachtschiff, das im Hafen von Malabo vor Anker lag. Wir haben dafür ungewöhnliche Mühen auf uns genommen. Die Frage ist: warum?«

Boerke zuckte mit den Achseln. »Was weiß ich.«

»Allem Anschein nach hat der Kapitän des Schiffes ein Ladungsverzeichnis bei der Hafenbehörde von Bioko eingereicht«, fuhr Jaeger fort. »Es war unvollständig. Es führte sechs Seiten Fracht auf, aber die siebte Seite fehlte. Es gibt Gerüchte, dass diese siebte Seite unter Verschluss in einem Tresorraum im Regierungsgebäude von Malabo liegt. Ich habe alles in meiner Macht Stehende versucht, um sie in die Finger zu bekommen. Wenn Sie die Hauptstadt einnehmen, vielleicht können Sie mir eine Kopie schicken?«

Boerke nickte. »Keine Sorge. Lassen Sie mir Ihre E-Mail-Adresse und Telefonnummer da. Aber ich bin neugierig. Was glauben Sie, was das Schiff transportiert hat? Und woher das Interesse?«

»All die Gerüchte haben mich gefesselt. Irgendwie hat es mich gepackt. Diamanten. Uran. Gold. Behauptet man zumindest. Irgendetwas, das in Afrika abgebaut werden konnte; etwas, das die Nazis unbedingt brauchten, um den Krieg zu gewinnen.«

»Höchstwahrscheinlich Uran«, mutmaßte Boerke.

»Vielleicht.« Jaeger zuckte mit den Achseln. »Aber die siebte Seite – die würde das beweisen.«

6

Die MS Global Challenger lag vertäut an einem Anleger auf der Themse. Ein dunkler Himmel hing bedrohlich tief und düster über dem Masttopp. Das Taxi, das Raff und Jaeger vom Flughafen Heathrow hergefahren hatte, hielt am Gehweg. Die Reifen kamen in einer grauen, ölig schimmernden Pfütze zum Stehen.

Jaeger kam der Gedanke, dass der Preis, den der Taxifahrer verlangte, hoch genug war, um ein ganzes Klassenzimmer auf Bioko mit Büchern auszustatten. Und als Raff dem Fahrer offenbar weniger Trinkgeld gab, als dieser erwartet hatte, raste er wortlos davon und spritzte das Wasser der Pfütze über ihre Schuhe.

London im Februar. Manche Dinge änderten sich nie.

Er hatte die meiste Zeit ihrer Flüge verschlafen. Zuerst von Festland-Äquatorialguinea nach Nigeria in einer lärmenden C-130-Hercules-Transportmaschine, dann weiter nach London. Sie waren die Strecke von Lagos nach London in höchst denkbarem Luxus geflogen, aber Jaeger wusste aus Erfahrung, dass gesponserte Flüge in der ersten Klasse immer einen Haken hatten.

Immer.

Irgendjemand zahlte die Rechnung von British Airways, und bei siebentausend Pfund pro Nase war das kein Kleingeld. Als er Raff deswegen gelöchert hatte, war der große, lockere Maori ungewöhnlich wortkarg geworden. Offensichtlich wollte jemand Jaeger um jeden Preis zurück in London wissen, und Geld spielte keine Rolle, aber Raff wollte nicht darüber reden. Jaeger kam zu dem Schluss, dass er damit leben konnte. Er vertraute dem Mann total.

Als sie in London landeten, begann Jaeger, die gesamten Auswirkungen seiner fünfwöchigen Gefangenschaft im Black-Beach-Gefängnis zu spüren, plus die Kämpfe und die Flucht, die gefolgt waren. Er ging die Gangway zur Global Challenger hinauf, mit Gliedern, die schmerzten wie bei einem alten Mann. Genau in dem Moment öffnete der Himmel seine Schleusen.

Das ehemalige Arktisforschungsschiff Global Challenger war der Firmensitz von Enduro Adventures, der Firma, die Jaeger nach seinem Ausscheiden aus dem Militär zusammen mit Raff und einem weiteren Kameraden gegründet hatte. Dieser Kamerad – Stephen Feaney – stand am oberen Ende der Gangway, halb unsichtbar im herabstürzenden Regen.

Er streckte eine Hand zur Begrüßung aus. »Ich hätte nie gedacht, dass wir dich finden. Du siehst scheiße aus. Scheint, als wären wir gerade noch rechtzeitig gekommen.«

»Du weißt doch, wie das ist.« Jaeger zuckte die Achseln. »Der große Maoribastard – Präsident Chambara war gerade dabei, ihn zu kochen und zu verspeisen. Irgendjemand musste ihn ja da rausschaffen.«

Raff schnaubte. »Als ob!«

Sie lachten. Die drei Männer genossen den gemeinsamen Augenblick für einen kurzen Moment, während der Regen auf das Deck prasselte.

Es war gut – großartig –, wieder zusammen zu sein.

Als Soldat in einer Eliteeinheit zu dienen, war immer das Privileg junger Männer gewesen. Jaeger, Raff und Feaney waren an Orten gewesen, die nur wenige andere Menschen gesehen hatten, und sie hatten Dinge getan, die kaum jemand für möglich hielt. Es war das ultimative Abenteuer gewesen, doch es hatte seinen Preis gefordert.

Einige Jahre zuvor hatten sie beschlossen auszusteigen, solange sie noch fit genug waren. Sie hatten ihre Fähigkeiten, die sie auf Kosten der Steuerzahler erworben hatten, dazu genutzt, ihr eigenes Unternehmen zu gründen. Enduro Adventures – Motto: »Planet Erde ist unser Spielplatz!« – war das Ergebnis.

Es war Jaegers Idee gewesen. Enduro war ein Unternehmen, das reiche Menschen – Geschäftsleute, Sportler und dann und wann eine Berühmtheit – auf einige der herausforderndsten Wildnistrips des Planeten mitnahm. Mit der Zeit hatten sie daraus eine einträgliche Firma gemacht, die bei großen Persönlichkeiten Interesse für einige der unglaublichsten Abenteuer weckte, die die Erde zu bieten hatte.

Dann jedoch, quasi über Nacht, war Jaegers Leben in tausend Stücke zerbrochen, und er war untergetaucht. Er war der unsichtbare Mann bei Enduro Adventures geworden. Feaney war gezwungen gewesen, das Marketing der Firma zu übernehmen, während Raff sich um die Organisation der Expeditionen kümmerte – auch wenn keines davon dem Naturell der jeweiligen Person entsprach.

Jaeger, ein Captain, war der einzige ehemalige Offizier von den dreien. Damals, beim Militär, hatte er die D-Squadron kommandiert, eine sechzig Mann starke SAS-Einheit. Er hatte eng mit den höheren Dienstgraden zusammengearbeitet und konnte sich frei und locker in gehobenen Gesellschaftskreisen bewegen.

Feaney war älter, und er hatte sich auf die harte Tour durch die Ränge gearbeitet, bevor er als Jaegers Sergeant Major geendet war. Was Raff betraf: Sein Hang zum Alkohol und zu Prügeleien hatte jede Beförderung zu einer Herausforderung gemacht; nicht dass der große Maori je Wert darauf gelegt zu haben schien.

Die letzten drei Jahre hatten sich für Enduro Adventures ebenfalls zu einer Herausforderung entwickelt, aufgrund ihres fehlenden Aushängeschildes. Jaeger wusste, dass ein Teil von Feaney ihm sein Verschwinden nach Bioko übel nahm. Doch wäre Feaney derselbe Horror widerfahren, da war Jaeger sich sicher, hätte er ebenfalls damit zu kämpfen gehabt. Zeit und Erfahrung hatten ihn gelehrt, dass jeder Mensch einen Punkt hatte, an dem er brach. Als Jaeger seinen erreicht hatte, war er an den letzten Flecken Erde geflüchtet, an dem irgendjemand nach ihm suchen würde: Bioko.

7

Feaney führte sie hinein. Der Konferenzraum der Global Challenger war ein Schrein des Abenteuers. Die Wände übersät mit Erinnerungen aus weit entlegenen Winkeln der Erde: Flaggen von wenigstens der Hälfte aller Militärverbände, die es auf der Welt gab; Abzeichen und Barette von Eliteeinheiten, von denen nur wenige wussten, dass sie überhaupt existierten; Ständer und Vitrinen mit schussunfähig gemachten Waffen, inklusive einer vergoldeten AK-47 aus einem von Saddam Husseins Palästen.

Aber er war auch eine eindrucksvolle Würdigung der Wunder des Planeten: Fotos von einigen der wildesten und extremsten Lebensräume schmückten die Wände – knochentrockene, windgepeitschte Wüsten; eisblaue, schneebedeckte Berge; ein kohleschwarzes Blätterdach im Dschungel, durch das gleißende Sonnenstrahlen stachen – hinzu kamen Reihen von Bildern der Teams, die Enduro Adventures an diese Orte geführt hatte.

Feaney öffnete klappernd die Tür zum Kühlschrank hinter der Bar. »Bier?«

Raff grunzte. »Nach Bioko könnte ich ne ganze Palette weghauen.«

Feaney reichte ihm eine Flasche. »Jaeger?«

Jaeger schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich war trocken auf Bioko. Nicht im ersten Jahr. Aber die zwei danach. Ein Bier, und du kannst mich von der Decke kratzen.«

Er nahm sich ein Wasser, und die drei Männer setzten sich an einen der niedrigen Tische. Sie unterhielten sich eine Weile, brachten sich auf den neuesten Stand, was jeder von ihnen in der Abwesenheit der anderen erlebt hatte, bevor Jaeger die Unterhaltung wieder auf das eigentliche Thema lenkte – den Grund, weshalb Raff und Feaney ans Ende der Welt gekommen waren: um ihn zu finden und nach Hause zu holen.

»Also, dieser neue Auftrag – worum geht’s da? Ich meine, Raff hat ein paar Andeutungen gemacht, aber du kennst ja unseren Maori: Wenn er was erzählt, wird sogar ein Glasauge schläfrig.«

Raff stürzte sein Bier runter. »Ich bin ein Fighter, kein Redner.«

»Ein Trinker, kein Lover«, gab Jaeger zurück.

Sie lachten.

Drei Jahre war Jaeger weg gewesen und nun als anderer Mann zurückgekehrt. Nicht mehr der junge Krieger und Abenteurer, der verschwunden war. Er war düsterer. Ruhiger. Verschlossener. Und doch gab es gleichzeitig das gelegentliche Aufblitzen eines ungezwungenen Humors und Charmes, der ihn zu so einem guten Frontmann für Enduro Adventures gemacht hatte.

»Na, ich schätze, so viel wusstest du schon«, begann Feaney, »aber der Laden – Enduro – hatte ziemlich zu kämpfen, nach deinem …«

»Ich hatte meine Gründe«, unterbrach Jaeger.

»Kumpel, ich sag’ nicht, dass du die nicht hattest. Gott weiß, dass wir alle …«

Raff hob eine große, fleischige Hand, um Ruhe zu verlangen. »Was Feaney zu sagen versucht, ist: Alles ist in Ordnung. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Und die Zukunft – für uns zumindest – ist dieser vielversprechende neue Auftrag. Nur dass dieser in den letzten Wochen mit einiger echter Scheiße überzogen worden ist.«

»Das wurde er«, bestätigte Feaney. »Die Kurzfassung lautet: Vor ein oder zwei Monaten nahm Adam Carson Kontakt zu mir auf. Du wirst dich aus seinen Tagen als Leiter der Special Forces an ihn erinnern.«

»Brigadier Adam Carson? Ja.« Jaeger nickte. »Wie lange war er bei uns? Zwei Jahre? Ein fähiger Kommandant, aber ich bin nie richtig warm mit ihm geworden.«

»Ich auch nicht«, stimmte Feaney zu. »Wie auch immer, nach seiner Militärzeit wurde er von einer Medienfirma engagiert. Schließlich wurde er Vorstandsmitglied in einer Filmproduktionsfirma namens Wild Dog Media. Das ist gar nicht so schräg, wie es klingt: Sie haben sich darauf spezialisiert, in abgelegenen Gebieten zu filmen: Expeditionen, Wildtiere, Imagefilme – so was halt. Sie haben eine Menge Ex-Forces auf der Gehaltsliste. Die perfekte Sorte Typen für uns, um mit ihnen zusammenzuarbeiten.«

»Hört sich so an«, bestätigte Jaeger.

»Carson hatte ein Angebot für uns – ein lukratives. Ein Flugzeugwrack wurde tief im Amazonasgebiet gefunden. Vermutlich aus dem Zweiten Weltkrieg. Das brasilianische Militär hat es gefunden, als sie an ihrer westlichen Grenze Luftüberwachungen geflogen sind. Man kann wohl sagen, dass es mitten im verflixten Nirgendwo liegt. Wie auch immer, Wild Dog haben sich um die Möglichkeit bemüht, herauszufinden, was genau das für ein Wrack sein könnte.«

»Es liegt in Brasilien?«, hakte Jaeger nach.

»Ja. Nun, nein, um genau zu sein. Es parkt ziemlich auf der Grenze – dort, wo Brasilien, Bolivien und Peru aufeinandertreffen. Scheint, als läge ein Flügel in Bolivien, einer in Peru, während der halbe Arsch in Richtung Copacabana zeigt. Sagen wir es mal so: Wer immer es dort hat liegen lassen, hat sich nen Scheiß um internationale Grenzen geschert.«

»Erinnert mich an unsere Zeit im Regiment«, kommentierte Jaeger trocken.

»Ja, oder? Es gab einige Rangeleien um die Zuständigkeiten, aber die einzige Armee, fähig genug, irgendetwas zu tun, sind die Brasilianer – und auch für sie ist es eine große Herausforderung. Also haben sie ihre Fühler ausgestreckt, ob irgendein internationales Team zusammengestellt werden könnte, das die Geheimnisse der Maschine aufdeckt.

Was auch immer das für ein Flugzeug ist, es ist gigantisch«, fuhr Feaney fort. »Carson kann dir weitere Infos geben, aber für den Augenblick reicht es zu wissen, dass das Flugzeug ein Rätsel ist, eingehüllt in ein Mysterium innerhalb eines … wie auch immer der Spruch geht. Carson hat vorgeschlagen, eine Expedition loszuschicken, um die ganze Sache zu filmen. Großes TV-Ereignis, für die weltweite Ausstrahlung. Er hat ein massives Budget aufgetan. Aber es gab noch konkurrierende Angebote, und die Südamerikaner haben sich untereinander zerstritten.«

»Zu viele Köche …«, warf Jaeger ein.

»Verderben den Brei«, bekräftigte Feaney. »Wo wir gerade davon sprechen: Die Region, in der das Wrack liegt, ist auch die Heimat eines sehr unfreundlichen Indio-Stammes. Die Amahuaca oder so ähnlich. Sie hatten noch keinen Kontakt zur Außenwelt. Würden es mit Freude dabei belassen. Haben viel Spaß daran, Bögen und Blasrohre gegen jeden einzusetzen, der in ihr Territorium schlendert.«

Jaeger hob eine Augenbraue. »Giftpfeile?«

»Frag nicht mal. Diese Expedition wird was ganz Besonderes.« Feaney machte eine Pause. »Nun, an dieser Stelle kommst du ins Spiel. Die Brasilianer übernehmen die Führung. Es ist alles streng geheim, ›Need-to-know‹-Basis, und sie halten die exakte Position des Wracks streng unter Verschluss, damit ihnen niemand zuvorkommen kann. Sagen wir, Bolivien ist für Brasilien das, was Frankreich für England ist. Und die Peruaner sind die Deutschen. Niemand traut niemandem bei dieser Sache.«

Jaeger lächelte. »Wir mögen der Ersteren Wein und der Letzteren Autos, und das ist es dann aber auch?«

»Ganz genau.« Feaney nahm einen Schluck von seinem Bier. »Aber Carson ist clever. Er hat es geschafft, die Brasilianer von sich zu überzeugen, und alles ist in trockenen Tüchern, bis auf einen Punkt. Du führst die brasilianische Mission an. Du hast ihre Anti-Drogen-Einheit ausgebildet – ihre Special Forces. Scheint, als ob du einen wirklich bleibenden Eindruck hinterlassen hast, genau wie Andy Smith, deine Nummer zwei. Euch beiden vertrauen sie. Uneingeschränkt. Du weißt am besten, wieso.«

Jaeger nickte. »Ist Captain Evandro noch dabei?«

»Inzwischen Colonel Evandro. Er ist nicht nur dabei, er ist der brasilianische Leiter der Special Forces. Du hast einige seiner besten Leute aus der Scheiße gezogen. Das hat er nie vergessen. Carson hat versprochen, dass entweder du oder Smith diese Operation anführen wird. Idealerweise beide von euch. Damit hat er den Colonel rumbekommen, und er hat die Bolivianer und Peruaner auch davon überzeugt.«

»Colonel Evandro ist ein guter Mann«, bemerkte Jaeger.

»Scheint so. Zumindest hat er ein gutes Gedächtnis. Deshalb hat Carson – und Enduro – den Job bekommen. Und deshalb haben wir nach dir gesucht. Und es scheint, als wären wir gerade rechtzeitig, in jeder Hinsicht.« Feaney musterte Jaeger kurz. »Wie auch immer, es ist ein großer Auftrag. Mehrere Millionen Dollar. Genug, um Enduro ein wenig Glück zu pachten.«

»Perfekt.« Jaeger warf Feaney einen Blick zu. »Vielleicht zu perfekt?«

»Vielleicht.« Feaneys Miene verdunkelte sich. »Carson hat angefangen, ein Team zusammenzustellen. International, Hälfte Männer, Hälfte Frauen – um die Attraktivität fürs Fernsehen zu erhöhen. Es gab unzählige Freiwillige. Carson wurde förmlich überschwemmt. Gleichzeitig haben wir nicht die geringste Spur von dir gefunden. Also hat Smithy zugestimmt, schon mal alleine loszulegen, solange du … nun … vom Erdboden verschluckt schienst.«

Jaegers Miene blieb unergründlich. »Oder nach Bioko gegangen war, um Englisch zu lehren. Je nachdem, wie man die Sache betrachtet.«

»Ja. Was auch immer …« Feaney zuckte mit den Achseln. »Alles war für den Amazonas vorbereitet. Die Expedition unseres Lebens hatte grünes Licht; alle haben sich auf eine Entdeckung gefreut, die uns das Hirn wegbläst.«

»Dann haben die Fernsehproduzenten ihre Griffel reingesteckt«, grummelte Raff. »Sie haben gedrängt und gedrängt – die gierigen Bastarde.«

»Raff, Kumpel, Smithy hat zugestimmt«, protestierte Feaney. »Er hat zugestimmt, dass das die klügere Wahl war.«

Raff ging, um sich noch ein Bier zu holen. »Es hat trotzdem einem verflixt guten Mann sein …«

»Das wissen wir nicht!«, unterbrach Feaney.

Raff schmetterte die Kühlschranktür zu. »Doch, das wissen wir verflixt noch mal genau.«

Jaeger hob die Hände. »Hey, ruhig, Jungs. Also, was ist passiert?«

»In gewisser Weise hat Raff recht.« Feaney nahm den Faden wieder auf. »Die Fernsehtypen hatten Extrawünsche. So eine Art Prolog, vor dem echten Dschungelabenteuer, wenn man so will. Smithy sollte die Rekruten in die schottischen Uplands führen; sie ein wenig vorbereiten. Wie eine Art Mini-SAS-Auswahltraining: die schwächeren Kandidaten aussieben, und das alles vor laufenden Kameras.«

Jaeger nickte. »Also sind sie in die Uplands gefahren. Wo liegt das Problem?«

Feaney warf Raff einen Blick zu. »Er weiß es nicht?«

Raff stellte sein Bier ab, sehr behutsam. »Kumpel, ich hab ihn halb tot aus dem Black Beach gezerrt; wir haben uns den Weg von der Hölleninsel mit nichts als zwei Taschenmessern freigekämpft; und dann haben wir uns den Weg durch tropische Stürme und Haie gebahnt. Sag du es mir, wann genau wäre der richtige Moment gewesen?«

Feaney fuhr sich mit der Hand über das kurz geschnittene Haar. Er warf einen Blick zu Jaeger. »Smithy hat das Team nach Schottland geführt. An die Westküste, im Januar. Das Wetter war grausam. Bösartig. Die Polizei fand seine Leiche am Boden der Loch-Iver-Schlucht.«

Jaegers Herz setzte einen Schlag aus. Smithy tot? Er hatte ein seltsames Gefühl gehabt, dass ihm etwas Furchtbares zugestoßen sein musste, aber nicht so etwas. Nicht Smithy. Andy Smith, absolut geerdet und zuverlässig, war der Kerl gewesen, der immer auf ihn geachtet hatte. Nie um einen Scherz verlegen, ganz gleich, wie schlecht es um sie stand, gab es nur wenige nähere Freunde als ihn.

»Smithy ist zu Tode gestürzt?«, fragte Jaeger ungläubig. »Unmöglich. Der Mann war verflixt noch mal unzerstörbar. Er war ein Experte in den Hills.«

Schweigen senkte sich über den Raum. Feaney starrte auf seine Bierflasche, mit Kummer im Blick. »Die Polizei meint, dass sein Blutalkoholwert weit jenseits aller Werte lag. Sie sagen, er hat eine Flasche Jack Daniel’s getrunken, ist die Hills hinaufgestiegen und in der Dunkelheit in den Tod getorkelt.«

Jaegers Augen funkelten gefährlich. »Bullshit. Smithy hat noch weniger getrunken als ich.«

»Kumpel, genau das haben wir denen auch erzählt. Der Polizei. Aber sie bleiben bei ihrer Version: tragischer Unfalltod, mit mehr als nur einem Verdacht auf Selbstmord.«

»Selbstmord?«, explodierte Jaeger. »Wieso in Gottes Namen hätte Smithy sich umbringen sollen? Mit einer Frau und Kindern wie seinen? Einer traumhaften Mission wie dieser als Anführer in Aussicht. Kommt schon: Selbstmord. Dass ich nicht lache. Smithy hatte jeden Grund zu leben.«

»Erzähl es ihm, Feaney.« Das kam von Raff, und seine Stimme war vor angestauter Wut gepresst. »Alles.«

Feaney bereitete sich sichtlich auf das vor, was folgte. »Als Smithy gefunden wurde, war seine Lunge halb voll mit Wasser. Die Polizei behauptet, dass er die ganze Nacht im peitschenden Regen gelegen und es eingeatmet hat. Sie behaupten außerdem, dass der Sturz ihn im Grunde augenblicklich getötet hat. Hat ihm glatt das Genick gebrochen. Nun, du kannst kein Wasser einatmen, wenn du tot bist. Das Wasser hätte dort hineingekommen sein müssen, solange er noch am Leben war.«

»Und was soll das nun heißen?« Jaeger schaute von Feaney zu Raff und zurück. »Wollt ihr mir sagen, er wurde … Redet ihr von Waterboarding

Raff presste seine Finger um die Bierflasche, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Die Lunge halb voll mit Wasser. Tote Männer atmen nicht. Setz es dir selbst zusammen. Und es gibt noch etwas.« Er schaute zu Feaney, während die Flasche sich unter seinem immer festeren Griff wand.

Feaney langte unter den Tisch und zog einen Plastikordner hervor. Er nahm ein Foto heraus und schob es über den Tisch zu Jaeger.

»Das hat die Polizei uns gegeben. Wir sind ohnehin ins Leichenschauhaus gefahren, um sicherzugehen. Dieses Zeichen, dieses Symbol – es war in Andys linke Schulter geritzt.«

Jaeger starrte auf das Foto, und ein eisiger Schauer lief seinen Rücken hinauf. Ein grob stilisierter Adler war in die Haut seiner ehemaligen Nummer zwei geritzt worden. Er stand auf seinem Schwanz, sein unbarmherzig gebogener Schnabel nach rechts gerichtet, die Flügel weit ausgestreckt, während seine Krallen ein bizarres rundes Symbol festhielten.

Feaney tippte mit dem Finger auf das Foto. »Wir können es nicht einordnen. Das Adlersymbol. Es scheint niemandem viel zu sagen. Und glaub mir, wir haben rumgefragt.« Er schaute zu Jaeger. »Die Polizei behauptet, es wäre irgendein willkürliches, pseudomilitärisches Emblem. Dass Smithy sich das selbst angetan hätte. Selbstverstümmelung. Ein Teil ihrer Argumentation für Selbstmord.«

Jaeger konnte nicht sprechen. Er hatte Feaney kaum zugehört. Es gelang ihm nicht, den Blick von dem Foto loszureißen. Irgendwie überdeckte der Anblick sogar den Horror, den er im Black-Beach-Gefängnis erlitten hatte.

Je länger er auf das düstere Adlersymbol starrte, desto stärker spürte er, wie es sich in sein Gehirn brannte. Es rief furchtbare Erinnerungen hervor, die tief in ihm verborgen gewesen waren.

Es war so fremdartig und doch auch wieder so vertraut, und es drohte, diese lange verschütteten Erinnerungen wieder ans Tageslicht zu zerren, sosehr sie sich auch dagegen sträubten und wehrten.

8

Jaeger griff sich den schweren Bolzenschneider und kletterte über den Zaun. Zum Glück waren die Sicherheitsvorkehrungen der Springfield Marina im Osten Londons nie allzu scharf gewesen. Er hatte Bioko nur mit den Sachen verlassen, die er am Leibe getragen hatte. Und mit Sicherheit hatte er keine Zeit gehabt, seine Schlüssel einzupacken – auch nicht die, mit denen er das Tor zum Jachthafen öffnete.

Doch es war immer noch sein Boot, und er sah keinen Grund, weshalb er nicht in sein eigenes Heim einbrechen dürfe.

Er hatte den Bolzenschneider in einem Geschäft um die Ecke gekauft. Bevor er Raff und Feaney zurückgelassen hatte, hatte er sie – so wie Carson, den Geschäftsführer von Wild Dog Media – um achtundvierzig Stunden gebeten. Zwei Tage, um zu entscheiden, ob er der Aufgabe gewachsen wäre, dort weiterzumachen, wo Smithy aufgehört hatte – und diese offensichtlich unter keinem guten Stern stehende Expedition in das Amazonasgebiet anzuführen.

Doch trotz der Zeit, die er sich erbeten hatte, wusste Jaeger, dass er niemandem etwas vormachen konnte. Sie hatten ihn schon längst so weit – aus so vielen Gründen –, dass er einfach nicht Nein sagen konnte.

Zuerst einmal schuldete er es Raff. Der große Maori hatte ihm das Leben gerettet. Falls Pieter Boerkes Einsatzkräfte Bioko nicht in Rekordzeit eingenommen hätten, wäre Jaeger im Black-Beach-Gefängnis draufgegangen – unbemerkt von der Welt, von der er sich so komplett zurückgezogen hatte.

Zweitens schuldete er es Andy Smith. Und Jaeger ließ seine Freunde nicht hängen. Niemals. Auf keinen Fall hatte Smithy sich selbst umgebracht. Er hatte natürlich vor, das dreifach zu überprüfen. Nur um ganz sicherzugehen. Aber er hatte das Gefühl, dass der Tod seines Freundes in Verbindung zu dem mysteriösen Flugzeugwrack stand, das tief im Amazonas-Regenwald lag. Welchen anderen Grund – welches andere Motiv – sollte es sonst geben?

Jaeger hatte das instinktive Gefühl, dass Smithys Mörder Teil der Expeditionsgruppe war. Der beste Weg, ihn, oder sie, zu finden, bestand darin, sich ihnen anzuschließen und von innen heraus aufzuscheuchen.

Und drittens war da das Flugzeug selbst. Ausgehend von dem wenigen, was Adam Carson ihm am Telefon hatte erzählen können, klang es faszinierend. Unwiderstehlich. Genau wie in dem Winston-Churchill-Zitat, an dem Feaney sich versucht hatte, war es ein »Rätsel innerhalb eines Geheimnisses, umgeben von einem Mysterium«.

Jaeger fand die Anziehungskraft, die davon ausging, absolut verlockend.

Nein. Er hatte sich schon längst entschieden. Er würde mitfahren.

Er hatte aus einem anderen Grund um die achtundvierzig Stunden gebeten: Er plante, drei Besuche abzustatten drei Untersuchungen anzustellen – und das würde er tun, ohne irgendjemandem auch nur eine Silbe davon zu erzählen. Vielleicht hatten ihn die letzten Jahre mit einem tiefen Misstrauen zurückgelassen. Vielleicht war er doch unfähig, noch irgendjemandem sein volles Vertrauen zu schenken.

Vielleicht hatten die drei Jahre in Bioko ihn ein klein wenig zum Einzelgänger gemacht. Zu jemandem, der sich etwas zu wohl in seiner eigenen Gesellschaft fühlte.

Aber vielleicht war es auch einfach besser – sicherer – so. So würde er überleben.

Jaeger nahm den Weg, der außen um die Marina herumführte. Seine Stiefel knirschten auf dem glitschigen, regennassen Kies. Es war inzwischen später Nachmittag, die Dämmerung senkte sich über den kleinen Hafen, und Kochgerüche wehten über das stille, winterliche Wasser.

Die Szenerie – die in bunten Farben bemalten Boote, der Rauch, der träge aus kleinen Schornsteinen stieg – wirkte so seltsam vor dem blattlosen, verwaschenen Februargrau des Kanalbeckens. Drei lange Jahre. Jaeger fühlte sich, als wäre er zum ersten Mal hier.

Er blieb zwei Liegeplätze vor seinem Boot stehen. Die Lichter auf Annies Kahn brannten, der alte Holzofen stieß pfeifend Rauch und Qualm aus. Er kletterte an Bord und streckte unangekündigt den Kopf durch die offene Luke, die in die Kombüse führte.

»Hi, Annie. Ich bin’s. Hast du meine Ersatzschlüssel?«

Ein Gesicht blickte zu ihm auf, die Augen schreckgeweitet. »Will? Mein Gott … Aber wo zur Hölle … Wir dachten alle … Ich meine, wir hatten Angst, du könntest …«

»Tot sein?« Jaeger grinste. »Ich bin kein Gespenst, Annie. Ich war fort. Hab als Lehrer gearbeitet. In Afrika. Ich bin wieder zurück.«

Annie schüttelte verwirrt den Kopf. »Mein Gott … Wir wussten immer, dass du einer dieser ›Stille Wasser sind tief‹-Typen bist. Aber drei Jahre in Afrika … Ich meine, den einen Tag bist du hier und am nächsten verschwunden, ohne ein Wort zu irgendjemandem.«

Da klang mehr als nur ein wenig Verletzung in Annies Stimme mit, ganz zu schweigen von Groll.

Mit seinen graublauen Augen und dem dunklen Haar, das er etwas länger trug, war Jaeger gut aussehend, in einer markanten, leicht hageren und verwegenen Art. Es gab nur eine Andeutung von Silber in seinen Haaren, und er sah jünger aus, als er war.

Er hatte nie viel über Privates mit seinen Bootsnachbarn geredet – auch mit Annie nicht –, aber er hatte sich als verlässlicher und loyaler Nachbar erwiesen, noch dazu einer, der ein Auge auf seine Bootsfreunde hatte. Die Gemeinschaft hier war stolz darauf, sich nahezustehen. Das war einer der Gründe, die Jaeger hier hergezogen hatten; das sowie die Aussicht auf eine Heimatbasis, die mit einem Fuß in London und mit dem anderen im weitläufigen Umland stand.

Die Marina lag am River Lee, im Lee Valley, das einen grünen Streifen bildete, der sich in Richtung Norden in offene Wiesen und eine Hügellandschaft erstreckte. Jaeger konnte nach einem Arbeitstag auf der Global Challenger hierher zurückkehren und sich auf die Pfade am Flussufer stürzen, wo er die Anspannung des Tages aus seinem System joggte und sich die dafür dringend benötigte Fitness antrainierte.

Er hatte nie viel Grund zum Kochen gehabt: Annie versorgte ihn immerzu mit selbst gemachten Leckereien, von denen er vor allem ihre Smoothies liebte. Annie Stephenson: Single, Anfang dreißig, hübsch auf eine scheue, hippiehafte Art und Weise – er vermutete schon eine Weile, dass sie ein bisschen verknallt in ihn war. Aber Jaeger war eisern in seiner Treue zu seiner Frau.

Ruth und der Junge: Sie waren sein Leben.

Oder zumindest waren sie es gewesen.

Annie – so wunderbar sie als Nachbarin auch war und sosehr er es auch genoss, sie ein wenig damit aufzuziehen, dass sie so ein Hippie war – hatte nie auch nur die geringste Chance gehabt.

Sie wühlte herum und reichte ihm schließlich seine Schlüssel. »Ich kann immer noch nicht glauben, dass du wieder da bist. Ich meine – es ist toll, dass du zurück bist. Das wollte ich sagen. Du musst wissen, Tinker George – er stand kurz davor, sich dein Motorrad zu schnappen und es für sich zu behalten. Wie dem auch sei, der Ofen ist an.« Sie lächelte. Voller Nervosität, aber mit einem Schimmer Hoffnung. »Ich könnte zur Feier des Tages einen Kuchen backen. Soll ich?«

Jaeger grinste. Er konnte so jung und jungenhaft aussehen, in den seltenen Augenblicken, wenn die Düsternis von ihm abfiel. »Weißt du was, Annie? Ich hab deine Kochkünste vermisst. Aber ich bleibe nicht lange. Ich muss erst ein paar Sachen regeln. Später haben wir mehr als genug Zeit für ein Stück Kuchen und ein paar Geschichten darüber, was wir erlebt haben.«

Jaeger ging von Bord und kam an Tinker Georges Kahn vorbei. Er erlaubte sich ein schiefes Grinsen: typisch für den dreisten Bastard, ein Auge auf sein Motorrad zu werfen.

Kurz darauf stieg er an Bord seines eigenen Schiffs. Er schob mit dem Fuß die Haufen herabgefallenen Laubs zur Seite und beugte sich zur Eingangsluke. Die dicke Sicherheitskette und das Vorhängeschloss waren noch an Ort und Stelle. Es war so ziemlich das Letzte gewesen, was er getan hatte, bevor er London verlassen und einen Flug ans Ende der Welt bestiegen hatte: seinen Kahn abschließen.

Er klemmte die Kette in die Kiefer des Bolzenschneiders, spannte seine schmerzenden Glieder an, und knack! – fiel sie zu Boden. Er schob Annies Reserveschlüssel ins Schloss und zog die beiden Türflügel auf, die den Weg ins Schiffsinnere freigaben. Sein Schiff war eine Thames Barge und damit breiter und tiefer als das gängige Narrowboat, was dazu führte, dass sie den Raum dafür bot, ein wenig im Luxus zu schwelgen.

Doch nicht auf Jaegers Schiff.

Die Einrichtung war auffällig spartanisch. Absolut funktional. Bis auf wenige Ausnahmen frei von allen persönlichen Gegenständen.

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