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Gentleman Sinner

hier erhältlich:

Izzy White hat bereits früh gelernt, wie erbarmungslos das Leben ist. Aber sie hat nie aufgegeben und ist zufrieden mit dem, was sie erreicht hat. Auf Liebe und Begierde kann sie verzichten – bis das Schicksal sie zu Theo Kane führt. Wie ein dunkler Ritter taucht er plötzlich auf und rettet sie aus einer brenzligen Lage. Er ist groß, muskulös und umgeben von einer düsteren Aura. Nur er lässt sie diese brennende Leidenschaft fühlen, gegen die sie machtlos ist. Doch wenn sie sich diesem Mann hingibt, könnte ihr das zum Verhängnis werden. Denn mit Theo betritt sie erneut die Welt, der sie entflohen ist …

»Malpas‘ heiße Liebesszenen bringen die Seiten zum Glühen, ihre vielschichtigen, verletzlichen Charaktere erobern mit Leichtigkeit die Leserherzen.«
Publishers Weekly

»Theo ist unwiderstehlich.«
Booklist

»Jedem Kuss, jeder erotischen Szene, jedem Wortwechsel zwischen diesem Paar gehört ein Stück meiner Seele.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Audrey Carlan über »Mit allem, was ich habe«


  • Erscheinungstag: 25.08.2020
  • Seitenanzahl: 464
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751383
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Andy – mein Champion vom ersten Tag an

Quadrat
1. KAPITEL

Ich versuche verzweifelt, die Finger loszubekommen, die sich mit unglaublicher Kraft um meinen Hals krallen. Langsam fange ich an zu schwitzen. Meine Luftröhre wird zusammengepresst, sodass ich fast nicht mehr atmen kann. Heilige Scheiße, er wird mich erwürgen. Flashbacks tauchen in meinem Kopf auf – Bilder von seinem Gesicht, ich höre seine bösartige Stimme.

Du bist im Krankenhaus, erinnere ich mich. Ich befinde mich in der Sicherheit eines Krankenhauses. Kaum zu glauben, wenn man gerade gewürgt wird. Da mir keine andere Wahl bleibt, drücke ich den Notfallknopf über seinem Bett, hämmere mit der Faust darauf, ehe ich erneut alles probiere, seine Finger von meinem Hals zu kriegen.

»Izzy!«

Jemand ruft meinen Namen, und plötzlich sind weitere Hände an meinem Hals, um mir zu helfen.

»Frank, lass sie los«, warnt Susan ihn streng wie immer. »Wir könnten hier Hilfe gebrauchen, Pam!«

Pam taucht auf und bugsiert Frank zurück aufs Bett. Beinahe lande ich auf dem Hintern, als ich aus den Klauen des alten Mannes freikomme. Seine langen Fingernägel kratzen meine empfindliche Haut am Hals, sowie er von mir weggezerrt wird. Zurücktaumelnd ringe ich nach Atem, sauge begierig Sauerstoff in meine Lunge und lasse Susan und Pam zurück, die Frank beruhigen.

Ich berühre die Seite meines Halses und ziehe die Luft zwischen den Zähnen ein, denn es brennt. »Shit«, murmele ich und untersuche meine Fingerspitzen auf Blut. Da ist keins, aber verdammt, es brennt wie Feuer. Frank stößt ein paar sinnlose Rufe aus, ehe er sich der kleinen Armee der Krankenschwestern ergibt. Maulend und stöhnend darüber, dass man ihn gefangen hält, sinkt er auf die Matratze.

»Na, na, Frank«, spricht Susan besänftigend und aufmunternd zu ihm. »Das war aber nicht sehr nett, wie?« Sie steckt die Decke um seine Beine fest. »Izzy wollte Ihnen doch nur helfen.«

»Sheila wird sich schon fragen, wo ich bin«, blafft Frank und zeigt mit dem gekrümmten Zeigefinger erst auf Susan, dann auf mich. »Ihr dürft mich nicht hier festhalten!«

Pam wirft mir einen besorgten Blick zu, und ich schüttele den Kopf, um ihr zu signalisieren, dass es mir gut geht. Ich richte mich auf und mache mich daran, Susan zu helfen.

»Lassen Sie uns erst dafür sorgen, dass Sie sich wieder besser fühlen, und schon können Sie nach Hause«, sage ich sanft, schenke ihm Wasser ein und reiche ihm den Becher, dabei achte ich wachsam auf jedes Anzeichen, dass er mir erneut an die Gurgel gehen will. Er schnaubt verächtlich, nimmt jedoch das Wasser und trinkt. Seine Hand zittert. Der arme Mann. Er wird nicht mehr gesund, und er wird auch nicht nach Hause gehen. Sheila, mit der er Jahrzehnte verheiratet war, ist seit fünfzehn Jahren tot. Seine Tochter kann sich nicht um ihn kümmern, aber allein kommt er nicht zurecht. Also bleibt nur die Klinik, bis sich eine andere Möglichkeit findet. Wann immer das sein mag.

Ich schiebe den Blutdruckmonitor aus dem Zimmer. Susan, die Stationsschwester, geht neben mir und sieht auf ihre Uhr.

»Du bist in dieser Woche ganz schön herumgeschubst worden, Izzy«, meint sie und lächelt mir von der Seite zu. »Lass mich mal einen Blick darauf werfen.«

Ich winke ab. »Es ist nichts.«

»Das zu beurteilen, überlass bitte mir«, erwidert sie tadelnd, hält mich auf und streicht mein schulterlanges gewelltes schwarzes Haar zurück, damit sie meinen Hals untersuchen kann. »Wolltest du Pam nicht bitten, ihm die Fingernägel zu schneiden?«

Ich will meine Kollegin nicht in Schwierigkeiten bringen. »Wollte ich?«

Susan verdreht die Augen über meine gespielte Unwissenheit. »Komm, unsere Schicht ist zu Ende. Erledigen wir die Übergabe, dann kannst du nach Hause.«

Sie marschiert zu ihrem Büro, ihr rundlicher Po wackelt, und ich folge ihr. Es ärgert mich, dass ich den heutigen Dienst nicht unverletzt überstanden habe, denn das bedeutet weiteren Papierkram.

Nach einer halben Stunde Übergabe und Formularausfüllen gehe ich zur Entbindungsstation, um nach Jess zu sehen, danach will ich mich auf den Heimweg machen. Ich entdecke sie gleich durch das Glas der Doppeltür. Ihr Gesicht hellt sich auf, als sie über den Flur auf mich zukommt, um mich hereinzulassen. Die blonden Locken hat sie zu einem ordentlichen Knoten zusammengebunden, aus dem sich hier und da ein paar Strähnen gelöst haben, ein Hinweis darauf, dass sie schon seit einer Weile arbeitet. Sie öffnet die Tür und führt mich hinein. Aus allen Richtungen begrüßt mich das Geschrei der Babys. »Wow, da probieren aber einige ihr Lungenvolumen aus heute Nacht«, bemerke ich lachend. Meine beste Freundin nickt und wischt sich die Hände an ihrem Kittel ab. Sie ist Hebamme, eine hervorragende noch dazu. Wir haben uns auf dem College kennengelernt und teilen uns seit unserem achtzehnten Lebensjahr eine Wohnung. Sie ist buchstäblich meine ganze Familie.

»Es muss Vollmond sein«, meint Jess, wobei ihr Blick auf meinen Hals fällt. »He, das sieht ja schlimm aus.«

Ich berühre die Wunden und zucke zusammen. Meine Finger gleiten über die Desinfektionssalbe. »Frank hat einen Ausbruchsversuch unternommen.«

»Oh Mann, du hättest mir folgen sollen. Babys können dich nicht würgen.«

»Nein, aber Frauen in den Wehen schon.«

»Dafür haben wir ja Gebärpartner.«

Sie zwinkert mir zu, und ich lache, während ich mir den Mantel zuknöpfe, damit ich gegen die Kälte gewappnet bin. »Wann hast du Feierabend?«, frage ich.

»Um sechs morgen früh.«

Mitfühlend schaue ich sie an. Nachtschicht. »Weck mich nicht, wenn du nach Hause kommst.« Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange, gerade als ein Urschrei von einer Frau in den Wehen ertönt. »Ich werde nie Kinder haben.« Ich schüttele mich und gehe rückwärts zur Tür.

»Nee, ich auch nicht«, erwidert Jess. »Hey, nur noch eine Woche!«

Die Erwähnung unserer bevorstehenden Reise entlockt mir ein breites Grinsen. »Vegas, Baby«, rufe ich und höre weitere Schreie, die unser Lächeln dämpfen, denn sie erinnern uns daran, dass wir noch ein paar Schichten zu absolvieren haben, bevor wir uns wirklich freuen können. »Da erwartet dich eine Vagina.«

Jess seufzt und macht sich auf den Weg. »Ich habe schon genug Vaginen für ein ganzes Leben gesehen, und ich beabsichtige, in Vegas mit nichts als Schwanz dagegenzuhalten.«

Sie wirft einen schamhaften Blick über die Schulter, und ich muss laut lachen, was das Flehen um Betäubungsmedikamente aus einem der Zimmer übertönt.

»Muss los, Süße!«, sagt sie und eilt zu ihrer Patientin.

Grinsend verlasse ich die Entbindungsstation.

Nachdem ich mir aus dem Café unten einen Tee zum Mitnehmen geholt habe, trete ich hinaus in den kalten Winterabend und trete meinen Heimweg an. Die frische Luft belebt sofort meinen nach der langen Schicht müden Körper. Zu Fuß nach Hause und zur Arbeit zu gehen ist nicht nur eine Notwendigkeit. Die halbe Stunde zum Krankenhaus hilft mir hervorragend, wach zu werden, damit ich bereit für meinen Dienst bin. Der Spaziergang nach Hause wiederum verschafft mir einen klaren Kopf und beruhigt mich. Abgesehen davon kann ich mir kein Auto leisten, selbst wenn es sinnvoll wäre, eins zu besitzen. Was ich nicht tue. Die Fahrt würde wahrscheinlich doppelt so lange dauern wie der Fußmarsch, und beim Royal London einen Parkplatz zu finden, ist nahezu aussichtslos.

Während ich meinen Tee trinke, schaue ich auf mein Handy und stutze, als ich einen verpassten Anruf einer unbekannten Nummer entdecke. Vermutlich nur ein Werbeanruf, sage ich mir. Oder eine dieser nervigen Marktumfragen, denn er kann es unmöglich sein nach all der Zeit. Zehn Jahre, seit ich weggelaufen bin. Es ist zehn Jahre her, dass ich ihm entkommen bin.

Ich entsorge den Teebecher, schiebe die Hände in die Taschen meines Mantels, ziehe wegen der Kälte die Schultern hoch und setze meinen Weg zügig fort. Die Erinnerung lässt sich verdrängen, jedoch niemals der Schmerz.

Heute Abend ist es besonders kalt, ich lächle dennoch bei dem Gedanken, dass Vegas heiß, heiß, heiß wird. Mein erster Urlaub seit Jahren. Ich kann es kaum erwar…

Ein lautes Geräusch hinter mir erschreckt mich, und ich stoppe, um mich umzublicken. Ich halte Ausschau nach anderen Leuten, aber da sind keine, nur das schwache Licht der Straßenlaternen in der Dunkelheit. Die Lagerhäuser auf der anderen Straßenseite stehen leer, seit ich denken kann, und die Fenster der Häuser auf meiner Seite sind überwiegend mit Brettern vernagelt. Seit Jess herausgefunden hat, dass ich diese kleine Abkürzung nehme, liegt sie mir ständig damit in den Ohren, eine andere Strecke zu laufen – was ich ihr schließlich auch versprach. Aber ich gehe diesen Weg seit Jahren, und für gewöhnlich ist hier nie jemand unterwegs außer mir. Heute Abend schon.

Meine Nackenhärchen richten sich auf, da ich erneut ein lautes Krachen höre. Sofort beschleunige ich meine Schritte, eile fort von diesen Geräuschen und blicke dauernd über meine Schulter. Meine Besorgnis nimmt ab, je weiter ich mich dem Ende des Weges nähere und damit der Hauptstraße. Doch dann lässt ein leises, schmerzerfülltes Wimmern mich stehen bleiben. Ich drehe mich um und entdecke einen Wagen, der mit quietschenden Reifen in die entgegengesetzte Richtung wegfährt. Als das Motorengeräusch verebbt, höre ich stärkeres Wimmern. Mein Instinkt meldet sich, und ich gehe trotz meines Unbehagens zurück. Jemand hat Schmerzen, da kann ich nicht einfach abhauen. Vielleicht ist das die Krankenschwester in mir. Oder die menschliche Natur.

Ich fange an zu rennen und versuche dabei so geräuschlos wie möglich aufzutreten, damit ich höre, woher die Laute kommen. Ich vernehme leises Weinen. Es ist eine Frau. Ich laufe schneller und erreiche eine abzweigende schmale Gasse, kann allerdings nichts erkennen. »Hallo?«, rufe ich und ziehe mein Handy aus der Handtasche.

»Bitte helfen Sie mir«, fleht eine weibliche, verzweifelte Stimme. »Bitte.«

»Ich bin hier. Einen Moment.« Ich suche die Taschenlampenfunktion in meinem Smartphone, schalte sie ein und leuchte in die Gasse hinein. Eine Frau wird sichtbar, die an eine Backsteinmauer gelehnt daliegt. »Oh mein Gott, geht es Ihnen gut?« Ich renne zu ihr und leuchte mir mit dem Handy den Weg. Als ich bei ihr bin, knie ich mich hin und untersuche sie. Sie wirkt benommen, und nachdem ich ihr in die Augen geleuchtet habe, komme ich zu dem Schluss, dass sie eine Gehirnerschütterung hat. Ich mustere ihre zierliche Gestalt auf der Suche nach Verletzungen. Angesichts ihrer Kleidung frage ich mich, ob sie eine Prostituierte ist. Traurigerweise begegne ich denen ständig im Krankenhaus.

»Wie heißen Sie?« Ich streiche ihr das Haar aus dem Gesicht. Über einer Braue entdecke ich eine beträchtliche Platzwunde und beiße die Zähne zusammen. Sie antwortet nicht, stattdessen rollt ihr Kopf schwer hin und her. »Können Sie mich hören?«, erkundige ich mich und stelle meine Handtasche ab. Sie sagt immer noch nichts, also bringe ich sie rasch, aber vorsichtig in die stabile Seitenlage. »Ich hole Hilfe«, erkläre ich und will einen Krankenwagen rufen.

Bevor die Verbindung zustande kommt, packen mich jedoch zwei Hände von hinten und zerren mich zurück. Mit einem wütenden Knurren werde ich zur Seite geschubst. Ich stoße einen kurzen Schrei aus, und mein Handy knallt auf den Boden. Jetzt habe ich kein Licht mehr, und Panik überfällt mich in der Finsternis. Ich rutsche auf dem Hintern rückwärts, meine Füße scharren über das schmutzige Kopfsteinpflaster in der Gasse. Mein Herz rast wie verrückt. Es ist vertraute Angst, was die Panik noch verstärkt.

Ich kann nichts sehen, aber mir steigt der Geruch von altem Schweiß und Alkohol in die Nase. Prompt tauchen Erinnerungsbilder vor meinem inneren Auge auf und reißen die hohen Schutzmauern ein, die ich mich ständig intakt zu halten bemühe. Leises Wimmern erinnert mich an die Frau neben mir, die kaum bei Bewusstsein ist. Ich strecke die Hand nach ihr aus und probiere, ihre Finger zu berühren und sie so zu beruhigen.

Scharfer Schmerz durchfährt mich, als meine Hand brutal weggetreten wird, und ich schreie auf. Mit Tränen in den Augen presse ich sie an meine Brust. Ich bin direkt in die Gefahr hineingelaufen. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Wie konnte ich so blöd sein? Andererseits habe ich doch nur zu helfen versucht. Vielleicht ist es mir wenigstens gelungen, die Anzahl der Schläge, die diese Frau abbekommen sollte, zu halbieren. Ich kann sie schließlich aushalten. Ich kenne das ja. Ich mache die Augen zu und sehe das Monster, das mich gequält hat, und dann seine Faust, die auf mein Gesicht zuschwingt.

Zack!

Ich zucke zusammen, Flammen lodern in meinem Kopf auf, als eine Hand auf meine Wange trifft. Allerdings ist es nicht die aus meiner Erinnerung. Mit jener Entschlossenheit, auf die ich mich vor vielen Jahren verließ, seither jedoch nie wieder brauchte, halte ich die Tränen zurück. Es ist der reine Überlebenswille. Ich schalte meinen Verstand aus, atme ruhig und erwarte den nächsten Schlag.

»Du hättest weitergehen sollen, Schlampe.«

Ich rieche seinen üblen Atem und möchte mich am liebsten übergeben. Er packt mich am Revers meines Mantels, zerrt mich hoch und atmet mir ins Gesicht. Ich öffne die Augen, nicht nur, um mich davon zu überzeugen, dass ich diesen Typen nicht kenne, sondern vor allem, weil er ganz nah ist und ihn vielleicht in der Dunkelheit sehen kann. Zähne, verfault und kaputt, sind das Erste, was ich erkenne, aufgesprungene Lippen drumherum und ein Grinsen im Gesicht.

»Wolltest der armen Nutte helfen, was?«

In seinen Augen blitzt das Böse auf, die Pupillen sind geweitet. In solche Augen habe ich schon einmal geschaut. Sie sind voller grausamer Absichten. Ich halte den Mund, um nicht noch Öl ins Feuer zu gießen, doch als er mit seiner dreckigen Hand meinen Oberschenkel begrapscht und sie hinaufgleiten lässt über meinen Bauch bis zu meinen Brüsten, schreie ich erstickt auf, denn meine Furcht erreicht neue Dimensionen. Ein paar Schläge kann ich ertragen, aber nicht das. Nein. Nein, das halte ich nicht noch einmal aus. Ich werde mich mit aller Kraft gegen ihn wehren. »Bitte nicht.«

»Hm«, macht er summend, sein widerliches Grinsen wird breiter. »Ich glaube, ich nehme mir ein bisschen, da du …«

Er wird vom Aufheulen eines Motors unterbrochen. Die Gasse wird plötzlich von Scheinwerferlicht erhellt. Ich blinzle geblendet. Mein Herz pocht noch immer wie verrückt, und ich versuche mich zu sammeln. Ich spüre, wie der Griff des Mannes sich lockert.

»Scheiße«, flucht er, seine Stimme ist jetzt eher unsicher als bedrohlich.

Ich höre eine Wagentür zuschlagen, dann ertönen schnelle Schritte. Plötzlich wird mein Angreifer von mir geschleudert. Er stößt einen überraschten Schrei aus und schüttelt mich ordentlich durch, als seine Hände von meinem Mantel losgerissen werden. Ich zucke zusammen, sowie ich seinen Aufprall an der gegenüberliegenden Mauer wahrnehme. Als ich klar sehen kann, erschrecke ich beim Anblick des großen Mannes, der mit dem Rücken zu mir über den zitternden Dreckskerl gebeugt steht, der drauf und dran war …

Ich schüttele heftig den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben. Wer immer da gerade aufgetaucht ist, wirkt ebenso bedrohlich, wenn auch deutlich besser gekleidet. Er trägt einen Anzug, seine gewellten Haare reichen ihm bis über die Ohren. Dank der Scheinwerfer kann ich verfolgen, wie er den Mistkerl, der mir eben ins Gesicht geschlagen hat, am Pullover packt und gegen die Wand drückt. Fasziniert beobachte ich, wie dessen Augen sich weiten und die Wirkung des Alkohols der Furcht weicht.

»Nein, bitte«, fleht mein Angreifer und scheint sich noch enger an die Mauer zu drücken.

Der Fremde im Anzug sagt nichts, sondern hält ihn an der Kehle gefasst, sodass dem anderen die Augen aus dem Kopf treten. Ich kann mich nicht rühren. Abgesehen davon traue ich mich auch nicht. Doch als ich ein leises Jammern höre, schaue ich hinunter auf die Frau neben mir. Sie ist unruhig, strampelt mit den nackten Beinen, ihr Kopf rollt hin und her. Meinem natürlichen Instinkt folgend, bin ich im Nu wieder bei ihr, ohne mich um fremde große Männer in Anzügen oder um betrunkene Arschlöcher zu kümmern.

Ich gebe beruhigende Laute von mir und fühle mit ihr, während sie sich mir zuwendet und ihr Gesicht an meinen Hals schmiegt, als wollte sie sich verstecken. Als suche sie Schutz. Ich weiß nicht, warum, aber es kommt mir so vor, dass dieser Schutz jetzt da ist. »Es wird alles gut«, flüstere ich und streiche ihr über den nackten Arm. Dabei fällt mir auf, wie kalt sie ist. Rasch überprüfe ich ihren Puls und ziehe anschließend meinen Mantel aus. Ich versuche, ihn ihr um die Schultern zu legen, und achte nicht auf das, was sich in einigen Schritten Entfernung an hässlichen Szenen abspielen könnte. Ich habe nichts übrig für Männer, die Frauen schlagen, aber Gewalt ertrage ich auch nicht.

Meine Aufmerksamkeit bleibt auf die Frau gerichtet, bis ich eine Autotür klappen höre, danach eilige, gleichmäßige Schritte, die sich beinah ein bisschen unheilvoll nähern. Der Typ im Anzug hält meinen Angreifer weiterhin an die Mauer gedrückt, also muss es jemand anders sein. Ich lege der Frau meinen Arm um die Schultern und schaue nach rechts, bis ich den Wagen entdecke. Ein Bentley, wie ich trotz meines Schocks erkenne. Und auf einmal wird mir die Sicht durch ein Paar Hosenbeine versperrt. Lange Beine. Kräftige Beine. Starke Beine. Langsam gleitet mein Blick aufwärts, über Schenkel, einen Oberkörper in einem Jackett, den Hals …

Bis hinauf zum Gesicht.

Seine durchdringenden blauen Augen strahlen einen Glanz aus, bei dem ich blinzeln muss.

Ich schlucke, hole tief Luft und halte den Atem an, während er über mir aufragt.

Er mag zwar einen Anzug tragen, doch der kann seine Kraft nicht kaschieren. Er ist muskulös und strahlt etwas Animalisches aus. Ich öffne ein wenig den Mund beim Ausatmen, bin benommen vom Anblick dieser beeindruckenden Kraft. Er wirkt einschüchternd. In diesen blauen Augen, mit denen er mich ansieht, liegt dennoch Sanftheit. Sein braunes Haar fällt ihm weich in die Stirn.

»Wer sind Sie?«

Seine tiefe raue Stimme durchdringt mich. Ich bleibe stumm und starre ihn bloß an, während mein Verstand herauszufinden versucht, ob ich Angst haben muss.

»Wer. Sind. Sie?«, wiederholt er seine Frage und klingt dabei bedrohlich.

»Ich war auf dem Heimweg«, erkläre ich hastig. »Und da hörte ich …« Ich stutze, da mir klar wird, dass ich den Namen der Frau in meinem Arm gar nicht kenne.

»Penny«, sagt er auf sie deutend. »Sie heißt Penny.«

Ich schlucke nervös und kann nicht aufhören, dieses Kraft- und Muskelpaket vor mir zu mustern. Er kennt diese Frau? »Ich habe Penny gehört. Sie klang verzweifelt.«

Fragend neigt er den Kopf zur Seite. »Und Sie sind ihr zu Hilfe geeilt?«

»Ja«, antworte ich leicht skeptisch.

Es fühlt sich an, als ob sein Blick mir die Haut versengen würde. Am liebsten würde ich wegschauen, bevor ich noch verglühe. Er ist definitiv eine einschüchternde Erscheinung, dennoch sagt mein Instinkt mir, dass ich nicht in Gefahr bin. Ebenso wenig Penny. Unser Angreifer hingegen schon.

Der Mann vor mir sieht kurz zu seinem Partner, ehe er Penny mustert und dann wieder mich anschaut. Die Wärme, die sich unter meiner Haut ausbreitet, löst Unbehagen bei mir aus. Er ist ein attraktiver Mann. Das erkenne ich trotz der harten, angespannten Miene und Haltung. Allerdings wäre jeder verrückt, sich mit ihm anzulegen. Ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren, so unglaublich beeindruckend wirkt er. Ich frage mich, was aus meiner Angst und dem Schrecken geworden ist. Es liegt an ihm, an seiner Gegenwart, seiner Stimme. In dem Moment, als er auftauchte, war ich nicht länger verängstigt, und das ist schlichtweg bizarr, angesichts seiner mächtigen, einschüchternden Erscheinung. Seine Augen jedoch haben eine besänftigende Wirkung auf mich.

Und dann werde ich noch ruhiger, als ich sehe, wie sich einer seiner Mundwinkel um die schmalen Lippen hebt. Es ist kein fieses Lächeln, das kenne ich zur Genüge. Nein, es ist ein amüsiertes Lächeln, das ein viel zu süßes Grübchen entstehen lässt.

Er schaut wieder zu seinem Partner und nickt, eine stumme Anweisung, worauf der Typ, der den Zuhälter im Würgegriff hat, diesen vorwärts schubst. Er nimmt ihn in den Polizeigriff und tritt ihm gegen die Füße, damit er sich bewegt, sein Flehen um Gnade wird ignoriert. »Was werden Sie mit ihm machen?«, will ich wissen, während der Kerl, begleitet von panischen Rufen seinerseits, weggeführt wird, das noch lauter wird, als ein Lieferwagen auftaucht. Er wird hinten hineingeworfen, die Türen werden ruhig geschlossen, und eine Sekunde später fährt der Lieferwagen wieder ab.

Ich blicke erneut zu dem großen Mann vor mir, der sich kein Stück von der Stelle gerührt hat.

Er antwortet nicht auf meine Frage, stattdessen hält er mir die Hand hin. »Hier.«

Ich presse die Lippen fest aufeinander und wappne mich für den Kontakt. Ich verstehe es nicht, aber als er sich ein wenig vorbeugt, um meine Hand zu umfassen, schlägt mein Herz schneller. Er sieht mich mit einem fast lasziven Blick an, in den sich Verärgerung mischt, und hilft mir auf. Ich stehe benommen da. Berauscht und schwankend. Was zur Hölle ist das?

Rasch zieht er seine Hand zurück, und ich taumele einige Schritte rückwärts. Er beobachtet, wie ich auf Distanz gehe, und scheint tief in Gedanken versunken zu sein. »Was?«, meine ich, und sei es nur, um das unbehagliche Schweigen zu beenden.

»Ihre Hände sind so warm«, erwidert er leise und betrachtet sie. »Dabei ist es heute Abend sehr kalt.«

»Habe ich Sie verbrannt?«, erkundige ich mich nervös lachend. Er runzelt die Stirn und ignoriert meine Frage. Dann dreht er sich zu dem blonden Mann im Anzug um, der gerade zurückkommt und Penny aufhilft, er hebt sie auf die Arme und trägt sie zum Bentley.

»Bring sie zurück ins Playground«, befiehlt der Typ vor mir brüsk.

»Sie hat eine Gehirnerschütterung«, protestiere ich. Ich habe keine Ahnung, was das Playground ist, aber es dürfte klar sein, dass es sich nicht um ein Krankenhaus handelt.

Er macht einen Schritt auf mich zu, beinah drohend. Ich weiche nicht zurück, sondern finde die Kraft, mich zu behaupten. Er scheint überrascht zu sein.

»Gehirnerschütterung? Woher wissen Sie das?«

»Ich bin Krankenschwester«, erkläre ich. »Sie muss ins Krankenhaus.«

»Sie sind Krankenschwester?«

Ich nicke, in seinen Augen flackert Neugier auf.

»Sie braucht medizinische Versorgung. Ich wollte gerade einen Krankenwagen rufen, als der …« Ich bringe den Satz nicht zu Ende.

Seine Lippen zucken vor Abscheu, was sein gutes Aussehen ein klein wenig dämpft. Das ist tatsächlich, wenn auch unheimlich, noch beruhigender als seine beeindruckende Präsenz.

»Kein Krankenhaus«, verkündet er keinen Widerspruch duldend und wieder einen Schritt auf mich zu machend.

Kein Krankenhaus? Das ist verrückt. Es ist mir egal, wie groß er ist oder wie furchterregend er zu sein scheint. Diese Frau muss behandelt werden. »Ich fürchte, ich muss darauf bestehen«, sage ich bestimmt und reiße mich von seinem durchdringenden Blick los, um zu seinem Begleiter zu schauen, der Penny behutsam auf den Rücksitz des Bentleys setzt. »Ich habe nichts dagegen, sie zu begleiten, falls Ihre Anwesenheit ein Problem darstellt oder unerwünschte Fragen nach sich zöge.« Ich bin nicht blöd. Ich kenne diesen Mann nicht, aber alles an ihm sagt mir, dass Fragen nach den Umständen, die zu Pennys Verletzung geführt haben, nicht gut aufgenommen werden würden. Oder neugierige Fragen nach ihm.

»Wie kommen Sie darauf?«

Seine Stimme ist tief und leise. Sie klingt rau, doch auch samtig, bedrohlich und zugleich beruhigend. Seine kobaltblauen Augen scheinen zu tanzen, als ich ihn ansehe. Meine Reaktion begeistert ihn offenbar. Es gefällt ihm, dass ich seine Autorität herausfordere.

»Instinkt.«

Wieder zucken seine Lippen leicht, und dieses Grübchen erscheint, während er belustigt die Brauen hebt. Jetzt nervt sein Humor mich, und ich nehme meinen Mut zusammen und trete einen Schritt vor, um ihm meine Entschlossenheit zu demonstrieren. Denn ehrlich, ich bin entschlossen. »Sie muss in ein Krankenhaus.«

Sein Grübchen wird tiefer. »Wie heißen Sie?«

»Izzy.« Ich zögere nicht, ihm meinen Namen zu nennen. Ich weiß nicht, warum das so ist. »Izzy White.«

»Izzy White. Ich bin Theo. Theo Kane.«

Von Neuem verliere ich mich in seinen Augen. Hinter seinen harten Zügen verbirgt sich eine Schönheit, die ihn jünger erscheinen lässt, als ich anfänglich dachte. Aber er hat die Ausstrahlung eines reiferen Mannes.

Er bietet mir seine Hand. Ich blicke darauf und rolle mit den Schultern, um die Nervosität abzuschütteln.

»Nehmen Sie sie, Izzy.«

Ich tue es, und er zieht mich zu sich, sodass ich ihm gefährlich nahe komme. Er schluckt, seine Hand beginnt zu zittern, und er weicht zurück, allerdings ohne mich loszulassen, als ringe er mit sich, ob er mich gehen lassen soll oder nicht. Ich sehe ihn fragend an und erkenne den inneren Zwiespalt in seinen Augen. Aus dieser geringen Entfernung sticht seine Größe noch mehr hervor; der Mann ist riesig, ich reiche ihm bis zum Hals.

Meine Hand festhaltend tritt er wieder einen kleinen Schritt auf mich zu, als wolle er sich mir vorsichtig nähern. Man könnte ihn absolut für einschüchternd halten, aber ich bin vor allem fasziniert. Er betrachtet mich eingehend. Seine spitzen Bartstoppeln sprießen gleichmäßig auf seinen Wangen, seine Lippen sind leicht geteilt.

»Sie haben weiche Hände«, murmelt er. »Warm und weich. Ich mag es, wie sie sich anfühlen.«

Oh mein Gott.

Perplex wende ich den Blick ab. »Sie muss untersucht werden«, erkläre ich sinnloserweise und spüre den Druck seiner Hand. Ich versuche meine zurückzuziehen, doch er lacht nur über meine Bemühungen und umklammert sie weiter. »Ich beschwöre Sie dringlichst, sie ins Krankenhaus zu bringen. Das ist der beste Ort für sie.«

»Sie glauben nicht, dass ich mich um sie kümmern kann?«

»Verzeihen Sie mir, aber Sie sehen nicht wie jemand mit medizinischem Fachwissen aus.«

»Sie hingegen schon«, erwidert er sanft und scheint mir die Bemerkung nicht übelzunehmen. Seine Hand bewegt sich in meiner, seine Finger tasten nach meinen. »Also werden Sie mit mir kommen.«

»Was?«, platze ich heraus. Ist er verrückt?

»Ihre Sorge um Penny ist rührend«, fährt er fort, und jetzt ist er es, der seine Hand freizubekommen versucht.

Plötzlich mutig, halte ich ihn fest. Seine Miene verhärtet sich, und mit einem scharfen Laut befreit er sich. Ich lasse den Arm sinken und schaue in ein Gesicht, bei dessen Anblick ich zwischen unwiderstehlich und gefährlich schwanke.

»Ich werde veranlassen, dass alles Nötige für Sie bei unserer Ankunft bereit ist.«

»Ich bin keine Ärztin, ich bin Krankenschwester. Mein medizinisches Wissen ist nicht so umfassend wie das einer Ärztin.«

»Ich habe vollstes Vertrauen in Sie.« Theo deutet zu dem beeindruckenden Bentley, und ich schaue in die Richtung. »Keine Angst, ich werde Ihnen nichts tun, Izzy«, flüstert er leise und dreht diese großen Hände um, damit ich seine Handflächen sehe. »Das verspreche ich.«

Ich habe keinerlei Grund, ihm zu glauben, nur dieses Gefühl, dass er keine Gefahr für mich darstellt. Trotzdem sollte ich vernünftig sein. Und es wäre nicht sehr vernünftig, mit diesen beiden riesigen Männern in den Wagen zu steigen. Ich schüttele den Kopf und weiche zurück. »Würden Sie sie bitte einfach ins Krankenhaus bringen?«

Seufzend greift er in sein Jackett und zieht etwas heraus. »Das kann ich nicht.«

Ich blicke auf das, was er in der Hand hält.

Eine Waffe.

»Oh mein Gott«, flüstere ich und drohe, die Fassung zu verlieren. »Okay, ich komme mit.« Ich hebe die Hände.

»He, beruhigen Sie sich«, sagt er viel zu sanft in Anbetracht der Tatsache, dass er eine Pistole auf mich richtet. Dabei zielt er gar nicht, sondern hält sie lediglich in der Hand. »Die ist für Sie.« Er nimmt meine Hand und drückt mir die Waffe hinein. »Zur Sicherheit.«

Das Gewicht überrascht mich, und ich blicke ihn verwirrt an. »Was?«

»Falls Sie das Gefühl haben, in Gefahr zu sein, dann erschießen Sie mich ruhig.« Erneut erscheint dieses sexy Lächeln, sodass ich wegschauen muss. »Tut mir leid, dass ich Ihnen Angst gemacht habe.«

Bei seiner Entschuldigung erliege ich prompt wieder diesem Ausdruck in seinen Augen, der eine widerstreitende Mischung ist aus Sanftmut und Härte. Nein, er wird mir nichts tun. Oder Penny. Ich erkenne, wenn einer den starken Mann markiert. Das tut Theo, keine Frage, doch er ist Frauen gegenüber nicht gewalttätig.

Ich schlucke und straffe die Schultern, dann gebe ich ihm die Waffe zurück. »Ich glaube, die werde ich nicht brauchen.«

Neugierig neigt er den Kopf zur Seite und nimmt die Waffe an sich. »Warum?«

»Weil ich meine eigene habe«, scherze ich und verdrehe die Augen. Wieder schenkt er mir dieses verwegene Lächeln. Dieses verdammte Lächeln. Es sollte nicht so gut zu ihm passen. »Wo wohnen Sie?«, will ich wissen, denn ich frage mich, in welchem Verhältnis er zu Penny steht.

»Sie brauchen sich wegen einer Adresse keine Gedanken zu machen.«

Er legt mir eine Hand auf die Schulter, und prompt zucke ich unter dieser Berührung zusammen. Feuer wütet in meinen Adern. Mir dreht sich der Kopf.

»Sie kommen mit mir, und ich lasse Sie dann von meinem Fahrer nach Hause bringen, sobald Sie sich um Penny gekümmert haben.« Er drückt sanft zu, seine große Hand bedeckt praktisch meine ganze Schulter.

Die seltsame Wärme, die tief in mich einsickert, während ich zum Wagen gehe, ist verwirrend. Ich kann kaum denken, so sehr rauscht mir das Blut in den Ohren. Wer zur Hölle ist dieser Mann?

Quadrat
2. KAPITEL

Ich rede mir ein, dass Pennys Wohlbefinden der einzige Grund dafür ist, dass ich auf dem Weg wer weiß wohin jetzt in einem weichen Ledersitz versinke. Natürlich belüge ich mich nur selbst. Theo hat mich glatt in eine Idiotin verwandelt. Offenbar verliere ich zunehmend den Verstand. Er wollte mir eine Waffe geben, damit ich auf ihn schießen kann, falls ich das für notwendig erachte. Eine Pistole! Allerdings ist er aufgekreuzt und hat diesen Dreckskerl davon abgehalten …

Ein kalter Schauer überläuft mich, als ich behutsam eins von Pennys Lidern hebe, um mir ihre Pupille anzusehen, bevor ich ihre Platzwunde untersuche. Die hat aufgehört zu bluten, wird aber definitiv genäht werden müssen. Ich habe ein bisschen ein schlechtes Gewissen, weil ich froh bin, mich um Penny kümmern zu können, denn er beobachtet mich nach wie vor, und das verursacht mir Herzklopfen.

»Sie sind schon wieder nervös.«

Theo dringt mit dieser sachlichen Feststellung in mein Bewusstsein, sodass die Bewegung meiner Hände stockt. Ja, ich bin tatsächlich nervös, doch nicht aus den Gründen, aus denen ich es sein sollte.

»Glauben Sie wirklich, ich könnte Ihnen etwas tun? Hat mein Angebot, dass Sie sich bewaffnen können, Sie nicht hinreichend beruhigt?«

»Sie werden mir nichts tun«, erwidere ich, ohne zu zögern, lasse Penny widerstrebend in Ruhe und lehne mich in den Sitz zurück. Seine langen Beine sind an den Knien angewinkelt, sein großer Oberkörper ist entspannt zurückgelehnt, und einer seiner muskulösen Arme ruht auf der Lehne neben seinem Sitz. Es ist dunkel, aber ich sehe ihn so deutlich wie am helllichten Tag. Er fordert Aufmerksamkeit. Respekt. Strahlt Macht aus. Er ist einschüchternd, wie ein Mann überhaupt nur sein kann. Ich rutsche unruhig auf meinem Platz herum und will mich abwenden, es gelingt mir allerdings nicht, den Blickkontakt zu unterbrechen. »Und ich vertraue meinem Instinkt«, füge ich hinzu und schlucke schwer.

Theo bewegt sich ebenfalls ein wenig, legt den Zeigefinger an den Mund und streicht damit langsam über die Oberlippe. »Und was sagt Ihnen Ihr Instinkt, Izzy?«

»Dass es nicht Ihr Stil ist, Frauen wehzutun.« Ich lasse alles weg, wovon ich glaube, dass es seinem Stil entspricht. Es könnte nämlich dauern, das aufzuzählen, und es wäre sicher nicht klug, diesem Mann zu nahezutreten.

»Ihr Instinkt trügt Sie nicht. Ich toleriere keine Gewalt gegen Frauen.«

Offenbar merkt er mir die Erleichterung an, und da wird mir klar, dass ich gerade unwillentlich etwas von mir preisgegeben habe. »Das ist gut«, sage ich leise.

»Woher kommt Ihr Instinkt?«

Ich wende nun doch den Blick ab, um mich zu sammeln. Als ich ihn wieder ansehe, lächelt er. Es ist ein mitfühlendes Lächeln, das seine harten Züge mildert und ihn noch attraktiver wirken lässt. Er ist so verdammt gut aussehend.

Theo akzeptiert anscheinend, dass er keine Antwort von mir erhalten wird, daher schaut er zu Penny, sein Lächeln verschwindet, Härte kehrt in seine Miene zurück.

»Sie ist die Tochter eines alten Freundes«, erklärt er mit leiser Stimme.

Ich folge seinem Blick zu der bewusstlosen Frau neben mir. Ihr blondes Haar ist um eins ihrer Ohren herum mit Blut verklebt, ihr Gesicht ist blass.

»Sie verlor den Halt nach dem Tod ihres Vaters. Verschwand. Ich habe versucht, sie zu finden.« Er lacht bitter. »Einundzwanzig Jahre alt und verkauft ihren Körper.«

Er gibt einen nachdenklich klingenden, vielleicht ein wenig traurigen Laut von sich. Das lenkt meine Aufmerksamkeit auf ihn, wie er seine auch wieder auf mich richtet.

»Das tut mir leid«, meine ich, denn ich erkenne hinter der Fassade des stahlharten Mannes den aufrichtigen Kummer. »Standen Sie ihrem Vater sehr nahe?«

»Könnte man sagen.« Er räuspert sich und schaut aus dem Fenster, ein Zeichen dafür, dass die Unterhaltung beendet ist. »Wir sind da.«

Ich schaffe es, nicht erstaunt nach Luft zu schnappen. Ein riesiges schmiedeeisernes Tor öffnet sich langsam und gibt den Blick frei auf eine Villa von monumentalem Ausmaß. Das Gebäude erhebt sich in der Ferne, es wird angeleuchtet von Strahlern auf dem Boden. »Wow.« Ich kann meine Verblüffung nicht verbergen. »Hier wohnen Sie?« Wahrscheinlich könnte man unser Apartment allein schon unter der überdachten Auffahrt vor dem Haus unterbringen.

»Ich wohne hier, ich arbeite hier …«

Ein alter Mann mit silbergrauem Haar und einer Drahtgestellbrille öffnete die Tür. Offensichtlich hat er unsere Ankunft erwartet.

»… spiele hier.«

Ich werfe Theo einen Blick zu und stelle fest, dass er mich beobachtet. Diesmal muss ich mich einfach abwenden. Spielen? Die Tür auf der anderen Seite des Wagens wird aufgemacht, und ein Mann hebt Penny behutsam heraus – es ist der andere riesige Kerl aus der Gasse. Blondes Haar fällt ihm in die Stirn, sein glatt rasiertes Gesicht verrät Anspannung, seine Nasenflügel beben leicht. Er ist nicht ganz so groß wie Theo, wirkt aber wie eine Kraft, mit der man rechnen muss. Außerdem ist er der Hübschere der beiden.

»Nach Ihnen.«

Theo bedeutet mir auszusteigen, und ich tue es, wobei ich mich umschaue. Die hohe Doppeltür vor mir steht weit offen, und an den Betonsäulen rechts und links sind zwei weitere kräftige Männer postiert. Finster dreinblickende Männer in Anzügen, die uns knapp zunicken, während wir an ihnen vorbeigehen. Ich versuche, nicht allzu ehrfürchtig auszusehen, als ich das prachtvolle Innere von Theos Zuhause betrete. Auf beiden Seiten der großen Eingangshalle führt eine Treppe nach oben auf eine Galerie, die einmal um den ganzen Raum herumreicht. Von der hohen Decke baumelt ein gewaltiger Kronleuchter, dessen Kristalle fast bis hinunter zum Fußboden reichen.

Der Mann, der Penny trägt, steigt links die Treppe hinauf. Ich drehe mich um, da ich höre, wie hinter uns die Türen geschlossen werden. Die zwei Wachen stehen nun drinnen. Eine Frau erscheint mit einem Tablett, auf dessen Mitte ein Glas mit dunkler Flüssigkeit steht. Sie stoppt in knapp zwei Meter Entfernung von Theo und hält ihm das Tablett hin. Er muss sich ihr nähern, um an seinen Drink zu gelangen.

»Wird Ihnen immer ein solcher Empfang bereitet, wenn Sie nach Hause kommen?«, erkundige ich mich nervös lächelnd.

Er grinst, zieht sein Jackett aus und reicht es der Lady, ehe er das Glas nimmt und es an die Lippen führt. Sein Anblick ohne Jackett lässt mir den Atem stocken. Das weiße Hemd umschmiegt aufregend seinen muskulösen, definierten Oberkörper. Ich lasse meinen Blick höher gleiten und verfolge den Weg des Glases an seinen Mund. Um mich abzulenken, trete ich zurück und greife in meine Handtasche. Außerdem muss ich mich dem Blick dieser intensiven Augen entziehen, sonst kann ich an nichts anderes mehr denken als an seine Gegenwart.

»Ich habe sehr aufmerksame Angestellte«, sagt er und stellt das leere Glas auf das Tablett. »Möchten Sie einen Drink?«

»Nein danke.« Ich krame in meiner Handtasche nach meinem Smartphone, ohne recht zu wissen, was ich eigentlich damit will. Ich muss niemanden anrufen, da Jess noch bei der Arbeit ist. Aber ich muss einfach etwas tun, damit ich abgelenkt bin. Mitten in der Suche halte ich inne und erinnere mich daran, dass mein Handy zerstört wurde. Ich könnte lachen. Ich befinde mich in einem fremden Haus mit vielen fremden großen Männern, und ich habe kein Telefon. Sehr schlau, Izzy, echt.

»Haben Sie etwas verloren?«, erkundigt Theo sich und steckt die Hände in die Taschen.

Ich hebe den Kopf und recke das Kinn. »Ja, meine Waffe.«

Seine Augen funkeln, und er hebt kapitulierend die Hände.

Ich seufze und schüttele ungläubig den Kopf. »Ich sollte mich um Penny kümmern und dann gehen.«

»Natürlich.« Er läuft zur Treppe. »Ich werde Ihnen den Weg zeigen.«

Ich hole tief Luft und folge ihm, wobei ich auf alles um mich herum achte, nur nicht auf dieses Exemplar von einem Mann vor mir. Also betrachte ich die Kunstwerke an den Wänden, den gestreiften Treppenläufer mit den goldenen Stangen an jeder Stufe, die kunstvolle Stuckdecke.

Seinen Rücken.

Seinen Hintern.

Seine Schenkel.

Ich beiße mir auf die Lippe … und stolpere prompt. »Mist.« Ich stürze nach vorn gegen die Rückseite dieser Oberschenkel.

»Vorsichtig.«

Theo wirbelt herum und fängt mich auf. Sein Po landet auf einer Treppenstufe, als er meine Hüften umfasst. Ich knie auf der Stufe unter ihm, seine langen Beine sind gespreizt. Sein Griff ist fest, und mir wird heiß. Ich halte den Blick auf die Brust vor mir gerichtet.

»Geht es Ihnen gut?«, fragt er und klingt so angespannt, wie er aussieht.

»Mir ist schwindelig geworden von Ihrem gestreiften Treppenläufer«, murmele ich wie eine Idiotin, mal abgesehen davon, dass es glatt gelogen ist. Denn er ist es, der diesen Schwindel bei mir auslöst. Er ganz allein. Seine raue Attraktivität, seine Stimme, seine Erscheinung. Seine Berührung.

»Vielleicht sollte ich Sie tragen«, schlägt er vor.

Es klingt nicht nach einem Scherz. Er meint es vollkommen ernst, und obwohl es ein lächerlicher Vorschlag ist, frage ich mich unwillkürlich, wie es sich wohl anfühlen würde, von Theo umsorgt zu sein. Wie sicher ich mich fühlen würde in seinen Armen.

»Möchten Sie?«

Ich lache, da mir nichts anderes einfällt. »Seien Sie nicht albern«, erwidere ich abwehrend und will seine Hände wegschieben, doch er springt blitzschnell auf, fast panisch. Perplex schaue ich zu ihm hoch, während ich mich ebenfalls aufrichte. Für einen Moment blickt er auf seine Hände, dann sieht er mich wieder an. In seinen Augen spiegelt sich Verwirrung. Einige verlegene Sekunden verstreichen, in denen sein Blick von seinen Händen zu verschiedenen Regionen meines Körpers gleitet. Was zur Hölle?

»Sie haben einen ziemlichen Schock erlitten«, sagt er und dreht sich um. »Mein Angebot ist keineswegs albern.«

Ich habe ihn gekränkt. Er bot an, mir zu helfen, und ich habe ihm ins Gesicht gelacht. »Ich wollte Sie nicht beleidigen«, rufe ich ihm hinterher und bleibe nach wie vor auf mittlerer Höhe der Treppe stehen. »Das tut mir leid.« Ich weiß nicht, warum ich den Wunsch verspüre, mich zu entschuldigen, aber ich kann ihn nicht ignorieren.

Theo geht nach links. »Ich nehme es Ihnen nicht übel, Izzy. Hier entlang.«

Ich runzle die Stirn und mache ein paar vorsichtige Schritte. Das ist seltsam, da er sehr betroffen wirkt.

Sobald ich ihn eingeholt habe, beschließe ich, den Mund zu halten, mich um Penny zu kümmern und anschließend schnellstmöglich von hier zu verschwinden. Theos plötzlicher Kälte und der Tatsache nach zu urteilen, dass er mich jetzt nicht mehr ansieht, denkt er vielleicht ganz genauso. Er dreht einen Türknauf und öffnet die Tür. Dann weicht er ein Stück zurück, damit ich eintreten kann. Er schaut mich an. In seinen Augen liegt ein kalter Ausdruck.

Ich seufze, bin seltsamerweise aufgewühlt, weil ich ihn gegen mich aufgebracht habe. Er ist ein großer Mann. Ein sehr großer Mann. Sag nicht, er hat Gefühle unter all diesen Muskeln.

Als Erstes entdecke ich Penny in einem gigantischen Bett, neben ihr einen Servierwagen voll mit medizinischer Ausrüstung, die eine Krankenschwester sich nur wünschen kann. Ich habe keine Ahnung, wo und wie er das alles aufgetrieben hat, noch dazu so schnell. Aber ich werde nicht fragen. Fertig werden und verschwinden. Keine Fragen, keine Unterhaltungen mehr. Ich sollte nicht einmal hier sein und Penny auch nicht. Sie sollte in einem Krankenhaus sein.

Ich mache mich an die Arbeit, höre, wie die Tür hinter mir geschlossen wird, und stelle fest, als ich mich umdrehe, dass ich allein bin. Ich bin erleichtert, denn er bringt mich aus der Fassung. Ich trete ans Bett und untersuche Penny. Es scheint ihr besser zu gehen als im Wagen. Wichtiger ist jedoch, dass sich ihr Zustand nicht verschlechtert hat. Ich schlage die Decke zurück und sehe, dass sie bis auf den Slip entkleidet ist. Ihre Nacktheit offenbart weitere Verletzungen, und ich verziehe angewidert das Gesicht beim Anblick der Prellungen überall, manche frisch, andere gelblich verfärbt, was auf ältere Wunden hindeutet. Die arme Frau scheint regelmäßig geschlagen zu werden.

Ich schlucke. Jetzt ist sie in Sicherheit.

Nachdem ich die Wunde an der Augenbraue gereinigt habe, nähe ich sie mit ein paar Stichen. Anschließend wasche ich die Frau, so gut ich kann, damit sie sich besser fühlt. Ihr Puls geht gleichmäßig, genau wie ihre Atmung, und die Pupillen sind inzwischen auch normal.

Ich lasse ihr Handgelenk los und blicke über die Schulter, da höre ich ein leises Geräusch. Theo steht an der Tür und beobachtet mich. Wie lange ist er schon dort? »Ich habe Sie gar nicht zurückkommen hören. Wollen Sie etwas?«

»Nein.«

Ich gehe auf die andere Seite des Bettes, um etwas zu tun zu haben. »Wieso sind Sie dann hier?«

»Ich schaue Ihnen gern bei der Arbeit zu.«

Ich werfe ihm verwirrt einen Blick zu. »Warum?«

Er zuckt mit den breiten Schultern, und ich ahne, dass das schon die ganze Antwort ist.

»Ich werde Sie wieder allein lassen«, sagt er, die Hand zum Türknauf ausstreckend, während er zurückweicht und mich dabei weiter im Auge behält. Dann geht er hinaus.

Penny stöhnt leise, ihre Lider flattern.

»Hey«, sage ich sanft. »Können Sie mich hören? Können Sie mir Ihren Namen verraten?« Bevor ich gehe, will ich überprüfen, ob ihr Gedächtnis beeinträchtigt ist.

»Penelope«, murmelt sie, und ich decke sie lächelnd ordentlich zu. »Aber ich werde meistens Penny genannt.«

»Ich glaube, Sie kommen wieder in Ordnung, Penny. Haben Sie Schmerzen?«

Sie schüttelt den Kopf und kuschelt sich auf die Seite. »Keine Schmerzen.«

»Das ist gut.« Ich schaue zur geschlossenen Tür, durch die Theo gerade verschwunden ist, und überlege. Ich habe Erfahrung mit gefährlichen Situationen. Ich kenne die Anzeichen, und obwohl er in mancher Hinsicht den Anschein erweckt, gefährlich zu sein, habe ich nicht das Gefühl, dass er für Penny eine Gefahr darstellt. Dennoch muss ich sicher sein. Dafür bin ich ausgebildet und darf es daher nicht vernachlässigen, ganz gleich, wie sehr Theo mich aus der Fassung bringt. Ich setze mich auf die Bettkante und nehme Pennys Hand. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Penny? Soll ich jemanden anrufen?« Vielleicht ihre Mutter oder eine Freundin.

»Theo. Holen Sie Theo.«

Erneut blicke ich zur Tür und sehe wieder seinen starken Rücken, der sich entfernt. »Sie befinden sich in seinem Haus.«

»Dann bin ich in Sicherheit«, murmelt sie verschlafen und döst ein. Einfach so.

Ihre Worte beruhigen mich. Kaum dass sie weiß, wo sie ist und bei wem, ist sie zufrieden. Bei Theo fühlt sie sich wohl. Seine Gegenwart gibt ihr Trost. Wo war ein solcher Mann, als ich ihn brauchte?

Ich darf nicht zu lange darüber grübeln. Ich bin hier, und ich lebe. Und, was für ein Wunder, ich bin seelisch gefestigt. Ich hole meine Tasche und meinen Mantel und lasse Penny schlafen. Dann begebe ich mich auf die Suche nach einem dieser großen Typen, um ihm aufzutragen, sie im Auge zu behalten. Und um zu fragen, ob einer von ihnen mich nach Hause fahren kann. Ich öffne leise die Tür, trete hinaus und schließe sie mit der gleichen Sorgfalt wieder.

»Miss?«

Ich drehe mich um und entdecke den älteren Mann mit der runden Brille und dem silbergrauen Haar, der uns bei unserer Ankunft empfangen hat. »Es geht ihr den Umständen entsprechend.«

»Das ist gut zu hören. Mr. Kane wird sehr erleichtert sein.« Er streckt mir die Hand hin. »Ich bin Jefferson, der Butler.«

Er hat einen Butler? Ich widerstehe dem Drang, die Augen zu verdrehen, und nehme lächelnd seine Hand. »Ich bin Izzy, die Krankenschwester.«

Er lacht leise, seine freundlichen braunen Augen strahlen amüsiert hinter den runden Brillengläsern. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«

»Gleichfalls. Die Wunde über Pennys Braue muss zweimal am Tag gereinigt werden. Sie ist ansprechbar, doch sollte es irgendwelche Anzeichen dafür geben, dass sich ihr Zustand verschlechtert – Schwindel, Kopfschmerzen, Verwirrtheit oder Gedächtnisverlust –, müssen Sie sie unverzüglich ins Krankenhaus bringen.« Ich hänge mir meine Tasche über die Schulter, und er nickt. »Mr. Kane meinte, jemand würde mich nach Hause bringen, falls das noch gilt?«, frage ich höflich.

»Oh ja«, bestätigt er. »Aber ich glaube, Mr. Kane möchte Sie vorher sehen.« Er wendet sich ab und schreitet den Flur entlang.

Ich bleibe beunruhigt zurück, rühre mich nicht von der Stelle und habe es auch nicht vor. Ich will und muss Theo nicht mehr treffen.

»Ich müsste dann trotzdem nach Hause.« Ich klinge so verzweifelt, wie ich mich fühle, was allerdings keinerlei Wirkung auf den alten Mann hat, der nicht innehält. Ich weiß, dass er mich gehört hat. »Jefferson«, rufe ich und laufe ihm nun doch die geschwungene Treppe hinunter nach, wobei ich auf meine Schritte auf diesem gestreiften Teppichläufer achte.

»Ich bin sicher, er wird Ihre Zeit nicht über Gebühr beanspruchen, da Sie schon so viel davon erübrigt haben.«

Ich beiße die Zähne zusammen und folge ihm hinunter in die Lobby, wo uns die Lady empfängt, die Theo den Drink gebracht und sein Jackett entgegengenommen hat.

Sie lächelt. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

»Nein danke, ich werde in Kürze verschwunden sein.« Ich hätte um ein Wasser bitten sollen, denn bei der Aussicht, Theo wieder gegenüberzustehen, bekomme ich einen trockenen Mund.

»Sehr wohl.« Sie geht ihres Weges.

Jefferson zeigt auf eine hohe Tür zur rechten. »Es befindet sich gleich dort.«

»Was denn?«

»Mr. Kanes Privatbüro.« Er deutet mit einer leichten Kopfbewegung an, dass ich vorgehen soll.

Ich blicke nervös wie nur was zu der Doppeltür.

»Klopfen Sie einmal«, fordert er mich auf.

Klopfen Sie einmal. Also nicht zwei- oder dreimal? Langsam gehe ich hin, mit jedem Schritt pocht mein Herz lauter.

»Und halten Sie Abstand, Miss«, fügt Jefferson mit leiser Stimme hinzu.

Ich drehe mich um und sehe ihn durch einen Bogendurchgang auf der anderen Seite des Flurs verschwinden. Ich soll Abstand halten? Warnt er mich? Ich wende mich wieder zur Tür um. Meine Nerven spielen verrückt. Ich brauche verdammt viel Zeit, um endlich den Mut aufzubringen, einmal zu klopfen.

»Herein.«

Theos tiefe Stimme dringt durch das Holz und ein Schauer durchläuft mich. Sie strahlt Autorität aus, ist rau und sexy. Ich mache die Augen zu, bekomme meine abwegigen Gedanken in den Griff, lege die Hand auf den Türknopf und hole tief Luft. Den Blick gesenkt, trete ich ein und schließe die Tür hinter mir.

»Izzy.«

Er spricht meinen Namen fast flüsternd aus, was eine rätselhafte körperliche Wirkung auf mich hat. Ich versuche gar nicht erst herauszufinden, was genau das ist, denn ich bin mir ziemlich sicher, dass die Antwort mir nicht gefallen wird.

Sag, was zu sagen ist, dann verschwinde. Und achte darauf, ihn dabei nicht anzusehen. »Sie wird wieder.« Ich schlucke, mein Mund ist immer noch trocken. »Sie ist erschöpft, aber in Ordnung. Ich habe Jefferson Anweisungen gegeben und ihm die Symptome genannt, auf die Sie achten müssen.«

»Ich bin froh, das zu hören. Danke. Doch was ist mit Ihnen?«

Ich blicke unverwandt auf den tiefen roten Teppich. »Was ist mit mir?«

»Geht es Ihnen gut?«, will er wissen, mit jetzt ein wenig lauterer Stimme. Er kommt näher.

Ich weiche zurück, ohne nachzudenken. »Ich muss wirklich los.« Mir gefällt ganz und gar nicht, wie ich auf diesen Mann reagiere. Was vermutlich nicht zuletzt darauf zurückzuführen ist, dass ich bereits gesehen habe, dass er eine Waffe trägt. Außerdem wurde ich Zeugin, wie einer seiner Männer einen anderen gewürgt hat, bevor er ihn abführte … wohin eigentlich? Wohin hat man ihn gebracht? Und, noch wichtiger, was hat man mit ihm gemacht? Ist er tot? Mich schaudert’s, ich versuche lieber nicht, in diese Richtung zu denken. Es sollte mir auch egal sein. Entscheidend ist in meiner Situation, dass Theo ein Fremder ist, ein unheimlicher noch dazu. Es gibt so viele Anzeichen dafür, dass er Ärger bedeutet. Trotzdem fühle ich mich auf nie zuvor gekannte Weise nicht unwohl in seiner Nähe. Was mir gar nicht gefällt. Er hat Penny heute Abend gerettet. Hat sie aus der Gefahr befreit. Als ich einen solchen Mann brauchte, gab es keinen. Kein Kerl von einem Mann war da, um mich vor meinem Peiniger zu beschützen.

Erst als ich mit dem Rücken an die Tür stoße, merke ich, dass ich mehr als einen Schritt zurückgewichen bin. Ich erschrecke und schaue unwillkürlich auf. Theo ist nur einen Meter von mir entfernt. Er könnte mich mit der ausgestreckten Hand berühren. »Wer sind Sie?« Die Frage kommt mir über die Lippen, ich kann sie nicht aufhalten.

Er ignoriert sie, sein Blick fällt auf meinen Hals. Er hebt die Hand, und ich presse mich gegen die Tür, bete im Stillen, er möge mich nicht anfassen. Seine Finger streifen mein schwarzes gewelltes Haar, ehe er es zur Seite streicht und den Kopf zur Seite neigt.

»Was ist das?«, fragt er.

Seine Fingerspitzen liegen nun doch auf meiner Haut, dort, wo eine der Kratzspuren ist. Ich erstarre und atme schwer, während er sich Zeit lässt mit der Betrachtung meines Halses. Meine Haut steht scheinbar in Flammen, mein Herz hämmert.

Ich kann nicht sprechen, und nach einigen angespannten, aber auch angenehmen Sekunden, in denen er meinen Hals berührt hat, fragt er: »Wer hat Ihnen das angetan?«

»Ein Patient«, antworte ich und überwinde mich, seine Hand durch meine eigene an meinem Hals zu ersetzen. Nicht, um die Kratzer zu verbergen, sondern eher um mich aus seiner Berührung zu befreien und mich von ihm entfernen zu können. Er hält mich nicht fest. Zumindest nicht körperlich. Doch sobald er mich anfasst, kann ich mich nicht mehr bewegen. Einen Sekundenbruchteil bevor meine Hand seine erreicht, um sie von meinem Hals zu nehmen, zieht er sie freiwillig weg.

Er tritt einen Schritt zurück, auf seinem Gesicht liegt ein leicht düsterer Ausdruck.

»Ein Patient?«

»Er ist alt und senil«, erkläre ich hastig, denn seine Reaktion gefällt mir nicht. Alle Sanftheit ist nun von ihm gewichen. »Das sind die Sondervergünstigungen des Jobs«, scherze ich, um die angespannte Atmosphäre aufzulockern. Er lacht nicht, nicht mal die Andeutung eines Lächelns ist zu sehen. Verdammt, er wirkt wütend. »Ich sollte jetzt lieber gehen.« Ich deute mit dem Daumen über meine Schulter.

Theo stutzt kurz. »Natürlich«, sagt er schließlich. Er zieht eine Visitenkarte aus der Tasche und reicht sie mir. »Ich werde veranlassen, dass draußen ein Wagen auf Sie wartet. Callum wird Sie nach Hause fahren. Dies ist meine Karte, sollten Sie Kontakt zu mir aufnehmen wollen.«

Ich betrachte die schwarze Visitenkarte zwischen seinen Fingern, auf der in roten Buchstaben nur eins steht, sein Name. Und eine Handynummer. »Warum sollte ich Sie kontaktieren wollen?«, frage ich und verzichte darauf, ihn daran zu erinnern, dass mir das unmöglich sein wird, da mein Handy in der Gasse zersplittert ist. Ich werde es nicht ersetzen können, bis ich am Freitag mein Gehalt bekomme. Aber das ist ohnehin unwichtig. Ich sollte nie wieder Kontakt mit ihm haben. Er ist definitiv ein Mann, um den ich besser einen großen Bogen machen sollte.

Er beugt sich vor und steckt die Karte in meine Handtasche. »Gehen Sie nicht im Dunkeln allein nach Hause«, warnt er mich und dreht den Kopf kurz zur Seite. Dadurch erkenne ich schwarze Tintenstriche, die aus seinem Hemdkragen lugen. Ich versuche, einen besseren Blick darauf zu erhaschen und hoffe, dass er den Kopf noch etwas weiter wegdreht und mehr von diesem Kunstwerk offenbart. Das tut er aber nicht, sondern sieht mich stattdessen wieder an.

»Bitten Sie mich darum, oder raten Sie es mir?«, frage ich.

»Ich rate es Ihnen. Keine Frau sollte nachts allein durch die Straßen Londons gehen.«

Es ist lange her, seit sich jemand um mich gesorgt hat und dem mein Wohlbefinden etwas bedeutete. Na ja, Jess macht sich ständig Sorgen. Doch es ist etwas anderes, wenn diese Besorgnis von einem Familienmitglied kommt. Die Tatsache, dass ein finster aussehender Gigant von einem Mann sich um eine Fremde wie mich sorgt, nimmt mich für ihn ein. »Ich kann ganz gut auf mich selbst aufpassen«, sage ich trotzdem, worauf seine Miene sich verdüstert.

»Das sollten Sie nicht müssen.«

»Muss ich aber wirklich«, versichere ich ihm und erhasche erneut einen Blick auf sein Tattoo, das aus nicht klar erkennbaren Linien und Schattierungen besteht. Bevor ich mich blamieren kann, indem ich seinen Kragen herunterziehe, laufe ich rasch an ihm vorbei. Er weicht prompt ein ganzes Stück zurück.

»Warum?«, fragt er. »Warum müssen Sie das wirklich

Mir wird klar, dass ich ihm unbeabsichtigt einen weiteren Einblick in etwas gegeben habe, das er gar nicht wissen soll. Das niemand wissen soll. »Weil ich keinen großen starken Mann habe, der mir aus dem Nichts zu Hilfe eilt und mich rettet.« Ich grinse frech, und seine Mundwinkel zucken. Sein Gesicht wirkt so viel weniger hart, wenn er amüsiert ist. Das ist faszinierend.

Er räuspert sich, als wäre ihm das auch gerade klar geworden und als wollte er seine abweisende Fassade aufrechterhalten. Seine Züge verhärten sich wieder.

»Gehen Sie nirgendwo allein hin«, wiederholt er.

Bei seinem durchdringenden Blick verblasst mein Lächeln. »Gut«, stimme ich zu, damit er zufrieden ist, und verlasse rasch das Büro. Nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen habe, lehne ich mich an das Holz und atme mehrmals tief ein und aus.

»Miss Izzy?«

Eine Hand berührt meinen Arm, und ich stoße vor Schreck einen albernen Schrei aus.

»Oh, meine Liebe, ich wollte Sie nicht erschrecken.« Jefferson zieht die Hand zurück und mustert mich mit seinen alten Augen hinter den Brillengläsern. »Alles in Ordnung?«

»Ja«, erwidere ich leise und stoße mich von der Tür ab. »Verzeihung.« Ich reibe meinen Mantelärmel. Mein Kopf beginnt zu hämmern, und ich schenke Theos freundlichem Butler ein angespanntes Lächeln. »Ich wollte gerade nach Hause aufbrechen.«

»Callum wartet draußen auf Sie. Es war reizend, Sie kennenzulernen.«

»Ganz meinerseits, Jefferson.« Ich gehe auf die riesige Tür zu, durch die ich dieser Druckkammer entkommen kann. Auf der überdachten Auffahrt steht mit laufendem Motor ein Mercedes. Callum, der blonde Mann, der zusammen mit Theo in der Gasse gewesen war, hält mir die Tür auf. Seine Miene ist ausdruckslos. Zum ersten Mal fällt mir auf, dass seine Augen dunkelbraun sind und freundlich. Trotzdem wirkt er kalt und so, als mache ich ihm Unannehmlichkeiten. Als ich näher komme, tritt er einen Schritt vom Wagen zurück und gibt mir dadurch mehr Platz, als ich benötige. Ich lächle ihm nervös zu und steige ein. Er erwidert mein Lächeln nicht.

Verwirrt von der Wendung der Ereignisse an diesem Abend werfe ich einen Blick über die Schulter durch das Heckfenster, als wir losfahren. Das Haus ist hell erleuchtet und strahlt, dann ist es plötzlich dunkel und nicht mehr zu sehen. Ich lehne mich in den Sitz zurück und schließe die Augen. Noch nie habe ich so viel Gefahr gespürt. Und doch war am beunruhigendsten für mich, wie verzaubert ich war.

Was ist Theos Geschichte? Wer ist er?

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3. KAPITEL

»Warum bist du schon auf?«, frage ich Jess, die verschlafen in die Küche getrottet kommt und sich die Augen reibt. Es ist acht Uhr morgens, also ist sie vermutlich erst vor einer Stunde von der Arbeit nach Hause gekommen. Sie lässt sich auf einen Stuhl fallen, und ich schenke ihr Kaffee ein.

»Ich habe geduscht, als ich heimkam. Ich sollte niemals duschen nach der Nachtschicht.« Dankbar nimmt sie den Kaffee entgegen und trinkt gierig einen Schluck. »Gut geschlafen?«, erkundigt sie sich.

Ich will eigentlich nicht zögern, aber natürlich entgeht ihr das kurze Schweigen nicht, und sie sieht mich fragend an. Es war bloß eine Routinefrage, die auf die übliche Weise beantwortet wird: ja, ganz gut. Ich schlafe nie wirklich gut, oft unruhig und mir ständig einredend, dass ich in Sicherheit bin und er mich niemals finden wird. Doch in der vergangenen Nacht war es andere Unruhe. Als ich gegen Mitternacht endlich ins Bett kam, konnte ich nicht aufhören, an Theo Kane zu denken.

»Izzy?«, hakt Jess nach und stellt ihren Becher ab.

»Mir ist gestern auf dem Heimweg etwas echt Merkwürdiges passiert.« Ich setze mich ihr gegenüber, denn ich muss mir das alles von der Seele reden.

»Was denn?«

»Ich wurde angegriffen.«

Sie verschluckt sich und prustet Kaffee über den Tisch. »Ach du Schande. Ist alles in Ordnung mit dir?« Sie betrachtet prüfend mein Gesicht und meine Brust. »Wo? Bist du verletzt? Wer war es?«

Ihre drängenden Fragen kommen eine nach der anderen, sodass ich mich unwillkürlich ein wenig zurücklehne.

»Verdammt, Izzy, hast du etwa wieder diese dämliche Abkürzung genommen?«

Ich zucke verlegen mit den Schultern, als sie mich tadelnd ansieht. »Mir fehlt nichts«, versichere ich ihr und ignoriere die Tatsache, dass es auch ganz anders hätte laufen können, wenn Theo Kane und seine Entourage nicht aufgetaucht wären.

»Mensch, ich bin sauer auf dich. Was ist passiert?«

»Jemand kam mir zu Hilfe.«

Sie klappt den Mund zu. Ich kaue auf meiner Unterlippe und umfasse meinen Becher fester.

»Jemand kam dir zu Hilfe? Hat dich gerettet?«

»Nicht nur mich. Da war eine Frau, der ich zu helfen versucht hatte. Sie war zusammengeschlagen worden.«

»Oh mein Gott.«

»Es geht ihr schon besser, sie ist nur ziemlich erschöpft. Ich glaubte, der Täter sei geflohen, doch als ich ihr helfen wollte, wurde ich angegriffen. Er tauchte praktisch aus dem Nichts auf.« Ich schüttele mich bei dem Gedanken daran, wie die Sache hätte ausgehen können. »Er wurde allerdings von anderen … Männern gestört.«

Interessiert hebt sie die Brauen. »Plural?«

Ich nicke. »Zwei, aber einer war …« Ich überlege, wie ich Theos Status am besten beschreibe. »… der Boss.«

»Der Boss?«

Ich nicke erneut. »Wichtig. Ich weiß nicht. Er war gewaltig. Na ja, die waren beide groß, aber er war außergewöhnlich groß.«

Jess lehnt sich nach vorn über den Tisch. »Gewaltig?«

Ich nicke wieder.

»Gewaltig fett oder gewaltig muskulös?«

»Fit«, bestätige ich. »Und sehr groß.«

»Gut aussehend?«

»Absolut.« In jeder Hinsicht, denke ich.

Sie schürzt die Lippen. »Und was hat er gemacht?«

»Er hat mich mit in sein Haus genommen.«

Ihre Augen weiten sich.

»In seine Villa«, präzisiere ich.

»Villa?«

»Die war ebenfalls gewaltig.«

Jetzt verkneift sie sich ein Grinsen. »Ich frage mich, was sonst noch alles an dem Kerl gewaltig war.«

»Jess!«

»Ich frag mich bloß«, verteidigt sie sich. »Wer war er?«

Ich stehe vom Tisch auf, spüle meinen Becher aus und stelle ihn auf das Abtropfgitter neben der Spüle. »Ich habe keine Ahnung.« Ich erinnere mich daran, wie Theo dieser Frage ausgewichen ist, als ich sie ihm noch keuchend vor Schreck stellte.

»Ich schon«, sagt Jess. »Ein reicher heißer Typ mit einem großen Haus und möglicherweise einem großen Schwanz.«

Meine Schultern sacken nach unten. Sie ist geradezu besessen von dem Thema Schwanz, wahrscheinlich wegen der vielen Vaginen, die sie täglich vor dem Gesicht hat. Ich gehe ins Badezimmer, um mich für die Schicht bereit zu machen. Natürlich bleibt Jess mir auf den Fersen, sie ist gierig nach weiteren Informationen.

»Was hast du in seinem Haus gemacht?«, will sie wissen und setzt sich auf die Toilette, während ich die Dusche anstelle.

»Hab mich um die junge Frau gekümmert, die angegriffen wurde. Einundzwanzig und Prostituierte. Ihr Vater ist gestorben. Ich glaube, Theo stand ihm nahe.« Ich fache nicht nur Jess’ Neugier an, sondern meine eigene auch. Das sollte ich lieber nicht tun. Neugier ist gefährlich, besonders wenn Theo Kane das Objekt dieser Neugier ist. Ich hätte es besser nicht erwähnen sollen. Ich sollte ihn vergessen.

»Theo? Sein Name ist Theo?«

»Theo Kane.« Ich ziehe mich aus und steige unter die Dusche. Es stört mich nicht im Geringsten, dass Jess mir von der Toilette aus zusieht und jetzt ziemlich wach wirkt. Ich kann sehen, wie ihr Verstand arbeitet. Im Stillen muss ich lachen. Dabei hat sie ihn noch nicht mal kennengelernt oder seine Villa gesehen. Auch hat er ihr seine Pistole nicht angeboten. Sie hat also keine Ahnung.

»Hat es …«

»Nein«, schneide ich ihr das Wort ab.

»Du weißt doch gar nicht, was ich sagen wollte«, protestiert sie.

Ich wische das beschlagene Glas der Kabine frei und sehe sie an. Ich weiß sehr wohl, was sie fragen wollte, und die Antwort lautet nein. Es hat nicht gefunkt. Es gab keine Blicke. Es gab kein elektrisierendes Knistern, wann immer er mich berührte. Keine Atemlosigkeit oder heiße Gedanken. Ich sollte gar nicht erst mit dem Thema anfangen. »Nichts«, erkläre ich.

»Tja, das ist enttäuschend«, murrt sie und verliert komplett das Interesse an der Unterhaltung. Genau aus dem Grund habe ich die weise Entscheidung getroffen, ihre Neugier nicht weiter anzustacheln. Jetzt muss ich nur meine eigene im Zaum halten.

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»Wer nimmt sich eigentlich dauernd mein Thermometer?«, murmele ich vor mich hin und krame auf dem Rollwagen. Verdammt, wie oft muss man den Leuten das sagen?

»Hier.«

Susan reicht mir eins mit einem wissenden Blick und tippt auf ihre Uhr, um mir anzudeuten, dass meine Schicht fast vorbei ist. Allerdings besteht kaum eine Chance, dass ich vor Ablauf einer weiteren Stunde hier wegkomme. Ich muss die Übergabe machen und Erläuterungen zu allen Patienten. Nur noch eine Schicht morgen, sage ich mir und sehe schon den größten Mojito bei meiner Ankunft in Vegas vor mir.

Ich konzentriere mich wieder auf meine Patientin. »Dann wollen wir doch mal schauen, wie es Ihnen heute geht, Mable«, sage ich scherzhaft und bekomme ein freches Gackern von der lieben alten Lady.

»Klasse«, verkündet sie lachend. »Hey, wann fliegen Sie noch mal nach Dallas?«

»Ich fliege nach Vegas, und zwar am Samstag.«

»Oohhh, ich wette, Sie schnappen sich einen sexy Amerikaner.«

Lachend lese ich ihre Temperatur ab und schaue auf ihre Tabelle. »Was machen die Schmerzen, Mable? Auf einer Skala von eins bis zehn.«

»Fünf«, antwortet sie sofort und bringt mich damit zum Lächeln. Immer fünf. Die arme Frau ist gestürzt und hat sich die Hüfte gebrochen. Nicht ein einziges Mal hat sie sich darüber beklagt. Im reifen Alter von zweiundneunzig ist sie geistig hellwach.

»Amerikanische Männer«, sinniert sie, und ihr Blick schweift wehmütig in die Ferne. »Ich erinnere mich noch daran, wie aufgeregt wir waren, als ein Schiff voller amerikanischer Seeleute während des Krieges bei uns anlegte. Meine Freundinnen und ich trugen extra viel Lippenstift auf an jenem Abend, bevor wir zum Tanzen in den Pub gingen.«

»Sie freches Biest«, necke ich sie mit erhobenem Zeigefinger. »Hat sich der Lippenstift gelohnt?« Ich beuge mich hinunter, um ihren vollen Katheterbeutel loszuhaken.

Sie wirft mir einen kecken Blick zu. »Ich war ein heißer Feger, müssen Sie wissen. Als ich noch jung war und mein Busen nicht bis zu den Knien hing.«

Angewidert betrachtet sie den Katheterbeutel in meiner Hand, und prompt fühle ich mich schuldig, weil ich sie daran erinnert habe, dass sie keine junge Frau mehr ist. Jetzt ist sie eine alte Lady mit Erinnerungen an eine längst vergangene Zeit.

»Aber dann lernte ich meinen Ronald kennen. Oh, dieser Mann hat Dinge mit mir gemacht, die kein anderer je zuvor mit mir gemacht hat.«

»Was denn zum Beispiel?«, erkundige ich mich, das Glitzern in ihren Augen und ihre plötzlich geröteten Wangen faszinieren mich.

»Seinetwegen hatte ich Schmetterlinge im Bauch und so viele aufregende Momente, dass ich mich gar nicht an alle erinnern kann.« Sie seufzt und sinkt auf ihr Kissen zurück. »Er sah mich an, wie ein Mann eine Frau ansehen sollte.«

»Wie denn?« Ich streiche ihre Decke mit der freien Hand glatt.

»Als müsste er sich beherrschen, um die Hände bei sich zu behalten. Als wollte er am liebsten über mich herfallen.« Kichernd tätschelt sie mir die Hand. »Eines Tages, meine Liebe. Eines Tages werden Sie ihm begegnen.«

Ich mache ein skeptisches Gesicht. »Wem, Ronald?«

Jetzt lacht sie laut und zuckt wegen der abrupten Bewegung zusammen, ohne jedoch einen Schmerzlaut von sich zu geben oder zu fluchen. Sie liegt einfach ruhig da.

»Nein, dummes Ding. Ronald ist vor sieben Jahren in Gottes grünen Garten aufgenommen worden. Ich meine Ihren Lebensveränderer.«

»Meinen Lebensveränderer?«

»Der Mann, der Ihre Welt auf den Kopf stellt, ohne dass es Ihnen auch nur das Geringste ausmacht.« Sie lacht. »Warten Sie’s nur ab. Ein hübsches Ding wie Sie wird nicht lange auf dem Markt sein.«

»Wer sagt denn, dass ich auf dem Markt bin?«, frage ich. Vielleicht ein wenig verzögert, aber trotzdem. Es gab Interessenten, klar, doch ich hatte weder Zeit noch das Bedürfnis. Und keiner hat meine Welt auf den Kopf gestellt, wie sie das nennt.

»Oh, meine Liebe.« Für einen Moment wirkt sie verlegen. »Verzeihen Sie mir, aber falls es jemand Festes gibt in Ihrem Leben, vergeuden Sie Ihre Zeit mit ihm. Da ist kein Funkeln in Ihren Augen.« Sie tätschelt meine Wange.

»Es gibt keine feste Beziehung«, gestehe ich. »Keinen Mann.«

»Dann sind Sie also doch auf dem Markt.«

»Das hört sich an, als könnte mich jeder mitnehmen, der vorbeikommt und dem mein Aussehen gefällt.«

»Darauf läuft es ja schließlich mehr oder weniger hinaus«, gibt Mable unumwunden zu. »Wenn ein Mann Sie wirklich will, erobert er Sie.«

»Was, wenn ich nicht von ihm erobert werden will?«

Sie lächelt, als wüsste sie etwas, das ich nicht weiß. »Ich glaube, Dot braucht Hilfe.«

Sie deutet in die Richtung, und ich sehe Dot, die sich in ihrem Bett aufzurichten versucht und am Tisch festhält, der jedoch wegrollt.

»Warten Sie, Dot«, rufe ich und sammle meine Sachen ein. »Sie sind hier nicht bei der Gymnastik. Bis später, Mable.« Ich gehe hinüber.

»Ich muss pinkeln«, beschwert Dot sich.

»Dann werde ich jemanden mit dem Toilettensitz kommen lassen, okay?«

»Beeilen Sie sich.«

»Ja, Ma’am«, erwidere ich und mache es ihr bequem, bevor ich mich zum Schwesternzimmer begebe. Unterwegs schnappe ich mir eine Krankenpflegerin und bitte sie höflich, Dot zu helfen und Mables Pinkelbeutel auszuleeren. Dann eile ich durch den Rest meiner Station und schaue nach jedem Patienten, ehe ich die Übergabe mache.

Als ich Feierabend habe, bin ich ziemlich erledigt. Nachdem ich einer Krankenschwester der nächsten Schicht einen kurzen Bericht gegeben habe, schnappe ich mir meinen Mantel und meine Handtasche und winke zum Abschied.

Als ich an Mables Bett vorbeikomme, pfeift sie anerkennend. Grinsend drehe ich mich im Gehen. »Danke.« Ich lache und sehe eine meiner Patientinnen, die sich im Bett aufzurichten versucht. »He, Deirdre, was haben Sie vor?« Ich eile zu ihr.

»Mein mistiger Rücken tut weh. Es liegt an diesen Kissen. Die sind zu weich.«

»Dann lassen Sie mich das mal für Sie in Ordnung bringen.« Ich brauche einen Moment, um die Kissen aufzuschütteln, und schiebe eine zusammengerollte Bettdecke darunter, damit sie es bequemer hat. »Probieren Sie es mal so«, sage ich und helfe ihr sanft, sich wieder zurückzulehnen. »Besser?«

»Oh ja, viel besser.« Deirdre seufzt und drückt meine Hand. »Sie sind ein Engel, Izzy.«

Ich erwidere die Geste und lege ihre Hand auf das Bett. »Brauchen Sie noch etwas, bevor ich gehe?«

»Einen neuen Körper.«

Ich lächle, obwohl das traurig ist. »Schlafen Sie gut heute Nacht, okay? Wir sehen uns dann morgen wieder.«

»Okay, meine Liebe. Schönen Abend noch.«

Ich decke sie zu und verabschiede mich, werfe einen Blick über die Schulter und sehe, wie sie zufrieden eindöst. Sie wird jetzt entspannt schlafen. Und ich auch, sobald ich zu Hause bin.

Als ich nach vorn schaue, bleibt mir fast das Herz stehen, und ich verlangsame meine Schritte. Ich bin mir verdammt sicher, dass sich meine Welt gerade auf den Kopf gestellt hat.

»Izzy«, begrüßt Theo mich mit sanfter Stimme.

Er sieht genauso elegant aus wie bei unserer letzten Begegnung. Er mustert mich mit ausdrucksloser Miene, sein Blick gleitet über meinen Körper. Prompt werde ich nervös und versuche meine Haare zu glätten. Ich sehe bestimmt schrecklich aus. Mist! Dann frage ich mich, warum es mir Sorge bereitet, was Theo davon hält, dass ich fertig aussehe nach meiner Schicht. Wieso kümmert mich das? Darauf habe ich keine Antwort, aber so ist es nun mal. Ärgerlicherweise ist es mir nicht egal.

Heute ist er allein, kein anderer großer Mann befindet sich in seiner Begleitung.

»Ihre Haare sitzen perfekt«, bemerkt er trocken.

Ich nehme die Hand von meinem Kopf. Meine Wangen glühen.

»Aber es ist schön, dass es Ihnen wichtig zu sein scheint.«

Er hat mich ertappt, also beleidige ich seine Intelligenz nicht, indem ich es leugne. »Geht es Penny besser?«, erkundige ich mich und frage mich, ob sie erneut meine medizinische Hilfe benötigt.

»Es geht ihr gut.«

»Was tun Sie dann hier?« Ich spüre seinen Blick, und nicht nur seinen, sondern auch Mables, die offenbar Schmerzen auf sich nimmt, um meinen überraschenden Besucher besser in Augenschein nehmen zu können. Ich verdrehe die Augen, und sie grinst und hebt den Daumen.

»Ich beobachte Sie gern bei der Arbeit«, antwortet Theo.

Das veranlasst mich, ihn wieder anzusehen. Soll Mable hinter mir ruhig gaffen. »Was?«

Er schaut zu Deirdre. »Wie Sie sich um die Leute kümmern. Es ist nett, zu sehen, wie Sie das tun.«

»Es ist mein Job«, erwidere ich und unterdrücke ein Lachen. Er wirkt so ernst.

Es folgt die Andeutung eines Nickens, dann sagt er: »Sie haben nicht angerufen.«

»Warum sollte ich?«

»Ich hatte gehofft, dass es Ihnen vielleicht ein Bedürfnis ist.«

Seine rasche Antwort macht mich ein wenig perplex.

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