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Genau jetzt, genau du

Als Buch hier erhältlich:

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Ein knisternder Kuss, die große Liebe und die ganze Welt dazwischen

Als Jemma und Tara aufeinandertreffen, fühlt es sich an wie Magie. Doch Tara steht als Aktivistin im medialen Rampenlicht und verschreibt sich zu hundert Prozent der Sache, während Jemma in einem Kindergarten arbeitet und auch noch andere Prioritäten hat: den kleinen Jungen zum Beispiel, in dessen Zuhause einiges nicht zu stimmen scheint. Die Spannungen mehren sich, und als auch noch Eifersucht ins Spiel kommt, scheint das Glück für Jemma und Tara in tausend Stücke zu zerspringen. Kann man grundverschieden und trotzdem füreinander bestimmt sein?

Emotional, queer und herrlich romantisch

Eine Liebe, die nicht nur Fans von Becky Albertalli und Casey McQuiston bezaubert

Für seine Ideale kämpfen, Freunden und der großen Liebe gerecht werden – manchmal scheint alles zu viel, und doch liegt das Glück genau in dem Moment, in dem man sich lebendig fühlt


  • Erscheinungstag: 23.01.2024
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003237

Leseprobe

Die Personen und Ereignisse in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Personen und/oder Ereignissen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Viele kleine Leute, an vielen kleinen Orten,
die viele kleine Dinge tun, können die Welt verändern.

Afrikanisches Sprichwort

Für alle, die kleine Dinge tun.
Immer wieder.
Solange es nötig ist.

1. Crush

»Ist sie noch da?« Hastig packe ich die Schminkstifte zusammen, mit deren Hilfe ich während der letzten Stunden kleine Kinder in Kälber, Küken, Ferkel und die unvermeidlichen Einhörner verwandelt habe. Einhörner gehören zwar nicht zu den typischen Opfern der Massentierhaltung, aber ein bisschen Magie kann man immer gebrauchen.

Heute ist der letzte Tag des größten österreichischen Food-Festivals. Natürlich geht es hier nicht nur ums Essen. Vegansein ist ja auch nicht nur eine Diät. Es ist eine Lebensweise. Deshalb stehen hier auch die Zelte verschiedener Tierschutzorganisationen, es werden vegane Schuhe angeboten und jede Menge T-Shirts, Mützen, Sweater und andere Kleidungsstücke mit aufgedruckten veganen Statements.

Die Fahne mit dem Logo des Fill up, unseres kleinen veganen Bistros, weht dieses Jahr zum ersten Mal vor einem Veganmania-Stand. Unsere hausgemachten Kuchen und Limonaden verkaufen sich so gut, dass wir letzte Nacht noch mal mehrere Bleche nachgebacken haben.

»Keine Sorge, dein Crush spricht noch.« Meine Cousine Zoe, die eben von einem schnellen Rundgang durch das Veganmania-Zeltdorf zurückkommt, grinst breit und beginnt, Kochlöffel, Rührschüsseln und Schneidbretter vorzubereiten. Ich schnappe mir einen der Holzlöffel und werfe damit nach ihr.

»Von Crush kann keine Rede sein«, erkläre ich würdevoll. »Aber wenn ich sie als Vorbild nehme, stottere ich vielleicht nächstes Mal nicht so rum, wenn mir jemand ein Mikrofon ins Gesicht rammt.«

»Du hast überhaupt nicht gestottert!«, protestiert Zoe. »Ich war so stolz auf dich! Ich hätte wahrscheinlich kein Wort rausgebracht.«

Die Frage kam nicht mal höflich daher: »Wie hilft das dem Klima, wenn ich auf mein Schnitzel verzichte, erklär mir das mal!«

Voreingenommener omnivorer Journalist auf der veganen Messe.

»Gar nicht«, habe ich geantwortet. »Aber Millionen Fleischesser, die auf Millionen Schnitzel verzichten, helfen sehr wohl.«

Das war tatsächlich einigermaßen schlagfertig von mir, finde ich.

Aber der Typ hat nur stur auf eine »richtige« Antwort gewartet. Ich möchte ja wissen, wieso der ausgerechnet jemanden fragen muss, der gerade einem Kind einen Schweinerüssel ins Gesicht pflanzt. Und nicht zum Beispiel die Leute von GLOBAL2000 fünf Meter weiter, die ihm harte Fakten um die Ohren geschmettert hätten. Er war wohl gezielt auf der Suche nach jemandem, der sich bei der Antwort blamiert. Aber unterschätzt nie die kleinen Rothaarigen, wie meine Mum so schön sagt. Ich höre jede Menge Podcasts zu dem Thema und habe ein gutes Gedächtnis, bin also in Klimafragen sattelfest.

Deshalb konnte ich auch direkt fortfahren: »Wenn zum Beispiel jeder Deutsche nur einmal pro Woche Fleisch äße statt einmal täglich, könnte man acht Millionen Hektar Land bewalden, die derzeit als Anbaufläche für Tierfutter gebraucht werden. Mehr Wald bringt mehr Regen und kühlere Luft.«

Ich bin sicher, die nächste Frage hätte sich auf die österreichischen Zahlen bezogen, denn was gehen uns die deutschen Wälder und die deutschen Schnitzel an? Darauf hätte ich keine Antwort gehabt. Zum Glück hat sich das kleine Mädchen eingeschaltet, das gerade mitten in der Kind-Ferkel-Metamorphose steckte. »Weißt du nicht, dass ein Schnitzel ein Stück von einem Tier ist?«, hat die Kleine den Redakteur gefragt. »Von einem Schwein zum Beispiel.« Dabei deutete sie mit großen, vorwurfsvollen Augen auf sich selbst. »Man muss das Schwein totmachen für ein Schnitzel, hast du das gewusst?« Dabei sah sie ihn über ihren rosa Papp-Schweinsrüssel so ernsthaft an, dass mein Herz einen kleinen Sprung machte.

Die Umstehenden fanden das alle großartig und applaudierten, während der Mikro-Mann den Rückzug antrat.

Ich wünschte, man würde in Schulen und Kindergärten drüber reden, was alles passieren muss, damit Chicken Nuggets oder Burger Patties im Kühlregal landen. Die Welt wäre verdammt schnell vegan.

Die ersten Kids, die sich für den veganen Kochkurs angemeldet haben, warten schon vor dem Zelt, um mit Zoe Eifrei-Aufstrich aus Tofu und Vanillepudding mit Hafermilch zu zaubern. Wenn es noch mehr werden, kann ich meine Cousine nicht allein lassen.

»Ich hör mir nur schnell den Schluss an«, sage ich zu ihr. »Danach komm ich wieder und helfe dir!«

Das Kinderprogramm war eine Bomben-Idee. Wenn die Eltern erst mal hier sind, um ihr Kind schminken zu lassen, können sie dem Duft unserer Zimtschnecken zumeist nicht widerstehen. Und nach der Zimtschnecke brauchen sie eine hausgemachte Limo.

»Verschwinde schon endlich zu deiner Tara«, sagt Zoe und lacht. »Du bist sonst ohnehin zu nichts zu gebrauchen.« Sie winkt ihren Freund heran, der gerade auf unser Zelt zukommt. »Leon hilft mir.«

Ich verzichte darauf, zu betonen, dass es sich keineswegs um meine Tara handelt. Das Angebot, für eine Weile vom Stand zu verschwinden, ist zu verlockend.

»Ich weiß ja, dass ich mir meine Zimtschnecken verdienen muss«, sagt Leon gerade und begrüßt seine Freundin mit einem Kuss. Und noch einem. Und noch einem. Leon und Zoe sind seit fast drei Jahren zusammen und so verknallt wie am ersten Tag.

»Aber nicht so«, sagt Zoe und entzieht sich lachend. »Jemma, du bist ja immer noch hier!«

Ich schenke Leon ein dankbares Lächeln und schlüpfe aus dem Zelt. Draußen ist es noch heißer, und die pralle Sonne zwingt mich, von einem Schattenfleck zum nächsten zu huschen. Mit meinem hellen, sommersprossigen Teint kriege ich nämlich schneller Sonnenbrand, als man »Ginger« sagen kann.

Verdammt, Jemma, du hast deine Kappe im Zelt vergessen!

Wir sind hier vor dem Museumsquartier, kurz MQ genannt, am Beginn der Wiener Shoppingmeile Mariahilfer Straße, nur einen Steinwurf von den modernen Museen entfernt, zwei Steinwürfe von der Ringstraße, fünfzehn Minuten zu Fuß von der Innenstadt. Mitten in der Stadt also. Zum Glück lockern einige Bäume und Grünflächen den Museumsplatz auf – und kühlen ein bisschen. Atemlos erreiche ich den Bereich, der für Band-Auftritte und Vorträge reserviert ist. Und auf der Bühne spricht Tara Amann.

Sie ist eine Berühmtheit in Österreich. Also jedenfalls in meiner Veganer:innen-Klimaschützer:innen-Bubble. Sie mag von ihrer indischstämmigen Mutter das exotische Äußere haben und in England und Deutschland aufgewachsen sein (ja, okay, ich habe ein bisschen recherchiert), aber ihr Vater stammt aus Wien, und bei jeder wichtigen Fridays-Aktion hier bei uns ist sie als Support dabei. Also beanspruchen die Österreicher:innen sie auch als »ihre« Tara. Mit über 200 000 Follower:innen ist sie eine der einflussreichsten Klimaaktivistinnen im deutschsprachigen Raum.

Ich drängle mich durch die nach Sonnencreme und Essen riechende Menge Richtung Bühne.

Ein Plakat kündigt den Vortrag als Höhepunkt an: »15:00 Uhr, Tara Amann – Wir essen unsere Zukunft. Klimakrise und Ernährung«.

Ich bleibe hinten stehen, um nicht zu stören. Schon ihre Instagram-Persona ist faszinierend, aber Tara live ist es noch mehr. Ich finde sie wunderschön. Typ Kate Sharma aus Bridgerton, derselbe intensive Blick, dieselben langen, fast schwarzen Haare. Nur Taras Figur ist weiblicher. Sie ist kleiner, als ich gedacht hatte, hat aber die Haltung und Körperspannung einer Tänzerin, was ihr eine tolle Bühnenpräsenz gibt. Und dieser Teint, den sie ihrer halb indischen Abstammung verdankt! Sie steht da vorne in der prallen Sonne, und ihre Haut schimmert. Leicht möglich, dass es der Schweiß ist, der ihr genau wie mir aus jeder Pore tritt, aber so möchte ich mal aussehen, wenn ich schwitze! Meine Symptome sind fiebrige Flecken im blassen Gesicht, absurd rote Ohren und Haarsträhnen, die feucht an meiner Stirn kleben. Tara hingegen leuchtet. Niemand kann sich ihrer Strahlkraft entziehen. Das Publikum lauscht gebannt. Ich muss an Blumen denken, die nicht anders können, als sich der Sonne zuzuwenden.

Jetzt ist es aber mal gut, Jemma. Du hast sie eben mit der Sonne verglichen.

Ich ignoriere meine innere Stimme und bewundere Taras Augen: groß, dunkel, mandelförmig, und da brennt eine Kraft in ihnen … magnetisch. Sie trägt eine schmale dunkelgrüne Hose und darüber eine orangefarbene Bluse mit dreiviertellangen Ärmeln, die ihren orientalischen Typ betont. Schmale Hose und gerades, längeres Oberteil in einer intensiven Farbe, das ist ihr Signature-Outfit. Es unterstreicht das indische Flair, das sie ausstrahlt. Man sieht sie bei ihren Auftritten niemals in Jeans. Im Schlamm von Lützerath, im Dannberger Wald oder bei der Räumung des »Wüsten«-Camps der Lobau-bleibt!-Aktivist:innen in Wien und anderen Aktionen war die »Uniform« immer schwarz. Schwarz und zweckmäßig. Sie ist ja nicht doof. Im Gegenteil, sie ist intelligenter und eloquenter als so ziemlich alle, mit denen sie diskutiert. Apropos eloquent. Ich habe noch kein einziges Wort ihrer Rede gehört. Am Ende hat Zoe doch recht mit dem Crush. Zumindest ein bisschen. Tara ist aber auch einfach toll.

Jetzt lächelt sie auch noch. Mann, was für ein Lächeln!

Reiß dich zusammen, Jemma!

»Okay, ich habe also gerade eine halbe Stunde damit verbracht, den Besucher:innen einer veganen Messe zu erklären, warum sie dem Klima zuliebe aufhören sollten, Fleisch zu essen.«

Gelächter.

»Nein, im Ernst jetzt. Ist irgendjemand hier nicht vegan? Ich verspreche, ihr bekommt Polizeischutz.«

Mehr Gelächter. Eine Hand geht zögernd hoch, dann eine zweite.

»Wie schön«, ruft Tara. »Mit euch beiden habe ich also gesprochen. Ich hoffe, es hat euch gefallen.«

Erneutes Gelächter.

»Jetzt mal Spaß beiseite. Es ist nicht genug, einander innerhalb unserer Bubble ständig auf die Schulter zu klopfen. Redet mit euren Kolleg:innen, euren Verwandten, dem- oder derjenigen, die an der Supermarkt-Kasse hinter euch steht.« Sie macht eine kleine Pause. »Wenn man Hollywood glauben darf, beginnen auf diese Art unzählige Liebesgeschichten, nur so als zusätzliche Motivation.«

Ich muss lachen, ebenso wie der Rest des Publikums.

Tara wird wieder ernst. »Jedes System, das auf immer höheres Wachstum zielt, explodiert irgendwann, sagt der Ökonom und Systemanalytiker Dennis Meadows.« Im Publikum ist es von einem Moment zum anderen still geworden. »Die Ressourcen der Erde sind endlich, und wir haben sie beinahe ausgeschöpft. Wir haben die ersten irreversiblen Kipppunkte schon überschritten, aber wir werden weiterkämpfen, weil Aufgeben keine Option ist. Und dazu brauchen wir euch alle! Wir Klimaaktivist:innen können die Welt nicht für euch retten. In den Medien sieht es aus, als würden Klimaschützer:innen gegen das Establishment kämpfen. Die Klimaschützer haben schon wieder XY getan – wie wird die Reaktion von Presse und Politik aussehen? Jeder und jede Einzelne von euch muss realisieren, dass es nicht der Planet ist, den wir retten müssen. Der Planet wird uns überdauern. Es geht darum, den Planeten für unsere Kinder und Generationen danach bewohnbar zu erhalten. Und dabei seid ihr alle gefordert. Jeder und jede kann im Job oder im Privatleben etwas bewegen, hat Kenntnisse und Fähigkeiten, die er oder sie in den Dienst der Klimabewegung stellen kann. Um noch einmal Dennis Meadows zu zitieren: An jedem Punkt hat der Mensch die Wahl, so zu handeln, dass er die Situation schlechter oder besser macht. Also lasst uns gemeinsam daran arbeiten, dass sie besser wird!«

Applaus brandet auf.

»Vielen Dank fürs Zuhören!« Tara winkt ins Publikum, der Blusenärmel rutscht dabei hoch, sodass ein Tattoo-Schriftzug auf ihrem Unterarm sichtbar wird: #noplanetb. Tara legt die Handflächen aneinander, neigt den Kopf. Begeisterung schlägt ihr entgegen, als sie von der Bühne springt, und sie verschwindet fast augenblicklich in der Menschenmenge.

Ich seufze. So was Blödes aber auch, dass unsere Schmink-Aktion sich mit Taras Vortrag überschneiden musste. Aber immerhin habe ich sie jetzt einmal live gesehen. Da Leon meinen Assistenten-Job bei Zoe übernommen hat, kann ich mir eine Viertelstunde Pause erlauben. Ich steuere auf einen Baum zu, in dessen Schatten gerade ein Platz frei wird, setze mich ins Gras, hole mein Handy hervor und tippe Dennis Meadows in die Ecosia-Suchleiste. Der Mann hat schon vor fünfzig Jahren einen Bestseller mit dem Titel »Die Grenzen des Wachstums« geschrieben. Jetzt ist er achtzig und hat es aufgegeben, die Menschheit vor sich selbst retten zu wollen. Als junger Mann sei er naiv genug gewesen, zu glauben, es reiche, ein Problem zu identifizieren, die Lösungen zu erforschen und sie der Welt zu präsentieren, steht hier. Dass diese Lösungen umgesetzt würden, setzte er als selbstverständlich voraus. Ha. Von wegen. Willkommen im Club der Fassungslosen.

Wir wissen längst, was zu tun wäre, um die Klimakrise zu stoppen. Wir hatten jahrzehntelang Zeit, ganz gemütlich unsere Zukunft zu retten. Und jetzt, wo die Klimakatastrophe nicht mehr weggeleugnet werden kann, passiert immer noch nichts. Weil die notwendigen Maßnahmen den mächtigsten Konzernen dieser Welt einen Strich durch ihre viel zu hohen Rechnungen machen würden. Die Öl- und Gas-Industrie, die Auto-Industrie, die Fleisch- und Milch-Industrie, die Pharma-Industrie. Offenbar hat keines der hohen Tiere in Politik und Wirtschaft Kinder und Enkelkinder. Irgendwann kann sich niemand mehr von den Folgen des Klimawandels freikaufen. Irgendwann betrifft es jeden Einzelnen von uns.

In dieser düsteren Gedankenspirale stecke ich, als plötzlich jemand vor mir stehenbleibt. Ich blicke auf, blinzle gegen die Sonne.

»Elfen gibt es also wirklich«, sagt die Stimme von Tara Amann.

Sie setzt sich mir gegenüber ins Gras und mustert mich interessiert mit diesen unglaublichen dunklen Augen.

Ich bin so verblüfft, dass ich kein Wort rausbringe. Dafür registriere ich, dass ihre Wimpern dreimal so lang sind wie meine.

»Hat die Elfe einen Namen?«, fragt sie erwartungsvoll.

»Jemma«, antworte ich, immer noch perplex. »Morrow.«

Sie runzelt die Stirn. »Engländerin …?«

»Schottin. Zur Hälfte.«

»Also zweisprachig«, sagt sie und nickt, als würde sie ein Häkchen auf einer imaginären Checkliste machen. »Ich bin Tara Amann.«

»Ich weiß«, antworte ich und muss lachen. Ich bin sicher, dass jeder hier auf der Messe sie kennt. »Ich hab dir vorhin zugehört.«

Sie lächelt. Dieses Lächeln! »Ich hab dir vorhin auch zugehört.«

»Du mir?« Jetzt bin ich wieder verwirrt.

»Als der TV-Typ bei euch im Zelt war. Du hast das richtig gut gemacht. Nur wenige merken sich Fakten und können sie dann auch im richtigen Moment abrufen.«

»Ähm … danke …«, stottere ich. »Ich habe ein gutes Gedächtnis. Nur bei Zahlen hapert es.«

»Das kann man üben«, meint Tara. »Bist du in Wien aktiv in der Klimabewegung?«

Wieso fühle ich mich gerade wie bei einem Vorstellungsgespräch? Ich nicke und merke, wie meine Hände feucht werden. »Ich bin bei einer Jugendorganisation, YFC, Youth for Climate, wir arbeiten oft mit Fridays for Future Vienna zusammen. Wir gehen auch in Schulen, moderieren Diskussionen, halten kleine Workshops und Vorträge.« Seit ich außerhalb von Wien wohne, kann ich mich natürlich nicht mehr so intensiv einbringen. Aber ich tue, was ich kann.

»Das ist großartig«, sagt Tara. »Studierst du?«

»Ich bin in der Ausbildung zur Kindergartenpädagogin. Fast fertig. Ist das Interview jetzt beendet?«

Sie lacht. »Eine Frage kommt noch.«

Ich ziehe erwartungsvoll die Augenbrauen hoch.

»Hast du Hunger?«

»Immer«, antworte ich.

Sie grinst und streckt mir ihren Arm entgegen, um mich hochzuziehen. Hastig wische ich mir die Finger am Stoff meiner Shorts trocken, bevor ich nach ihrer Hand greife.

Wir sind etwa gleich groß, aber sie nimmt mehr Raum ein und scheint fester auf der Erde zu stehen als ich, mit dem Selbstbewusstsein von jemandem, der ständig in der Öffentlichkeit steht. Beneidenswert.

»Was gibt es denn hier so?«, fragt sie. »Ich hatte noch keine Zeit, mich umzusehen.«

»Willst du was typisch Österreichisches?«, frage ich sie. »Vegane Blunzn oder Kasnudeln?«

»Blunzn«, wiederholt sie und schüttelt den Kopf. »Ich glaube, ich habe das schon mal gehört, aber ich weiß nicht mehr …«

»Blutwurst«, erkläre ich. »Nur eben ohne Blut. Ich kenne das Original nicht, muss ich zugeben. Ich fand Fleisch schon als kleines Kind eklig. Ich glaube, Weißwürste waren die einzige Ausnahme.«

»Da ist Fleisch drin?«, fragt Tara ernsthaft, und ich muss lachen.

»Richtig guten veganen Leberkäse haben wir auch«, füge ich hinzu.

»Ein Leberkäs-Semmerl.« Sie bemüht sich, es wienerisch auszusprechen, was epochal misslingt, und ich muss erneut lachen.

»Meine Wiener Großmutter ist gestorben, als ich vierzehn war«, sagt sie entschuldigend. »Ich bin zwar öfter hier, aber wohl nie lange genug. Mein Österreichisch liegt also brach.«

»Das macht nichts«, tröste ich sie. »Wir verstehen dich trotzdem.«

Wir grinsen einander an, ihr Blick bleibt an meinem hängen. Oder meiner an ihrem? Bis unsere Augen sich voneinander lösen, dauert es einen sehr langen Moment. Es fühlt sich seltsam vertraut an, mit ihr zu plaudern. Sie erzählt, dass sie die Wohnung ihrer Großmutter geerbt hat und der letzte Mieter gerade ausgezogen ist.

Das Gespräch kehrt zurück zum Essen, und wir einigen uns auf Blunzn und Kasnudeln. Von einem Pärchen, das eben aufsteht, übernehmen wir einen angenehm schattigen Picknickplatz.

»Seit wann bist du vegan?«, frage ich.

»Vegetarierin war ich von Kind an«, antwortet Tara. »Die gewaltlose Ernährung hat ja in Indien sehr viel Tradition, und die Familie meiner Mutter hat schon über viele Generationen vegetarisch gelebt. Seit ein paar Jahren bin ich vegan. Als Klimaaktivistin ist man sonst nicht wirklich glaubwürdig, oder?«

»Sehe ich auch so«, stimme ich zu. »Aber es gibt erstaunlich viele in der Bewegung, die diesen Aspekt ausblenden.«

Für mich sind Tiere einfach schon lange nichts »zu essen« mehr. Hätte ich ein Tattoo, es wäre wohl friendsnotfood und dazu ein paar niedliche Bauernhoftiere. Aber irgendwie bin ich kein Tattoo-Typ. »Bei mir ist es allerdings umgekehrt«, fahre ich fort. »Ich wäre auch ohne Klimakrise vegan. Mit der Schule waren wir mal in einem Molkereibetrieb. Ich habe die Kälber gesehen, isoliert in sterilen Boxen. Es war furchtbar, wie sie nach der Mutter geschrien haben. Ich musste rausgehen und im Bus warten, weil ich nicht aufhören konnte zu heulen. Dabei sind das nur die weiblichen Kälber.«

Tara sieht mich forschend an, und ich wünschte, ich hätte meine Klappe gehalten. Warum erzähle ich ihr das? Sie weiß, was mit den männlichen Kälbern passiert und wo das viel zu billige Kalbfleisch für viel zu billige Burger herkommt.

»TMI?«, frage ich.

»No worries.«

Eine kleine Pause entsteht, während der ich mit der hölzernen Gabel ein Lochmuster in die letzte Kasnudel steche.

»Warum Kindergartenpädagogin?«, fragt Tara plötzlich, und ich blicke überrascht auf.

»Warum nicht?«, gebe ich zurück.

Sie zuckt mit den Schultern. »Ich hätte bei dieser intelligenten, schlagfertigen, engagierten Elfe einfach etwas anderes erwartet. Etwas, das mehr ihrem … Potenzial entspricht.«

Ich seufze. Einen Penny für jedes Mal …

»Haben meine Eltern dich bezahlt, um das zu sagen?«

Sie lacht laut auf. »Geht alles an Fridays for Future, ich schwöre.«

Ich lächle halbherzig, und sie legt ihre Hand auf meine. »Es tut mir leid, ich wollte nicht abwerten, was du tust. Sorry.«

Ich zucke mit den Schultern und werfe einen Blick auf ihre Hand. Eine schöne, schlanke, braune Hand. Eine dieser Hände, die auch mit kurzen Nägeln feminin und elegant aussehen. Und wie diese Hand auf meiner liegt, fühlt sich auch seltsam vertraut an.

»Wenn du ein Kind hättest«, frage ich sie, »wärst du nicht froh, es von jemandem betreut zu wissen, der Potenzial hat?«

Sie nickt. »Definitiv. Wie gesagt, ich wollte nicht …«

»Schon gut.« Ich lächle sie an, aber es ist vermutlich ein etwas müdes Lächeln. »Ich bin bei dem Thema etwas übersensibel.«

Der Druck ihrer Finger verstärkt sich für einen Moment, dann zieht sie die Hand wieder weg. »Was wollten deine Eltern denn für dich?« Ihre Augen sind forschend auf mich gerichtet. Sie gibt mir dieses warme Gefühl, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, der in diesem Moment für sie von Interesse ist.

»Kommt drauf an, wen von beiden du fragst«, antworte ich. »Meine Mutter findet, ich bin so unendlich und universell talentiert, ich sollte auf jeden Fall studieren, egal was, damit die Welt bestmöglich von meiner Genialität profitiert. Ich glaube, sie ist nicht ganz objektiv, um ehrlich zu sein.«

Tara lächelt. »Und dein Vater?«

»Mein Vater ist erster Klarinettist des RSNO …«

Tara hebt fragend die Augenbrauen, und ich breche ab, um zu erklären. »Sorry: Royal Scottish National Orchestra. Vollblutmusiker. Und ich bin auch … Also, ich spiele ziemlich gut Saxofon. Also wirklich …« Ich zögere. Wie bringt man rüber, dass man sehr gut in etwas ist, ohne sich selbst zu loben?

»… wirklich gut …« Ich seufze unwillkürlich. »Mein Dad findet es sträflich, so eine Begabung zu verschwenden. Wenn es nach ihm ginge, würde ich mit Saxofon weitermachen und demnächst durch ausverkaufte Konzerthallen touren.«

»Interessant«, sagt Tara. »Die meisten Eltern wollen keinesfalls, dass ihre künstlerisch ambitionierten Kinder so eine ›unsichere‹ Laufbahn einschlagen.«

»Na ja, er ist Berufsmusiker und versteht was davon. Wenn ich grade mal so ein bisschen Talent hätte, würde er sagen, Kind, gründe eine Band und hab Spaß, aber im wahren Leben mach um Himmels willen was anderes. Aber ich bin …« Da ist meine Verlegenheit wieder. Ich zucke mit den Schultern.

»Aber du bist wirklich, wirklich gut«, beendet Tara meinen Satz und grinst. »Got it.«

»Ich liebe mein Saxofon«, versuche ich zu erklären. »Es ist so wichtig für mich. Ich kann auf keine Art besser meine Gefühle ausdrücken als beim Spielen. Aber ich fürchte, wenn es mein Beruf wäre, mit Verpflichtungen und Druck verbunden, würde mir das auf lange Sicht die Freude daran nehmen. Außerdem kriege ich schrecklich Lampenfieber vor Auftritten.«

Tara verschränkt die Finger ineinander, betrachtet mich nachdenklich. »Du hast noch ein Talent«, sagt sie. »Du bist wirklich …« Sie grinst, und ich werde rot. »… wirklich gut darin, Fakten klar zu vermitteln, aber auch emotional. Du bist sehr relatable.« Sie runzelt die Stirn. »Gibt es dafür überhaupt ein deutsches Wort?«

»Im Deutschen braucht man dafür glaube ich viele Worte«, sage ich und grinse ebenfalls. Mir geht es wie Tara. Manchmal finde ich in der einen Sprache nicht das richtige Wort und bediene mich aus der anderen. »So was wie man kann sich mit mir identifizieren …«

Ich weiß nicht, ob sie recht hat, und ich weiß auch nicht, wofür dieses »Talent« gut sein sollte. Es klingt jedenfalls nach einer brauchbaren Eigenschaft für eine Kindergartenpädagogin.

»Wohnst du in der Nähe?«, fragt sie plötzlich unvermittelt.

»Nein, außerhalb von Wien. Meine extended family hat einen Unverpackt-Laden in Mödling, südlich von Wien. Mit einem kleinen veganen Bistro. Wir sind zum ersten Mal hier auf der Messe.«

Tara betrachtet mich mit einem Ausdruck, der am ehesten an ungläubige Begeisterung erinnert.

»Was denn?«, frage ich aus Verlegenheit, und es kommt ein bisschen ärgerlich raus, was ich gar nicht beabsichtigt hatte.

»Gar nichts.« Sie lächelt. »Du bist einfach perfekt.«

Ich will sie gerade fragen, wie sie das meint, als ein Typ in einem Veganmania-T-Shirt vor uns auftaucht.

»Tara, halleluja!« Er fährt sich erleichtert über die feuchte Stirn. »Wir sind schon etwas spät dran für den Pressetermin …«

»Ich komme«, sagt Tara, ohne ihren Blick von mir zu wenden. Sie hebt den Arm, und einen Augenblick lang denke ich, ihre Hand bewegt sich auf mein Gesicht zu. Doch dann ändert sie den Kurs und fasst stattdessen ihre eigenen Haare mit einem dieser Korkenzieher-Haargummis zusammen.

»Du musst entschuldigen«, sagt Tara nun zu dem Veganmania-Verantwortlichen. »Aber ich habe bis heute noch nie eine echte Elfe getroffen. Und dann noch eine Öko-Elfe.«

Er blickt verwirrt zwischen Tara und mir hin und her, und ich erröte nur deshalb nicht, weil meine Wangen ohnehin schon brennen.

»Wir sehen uns bestimmt wieder, Jemma.«

2. Take a breath

Ich liebe diesen Kindergarten. Ich habe Riesenglück gehabt, hier mein Abschluss-Praktikum machen zu dürfen. Agnes, die Leiterin, ist schon mein Fan, seit ich ihrem Dackel-Mops-Mischling Barney bei unserer ersten Begegnung eine Viertelstunde den Bauch gekrault habe. Und erst recht, seit sie weiß, dass mein musikalisches Repertoire sich nicht auf »Alle meine Entchen« beschränkt. Aber ich wurde ausgerechnet der einen Pädagogin zugeteilt, mit der ich überhaupt nicht auf einer Wellenlänge bin. Karin heißt sie. Und egal, was ich mache, sie findet etwas daran auszusetzen. Ich darf den Kindern nicht erklären, warum ich kein Fleisch esse – das würde sie bloß »durcheinanderbringen«. Ich darf keine Bücher mitbringen und »auf eigene Faust« vorlesen. Karin möchte sie sich erst näher ansehen, hat dann aber nie Zeit dafür. Inzwischen liegt meine halbe Bilderbuch-Sammlung bei ihr zu Hause. Beim letzten Bilderbuch musste ich mir auf die Lippe beißen, um nicht zu sagen: Es geht um einen Hasen, der Freunde sucht und bunte Hüte sammelt. Pornografie und Serienkiller spielen wirklich nur eine untergeordnete Rolle. Allerdings hätte das unser Verhältnis wahrscheinlich nicht verbessert.

Ich dachte ja, sie würde sich freuen, dass ihre Schützlinge sich so schnell an mich als neue Bezugsperson gewöhnt haben, aber dass nun die meisten an mir mehr kleben als an ihr, ist wohl zu viel des Guten.

Ich schnaufe einmal tief durch. Es ist nach siebzehn Uhr, ich sitze auf den Treppenstufen, die von der Terrasse in den Garten führen. Es ist nichts zu hören außer Vogelgezwitscher, nichts zu sehen als eine sanft im Wind schwingende Nestschaukel, umgeben von Wiese, Büschen und Bäumen. Die Kinder hier im Kindergarten haben echt Glück. Ich gönne mir noch ein paar Minuten Ruhe. Dann fege ich die Terrasse, und ab nach Hause.

Ohne nachzudenken, fische ich mein Handy aus der Hosentasche und bin mit einem Wischen auf Taras Instagram-Profil. Zum bestimmt hundertsten Mal in dieser Woche überlege ich, ob ich ihr eine Nachricht schicken soll. Ich starre auf den Post von der Veganmania. Da sind drei Fotos von ihr, und sie sieht auf allen dreien großartig aus. Der Post danach ist ein Reel, ein Ausschnitt aus einer Talkshow, bei der sie zu Gast war. Ich sehe es mir zum x-ten Mal an, ohne Ton diesmal. Sie fasziniert mich. Es hat keinen Sinn, das abzustreiten. Sie ist so überzeugend, so gut informiert, dabei so strahlend und charismatisch, lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, hat immer Fakten und Zahlen parat.

Unser Treffen auf der Messe war definitiv zu kurz. Gedankenlos überfliege ich die Kommentare unter ihrem Post. Einiges an Anerkennung und Wertschätzung, aber auch so viele Hater! Tara ist nicht nur eine woman of color und völlig kompromisslos und knallhart in der Art, wie sie Politiker, Konzerne und Lobbyisten ins Visier nimmt, sie ist auch offen queer. Damit bietet sie mehr Angriffsflächen als jede andere Klimaaktivistin im deutschsprachigen Raum.

Da finden sich bösartige Bemerkungen zu ihrem Äußeren, rassistische, sexistische, chauvinistische und homophobe Kommentare. Das ganze Spektrum. Ganz abgesehen von meinen Lieblingen, die den Klimawandel immer noch leugnen, sich über Taras »hysterische« Posts lustig machen und ihr nahelegen, »lieber mal was zu arbeiten«, um endlich zu kapieren, »wie das Leben funktioniert«.

Ob sie den Scheiß liest? Wenn ja, trifft es sie oder kann sie es einfach an sich abprallen lassen? Ich tippe auf Message, das Chatfenster geht auf, und mein Herz beginnt mit doppelter Geschwindigkeit zu schlagen. Hat sie mit mir geflirtet? Oder habe ich ihr Verhalten völlig falsch gedeutet? Nur weil sie auf Frauen steht, ist sie nicht unbedingt an mir interessiert. Auch wenn sie ihre Hand kurz auf meine gelegt hat. Und überhaupt, wie will sie mich denn so schnell eingeschätzt haben? Ich könnte hetero sein. Oder vergeben.

Ich hole tief Luft und atme ebenso tief aus. Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Es ist noch nie jemand dran gestorben, sich lächerlich gemacht zu haben.

»Hi, Tara«, tippe ich also. »Wir haben uns neulich in Wien auf der Veganmania …«

»Jemma!«, ruft eine Jungenstimme. »Da bist du! Ich hab dich gesucht.«

Er sitzt neben mir, bevor ich antworten kann. »Maxim!« Ich stecke mein Handy weg und halte ihm die offene Hand hin.

Er schlägt ein und grinst. Maxim ist das, was man in der Generation meiner Großeltern einen »Lausbuben« genannt hätte. Er ist knapp sechs, extrem clever, geschickt, sportlich, immer in Bewegung. Er begreift unglaublich schnell, merkt sich jedes Wort, das man sagt. Und kreativ ist er auch: Neulich hat er sich mit seinem Freund Emil in einer der großen Mülltonnen versteckt. Ich war sehr dankbar, dass es die Papiertonne war und nicht der Biomüll. Denn dann hätte ich die Aktion wohl nicht vor Karin geheim halten können. Im Herbst kommt er in die Schule, und ich bin sicher, er wird es da leicht haben. Sofern er es schafft, auch mal ruhig sitzen zu bleiben.

»Hast du was zu essen?«, fragt Maxim.

Ich ertaste in der Seitentasche meiner Baggy-Hose einen Fruchtriegel. »Du hast doch vorhin erst Obst bekommen.«

Er zuckt nur mit den Schultern. Maxim hat einfach immer Hunger. Ich halte ihm den Riegel hin, er reißt gierig das Papier herunter und macht einen Riesenbissen. Dann erst schmatzt er mit vollem Mund: »Danke!« Und gleich darauf: »Mmmh, Erdbeer!«

Ich beobachte ihn ein paar Augenblicke beim Kauen. Es ist leider typisch, dass er spät abgeholt wird. Mehrmals mussten wir sogar länger hierbleiben, weil für Maxims Mutter unsere Öffnungszeiten offenbar mehr so was wie eine Empfehlung sind. Zum Ausgleich bringt sie ihn meistens auch so spät, dass er unsere Begrüßungsrunde verpasst. Und wenn es regnet, kommt er gar nicht. Offenbar wird seine Mutter nicht gern nass. Häufig trägt er dieselben Sachen drei Tage hintereinander– inklusive Unterwäsche und Socken. Meistens hat er nicht richtig gefrühstückt und selten einen vernünftigen Imbiss für die erste Pause mit.

Kurzum, er wirkt auf mich vernachlässigt, und ich finde, man sollte das melden. Aber Karin ist der Meinung, man könne »nicht immer gleich die Pferde scheu machen«.

»Ist deine Mama noch nicht da?«

Er schüttelt mit vollem Mund den Kopf, wirkt aber nicht unglücklich darüber. Für mich eher ein Grund mehr, besorgt zu sein.

»Was machst du gerade?«, fragt Maxim, als er endlich alles runtergeschluckt hat.

»Ich wollte noch die Erde von der Terrasse fegen.«

»Damit Karin nicht schimpft?«

Dem Jungen entgeht nichts. »Genau.«

Er zuckt mit den Schultern und sieht mich treuherzig an. »Mich mag sie auch nicht. Ist nicht schlimm.«

»Maxim, das darfst du nicht denken!«, antworte ich betroffen. »Natürlich mag sie dich! Du bist großartig! Warum sollte dich irgendjemand nicht mögen?«

Er zuckt erneut mit den Schultern.

»Karin mag bloß nicht, wenn du zu spät kommst«, versuche ich zu erklären. »Das bringt ihren Tagesablauf durcheinander, und der ist ihr sehr wichtig.«

»Meine Mama will nicht aufstehen«, sagt er. »Ich wecke sie auf, aber sie schläft wieder ein, und wenn ich sie noch mal aufwecke, dann wird sie böse. Da spiele ich dann lieber zu Hause.«

»Ich verstehe«, sage ich, so ruhig ich kann. Mann, habe ich eine Wut! So ein tolles Kind, und sie erfüllt nicht mal die Mutter-Mindestanforderungen.

Don’t judge, Jemma!

Okay, sie ist sehr jung, vielleicht Mitte zwanzig. Einen Papa scheint es nicht zu geben, und Maxim war vermutlich kein Wunschkind.

»Jemma!«

Ich fahre herum.

Karin steht da, verzieht genervt das Gesicht. »Maxims Mutter steht seit einer Ewigkeit draußen und wartet auf ihn!«

Ich muss mich sehr zusammennehmen, um nicht mit den Augen zu rollen. Der Junge ist keine drei Minuten hier, die Mutter kann also eben erst gekommen sein. Tief durchatmen und diplomatisch bleiben, so wie immer. »Das tut mir leid. Er kam zu mir raus, wir haben kurz geplaudert, und ich …«

»Und ich habe ihn überall gesucht!«, beendet sie ärgerlich meinen Satz. »Und wenn du wieder mal alle Kinder im Schlamm wühlen lässt, dann bitte nicht vor dem Abholen!«

Wir haben Erde, Tonerde und Blumensamen zusammengemixt, um morgen damit Samenbomben zu basteln. Ich hätte das Ganze auch lieber am Vormittag gemacht, aber Karins Tagesplan ist so durchgetaktet, dass da kaum Raum für Spontaneität bleibt.

Und Maxim habe ich nicht hier rausgezerrt, er ist von selbst gekommen. Also muss Karin ihn aus den Augen gelassen haben. Aber mit ihr zu argumentieren, bringt nichts.

Sie schnappt den Kleinen an der Hand und zieht ihn hoch.

»Komm ja schon!«, sagt er und schüttelt ihre Hand ab. Ich unterdrücke ein Grinsen, und während Karin davonstampft, dreht er sich noch einmal zu mir um und zuckt ein letztes Mal mit den Schultern, als wollte er sagen: Ich hab’s dir ja gesagt, sie kann uns nicht leiden.

Ich stehe auf und schnappe mir den Besen. Möchte mal wissen, was diese Frau so verbiestert hat. Ein Glück, dass Agnes sich von Karin nicht beeinflussen lässt. Sonst wäre ich vermutlich nach drei Tagen hier rausgeflogen. Nur noch ein paar Wochen bis zum Ende meines Praktikums. Hier im Kindergarten beginnt im Juli der reduzierte Sommerbetrieb, mit Sammelgruppe und ohne mich.

Die Kinder werden mir fehlen. Sogar Karin würde ich in Kauf nehmen, so sehr sind mir die Kinder in den paar Wochen ans Herz gewachsen. Verrückt eigentlich.

Auf dem Heimweg grüble ich immer noch über Karin nach. Wie alt sie wohl ist? So fünf, sechs Jahre vor der Pensionierung vielleicht? Ich kann mich auch täuschen, sie ist schwer einzuschätzen. Randlose Brille, grüngraue Augen, schlank, etwas größer als ich. Sie ist eine attraktive Frau, auf eine unauffällige Art – oder sie wäre es, wenn ihre Mundwinkel nicht ständig versuchen würden, den Fußboden zu berühren.

Meine Gedanken wandern zu Maxim. Es gibt in Mödling eine Sportvolksschule, die wäre ideal für ihn. Der Junge hat Energie ohne Ende, wenn er die nicht irgendwo rauslassen kann, wird er wahrscheinlich als Störenfried auffallen und als »hyperaktiv« abgestempelt. Maxim liebt Sport. Turnen, Fußball, Rennen, Springen, Fahrradfahren – Hauptsache Bewegung.

In Gedanken versunken schlage ich den Weg über die Brücke und durch den Park ein. Zu meiner Rechten liegt der »Parkwald«, so nennen wir den wunderschön verwilderten Bereich, ein Paradies für verliebte Pärchen, Hunde und Kinder. Dahinter liegt das Grundstück des ehemaligen Seniorenheims, wodurch der Park vor Straßenlärm geschützt ist.

Ein Fremdkörper im gewohnten Bild zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Genau genommen zwei Fremdkörper: Männer in grellgelben Warnwesten, die irgendetwas zu vermessen scheinen. Ich sehe ihnen ein paar Augenblicke bei der Arbeit zu. Sowohl auf den Bäumen als auch auf dem Fußweg sind Markierungen aufgesprüht, und mein Magen zieht sich angstvoll zusammen. Es wird doch ständig irgendwas vermessen, sage ich mir. Wie soll man sonst Landkarten aktualisieren und all so was? Aber das mulmige Gefühl verstärkt sich.

Ich gehe ein paar Schritte näher und rufe: »Entschuldigung!«

Beide sehen zu mir rüber.

»Weshalb wird denn hier vermessen?«, frage ich.

»Na, wegen dem Hotel«, antwortet der eine.

Ich hab’s geahnt. Etwas krallt sich um mein Herz, und ich muss einmal schlucken, bevor ich weiter fragen kann. »Welches Hotel?« Nein, nein, nein! schreit es in mir. Nicht hier, nicht unser Park, nicht unser Dschungel, NEIN!

»Seminarhotel, glaube ich«, sagt der andere. »Das Altersheim wird weggerissen und was Neues, Größeres hingebaut.«

»Mit Tiefgarage«, meldet sich wieder der Erste. »Wegen der Umwelt. Damit nicht noch mehr Autos rumstehen.«

Wegen der Umwelt? Soll das ein Witz sein? Was kann so wichtig sein, dass man einen Park opfert? Oder auch nur einen einzigen Baum? Wir sind mitten in einer Klimakrise, verdammt noch mal! Die Sommer werden gerade in den Städten immer heißer.

Da betoniert man doch nicht eine grüne Oase zu!

Ich nicke und wende mich ab. Mich für diese niederschmetternde Info auch noch zu bedanken, schaffe ich beim besten Willen nicht.

Wer widmet eine Parkfläche in Bauland um? Und so klammheimlich? Müssten Anwohner nicht informiert werden? Es gäbe garantiert Proteste, wenn sie von diesem Bauvorhaben wüssten. Hier klettern Kids auf Bäume, anstatt zu Hause vor dem Computer zu hocken, hier leben Vögel, Eichhörnchen und Igel, Hunde dürfen frei herumlaufen und mit anderen Hunden spielen. Dort drüben auf dem flachen Stein im Bach hat Zoe für Leon gesungen, sozusagen die Ouvertüre für den ersten Kuss der beiden. Sie lächelt jedes Mal, wenn wir hier vorbeigehen, die Geschichte ist aber auch zu romantisch. Bestimmt ist der Park voll von solchen Geschichten.

Irgendjemand muss etwas unternehmen, so viel steht fest. Unterschriftenaktionen, eine Petition, vielleicht eine Demonstration? Man könnte sich auch an die Presse richten! Aber wer wird schon aktiv, wenn niemand Bescheid weiß? Womöglich fangen sie morgen schon zu baggern an?

Ich glaube, in meinen Adern pulsiert gerade reines Adrenalin. Ich atme ein und zähle dabei bis fünf. Dann atme ich etwas länger aus, zähle bis sieben. Das beruhigt. Tipp von meinem Saxofonlehrer gegen Lampenfieber vor Konzerten. Und es hilft auch bei Parkfieber. Plötzlich sehe ich viel klarer.

Nicht »Irgendjemand« muss etwas unternehmen.

Ich werde etwas unternehmen. Wir werden.

Ich hole mein Handy hervor und tippe eine Nachricht an Zoe.

Jemma:

Sie vermessen den Parkwald.

Für ein Bauprojekt .

Die Antwort kommt umgehend.

Ich beschleunige meine Schritte in Richtung Fill up. Unser kleiner Laden mit dem angeschlossenen Bistro hat die Pandemie nur deshalb überstanden, weil wir zusammengehalten haben und kreativ geblieben sind. Keiner kann oder will einkaufen kommen? Dann rufen wir eben einen Fahrrad-Zustelldienst ins Leben. Keiner darf im Bistro sitzen? Dann gibt es eben nur noch Take-away-taugliches Essen. Unsere Stammkunden waren einfach glücklich, dass wir weitermachten. Das Fill up ist ein reiner Familienbetrieb, also waren die Löhne bei uns keine so große Sorge wie bei anderen. Wenn weniger reinkommt, dann sinkt eben unser Stundenlohn. Verhungern würden wir schon nicht. Es gab nur ein gemeinsames Ziel: das Fill up zu retten. Für meine Tante, Zoes Mum, die sich mit dem Laden einen Lebenstraum erfüllt hat. Für uns alle, weil es einfach ein großartiges Projekt ist. Obwohl ich noch nicht so lange dabei bin wie die anderen, fühle ich mich voll zugehörig.

Als ich im leeren Fill up ankomme – es ist die Ruhe vor dem Last-Minute-Sturm –, hält Zoe mir ein Flugblatt entgegen.

»Lag im Briefkasten.«

Das Blatt zeigt ein Modellbild des geplanten Baus: Holzverkleidung, riesige Glasflächen. Ich überfliege den Text darunter: »Sehr geehrte:r Anwohner:in, wie in der Bezirkszeitung zur Kenntnis gebracht … blabla … Gelände des ehemaligen Altersheims …«

Natürlich kein Wort, dass es auch das Park-Gelände betrifft!

»Vorzeigeprojekt … blabla … Seminarhotel … blaaaah … macht unsere Stadt noch attraktiver … blaaah … wird auf die Umwelt geachtet …« Ha! »… alle Kriterien erfüllt, Holz und Glas, Ausrichtung nach Feng Shui, in der Stadt und doch in der Natur …«

Echt jetzt?

»In der Natur?«, fauche ich. »Welcher Hochbegabte hat das denn verfasst? Meint der die Natur, die sie zerstören müssen, um den Kasten hinzustellen? Die Vögel, die gegen die Glasflächen knallen werden? Die gefällten Bäume? Die vertriebenen Tiere? Und das machen sie wieder gut, warte mal, ich muss mir das auf der Zunge zergehen lassen, mit Feng-Shui-Ausrichtung?«

Ich habe versprochen, Zoe beim Abendgeschäft zu helfen. Hinter der Theke greife ich mir also meine Schürze vom Haken und verwandle mich in ein offizielles Mitglied der Fill-up-Gang: eine zarte Verschmelzung von Barista und Verkäuferin, mit Kellnerin-Streuseln und einem Hauch Therapeutin-Glasur.

Die übliche After-work-Kundschaft beginnt einzutrudeln, um sich bei uns eine Happy Hour ganz ohne Alkohol zu machen. Wir haben keine Schanklizenz, und wir wollen auch keine. Schon gar nicht, seit Alkohol vor einigen Jahren dazu geführt hat, dass das Fill up getrasht wurde. Damals war ich gerade in Schottland, habe aber Fotos gesehen, auf denen das Lokal fast nicht wiederzuerkennen war, so schlimm sah es aus. Eine Gruppe Jugendlicher war völlig betrunken eingebrochen und hatte gewütet und alles kaputtgeschlagen, was nicht niet- und nagelfest war. Spaß ohne Alkohol wirkt sich wohl eher selten so aus.

Der Abend heute ist sommerlich mild, also sitzen die meisten an den Tischen vor dem Lokal. Es ist lauschig da: Kastanien helfen unserer Markise beim Schattenspenden, und es fahren nur die paar Autos der Anwohner vorbei. Als draußen alles besetzt ist, wird es drinnen auch noch mal voll, und für eine gute halbe Stunde kommen Zoe und ich tatsächlich ins Schwitzen.

»Puh«, seufze ich, als es wieder abflaut. »Man darf sich echt nie von der Siebzehn-Uhr-dreißig-Flaute täuschen lassen.«

»Stimmt«, sagt Zoe und wischt sich mit dem Handrücken über die feuchte Stirn. »Ich finde, wir haben uns jetzt einen geeisten Matcha Latte verdient.«

Während Zoe unser aktuelles Lieblingsgetränk mixt, putze ich schon mal die Kaffeemaschine. »Wehe, da will noch jemand Kaffee«, murmle ich, als ich die ausgespülten Siebe zum Trocknen auf ein sauberes Tuch lege.

»Glaub ich nicht«, meint Zoe und reicht mir meinen Matcha. »Der Sturm ist vorbei.«

»Na hoffentlich«, gebe ich zurück. »Nach acht Stunden Kindergarten und zwei Stunden Fill up will ich nur noch ins Bett.« Ich überlege kurz. »Vielleicht kuschle ich noch ein wenig mit meinem Saxofon.«

Ich stehe mit dem Poliertuch über die Edelstahl-Arbeitsfläche gebeugt, als doch noch jemand hereinkommt. Kein Kaffee mehr, denke ich grimmig. Und dann: Warum begrüßt Zoe den neuen Gast nicht? In diesem Moment krieg ich einen Schubs von ihr.

»Was denn?« Verwundert richte ich mich auf und blicke direkt in zwei braune Augen unter absurd langen schwarzen Wimpern.

»Luft holen!«, sagt Zoe und schubst mich noch mal. Ich habe tatsächlich vergessen zu atmen.

»Die Elfe muss schuften«, sagt Tara und weidet sich sichtlich an meiner Überraschung. »Wenn das nicht Stoff für ein Märchen gibt.«

3. Next chapter

»Tara«, stelle ich das Offensichtliche fest, als ich meine Stimme wiedergefunden habe. »Ist das … ein Zufall?«

»Meine Elfen-Connections überlasse ich doch nicht dem Zufall.«

»Aber … wie hast du mich gefunden?«

Sie lacht. »Das einzige vegane Lokal in diesem Dorf war nicht so schwer zu finden.«

»Wir sind kein Dorf«, sagt Zoe würdevoll. »Wir sind eine Stadt.«

Tara deutet eine Verbeugung in ihre Richtung an. »Mein Fehler. Ich bitte um Vergebung.«

Zoe errötet, als hätte ihr jemand gerade ein Kompliment gemacht, mit dem sie nicht umgehen kann, was öfter vorkommt.

Es ist zwei Minuten vor acht, eine Stammkundin stürmt keuchend herein. Sie hat drei Kinder unter sieben, gerade wieder begonnen zu arbeiten und ist immer im Stress. Als wir um neunzehn Uhr Sperrstunde hatten, kam sie meist zwei Minuten vor sieben. Jetzt kommt sie zwei Minuten vor acht. Es gibt nicht viele Lokale, in die sie mit allen drei Kids gehen kann, ohne verstimmte Blicke zu ernten, weil eines zu laut ist, ein zweites mit Obst wirft und das dritte die Toilette unter Wasser setzt.

»Sorry«, schnauft sie. »Alle Kinder sitzen im Auto und ich steh in zweiter Spur.« Dann kauft sie alle Sandwiches, die noch übrig sind, die letzte Portion Nudelsalat und drei Stück Kuchen.

»Ich kann dir gern noch was machen«, sage ich zu Tara, als die Vitrine sich vor ihren Augen leert.

»Nein, danke«, sagt Tara. »Aber ein Espresso wäre toll.«

»Na klar!«

Zoe grinst vor sich hin, als ich die eben geputzte Maschine wieder in Betrieb nehme.

»Tolle Vintage Espressomaschine habt ihr da!«

»Es ist eine FAEMA Presidente, Jahrgang 64«, antworte ich stolz und stelle einen Espresso mit perfekter Crema vor Tara ab.

Sie schließt die Augen über der kleinen dickwandigen Tasse und inhaliert das Aroma.

»Dieser Kaffee allein«, sagt sie nach dem ersten Schluck, »macht das Dorf zur Stadt!«

Ich bücke mich, um ein Mineralwasser aus der Kühlung zu nehmen. Und damit Tara nicht von meinem Gesicht ablesen kann, wie stolz ihr Lob mich macht. Damit entgehe ich zwar Taras Blicken, nicht aber Zoes. Die bückt sich nämlich auch, reißt die Augen auf und blinzelt pseudo-verführerisch.

Ich ignoriere sie und stelle die kleine Flasche samt einem Glas neben den Espresso.

»Geht aufs Haus«, meint Zoe. »Sieh es als Spende für Fridays for Future

»Dann vielen Dank«, antwortet Tara lächelnd und dreht sich einmal langsam um sich selbst, um das Fill up besser in Augenschein nehmen zu können. »Richtig, richtig cooler Laden!«

»Das hört man gerne am Ende eines Arbeitstages«, antwortet die Stimme von Ella, meiner Tante. »Vielen Dank!« Sie tritt sichtlich erschöpft aus dem Lager hinter die Theke.

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