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Gegen den Wind des Widerstands

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Der Wind bringt Veränderung

Um 1900: Helen liebt das Wasser und Schiffe, ihre Leidenschaft gehört den Segelbooten. Sie ist wagemutig und tollkühn, gewinnt sämtliche Wettrennen auf dem Wasser gegen ihre Brüder. Dabei trägt sie verbotenerweise Hosen – sehr zum Entsetzen ihres Umfelds. Als sie heiratet, zieht sie gemeinsam mit ihrem Mann nach Cannes. Der Wind, die Wellen, die Rauheit, aber auch die schier unendliche Grenzenlosigkeit, die ihr der Ozean bietet, öffnen ihr Herz. Zum ersten Mal im Leben fühlt Helen sich richtig frei. Doch als sie im Segelsport auch offiziell an Wettkämpfen teilnehmen will, stößt sie an die Grenzen der Gesellschaft. Schon bald muss sie sich entscheiden: Will sie ein gewöhnliches Leben führen, oder ihrem großen Traum, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, folgen?


  • Erscheinungstag: 23.07.2024
  • Seitenanzahl: 368
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907144
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Prolog

Genfersee, Sommer 1882

Milchig weiß lag der Nebel über dem See. In kleinen Wölkchen löste er sich von der Oberfläche, stieg auf und legte ein spiegelglattes Türkis frei. Barfuß lief Helen durch das noch nasse Gras, die Tautropfen kitzelten zwischen ihren nackten Zehen. In ein paar Stunden würde die Sonne jeden einzelnen Halm getrocknet haben. Schon jetzt verhieß der wolkenlos blaue Himmel einen weiteren heißen Sommertag. Erst abends, wenn sich erneut die schwüle Hitze vor den schneebedeckten Berggipfeln staute, würde es vielleicht ein Sommergewitter geben. Doch jetzt war die Luft frisch und klar. Es duftete nach geschnittenem Grün, denn gestern hatten der Bauer und seine Knechte die Wiese neben dem Garten mit den Sensen gemäht. Die Haufen hingen nun auf Holzgerüsten zum Trocknen und verströmten den Geruch nach Sommer und Unbeschwertheit.

Helen liebte die Sommermonate am Genfersee. Wenn es nach ihr ginge, würde sie das ganze Jahr an diesem malerischen Ort verbringen. New York mit seinen Wolkenkratzern, engen Straßenschluchten, lärmenden Fabriken und dem Sprachenwirrwarr war ihr ein Gräuel. Es war ihr völlig unverständlich, warum jemand freiwillig Europa verließ, um auf der anderen Seite des Atlantiks ein neues Leben anzufangen. In der Schweiz oder in Frankreich gab es doch alles, was man zum Glücklichsein brauchte.

Helens Unverständnis war der Tatsache geschuldet, dass sie auf die Butterseite des Lebens gefallen war. Sie war als erstes Kind in die wohlhabende Familie Lori geboren worden. Ihr Vater Pierre Lori war einer der erfolgreichsten Tabakproduzenten Amerikas. Er besaß Häuser in New York, Genf und Paris. Armut oder Hunger waren Fremdwörter für Helen. Ihre Sorgen galten dem verhassten Lateinunterricht und den Benimmstunden bei Marie Fornet, ihrer strengen Kinderfrau. Die Erzieherin bemühte sich vergebens, aus der wilden Zwölfjährigen eine salonfähige junge Frau zu formen.

Gestern war Fräulein Fornet für eine Woche zu ihrer Familie nach Lausanne gefahren, um ihre Schwägerin im Wochenbett zu unterstützen. Das bedeutete sieben ganze Tage ohne lästige Regeln. Helen musste keine Bücher auf dem Kopf tragen und damit aufrecht durch den Raum schreiten, sich nicht um langweilige Gesprächsthemen bei Tisch Gedanken machen und sich auch nicht mit den verhassten Handarbeiten abquälen, die ihr ohnehin nie gelangen. Sticken war ihr ein Gräuel. Neulich sollte sie einen Hirsch auf einen Kissenüberzug sticken, und am Ende hatte das Tier wie ein fettes Walross mit Geweih ausgesehen. Fräulein Fornet hatte den Überzug erst vorgestern zu den Spenden für ein Seniorenhaus gegeben. Jetzt musste sich ein armer alter Mensch Gedanken darüber machen, auf welch seltsamem Tier er seinen Kopf bettete. Es wäre wohl besser gewesen, der Überzug wäre in ein Gefängnis gegangen.

Helen lief Richtung See. Sie konnte den ganzen Tag nach ihrem Geschmack gestalten. Ihre Mutter war mit Helens jüngeren Brüdern Philipp und André beschäftigt. Die beiden brauchten Nachhilfeunterricht in Französisch und mussten sich im Tennis und Reiten bewähren. Während Helen schon früh ihre Liebe zur Sprache ihrer Mutter entdeckt hatte, taten die Brüder sich schwer mit ihr. André fand Französisch sei eine Hals-Nasen-Krankheit, und Philipp beschäftigte sich lieber mit den großen deutschen Dichtern, Goethe und Schiller.

Heute wollte Helen ihre neue Freiheit mit einem Abstecher zu ihrer Nachbarin, Baronin Julie von Rothschild, beginnen. Marie Fornet fand, dass die exzentrische Baronin, die allein lebte und unverheiratet war, kein geeigneter Umgang für Helen war. Zum Glück sahen sowohl Susanna Lori als auch Helens Vater das weniger streng. Die beiden hatten die Werte der Neuen Welt inhaliert. Den Traum, vom Tellerwäscher über Nacht zum Millionär zu werden, fanden sie keineswegs verwerflich. Und wer sich sowohl als Künstlerin als auch Unternehmerin einen Namen gemacht hatte, verdiente es, respektiert zu werden, egal ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. Julie von Rothschild war eine exzellente Fotografin. In Paris wurden in ihren Werkstätten Geräte für die Augenmedizin hergestellt. Jedes Jahr entwickelten Spezialisten neue Techniken. Die Baronin verstand es wie keine andere, ihr Vermögen stetig zu vermehren und dabei nicht nur den beruflichen Erfolg im Auge zu haben, sondern auch ihren privaten Leidenschaften nachzugehen. Letzte Woche hatte Julie von Rothschild ihren neuen Dampfer eingeweiht. Die La Gitana war das schnellste Dampfschiff auf dem Genfersee. Pierre Lori, der selbst ein großer Schiffsliebhaber war, war von diesem kleinen Wunderwerk der Technik so beeindruckt gewesen, dass er beim Abendessen gemeint hatte: »Vielleicht sollten wir uns auch ein Schiff zulegen. Wobei ich ein Segelschiff bevorzugen würde. Das ist sportlicher.« Helen war sofort Feuer und Flamme gewesen, doch leider hatte ihr Vater danach das Boot nicht mehr erwähnt und sich langweiligeren Themen gewidmet.

Die La Gitana lag im Privathafen der Baronin. Mit den bunten Wimpeln und dem schneeweißen Rumpf wartete der Dampfer darauf, Passagiere über den See zu transportieren. Wenn Julie von Rothschild Wort hielt, was sie für gewöhnlich tat, durfte Helen heute mit an Bord kommen. Die Einweihungsfeier hatte Helen nur vom Fenster ihres Zimmers aus begleiten dürfen, und nun konnte sie es kaum erwarten, die Planken zu besteigen. War es noch zu früh, die Nachbarin an das Versprechen zu erinnern?

Helen kletterte auf die unterste Latte des Zauns und spähte über die dichte Hecke aus Kirschlorbeer und Liguster. Ein Brombeerbusch wuchs dazwischen. Helen pflückte vier der dunklen Früchte und steckte gleich alle auf einmal in den Mund. Sie verzog das Gesicht. Die Beeren waren noch nicht ganz reif. Geduld zählte nicht zu Helens Stärken. Aber Geschicklichkeit. Und so sprang sie vom Zaun und lief zu dem Tor, durch das man vom Grundstück ihrer Familie auf das der Baronin gelangte. Geschmeidig wie eine Katze schlüpfte sie unter dem Tor hindurch. Dabei löste sich eine kastanienbraune Strähne aus ihrer nur nachlässig geflochtenen Frisur. Helen steckte sie halbherzig hinters Ohr, hob ihre Röcke und lief über das taufrische Gras.

Am Landungssteg hatten sich einige Menschen eingefunden, alles Fremde. Helen hielt an, hob die Hand über die Augen und blinzelte gegen die aufgehende Sonne. Vier Frauen und zwei Männer. Drei der Damen hatten moderne Kleider mit langen Röcken, Rüschen, Schleifen und Tournüren an. Helen hasste die halben Unterröcke mit Fischbein- oder Stahlreifenverstärkungen. Mit ihnen konnte man sich weder hinsetzen noch schnell gehen. Im Grunde konnte man in solcher Aufmachung nichts anderes tun, als albern in der Gegend herumzustehen. Doch eine der Frauen stach hervor. Ihre hellen Röcke endeten oberhalb der Knöchel und erlaubten einen Blick auf feste Schuhe, wie man sie auch in den Bergen für lange Wanderungen trug.

Helen näherte sich neugierig. Als einer der Männer sie entdeckte, stellte er sich rasch vor die praktisch gekleidete Dame, so als müsste er sie vor Helen beschützen. Sofort zog ihn die Baronin zurück und machte eine beschwichtigende Handbewegung. Sie winkte Helen zu sich. Wie immer hatte sie eine Zigarette mit einer langen Spitze in ihrer Rechten. Helen erschien das wie der Inbegriff von Selbstbestimmung. Niemals würde ihre Mutter rauchen. Obwohl ihr Ehemann damit sein Geld verdiente. Fräulein Fornet war der Überzeugung, dass der Teufel höchstpersönlich dafür gesorgt hatte, dass jetzt auch Frauen zum Tabak griffen. Bei Männern war es für sie eine Selbstverständlichkeit, dagegen hatte sie keine Einwände. Manchmal fiel es Helen schwer, Marie Fornets Logik zu folgen.

»Das ist Helen Lori, die Tochter meiner Nachbarn. Sie begleitet uns«, sagte die Baronin. Ihre Stimme war vom Tabak und dem Gin, den sie abends gerne zu sich nahm, tief und rauchig. Ihre üppige Figur steckte in einem weißen Sommerkleid, auf ein Korsett hatte sie verzichtet. Der Ausschnitt des Oberteils war skandalös tief, wie es sonst nur bei Ballkleidern üblich war. »Warum soll ich mich mit eingeschnürtem Leib und zu viel Stoff auf meiner Haut quälen?«, pflegte sie zu sagen. »Ich krieg keine Luft, wenn mich jemand zuschnürt wie eine deutsche Bratwurst.«

Die Dame mit den knöchellangen Röcken schien sehr wohl eingeschnürt zu sein. Ihre Taille war so schmal, dass ein Mann mit großen Händen sie problemlos hätte umfassen können. Ihr Gesicht war kantig, aber schön. Eine tiefe Traurigkeit lag in ihren großen Augen.

»Guten Morgen, Helen! Du willst doch mitkommen, oder? Wir legen gleich ab«, sagte die Baronin.

Natürlich wollte Helen mitfahren. Vor dem Frühstück mit dem Dampfer auf den See – was für ein Abenteuer! Diese Woche würde die beste ihres Lebens werden.

»Hast du keine Schuhe dabei?«

Helen verneinte.

»Na, macht nichts«, meinte die Baronin. »Der See ist ruhig und wir sind auf einem Dampfer, nicht auf einem Segelboot.« Sie hob mahnend den Zeigefinger ihrer Linken: »Aber merke dir: In Zukunft betrittst du kein Boot ohne feste, trittsichere Schuhe.«

»Mach ich«, versprach Helen.

Ein Mann mit einer schicken Kapitänsmütze unter dem Arm trat auf die Baronin zu. Er reichte ihr die Kappe, die diese ganz selbstverständlich auf ihren Kopf setzte. Helens Augen wurden kugelrund. Konnte es sein, dass Julie von Rothschild das Schiff selbst steuern würde? War sie die Kapitänin? Gab es dieses Wort überhaupt?

Über eine breite Planke kletterte ein Gast nach dem anderen auf das Schiff. Helen beobachtete die Frauen. Die drei eleganten Damen bewegten sich zögerlich und hielten sich an einem Handlauf fest. Die zarte, schlanke Frau ging mit sicheren Schritten, so als hätte sie in ihrem Leben nie etwas anderes gemacht. Helen tat es ihr gleich, auch sie geriet nicht ins Wanken.

»Die Kleine ist geschickt«, sagte die Fremde zur Baronin. Sie sprach auf Deutsch, mit einem weichen Akzent, der Helen neu war. Bis jetzt hatte die Sprache für Helen hart und kantig geklungen. Seit ein paar Monaten erhielt sie Unterricht darin, und schon jetzt verstand sie überraschend viel. Helen konnte nicht anders, sie musste das Gesicht der Frau anstarren. Es war trotz der Melancholie und der Traurigkeit sehr hübsch. Wären die Schatten unter den großen Augen nicht gewesen, hätte man sie als ausgesprochene Schönheit bezeichnet. Auf seltsame Weise kam die Fremde Helen bekannt vor. War sie ihr schon einmal begegnet? Hatte sie sie in einer der Zeitungen gesehen, die ihr Vater regelmäßig las? Helen kam nicht dazu, weiterzugrübeln. Sie durfte an die Reling treten, musste aber versprechen, sich festzuhalten. Die Maschinen waren bereits angeworfen worden. Weißblauer Dampf stieg aus dem hohen rot gestrichenen Schlot und verflüchtigte sich am wolkenlosen Himmel. Mit einem heftigen Ruck legte das Schiff ab.

Zuerst tuckerte es ganz langsam, dann nahm es an Fahrt auf und wurde schneller. Rasch entfernte sich die La Gitana vom Ufer. Der Fahrtwind strich Helen über die Wangen. Kratzender Rauch füllte ihre Lungen. Sie hustete und wechselte die Seite an Bord. Wieder hielt sie sich mit beiden Händen fest. Jetzt war es klarer, frischer Sommerwind, der sie einhüllte. Der beißende Dampf zog auf der anderen Schiffseite vorbei.

Helen sah zu den Besuchern am Bug der La Gitana. Die Frau in den kurzen Röcken wandte sich zu ihr um. Die dunklen Schatten waren von ihrem ernsten, schmalen Gesicht abgefallen. Sie wirkte verändert. So als hätte sie sich mit dem Ablegen des Schiffs von einer Last befreit, die sie zuvor schier erdrückt hatte. Jetzt lächelte sie. Sie sah glücklich aus.

Es fiel Helen wie Schuppen von den Augen: Der Gast der Baronin war die österreichische Kaiserin Elisabeth. Sie hatte ihr Bild tatsächlich in einer Zeitung gesehen. Die Kaiserin drehte das Gesicht dem Fahrtwind entgegen und schloss genießend die Augen. Helen konnte sehen, wie sie die frische Morgenluft in vollen Zügen einsog und ihre schmalen Wangen sich rosig färbten. Helen tat es der Kaiserin gleich. Sie blickte von der Baronin mit ihrer Kapitänsmütze zur österreichischen Kaiserin und wieder zurück. Was die beiden Frauen einte, war ein zufriedener Gesichtsausdruck, der einem kurzen Moment der Freiheit geschuldet war. An diesem Morgen fasste Helen einen wichtigen Entschluss: Sie würde die Schifffahrt für sich erobern. Ganz egal, was Fräulein Fornet dazu sagte. Diesen einzigartigen Augenblick, in dem es keine gesellschaftlichen Zwänge, keine Vorschriften und keine Grenzen gab, den wollte Helen wiederholen, und zwar immer und immer wieder.

Genfersee, Sommer 1895

Helen saß luvseitig mit Blick auf das weiße Segel, das sich strahlend vom tiefblauen Himmel abhob. Sie drückte die Ruderpinne von sich weg, um härter am Wind zu fahren. Das Großsegel wölbte sich. Wie lange war sie schon unterwegs? Sobald sie sich auf dem Einhandsegler befand, den ihr Vater vor fünf Jahren gekauft hatte, verlor sie jedes Gefühl für die Zeit. Pierre Lori hatte die La Mouette in der Hoffnung erworben, seine Söhne für die Schifffahrt begeistern zu können. Aber sowohl Philipp als auch André weigerten sich hartnäckig, einen Fuß auf das kleine, schneidige Segelschiff zu setzen. Beiden wurde übel, sobald sie ein schwankendes Boot betraten. Bei Philipp war die Seekrankheit so stark ausgeprägt, dass er sich regelmäßig übergab. Bei langen Schifffahrten wie von den Staaten nach Europa litt er schreckliche Qualen. Helen hingegen hatte gleich in der ersten Woche Unterrichtsstunden bei dem alten Fischer Leano genommen. Seither verging kaum ein Tag, an dem sie nicht mit der La Mouette auf dem See war. Nur in den Wintermonaten musste sie darauf verzichten. Doch sobald die Eisschichten vom See geschmolzen waren und die La Mouette aus dem Winterschlaf geholt wurde, war Helen nicht zu halten. Sie liebte es, wenn der Fahrtwind ihr ins Gesicht blies und die von der Sonne geröteten Wangen kühlte; wenn ihr Haar im Wind wehte und das Seewasser in feinem Sprühregen ihre Haut überzog. Während sie die Weite des Sees erkundete, weichten die engen Grenzen ihres Lebens auf und wichen einer Schwerelosigkeit. Die gesellschaftlichen Verpflichtungen, denen Helen unterworfen war, rückten in die Ferne. Hier auf dem Wasser zählte ihr eigenes Geschick mit dem Wind und dem Boot.

»Wenn du einen Fehler machst, rächt sich das sofort«, pflegte Leano zu sagen. »Im schlimmsten Fall kenterst du. Da hilft dir weder ein Adelstitel noch ein fettes Bankkonto.« Dann zwinkerte er ihr zu und meinte: »Und es ist auch völlig egal, ob du ein Mann bist oder eine Frau. Den Wind und das Wasser schert das nicht. Die Wellen schlucken alles, was ihnen keinen Widerstand leistet.«

Helen mochte den alten kauzigen Fischer, dessen Haut von der Sonne gegerbt war wie dickes Leder. Er nahm kein Blatt vor den Mund, und was er sagte, hatte stets Hand und Fuß. So hatte er ihr schon während der zweiten Übungsstunde geraten, die Röcke abzulegen.

»Stell dir vor, du fällst damit ins Wasser«, hatte er gesagt. »Selbst wenn du schwimmen kannst, gehst du unter wie ein Stein, sobald all die Stoffschichten nass sind.«

Zuerst hatte Helen gezögert, aber als sie bemerkte, wie schwer ihre Kleidung schon nach wenigen Minuten auf dem See wurde, weil ständig Wasser ins Boot spritzte, gab sie Leano recht. Ihre Röcke wogen doppelt so schwer und es war schier unmöglich, schnell genug unter dem Baum hindurch und an der Großschot vorbei zur anderen Schiffsseite zu klettern, um eine ordentliche Wende oder eine Halse zu bewerkstelligen. Sie hatte sich deshalb angewöhnt, ihren Rock auszuziehen, sobald sie weit genug vom Ufer entfernt war. Auch jetzt lag das unpraktische Kleidungsstück ordentlich zusammengerollt unter der hölzernen Abdeckung am Bug. Ein einziges Mal hatte der Kapitän eines Dampfers sie in den knielangen Unterhosen gesehen und ihr auch direkt obszöne Bemerkungen zugerufen. Danach war Helen vorsichtiger geworden. Seither zog sie die Röcke erst aus, wenn sie sich außer Sichtweite eines anderen Schiffs befand. Außerdem versuchte sie, so im Boot zu hocken, dass ihre Beinbekleidung nicht sofort sichtbar war. Die Gefahr, dass ihre Mutter oder Marie Fornet von ihrem skandalösen Vorgehen erfuhren, war zu groß. Dann würde man ihr das Segeln verbieten, und sie würde verlieren, was sie am meisten liebte. Sie könnte sich nicht mehr zur Anlegestelle stehlen, aufs Boot klettern, ablegen und in die Mitte des Sees steuern, die schneebedeckten Berge im Hintergrund und das türkisblaue Wasser unter sich. Sobald Helen allein auf dem See war, spürte sie ein Gefühl von Freiheit. Genau wie damals auf der La Gitana. Daran hatte sich nichts geändert. Im Gegenteil, je geschickter sie im Umgang mit dem Segelboot wurde, umso freier fühlte sie sich.

Doch das war ein Trugschluss, denn sobald sie das Festland wieder betrat, war alles unverändert. Die Regeln, denen sie unterworfen war, und die Erwartungen, die an sie gestellt wurden. Und sie wurden mit jedem Tag konkreter, denn Helen war längst im heiratsfähigen Alter. Bald würde sie als alte, unverheiratete Jungfer gelten. Dass man noch nicht über sie tuschelte, war ihrem Äußeren geschuldet. Sie sah trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre immer noch aus wie kurz über zwanzig. Lange würde sie sich nicht mehr gegen den Bund der Ehe wehren können, auch wenn sie bisher alle Anträge abgelehnt hatte. Die Männer, die sie gestellt hatten, waren Langweiler oder hässliche alte Greise gewesen. Nicht ein einziger war dabei gewesen, der Helen interessiert hätte. Aber wie lange würde man es ihr noch zugestehen, Nein zu sagen?

Sie blinzelte gegen die Sonne. Die Schaumkrönchen auf den Wellen funkelten wie Diamanten. Leano hatte gemeint, dass das Wetter heute Nacht umschlagen würde. Im Moment war noch nichts davon zu spüren, aber Helen wusste, dass der Fischer immer recht behielt. Niemand konnte die Vorboten des Wetters besser lesen als er. Sie wünschte, dass sie eines Tages auch in der Lage dazu sein würde. Nichts war beim Segeln wichtiger als das Wetter. Sobald sich dunkle Gewitterwolken über den Berggipfeln auftürmten, musste man so rasch wie möglich zurück zum Ufer. Dasselbe galt, wenn Sturm und Hagel drohten. Eine kräftige Brise mit Windstärke vier mit elf bis fünfzehn Knoten, wie eben jetzt, war dagegen wie geschaffen für eine erfahrene Seglerin. Der Wind war der Motor, der Treibstoff, der das Boot zum Laufen brachte. Ihn geschickt zu nutzen, war ein Spiel, das Helen mittlerweile perfekt beherrschte. Sie bereitete sich für die nächste Wende vor, drückte die Pinne von sich und ließ das Vorsegel kurz back stehen. Das Hauptsegel gab nach. Der Baum drehte zur anderen Seite, das ganze Boot wendete. Nach einem kurzen Stillstand nahm das Boot noch mehr Fahrt auf. Helen musste lächelnd daran zurückdenken, wie sie bei ihren ersten Wenden den Fehler gemacht hatte, sich zu sehr in den Wind zu stellen, und damit das Boot zum Anhalten gezwungen hatte. Ihr Blick glitt zum Ufer. Stand dort jemand und winkte ihr zu? Helen hielt Großschot und Pinne mit einer Hand und führte die andere über die Augen. Am Anlegesteg stand tatsächlich eine Person. Es war ihr Bruder Philipp, und er wedelte aufgeregt mit beiden Händen in ihre Richtung.

Helen hatte wieder einmal völlig die Zeit vergessen. Am späten Nachmittag hatten sich Geschäftspartner und Bekannte ihres Vaters angekündigt. Eine weitere langweilige Soiree, eine dieser gesellschaftlichen Zusammenkünfte, die Helen lieber gemieden hätte. Doch es wurde von ihr erwartet, daran teilzunehmen. Seufzend änderte sie den Kurs. Mit gefühlt geringerer Geschwindigkeit und sinkendem Enthusiasmus glitt sie zurück zum Ufer. Sie machte sich nicht die Mühe, den Rock schon auf dem See anzuziehen. Philipp wusste ohnehin, dass sie ihn beim Segeln ablegte. Kaum dass Helen in Hörweite war, rief er ihr zu: »Beeil dich, Mama hat bereits dreimal nach dir gefragt, und Fräulein Fornet ist schon ganz außer sich, weil sie dich nirgendwo finden kann. Die Arme ist einem Kollaps nahe.«

Philipp war um zwei Jahre jünger als Helen, sah aber deutlich älter aus. In den letzten Jahren hatte er sich zu einem hübschen jungen Mann gemausert. Sein schmales Gesicht zierte ein modischer Vollbart. Er verdeckte ein kantiges Kinn und volle Lippen. Genau wie Helen hatte er bernsteinfarbene Augen, kastanienfarbige Locken und unzählige Sommersprossen, die den ganzen Körper bedeckten, sobald etwas Sonne auf die Haut fiel. Das alles hatten sie von der Mutter geerbt. Doch sosehr die Geschwister sich äußerlich ähnelten, so unterschiedlich waren ihre Interessen. Während Helen fürs Segeln brannte und mit beiden Beinen im Leben stand, war Philipp verträumt. Statt sich dem Sport zu widmen, verschanzte er sich lieber hinter seinen Büchern, verfasste Gedichte und las Romane. Er interessierte sich für Literatur und Kunst und hätte gerne den ganzen Tag mit Wörtern und Bildern verbracht.

Bis vor einem Jahr war ihm das auch noch möglich gewesen. Man hatte ihn belächelt, aber gewähren lassen. Doch dann hatte ein unerwarteter Schicksalsschlag die Familie erschüttert, und es war von einem Tag auf den anderen Schluss damit gewesen. André war überraschend an einem Blinddarmdurchbruch verstorben. Noch auf dem Weg ins Krankenhaus hatte der vor Kraft und Energie strotzende junge Mann sein Leben gelassen. Sein plötzlicher Tod hatte der Familie schwer zugesetzt. Es war, als hätte der Boden sich geöffnet und ein Mitglied verschluckt. Ohne Vorwarnung, ohne Zeit, sich von ihm zu verabschieden, war André auf einmal nicht mehr da. Statt sich der Trauer hinzugeben und den Verlust zu verarbeiten, war sofort über die Nachfolge im Familienunternehmen diskutiert worden. Seither war Philipp der Hoffnungsträger von Pierre und Susanna Lori. Er sollte eines Tages das Unternehmen übernehmen. Der Gedanke, dass auch Helen dazu in der Lage sein könnte, kam weder ihrem Vater noch ihrer Mutter in den Sinn.

Erst als eine Lösung fürs Geschäft gefunden war, hatte sich gezeigt, wie sehr Andrés Tod das Leben der Familie verändert hatte. Susanna Loris Lebensfreude war einer tiefen Traurigkeit gewichen. Ihr hübsches Gesicht mit den rosigen Wangen war nun eingefallen und faltig, die Augen lagen in dunklen Höhlen. Auch Helens Vater lachte nur noch selten. Die gemeinsamen Abendessen waren von ernsten Gesprächen geprägt. Wobei ein Thema ausgespart wurde: Andrés Tod. Der tote Bruder war für alle ständig präsent, doch sein Name durfte nicht fallen. Helen war jedes Mal froh, wenn sie von den gemeinsamen Mahlzeiten wieder aufstehen konnte. Auch sie hatte der Tod ihres Bruders getroffen, obwohl André ihr nie sehr nahegestanden hatte. Solange er gelebt hatte, hatte er Helen und Philipp gehänselt. Er hatte Philipp wegen seiner Liebe zur Literatur aufgezogen und Helen wegen ihrer Passion für das Segeln. Vielleicht, weil er selbst an der Seekrankheit gelitten hatte und tief in seinem Herzen selbst gerne gesegelt wäre. Kaum hatten Helen und Philipp ihm den Rücken zugedreht, hatte er gehässige Reden geschwungen, um selbst in einem besseren Licht zu erscheinen. Als sein Sarg in die Erde gelassen worden war, hatte Helen getrauert, aber nicht wie um einen geliebten Bruder, sondern wie um einen jungen Menschen, der zu früh aus dem Leben scheiden musste. Und obwohl alle wussten, dass André oft gemein gewesen war, hatte er jetzt in den Augen der Eltern den Status eines Heiligen, den weder Philipp noch Helen jemals erreichen konnten.

Helen brachte die La Mouette in den Wind, sodass sie seitlich zum Landungssteg zum Halten kam. Sie warf Philipp eine Leine zu und holte das Großsegel ein. Ihr Bruder befestigte das Boot an einem Holzpfosten am Steg.

»Nicht bloß herumwickeln«, warnte Helen. Beim letzten Mal hatte sie eine halbe Stunde gebraucht, um Philipps seltsamen Knoten zu entwirren.

»Palstek«, antwortete ihr Bruder.

Helen hielt ihm einen aufrechten Daumen entgegen und warf ihm eine zweite Leine zu, die er ebenso umständlich und langsam, aber dafür fachmännisch am nächsten Pfosten befestigte.

Helen holte ihren Rock unter dem Bug hervor, schlüpfte hinein und knöpfte ihn im Rücken zu. Sie hob die Stoffschichten und kletterte an Land.

»Du musst aufhören, halb nackt über den See zu fahren«, meinte Philipp.

»Machst du Scherze?« Helen strich den Rock glatt. »Hast du meine langen Unterhosen gesehen? Die reichen bis weit übers Knie. Was soll da nackt sein? Alles, was man an unzüchtiger Haut sehen kann, sind meine Knöchel, und die stecken in festen Schuhen.«

Philipp verdrehte die Augen. »Du bist ein hoffnungsloser Fall.«

»Ich habe dich auch sehr lieb!« Sie warf einen letzten Blick auf die La Mouette. Das Boot war sicher festgebunden und die Segel eingerollt. Zufrieden hakte sie sich bei ihrem Bruder unter. »Dann lass uns den fürchterlich langweiligen Nachmittag, der bestimmt in den Abend übergehen wird, hinter uns bringen. Sind die Gäste schon da?«

»Alle.«

»O mein Gott!« Helen stöhnte.

Sie liefen auf die Villa zu, einen cremefarben verputzten quadratischen Bau mit weinrotem Dach und grünen Fensterläden. Helen liebte die Villa, die ihr Vater nach eigenen Plänen hatte errichten lassen. Jedes seiner Kinder hatte ein eigenes Zimmer, es gab eine Bibliothek und einen Salon. Die Bediensteten wohnten in kleinen Kammern unter dem Dach. Das Schönste am Haus war die riesige Terrasse, von der aus man einen herrlichen Blick auf den See und das malerische Panorama der schneebedeckten Berge im Hintergrund hatte. Hohe, schmale Zypressen säumten den Garten und gaben der Villa ein südländisches Flair. Neben der La Mouette war die Terrasse Helens Lieblingsort. Hier lernte sie Deutsch- und Lateinvokabeln, quälte sich ab und an mit Stickarbeiten oder übte sich mit ihrer Mutter oder Marie in salonfähiger Konversation. Klavier- und Geigenunterricht bekam Helen schon lange nicht mehr. Es war früh klar gewesen, dass ihre Begabungen nicht in der Musik lagen. All ihre Versuche, im Familienunternehmen mitzuarbeiten, waren von beiden Eltern abgeschmettert worden. Es war nicht so, dass Susanna und Pierre Lori Frauen die Leitung eines Betriebs nicht zutrauten. Sie wollten bloß die eigene Tochter nicht in dieser Rolle sehen. Und diese Meinung war so strikt, dass Helen es aufgegeben hatte, sich um die Mitarbeit zu bemühen. Sie hatte ihr Segelboot, und damit war sie im Moment vollauf zufrieden.

Genau wie Philipp gesagt hatte, waren die Gäste schon alle eingetroffen. Männer in dunklen Anzügen und Frauen in hellen Sommerkleidern hatten sich auf der Terrasse und im Salon versammelt. Die breiten Türen standen allesamt offen. Man hielt Bleikristallgläser in der Hand oder geblümte Tassen mit Tee und Kaffee. Personal in dunklen Uniformen lief emsig mit Silbertabletts herum und reichte den Gästen Nachschub. Einige Frauen schützten sich mit aufgespannten Sonnenschirmen oder großen, ausladenden Strohhüten vor der Sonne. Die Vorstellung, ihre porzellanweiße Haut könnte braun werden, war ihnen offenbar unerträglich.

Sobald ihre Mutter Helen erblickte, kam sie auf sie zu und zog sie zur Seite. »Bitte zieh dich um. So kannst du nicht unter die Gäste gehen.« Susanna Lori trug trotz der heißen Temperaturen ein dunkles Kleid. Seit Andrés Tod weigerte sie sich, helle, freundliche Farben anzuziehen. Das Kleid war elegant und hochgeschlossen. Um den Hals hing eine doppelreihige lange Perlenkette. Ein Erbstück ihrer Mutter. Leider hatte Helen ihre Großmutter nie kennengelernt.

Betroffen sah Helen an sich herab. Ihre Bluse war vom Segeln zerknittert und feucht. Sie klebte an ihrem Körper. Auch der Rock hatte gelitten, als er zusammengerollt unter dem Bug gelegen hatte. Sie gab in der Tat ein unpassendes Bild ab. Schon wollte sie einwilligen und auf ihr Zimmer gehen, als einer der Gäste sie erspähte und auf sie zukam.

»Bonjour! Sie müssen Helen Lori sein!« Er deutete eine Verbeugung an. Der Mann war der einzige Gast, der einen hellen Sommeranzug trug. Seine sonnengebräunte Haut bildete einen hübschen Kontrast zum weißen Kragen seines Hemds. Er musste viel Zeit im Freien verbringen. Sein Lächeln war charmant, und seine blauen Augen machten dem wolkenlosen Himmel Konkurrenz. Helen schätzte ihn auf Anfang dreißig. Sie hatte ihn noch nie gesehen.

»Ja, das bin ich. Und mit wem habe ich die Ehre?«

»Hermann de Pourton!« Er zog seinen modischen Strohhut.

»Sehr erfreut.« Helen sah zu ihrer Mutter. »Aber bitte entschuldigen Sie mich. Ich muss mich rasch umziehen. In ein paar Minuten bin ich wieder hier.«

Er hob seine rechte Augenbraue.

»Ich war eben mit dem Boot auf dem See. Sie werden verstehen, dass man dabei keine salonfähige Kleidung trägt«, erklärte Helen.

»Dann waren Sie das eben, die so schneidig zum Ufer gesegelt ist? Das war sehr gekonnt abgebremst!«

Helen errötete. Noch nie hatte sie jemand wegen ihrer Fertigkeiten auf dem Boot bewundert. Ob er auch beobachtet hatte, dass sie sich an Land wieder angezogen hatte? Wohl kaum, dazu hätte er einen Feldstecher benötigt.

»Ja. Das war ich.«

»Das war eine ungewöhnliche Leistung. Wer hat Sie auf dem Boot begleitet?«

»Niemand«, antwortete Helen. »Es ist ein Einhandsegler. Zu zweit würde man sich auf die Zehen steigen und im Weg sein.«

Nun hob er auch die zweite Augenbraue. »Sie segeln allein?«

»Ja, natürlich. Warum auch nicht?«

»Monsieur de Pourton, bitte entschuldigen Sie das Aussehen meiner Tochter. Sie muss sich jetzt wirklich umkleiden.« Susanna Lori unterbrach das Gespräch. Elegant schob sie Helen zur Seite und drängte sie zur Treppe. »Rasch jetzt. Ich will nicht, dass noch andere Gäste dich in diesem Zustand sehen. Du hättest den Hintereingang nehmen sollen.«

Helen hatte nicht den Eindruck gehabt, dass Hermann de Pourton sich an ihrem Kleid gestört hatte. Statt zu antworten, biss sie sich auf die Zunge, hob den Rock und eilte die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo sich ihr Zimmer befand. Wie erwartet hatte Marie bereits ein passendes Kleid für sie bereitgelegt. Es war zitronengelb mit unzähligen Blümchen und Rüschen, ein Albtraum an Unbequemlichkeit. Helen würde es trotzdem anziehen. Sie wollte keine weiteren Diskussionen mit ihrer Mutter oder Fräulein Fornet. Rasch schlüpfte sie aus Rock und Bluse und griff nach dem Kleid. Das Korsett, das daneben auf dem Bett lag, schob sie zur Seite.

Sie weigerte sich, ihren Brustkorb mit Fischbeingräten einzuschnüren. Ihre Lungen waren dazu da, sich beim Atmen zu entfalten, und sollten nicht in eine Art Schraubstock gesperrt werden. Helen war nicht dick. Sie war mit ihrer Taille durchaus zufrieden, und wenn sie hungrig war, dann wollte sie essen, bis sie satt war. In ihrem Stoffbeutel hatte sie kein Riechfläschchen wie viele andere jungen Frauen. Sie war noch nie in Ohnmacht gefallen und hatte das auch in Zukunft nicht vor.

Rasch knöpfte sie die unzähligen kleinen Knöpfe zu, die das Kleid am Rücken verschlossen. Um die obersten Knöpfe zu erreichen, musste sie die Arme weit nach hinten beugen. Zum Glück war sie gelenkig. Eine Fähigkeit, die ihr beim Segeln half, rasch unter dem Baum hindurch von einer Seite des Boots auf die andere zu schlüpfen. Halbherzig widmete sie sich ihren Locken, flocht sie zu einem neuen Zopf und steckte ihn hoch. Ihre Wangen waren von der Sonne gerötet, und ihre Augen glänzten noch beim Gedanken an die letzten Stunden. André hätte bei ihrem Anblick böse geätzt, sie sehe aus wie eine Bäuerin, die den ganzen Tag auf dem Feld gearbeitet habe. Gab es vielleicht etwas, womit sie ihr Aussehen aufbessern konnte? Sie ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Er blieb an dem Sommerblumenstrauß auf dem Fensterbrett hängen. Helen hatte ihn gestern bei einem ausgedehnten Spaziergang mit Fräulein Fornet gepflückt. Kurz entschlossen schnippte sie ein paar der Blumenköpfe von den Stängeln und steckte sie sich ins Haar. Die Margeriten passten gut zum Kleid. Zufrieden mit sich selbst kehrte sie in den Salon und auf die Terrasse zurück. Die meisten Gäste nahmen jetzt erst von ihr Notiz.

»Fräulein Lori. Sie sehen bezaubernd aus, wie immer!« Der Bankier Lüthi kam auf sie zu, ergriff ihre Hand und deutete einen Handkuss an. Er winkte seinen Sohn zu sich. Bei der letzten Soiree hatte Helen sich geschickt vor dem Mann verstecken können. Heute schien ihr das Schicksal nicht gewogen. Bernhard Lüthi kam näher. Er war ein selbstverliebter Langweiler mit teigigem Gesicht. Sobald er den Mund aufmachte, redete er über Finanzmärkte, Spekulationen und gewinnbringende Anlagen. Möglicherweise war das, was er sagte, gar nicht so uninteressant. Aber Helen konnte seinen Endlosmonologen nicht folgen. Spätestens nach fünf Minuten gähnte sie. Hilfesuchend drehte sie den Kopf nach allen Seiten. Gab es eine Möglichkeit, dem Gespräch mit Lüthi zu entkommen, ohne unhöflich zu erscheinen?

Hermann de Pourton schien ihre Gedanken erraten zu haben. Er stand seitlich hinter ihr und beobachtete sie.

»Sie waren mit dem Umkleiden unglaublich schnell.« Er schenkte Helen ein Lächeln, das ihre Wangen erröten ließ. »Haben Sie gezaubert?«

»Das liegt in meinem Naturell«, sagte sie. »Ich mag die Geschwindigkeit.«

»Das habe ich zuvor gesehen. Verraten Sie mir, wo Sie so gut Segeln gelernt haben?«

»Hier auf dem See. Ein alter Fischer hat mir die Grundbegriffe beigebracht. Den Rest habe ich durch Übung erfahren. Vor zwei Jahren bin ich einem Segelclub beigetreten.«

»Haben Sie schon mal an einer Regatta teilgenommen?«

»Ein Mal«, gab Helen stolz zu. Zur Überraschung aller hatte sie den Wettbewerb gewonnen.

»Sie segeln?«, fragte Bernhard Lüthi, ohne sie erst zu begrüßen. Er klang entsetzt. »Ist diese Sportart nicht schädlich für die weibliche Gesundheit?«

»Warum sollte sie das sein?«, fragte Helen.

Reingard Lüthi, die Frau des Bankiers und Mutter von Bernhard, wandte sich von einer Gruppe Frauen ab und drehte sich zu ihnen um. Sie hatte das Gespräch mitgehört. »Es ist allgemein bekannt, dass Sport sich negativ auf die weibliche Konstitution auswirkt. Wir Frauen sind einfach nicht für den Sport geboren.«

»Das trifft auf mich nicht zu«, widersprach Helen.

»Wie bitte?«

»Ich fühle mich großartig, wenn ich auf dem Wasser bin. Ich schwimme auch gerne und viel. Aber am meisten Freude bereitet mir das Segeln.«

»Um Himmels willen«, meinte der Bankier und schnappte nach Luft. »Das sollten Sie unbedingt unterlassen. Das Wasser ist schädlich für die weiblichen Organe. Erst kürzlich habe ich in einer Fachzeitschrift gelesen, dass Frauen, die schwimmen, unfruchtbar werden und keine Kinder bekommen können.«

»Das kann nicht sein«, entgegnete Helen. »Die österreichische Kaiserin ist bekannt dafür, dass sie regelmäßig Sport treibt, und sie ist nicht nur bildhübsch, sie hat auch vier gesunde Kinder geboren.«

»Die Frau ist eine Ausnahme. Sie ist eben eine Kaiserin«, sagte Reingard Lüthi.

Der Bankier räusperte sich. »Ich glaube den Wissenschaftlern, und die sagen, dass Frauen keinen Sport ausüben sollten. Der weibliche Körper ist schwach und weich. Es ist nicht gut, wenn er mit Muskeln bepackt wird. Das wäre gegen die Natur und schlussendlich gegen die göttliche Ordnung.«

»Göttliche Ordnung?« Helen schüttelte irritiert den Kopf. »Wollen Sie mit mir über Religion diskutieren?«

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie de Pourton die Hand vor den Mund hielt, um ein Schmunzeln zu verbergen.

Der Bankier ruderte wieder zurück. »Frauen sind nicht für den Sport geschaffen. Ihre Körper sind zu …« Er suchte nach einem passenden Wort.

»Elegant!«, half ihm seine Frau aus.

»Danke, meine Liebe.« Er nickte. »Ja, sie sind wohl zu elegant. Und sie eignen sich definitiv nicht für die Ertüchtigung.«

»Mein Körper eignet sich dazu«, sagte Helen trotzig.

Die Kinnlade des Bankiers klappte nach unten.

»Und es scheint Ihnen wohl zu bekommen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« Hermann de Pourton lächelte sie charmant an. »Sie sind mit Abstand eine der hübschesten Frauen hier heute Abend.«

Helen schoss das Blut in die Wangen.

»Da werden Sie mir doch nicht widersprechen, Herr Lüthi.«

Der Bankier hüstelte verlegen. »Nein, natürlich nicht.«

»Mit wem haben wir die Ehre?«, mischte sich seine Frau ein.

»Hermann de Pourton.« Mit einer Geste, die ein wenig überheblich wirkte, deutete de Pourton eine Verbeugung an.

»Sind Sie der Besitzer der Weingüter Pourton?«, fragte Bernhard Lüthi. »Es heißt, dass Sie in den letzten Jahren große Gewinne verzeichnet haben.« Wenn es ums Geld ging, kannte er sich aus.

»Ja, wir haben im letzten Jahr eine beachtliche Menge hervorragenden Rotwein gekeltert.«

»Ihr Merlot war ausgezeichnet!«, schwärmte der Bankier. »Ich habe selten einen so süffigen Tropfen getrunken.«

»Das freut mich«, sagte de Pourton.

Damit war das Gesprächsthema Frauen und Sport dem des Weins gewichen. Helen war es durchaus recht. Sie sah die tiefe Falte zwischen den Augenbrauen ihrer Mutter. Später würde sie sich eine Predigt anhören müssen.

Da die Männer sich angeregt unterhielten, konnte sie sich entfernen, ohne unhöflich zu erscheinen. Ihr Ziel war das Buffet, denn der Nachmittag am See hatte sie hungrig gemacht. Helen lud sich ihren Teller mit kleinen Brötchen und Kuchenstücken voll.

»Schieben Sie einen Teil Ihres Essens unauffällig zu mir!« Fräulein Fornet hielt ihr einen leeren Teller entgegen.

Helen blickte auf. Ihre ehemalige Erzieherin, die nun seit Jahren ihre Gesellschafterin und Anstandsdame war, musterte sie streng. In all der Zeit, die Helen sie nun kannte, hatte sie das Fräulein nur zweimal herzhaft lachen gesehen. Einmal bei einer Zirkusvorstellung, da hatte sie einen kleinen Clown lustig gefunden, und einmal bei einer Geschichte, die ihr verstorbener Bruder zum Besten gegeben hatte. Er hatte sich auf Kosten anderer lustig gemacht. Beides war nur mäßig amüsant gewesen. Manchmal fragte Helen sich, ob Fräulein Fornet keinen Humor besaß oder das Lachen einfach verlernt hatte. Vielleicht war es etwas, das man regelmäßig üben musste. Wie eine Fremdsprache oder das Beobachten des Wetters beim Segeln. Entweder man praktizierte es regelmäßig, oder die Fähigkeit ging wieder verloren.

»Warum soll ich Ihnen den Kuchen geben?«, fragte Helen. »Wo ich ihn doch selbst essen will. Es ist noch genug da. Greifen Sie zu.« Sie zeigte auf das Buffet. Natürlich wusste Helen, dass das nicht Fräulein Fornets Intention war. Es galt als unschicklich und maßlos, wenn eine junge Dame ihren Teller so volllud, wie sie es eben getan hatte. Aber war es besser, wiederholt zum Buffet zu gehen und jedes Mal nur ein winziges Stückchen zu holen? Helen war für die praktische Variante.

»In zwei Stunden gibt es ein mehrgängiges Dinner.« Fräulein Fornet sprach so leise, dass nur Helen sie hören konnte. Bestimmt hatte sie nichts gegessen und sich bloß mit einer Tasse Tee begnügt. Die Frau war groß und hager. Trotz ihrer schmalen Figur ließ sie ihre Taille jeden Morgen von Sophie, dem Dienstmädchen, so eng schnüren, dass ihr bei jeder körperlichen Belastung wortwörtlich die Luft wegblieb.

»Bis dahin bin ich verhungert«, konterte Helen. Sie stopfte sich ein großes Sandwich in den Mund. Normalerweise hätte sie einfach abgebissen, aber Fräulein Fornets Verhalten löste eine Trotzreaktion in ihr aus. Mit prall gefüllten Wangen kaute sie genüsslich.

»Ihr Verhalten ist unmöglich«, zischte das Fräulein. »Die Leute starren Sie schon an.«

Helen schluckte hinunter und sah sich um. Schon wollte sie widersprechen, als sie in zwei strahlend blaue Augen schaute, die amüsiert auf sie gerichtet waren. Rasch drehte sie Hermann de Pourton den Rücken zu. Sollte sie manierlicher essen? Immer noch hielt Fräulein Fornet ihr den leeren Teller entgegen. Hinter ihr ging ein Mann mittleren Alters vorbei. Er steckte sich im Gehen ein Kirschtörtchen in den Mund, das doppelt so groß war wie Helens Sandwich. Auf seinem Teller befanden sich vier weitere Kuchenstücke. Niemand verlangte von ihm, seinen Teller zu leeren.

»Ich bin hungrig«, sagte Helen. »Und deshalb werde ich jetzt essen. Aber wenn Sie nicht selbst zum Buffet gehen wollen, hole ich gerne etwas für Sie.«

Fräulein Fornet presste ihre schmalen Lippen grimmig aufeinander.

»Aber ich werde meinen Mund nicht mehr so vollstopfen«, versprach Helen versöhnlich. Vom nächsten Sandwich biss sie manierlich ab. Man musste es ja nicht übertreiben.

Bereits eine Stunde später bat Helens Mutter die Gäste auf die Terrasse, wo das Personal unter freiem Sternenhimmel eine festlich gedeckte Tafel hergerichtet hatte. In den Bäumen hingen bunte Lampions aus Papier. Helens Vater hatte sie von einem britischen Geschäftspartner bekommen, der sie aus China mitgebracht hatte. Helen liebte die hübschen filigranen Papierballons. Auf jedem war ein anderes Drachenmotiv mit hellrosa Hibiskus- und Jasminblüten zu sehen. Weiße Tücher lagen auf den Tischen, Susanna Lori hatte das feine Porzellan und das silberne Besteck aus den Kästen holen lassen. Dünnwandige Bleikristallgläser standen bereit. Bestimmt würden an diesem Abend wieder ein paar davon kaputtgehen. Aber Helens Mutter ließ es sich nicht nehmen, ihren Gästen nur das Beste zu bieten.

»Wer seine zukünftigen Geschäftspartner beeindrucken will, fängt am besten mit der richtigen Geschirrauswahl an«, davon war sie überzeugt. Helen, die selbst den Unterschied zwischen einem einfachen Tonteller und teurem Porzellan nicht zu schätzen wusste, bezweifelte diese Aussage. Sie fand den ganzen Aufwand reichlich übertrieben. Doch die Lampions und die Kerzen auf dem Tisch wollte auch sie nicht missen. Tischkärtchen wiesen den Gästen ihre Plätze zu. Susanna Lori überließ nichts dem Zufall. Damit die geladenen Gäste sich gut unterhielten und Kontakte knüpfen konnten, war es von größter Wichtigkeit, dass sie neben den richtigen Menschen saßen. Es überraschte Helen nicht, dass ihre Mutter sie ausgerechnet neben Bernhard Lüthi platziert hatte. Der Abend würde an Langweiligkeit nicht zu überbieten sein. Dementsprechend missgelaunt setzte Helen sich. Sie starrte auf das Tischkärtchen neben sich und wünschte, sie könnte es verschwinden lassen. Umso größer war ihre Überraschung, als eine gebräunte Männerhand danach griff und es tatsächlich austauschte.

»Der junge Mann wird es mir hoffentlich nicht übelnehmen!« Hermann de Pourton stellte sein eigenes Kärtchen vor sich auf den Tisch. »Sie entschuldigen mich kurz.« Mit einem schiefen Grinsen eilte er ans andere Ende des Tisches und ließ dort das Kärtchen des Bankiers zurück. Mit vollkommen unschuldiger Miene, als hätte er mit dem Tausch nicht das Geringste zu tun, schlenderte er wieder zurück zu Helen. Zeitgleich mit Bernhard Lüthi erreichte er sie.

»Wie kann das sein?«, fragte der Bankier irritiert. »Als ich zuvor vorbeigeschaut habe, stand mein Name noch neben dem Ihren, Fräulein Lori.«

Helen zuckte unwissend mit den Schultern. »Ich bin eben erst zu meinem Sitzplatz gekommen. Meine Mutter hat die Tischordnung vorgenommen.«

Lüthi stemmte die Hände in die breiten Hüften und sah sich um. »Wo soll ich denn nun sitzen?«

»Ich glaube, ich habe Ihren Namen am anderen Ende des Tisches entdeckt«, mischte sich de Pourton ein. »Ein hervorragender Platz. Gleich neben dem Tisch mit den Getränken.«

»Aber die Kellner servieren den Wein doch überall …«

Weiter kam er nicht, denn Hermann de Pourton schob ihn elegant zur Seite und setzte sich, bevor Bernhard Lüthi weiteren Protest einlegen konnte. Erst als der Bankier verdattert zum anderen Ende des Tisches trottete, wandte de Pourton sich an Helen. »Ich hoffe, dass dieser kleine Tausch in Ihrem Sinne war!« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Sie haben vorhin den Eindruck erweckt, als würde das Gespräch mit dem jungen Mann Sie langweilen.«

»Ihr Vorgehen war äußerst frech«, entgegnete Helen mit gespielter Empörung. »Und unverschämt.«

»Soll ich Lüthi zurückholen und ihm meinen neu erkämpften Platz überlassen?« De Pourton tat so, als würde er aufstehen wollen, doch Helen hielt ihn lachend zurück. »Bloß nicht!«

Der Weingutbesitzer schien mit ihrer Reaktion zufrieden.

»Sehr gut«, sagte er. »Ich hätte Ihre Gesellschaft nur ungern gegen die von Madame Martinez eingetauscht.« Er schaute zum anderen Tischende, wo Bernhard Lüthi sich eben neben eine Frau mit aufwendig hochgesteckter Frisur und einer beeindruckenden Oberweite setzte. Sie hatte die fünfzig deutlich überschritten.

Helen konnte sich ein leises Kichern nicht verkneifen. Madame Martinez war die Witwe des spanischen Konsuls. Sie liebte gutes Essen und guten Wein. Und sie besaß Geld wie Heu, weshalb Bernhard Lüthi gewiss ein Gesprächsthema mit ihr finden würde.

»Und nun erzählen Sie mir genau, wann und wie Sie Ihre Leidenschaft fürs Segeln entdeckt haben!« De Pourton lehnte sich zurück, verschränkte lässig die Arme vor der Brust und musterte Helen mit einem Blick, der ihr einen heißen Schauer durch die Körpermitte jagte. Selten hatte ihr Herz in der Nähe eines Mannes so schnell geschlagen.

Als Fünfzehnjährige war sie in den Sohn des Gärtners verliebt gewesen. Max hatte sie heimlich im Geräteschuppen geküsst. Danach hatte Helen wochenlang Angst gehabt, sie könnte davon schwanger sein. Max, der ebenso unerfahren war wie sie, hatte seine ältere Schwester Maria gefragt. Sie hatte schon zwei Kinder und wusste Bescheid. Maria war es gewesen, die Helen über ihren Körper aufgeklärt hatte. Die Verliebtheit in Max war rasch Ernüchterung gewichen, aber die Dankbarkeit über das Wissen, das Maria ihr vermittelt hatte, war geblieben.

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