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Für jede Liebe ein Problem

Als Buch hier erhältlich:

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Die queere RomCom des Jahres: Wie viele Köch:innen verträgt die Liebe?

Dahlia Woodson, frisch geschieden und fast pleite, ist mehr als bereit, sich neu zu erfinden – sie kündigt ihren sicheren, aber nicht erfüllenden Job, um endlich ihrem großen Traum nachzugehen und die TV-Kochshow »Chef's Special« zu gewinnen. Doch als allererstes stolpert sie vor laufender Kamera, und auch sonst läuft nichts wie geplant ...
London Parker hingegen ist die erste nonbinäre Person der Show, und nach der öffentlichen Verkündung von Londons Pronomen im nationalen Fernsehen gibt es überhaupt keinen Platz in Kopf (und Herz) für die tollpatschige Köchin am Tisch direkt vor sich. In erster Linie muss London sich zunächst mit allzu bekanntem konservativem Hass herumschlagen. Und trotzdem kommen London und Dahlia sich zwischen kulinarischen Wettkämpfen und gemeinsamen Ausflügen näher – doch kann ihre Beziehung auch in der Realität standhalten? Womöglich müssen sie es schneller herausfinden, als ihnen beiden lieb ist ...


  • Erscheinungstag: 23.05.2023
  • Seitenanzahl: 432
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905355
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für Meryl & Rosie

Kapitel 1

Dahlia Woodson mochte eine Versagerin sein, was die Ehe anging, aber im Zwiebelwürfeln war sie ein gottverdammtes Ass.

Die ersten gleichmäßigen Schnitte, die Kreuzmuster. Es war geradezu wohltuend, wie logisch und perfekt es war. Dahlia hatte sich richtig reingehängt, Zwiebel für Zwiebel, bis sie jeden Schnitt gleichmäßig hinbekam. Bis sie ihrer Hand, ihrem Messer vertraute, ohne darüber nachdenken zu müssen: schnell, effizient und korrekt.

Als Dahlia an einem Dienstagmorgen Ende Juli das Set von Chef’s Special in Burbank, Kalifornien betrat, dachte sie an Zwiebeln.

Jedenfalls konnte sie sich nicht auf den Mahagoniboden unter ihren Füßen konzentrieren, der förmlich funkelte. Oder auf die Decken, die so viel höher waren, als sie es sich vorgestellt hatte oder als es notwendig schien. Wie ein Sportstadion für Food-Nerds. Und die Lichter – du meine Güte!

Es fühlte sich an, als würde sie nach einem Langstreckenflug das Flughafenterminal betreten: alles zu schnell, zu laut, zu viele neue Eindrücke.

Dabei war ihr das Set von Chef’s Special eigentlich nicht fremd. Dahlia kannte es nur zu gut, von zu Hause. Sie hatte die Show im Fernsehen genauestens verfolgt.

Aber in echt war es anders. Es war überwältigender, surrealer.

Sie näherte sich dem hoch aufragenden hölzernen Torbogen, der das hintere Ende der Kulisse bildete. Er war majestätisch und einzigartig, wie das Portal einer Kathedrale, als wäre diese Küche eine Kirche.

Dann schlich sie um ihn herum und betrachtete ihn ehrfürchtig, geblendet von den strahlenden Lichtern darüber. Nur eine Sekunde später prallte sie mit voller Wucht gegen eine massive menschliche Wand.

Die Person stieß ein verärgertes Grummeln aus, das sich in Dahlias Brust festsetzte.

Wie ein Gummiball sprang Dahlia peinlich berührt einen Schritt zurück. Als sie aufsah, fuhr sich ihr Gegenüber gerade mit einer sommersprossigen Hand durch das rotblonde Haar. An den Seiten war es kürzer geschnitten als oben, und eine Strähne fiel zurück über die rechte Augenbraue.

Dahlia selbst war knapp über einen Meter fünfzig groß. Der Rotschopf war riesig. Die hellen Augenbrauen schwebten gefühlt ein ganzes Stockwerk über ihr.

Das rote Haar war allerdings wirklich süß. Es erinnerte Dahlia an Blätter, die sich im Herbst verfärbten, an Anne with an E und an Sonnenuntergänge, die sich auf ruhigem Wasser spiegelten. Sie hatte noch keinerlei Regung wahrgenommen, seitdem sie mit ihrem Gesicht gegen diese Brust gedonnert war, und die Nähe eines anderen Körpers erdete sie irgendwie, wie wenn man jemanden in der Ankunftshalle wiedererkennt und die Kakofonie des Flughafens um einen herum endlich verstummt.

Und so waren es vielleicht die Sonnenuntergangshaare oder einfach die Nähe eines anderen fühlenden Wesens, jedenfalls öffnete Dahlia den Mund und …

»Oh Gott. Scheiße, ich bin voll in dich reingelaufen. Das tut mir echt total leid. Ich bin einfach so aufgeregt. Ich glaube, das letzte Mal war ich so nervös, als ich in der vierten Klasse beim Buchstabierwettbewerb vergessen habe, wie man Trillerpfeife schreibt und alle über mich gelacht haben und ich mir vielleicht ein ganz kleines bisschen in die Strumpfhose gepinkelt habe. Mein Gott, Strumpfhosen sind wirklich das Allerletzte

Dahlia holte Luft. Aus dem Augenwinkel konnte sie die anderen elf Teilnehmenden sehen, die darauf warteten, von einer Produzentin namens Janet zu den ihnen zugewiesenen Kochinseln gebracht zu werden. Der Rotschopf stand noch immer nur da und blickte sie ausdruckslos an. Dahlia fühlte sich nicht wohl dabei, das Gespräch an dieser Stelle zu beenden, sie wusste allerdings auch nicht, wie sie vom Pinkeln in der vierten Klasse noch mal die Kurve kriegen sollte – auch wenn sie hinter ihrer Einstellung zu Strumpfhosen stand, nur fürs Protokoll. Und so quasselte sie einfach weiter, während ihr Gehirn nach einer besseren Lösung suchte, diesen peinlichen Moment zu beenden.

»Wie auch immer, ist doch echt komisch, oder? Dass wir ins Fernsehen kommen. Also, dass das wirklich passiert. Und ich kann an nichts anderes als an Zwiebeln denken, was total dumm ist, weil alle anderen wahrscheinlich Kalbsfilet oder Foie gras oder etwas anderes Ausgefallenes im Kopf haben. Außerdem mache ich mir Sorgen, dass ich wahrscheinlich jemandem über die Füße stolpere, wenn wir das erste Mal die Vorratskammer stürmen. Und dass ich wahrscheinlich vergesse, wie man kocht, sobald der Timer läuft.« Sie hielt inne und lachte ein wenig über sich selbst. »Ein wahres Feuerwerk an positiven Gedanken hier oben drin.«

Dahlia deutete auf ihren Kopf. Versuchte es mit einem charmanten Lächeln.

Der Rotschopf blinzelte, sagte aber keinen Ton.

»Cool, okay, tja. War schön, mit dir zu quatschen. Bis später.«

Dahlia wollte gerade auf dem Absatz kehrtmachen, als sich eine Hand auf ihren Arm legte.

»Hier entlang, Honey.«

Den Göttinnen sei Dank. Die Produzentin Janet rettete Dahlia vor sich selbst. Falls es dafür nicht schon zu spät war.

Dahlia schluckte und versuchte, alles in sich aufzunehmen, während Janet sie durch das verwinkelte Labyrinth der Kochinseln führte, das den größten Teil des riesigen Raums einnahm. Aber eigentlich konnte sie nur daran denken, wie sehr ihr das leuchtend rote Gestell von Janets Brille gefiel, und an den kleinen Wärmeschub, der durch ihr Herz geschossen war, als Janet sie Honey genannt hatte.

Sie blieben ganz vorne im Halbkreis der Kochinseln stehen, am Platz ganz rechts.

»Bitte sehr, Dahlia. Das ist dein Reich.«

Mit einem beruhigenden Lächeln sauste Janet davon, um eine andere Kandidatin einzuweisen.

Dahlia bestaunte all die Details, die sie in den letzten sieben Staffeln von Chef’s Special im Fernsehen gesehen hatte: die satten Grün- und Goldtöne und dazwischen immer wieder Akzente aus funkelndem türkisfarbenem Glas. Wie das dunkle Holz der Wände und des Bodens sich von den helleren Schattierungen abhob.

Sie fand schon seit der ersten Staffel, dass das Set dem Inneren einer alten schottischen Burg im Moor ähnelte, der die Fab Five von Queer Eye erst kürzlich einen Besuch abgestattet hatten. Rustikal, aber gemütlich, mit Elementen, die altehrwürdig wirkten – dazu hier und da ein paar fröhliche Farbtupfer.

Dahlia blickte hinunter auf die glänzende Edelstahl-Arbeitsplatte der Kochinsel. Ihrer Kochinsel. Sie erinnerte sich an den leeren Gesichtsausdruck des Rotschopfs vor ein paar Minuten, als sie sich gleich nach Betreten des Sets blamiert hatte, und widerstand dem Drang, sich vorzubeugen und die Stirn ein paarmal gegen das Metall zu schlagen.

Stattdessen schloss sie die Augen und atmete tief durch die Nase ein, so wie sie es in dem Yogakurs gelernt hatte, den sie vor einem Jahr ein einziges Mal besucht hatte.

Zwiebeln. Die rauen braunen Enden oben und unten. Das reine Weiß des Innenlebens, fest und doch flexibel. Die zuverlässige Struktur der Schichten. So viele Rezepte begannen mit einer fein gewürfelten Zwiebel als Grundbaustein.

Dahlia hatte sich vorgenommen, in ihrem neuen Leben einen Schritt vor den anderen zu setzen. Wenn sie mit den Grundlagen begann und sich auf jeden kleinen Schritt konzentrierte, konnte sie etwas erreichen.

Dahlia öffnete die Augen wieder, als ein großer weißer Mann mit dunklen Haaren zum Platz neben ihr schlenderte. Sein Blick war nach unten gerichtet, während er hastig etwas auf einen kleinen Notizblock kritzelte. Oh Gott. Die Leute machten sich schon Notizen, und Dahlia hatte das Gefühl, vorhin kaum die Hälfte der Worte aus Janets Mund mitbekommen zu haben. Dabei sprach Janet wirklich laut.

»Hey«, sagte der große Kerl und sah endlich auf. Lässig klemmte er sich seinen Bleistift hinters Ohr und streckte die Hand aus. »Jacob. Sieht so aus, als wären wir Tischnachbarn.«

Dahlia schüttelte ihm die Hand. Eventuell sagte sie ihm auch ihren Namen. Sie war verblüfft, wie selbstbewusst er wirkte, während sie außer an Zwiebeln und die peinliche Szene unter dem Torbogen nur daran denken konnte, wie aufgebläht sie sich plötzlich fühlte. Ihr Magen gab beunruhigende Gurgelgeräusche von sich. Sie sah sich im Raum um. All die anderen Teilnehmenden überbrückten die Wartezeit plaudernd, lächelten sich gegenseitig zu. Darunter waren ultraselbstsichere und attraktive Menschen wie Jacob, aber auch eine kleine ältere Frau in der gegenüberliegenden Ecke, deren grau melierter Bob wackelte, als sie der Schwarzen Frau neben sich energisch zunickte.

Moment mal. Diesen Bob kannte Dahlia doch. Sie hatte die Frau vor zwei Tagen im Shuttle-Bus vom Flughafen zum Hotel getroffen. Sie kam aus Iowa, wie Dahlia sich jetzt erinnerte, und war genau so, wie man es von einer Grandma aus dem Mittleren Westen erwartete: freundlich, aber nicht auf den Kopf gefallen. Ihr Apfelkuchen war legendär, aber wehe, man kam ihr mit irgendeinem Mist, dann konnte sie einem ordentlich die Leviten lesen. Dahlia hatte sie sofort ins Herz geschlossen. Barbara! So hieß sie.

In Dahlias Adern glomm ein kleiner Funke auf.

Wenn Barbara das hier durchziehen konnte, dann würde sie es auch schaffen.

Als Dahlia den Blick von Barbara abwendete, begannen die Gesichter der anderen jedoch zu verschwimmen.

Tief Luft holen.

Paprika. Sie hackte auch gerne Paprika. Das war zwar nicht ganz so befriedigend wie Zwiebelnschneiden, aber ästhetisch ziemlich ansprechend. Erlesene, leuchtende Farben – Farben, von denen man kaum glauben konnte, dass sie aus nichts anderem entstanden als Samen, Sonnenschein und Erde.

»Hallo, liebe Teilnehmende der achten Staffel!«

Dahlia wirbelte herum.

Ach du liebe Güte. Sai Patel.

Sai Patel stand direkt vor ihr. Und zwar in der Mitte des Goldenen Kreises, in dem sich die Kandidat*innen am Ende jeder Eliminierungschallenge einfinden mussten und wo über Ruhm oder Niedergang entschieden wurde. Es beunruhigte Dahlia plötzlich, dass ihre Kochinsel so nah an diesem Kreis lag, an jenem Ort, der ihre Ängste schüren und über ihre Zukunft bestimmen würde. Tatsächlich würde er ihr nie aus dem Blickfeld geraten.

Okay, keine Panik.

»Ich weiß, wie nervös ihr gerade seid.« Gesegnet sei Sai Patel mit seinem zerzausten dunklen Haar und dem aufgeknöpften Kragen. Er sprach ihre Gedanken laut aus. »Aber denkt dran: Wir haben euch nicht ohne Grund aus Tausenden von Bewerber*innen ausgewählt. Das Schwerste habt ihr bereits hinter euch. Ihr seid hier! Jetzt beginnt der spaßige Teil.«

Als Sai Patel die dreizehn Kandidat*innen der achten Staffel angrinste, konnte Dahlia aus nächster Nähe den einen leicht schiefen Eckzahn sehen, den sie schon so oft von ihrer gemütlichen Couch in Maryland aus beobachtet hatte. Das Lächeln von Sai Patel war in Wirklichkeit noch perfekter, und dass einer der berühmtesten Köche der Welt vor ihr stand und so aufrichtig, ermutigend und engagiert wirkte, beruhigte ihre Nerven.

Und letztlich hatte er recht. Sie hatte die Castings in Philadelphia nicht ohne Grund überstanden. Chef’s Special war ein Wettbewerb für Hobbyköch*innen, für den sich jedes Jahr Tausende von Menschen bewarben. Es hatte etwas zu bedeuten, dass sie unter all den Tausenden eine der dreizehn war, die es bis hierher geschafft hatten. Sie hatte hart dafür gearbeitet. Ihr neuer Tischnachbar Jacob und sein pseudocooler Bleistift hinter dem Ohr waren nicht besser als sie. Sie konnte das schaffen.

Sie konnte die einhunderttausend Dollar gewinnen.

Gleich nachdem Sai gegangen war, nahm Janet seinen Platz ein und fing freundlich, aber bestimmt an zu sprechen: »Auf geht’s, Leute! Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns.«

Dahlia straffte die Schultern und zwang sich, einen kühlen Kopf zu bewahren. Ihr war klar, dass sie Janet jetzt zuhören musste. Es ging darum, dass sie das Set verlassen und anschließend erneut hereinlaufen würden, diesmal jedoch vor laufenden Kameras. Dabei sollten sie den Kopf gerade halten, strahlend lächeln und zeigen, dass sie bereit für den Wettkampf waren.

Dahlia würde sich nicht übergeben. Oder pupsen. Oh nein. Sie würde ganz gelassen bleiben, an Zwiebeln und Paprika denken oder vielleicht an die beruhigenden, sich wiederholenden Bewegungen beim Schneiden von Gurken, Zucchini oder Karotten. Schnitt, Schnitt, klack, klack. Einfach auf den Rhythmus ihres Handgelenks vertrauen.

Als sie schließlich das Set betrat, war es jedoch Knoblauch, der ihr in den Sinn kam. Knoblauch, den sie mit der flachen Klinge eines Messers aus seiner papiergleichen Schale presste. Sie spürte es in ihren Handflächen, den Druck des Messers, die Kraft dahinter. Ein aromatischer, grundlegender Baustein, der unter ihren Fingern zerquetscht wurde.

Sie konzentrierte sich, und ihr Sichtfeld wurde weiter.. Sie sah Sai wieder vor sich, diesmal zusammen mit den anderen Jurymitgliedern, Tanner Tavish und Audra Carnegie. Der Tisch, vor dem sie standen, war groß und imposant, die glänzende Mahagoniwand dahinter zierte ein riesiger goldener Kreis in der Mitte, beinahe wie ein Spiegelbild von jenem auf dem Boden. Chef’s Special stand in einer dynamischen, betont lässigen Schriftart in einem Teil des Kreises.

Dahlia spürte, dass die Kameras sie beobachteten, und in diesem Moment wurde ihr einiges bewusst.

Ihr wurde bewusst, dass es töricht und überstürzt gewesen war, ihren Job hierfür aufzugeben.

Ihr wurde bewusst, dass sie mit Pauken und Trompeten scheitern könnte. Auf die Nase fliegen.

Aber es gab auch Dinge, von denen sie hoffte, dass sie wahr waren. Zum Beispiel, dass sie womöglich dazu gemacht war, großartige Köstlichkeiten zu erschaffen.

Und das hier war ihre Chance, es zu beweisen. Dass sie gut in etwas war. Wirklich richtig gut in etwas, das sie sich selbst ausgesucht hatte, etwas, das ganz und gar ihr gehörte.

Sai Patels Stimme dröhnte wieder aus dem Inneren des Goldenen Kreises und erreichte mühelos ihre meisterhafte Strahlkraft, seine Grübchen und funkelnden Augen strotzten nur so vor Charisma, und sein Dreitagebart war derart sexy, dass es beinahe unverschämt war. Dahlia musste sich bewusst anstrengen, nicht auf seine Unterarme zu starren, die gestählten Muskeln, die aus seinen hochgekrempelten Ärmeln hervorlugten.

Doch dann wurden die Kameras angehalten, weil Audra Carnegies Rock anscheinend nicht richtig saß und einige der Kandidat*innen nicht fröhlich genug lächelten. Dahlia atmete aus und nutzte den Augenblick, um sich in der Kulisse umzusehen – da waren die abstrakten Chihuly-Glasskulpturen, die alle perfekt in Grün- und Blautönen ausgeleuchtet waren und die transparente Wand zwischen den Kochinseln und der Vorratskammer schmückten. Durch die Skulpturen hindurch konnte sie einen Blick hineinwerfen, und ihr Puls beschleunigte sich bei all den frischen Produkten, die dort ausgestellt waren, und der gerade noch sichtbaren Ecke des restaurierten Zettelkatalogs, von dem sie wusste, dass er jedes erdenkliche Gewürz enthielt. Dahlia konnte es kaum erwarten, die Vorratskammer zu betreten.

Als sie den Kopf drehte, um zu sehen, was sich auf der anderen Seite des Sets befand, fiel ihr Blick wieder auf das rotblonde Haar. Unter der vollen Bühnenbeleuchtung wirkte es noch heller, als wäre die Person in ein himmlisches Leuchten getaucht.

Das zugehörige Gesicht war mit Sommersprossen gesprenkelt, was sie dank der erhöhten Sauerstoffzufuhr in ihrem Gehirn nun ganz deutlich wahrnahm. Und diese Augen: Sie waren von einem faszinierenden Grüngrau, in das sich goldene Flecken und dunkle Schimmer mischten. Wie nannte man das noch gleich? Heterochrom? Sofern Schimmer auch mürrische Blicke einschlossen.

Wenn der coole, drahtige Jacob neben ihr einem Jaguar glich, dann wirkte der Rotschopf an der Kochinsel hinter ihr wie ein Löwe.

Dahlia wurde bei der Erinnerung an ihr vorheriges Aufeinandertreffen wieder ganz heiß im Gesicht, aber diesmal sickerte ein Hauch von Zuversicht hindurch. Auch das konnte sie wiedergutmachen.

Sie rang sich ein freundliches Lächeln ab. »Viel Glück«, flüsterte sie. Was ein deutlich normalerer Kommentar gegenüber ihren Mitstreiter*innen war, als, na ja, über Buchstabierwettbewerbe in der vierten Klasse zu reden.

Der Rotschopf sah sie noch einen Moment lang unbewegt an. Knirschte er mit den Zähnen? Dahlia meinte, ein Grummeln auszumachen.

Schon wieder.

Nur diesmal war es ein absichtliches Grummeln.

Der Rotschopf grummelte sie an und wandte dann den Blick ab.

Tja. Das wäre dann wohl ein Nein auf die Frage, ob Dahlias exzentrischer Aussetzer charmant rübergekommen war.

Sie drehte sich wieder nach vorn und schaute hinüber zu Jacob, der in einer breiten Power-Pose die Arme vor der Brust verschränkt hatte und geradeaus starrte.

Na gut. Vielleicht würde sie nicht alle für sich gewinnen. Wenigstens hatte sie noch die Aussicht auf eine Freundschaft mit Barbara aus Iowa. Scheiß auf die anderen Leute – Grandmas waren der Hammer.

Es dauerte viel länger, als Dahlia erwartet hatte, aber über eine Stunde und viele überraschend genaue Anweisungen später war es endlich, endlich Zeit zu kochen.

Die erste Challenge war immer leicht, ergebnisoffen. Alle Kandidat*innen kochten, was sie wollten, um den persönlichen Stil, die eigenen besonderen Fertigkeiten zu präsentieren. Das war allen bekannt, und sie hatten wochenlang Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten.

Tatsächlich stolperte sie beim Sturm auf die Vorratskammer nicht. Sobald Dahlia ein paar Limetten in die Finger bekam, beruhigte sie sich. Zurück an ihrem Platz band sie sich die dunklen Haare auf dem Kopf zusammen und schmiedete einen Schlachtplan, während die rote Uhr auf dem Jurytisch heruntertickte. Vage hatte sie mitbekommen, dass Jacob Filet Mignon und Sommersprossengrummelgesicht hinter ihr Lamm zubereitete. Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde.

In jeder Kochsendung, die sie gesehen hatte, gingen alle immer total auf Proteine steil, mit denen sie selbst kaum kochte. Der Kram kostete ein Heidengeld. Geld, das eine frisch geschiedene Redakteurin einer Lokalzeitung nicht hatte.

Ehrlich gesagt, waren die einzigen Proteine, die Dahlia sich wirklich leisten könnte, wenn sie sich mal an ihr Budget halten würde, Dosenthunfisch. Aber sie bevorzugte sowieso vegetarische Gerichte. Mit frischem Obst und Gemüse, Getreide, Eiern und einem Haufen Gewürzen ließen sich ganz erstaunliche Dinge anstellen. Selbst gemachte Pasta zu perfektionieren war Balsam für ihre Seele gewesen, nachdem sie letztes Jahr aus dem gemeinsamen Haus mit David ausgezogen und zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich auf sich allein gestellt gewesen war.

Mit ausschließlich vegetarischen Gerichten konnte man bei Chef’s Special allerdings nicht gewinnen. Ein Glück, dass Dahlia an der felsigen Küste Neuenglands aufgewachsen war und nun am Brackwasser der Chesapeake Bay lebte: Mit Fisch und Meeresfrüchten kannte sie sich aus.

Nicht dass Fisch-Tacos ein Markenzeichen von Neuengland oder der Chesapeake Bay wären. Aber egal, wer wollte sich schon mit Krabben und Hummern herumschlagen? Irgendwie bekam man da am Ende für die ganze Arbeit doch recht wenig raus. Sie konnte mit einem Kabeljaufilet glänzen und dann Spaß mit all den anderen Zutaten haben. Marinade mischen, frische Tortillas ausbacken, Rotkohl schnippeln, Jalapeños zerkleinern. Farben, verschiedene Geschmacksnuancen, Soßen. Je farbenfroher und frischer das Essen war, desto mehr Freude hatte Dahlia daran.

Sie hatte keine Ahnung, ob Fisch-Tacos für die Jury zu simpel wären oder nicht, aber sie wusste, dass sie gut schmecken und hübsch aussehen würden, und das waren die einzigen Bausteine, mit denen Dahlia etwas anfangen konnte.

Also entsaftete, mixte, briet, schnippelte, kochte sie. Sie machte einen Plan und hielt sich daran. Wenn die Jurymitglieder an ihrer Kochinsel vorbeikamen, lächelte sie ihnen zu und antwortete auf das freundliche Geplänkel. Sie gab sich Mühe, nicht an die Kameras zu denken, versuchte, nicht in die Gesichter der Jury zu schauen, wenn sie ihr Essen probierten. Nicht an das Lamm oder Steak der anderen zu denken.

Und obwohl dieser erste Drehtag schon tausend Stunden gedauert zu haben schien, vergingen die sechzig Minuten, die sie zum Kochen hatten, wie im Flug. Plötzlich waren nur noch fünf Minuten übrig. Dahlia fühlte sich angespannt, aber gut, denn dieser Adrenalinstoß verdrängte alle anderen Gedanken aus ihrem Kopf. Ihre Hände waren ruhig, als sie die Teller anrichtete. Sie hatte sogar noch eine Minute Zeit, um ihre Arbeitsfläche aufzuräumen.

Als Tanner Tavish rief: »Die Zeit ist um!«, ließ sie die Arme sinken. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück.

Und dann begann Dahlia zu zittern.

Sie hoffte, dass es weder den hochauflösenden Kameras noch den Jurymitgliedern auffiel, die schon um die ganze Welt gereist waren und in Sternerestaurants gekocht hatten. Die über das Set liefen, als würde ihnen der Laden gehören. Was er ja auch irgendwie tat. Schlimmstenfalls, so hoffte sie, würde nur die sommersprossige Miesmuschel hinter ihr das Zittern bemerken, deren Meinung über sie zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich ohnehin nicht noch weiter in den Keller sinken konnte.

Es gab eine kurze Pause, in der Janet, die Produktionsassistent*innen und die Jury sich zusammendrängten, hierhin und dorthin zeigten und wer weiß was besprachen. Die angerichteten Teller wurden ein wenig zurechtgerückt, um sie perfekt für die Kameras auszurichten. Kandidat*innen eilten zur Toilette oder lachten nervös miteinander. Dahlia blieb stehen und biss sich auf die Lippe.

Dann waren sie wieder da.

Und Audra Carnegie sagte ihren Namen.

Echt jetzt?

Sie war die Erste, deren Essen beurteilt wurde?

Dahlia hatte keinen Schimmer, ob das nun Segen oder Fluch war. Doch sie wusste, dass sich ihre Nerven noch immer von sechzig Minuten Hyperkonzentration erholen mussten.

Für eine Sekunde schloss sie die Augen und nahm einen weiteren Yoga-Atemzug. Dann legte sie die Hände unter ihren Teller, trat von ihrer Kochinsel weg, umrundete den Tisch.

Und stolperte.

Die Welt entschleunigte in Zeitlupe wie in einem quälenden Horrorfilm. Von außerhalb ihres Körpers sah Dahlia, wie Sai Patel mit ausgestreckten Händen nach vorne stürmte, die braunen Augen aufgerissen. Sie glaubte, jemanden fluchen zu hören. War ihr etwas im Weg gewesen? Ein hochgeklapptes Stück Isolierband? Oder war sie, Dahlia Woodson, allen Ernstes über ihre eigenen Füße gestolpert, nachdem sie ihr erstes Essen im landesweiten Fernsehen zubereitet hatte?

Heilige Scheiße. Sie würde wortwörtlich auf die Nase fliegen.

Irgendwo, in den Tiefen ihres Gehirns, dachte sie: War ja klar, ehe ihr Verstand aussetzte. Das Studiolicht blendete sie, als sich eine Explosion aus Reis, Rotkohlstreifen und ein verspielter Klecks Limettendip in die Lüfte erhoben, kurz bevor sie auf den Boden krachte.

Kapitel 2

London brauchte einen kleinen Augenblick für sich.

Dafür war dey in diese schummrige Hotelbar gekommen, hatte sich an diesen schmierigen Ecktisch geflüchtet, voller Krümel und nasser Abdrücke von Gläsern. Nur einen Moment allein sein. Dey hätte natürlich auch hoch aufs Hotelzimmer gehen können, um sich dort nach diesem entschieden zu langen ersten Drehtag zu entspannen. Aber da gab es keinen Bourbon.

Der erste Schluck hatte sich wahnsinnig gut angefühlt, genau das gewünschte Brennen in der Kehle ausgelöst. Kühl, stark, eine Erinnerung an zu Hause. Er hatte in Londons Kopf bereits ein Eckchen freigepustet. Ein zweites Glas würde vielleicht auch den übrigen Irrsinn vertreiben. Dey hatte sich heute ziemlich gut geschlagen, aber das lag vermutlich daran, dass dey Lamm schon ungefähr achtundneunzig Mal auf diese Art zubereitet hatte.

Morgen fing Chef’s Special dann erst richtig an. Die Face-offs. Geheimzutaten. Challenges ohne zweiwöchige Vorbereitungszeit, bei denen man rausfliegen konnte. Echte Herausforderungen. Wenn London Erfolg haben wollte, musste dey schnellstmöglich den Kopf frei kriegen.

Eigentlich war London auch nur hier, weil dey sich letztes Weihnachten mit Julie schon ein Gläschen zu viel gegönnt hatte, als die Werbung für das Chef’s Special-Casting in Nashville lief. Julie hatte gewettet, dass London sich nicht hintrauen würde. Und dey war noch nie vor einer Wette mit deren Zwillingsschwester zurückgeschreckt. Aber jetzt, da London wirklich hier war, war es auf einmal real. Und je mehr London darüber nachdachte, was dey mit dem Preisgeld tun könnte, desto besser fühlte dey sich.

Mehr als alles andere wollte London diese Show gewinnen.

Und so verbrachte dey die nächsten zwei Stunden damit, am Bourbon zu nippen, Gedanken zu sortieren und sich mental auf morgen vorzubereiten – den nächsten Tag mit all seinen Herausforderungen.

Bis plötzlich jemand mit Wucht eine Tasche auf den Stuhl gegenüber pfefferte.

Der unerwarteten Tasche folgte eine nicht minder unerwartete Frau. Ihr ungezähmtes dunkles Haar rahmte ein Gesicht ein, von dem deutlich abzulesen war, dass sie genug von diesem Tag hatte, vielen Dank auch. Sie stemmte die Hände in die Hüften, schnaubte und starrte London an.

»Dahlia.« London zuckte innerlich zusammen. Die spektakuläre Stolperaktion am Set war zwar schon Stunden her, hatte sich demm aber unwiderruflich ins Gedächtnis gebrannt. Wie auch nicht? Es war ein geradezu epischer Moment gewesen. »Es tut mir so, so …«

»Ach, sei still.« Sie wedelte mit der Hand. »Alle haben schreckliches Mitleid. Ich weiß. Glaub mir, ich bemitleide mich selbst genug. Ich will nicht mehr darüber reden.«

Londons Finger schlossen sich fester um das Whiskeyglas. Worüber um alles in der Welt sollte dey mit Dahlia Woodson denn dann reden?

Aber Dahlia schien sich diese Frage nicht zu stellen.

»Warum hast du mir nicht auch viel Glück gewünscht?«

London blinzelte.

»Du hast nicht mal gelächelt!« Ihre Miene verfinsterte sich, als London nicht antwortete. »Du hättest gar nichts sagen müssen, aber du hättest wenigstens zurücklächeln können. Oder halt doch was sagen, irgendwas, nachdem ich mich direkt zu Beginn des Tages so blamiert habe. Ich hab bloß versucht, nett zu sein. Brauchte nur ein kleines bisschen Zuspruch vor der unheimlichsten Herausforderung meines Lebens. Warum warst du so arschig?«

London war viel zu perplex für eine Antwort. Oder auch nur einen weiteren Schluck Whiskey. Den dey eigentlich dringend gebraucht hätte.

Dahlia verschränkte die Arme vor der Brust.

»Habe ich dir irgendwas getan?«

London spürte es, sah es in Dahlias Augen, dass ihr der Treibstoff ausging, obwohl sie versuchte, ihre Wut am Köcheln zu halten. Sah, wie diese Wut sich rasch in Traurigkeit oder Resignation oder etwas Ähnliches verwandelte. Und war der Ärger schon verstörend genug, mit der neuen Stimmung dieser Fremden konnte London noch viel weniger umgehen. Als Dahlia demm eine letzte Frage stellte, klang sie eigentlich nur noch müde: »Oder bist du eine dieser Personen, die einfach alle anderen hassen?«

London runzelte die Stirn, auch wenn demm diese Gemeinheit nicht mit voller Wucht entgegengeschleudert worden war. »Ich hasse dich nicht. Das ist nicht … Tu ich nicht.« London holte Luft. Na schön. Dey würde die Sache kurz und schmerzlos beenden. »Es tut mir leid, dass ich dir nicht auch viel Glück gewünscht habe.«

London erinnerte sich sehr gut an Dahlias »Viel Glück«. Deren Hirn hatte auch durchaus registriert, dass eine Erwiderung angemessen gewesen wäre, nur war der Befehl nicht bis zum Mund vorgedrungen. In Wahrheit erinnerte London sich an so ziemlich alles, was heute mit Dahlia Woodson zu tun gehabt hatte, von dem Moment an, als sie das Set betreten und dey einen ersten Blick auf diese Haare erhascht hatte.

Sie waren faszinierend. Dicht, fast schwarz, ungezähmt. Aber was London am meisten aus der Fassung brachte, war die schiere Menge davon, die in Wellen bis zu Dahlias Taille hinabfiel.

Die Teilnehmer*innen der achten Staffel hatten sich schon gestern Abend zu einem Kennenlerndinner mit Cocktails in einem fancy Restaurant in Burbank zusammengefunden. Inmitten des ganzen Trubels – so viele Hände zu schütteln, sich so viele Namen zu merken und dabei nie das aufgepappte Lächeln zu verlieren – hatte London ihre Mitbewerber*innen nicht so stark unter die Lupe genommen wie andere. Dey war sich sicher, dass sich von denen einige wachsam umkreist und gegenseitig versucht hatten, ihre Schwächen auszuloten. Aber an diese Haare hätte dey sich erinnert. Die waren auf keinen Fall beim Kennenlerndinner gewesen. Und wie es aussah, befanden sie sich jetzt für den Rest der Dreharbeiten ständig in Londons Sichtfeld. Zumindest, bis jemand von ihnen aus der Show flog.

»Hey, weißt du, wer die Frau da vor uns ist? Neben Jacob?«, hatte London deren Tischnachbarn Ahmed gefragt, als sie sich alle hinter dem Torbogen zusammengedrängt und auf den offiziellen Einmarsch gewartet hatten, direkt nachdem Dahlia quasi mit dem Gesicht an Londons Brust gelandet war.

»Die mit den vielen Haaren? Dahlia Woodson, glaube ich.«

»Sie war aber gestern Abend nicht dabei, oder?«

»Nope. Ich vermute auch bloß, dass sie das ist. Ich habe zufällig gehört, wie Janet irgendwann meinte: ›Wo zur Hölle ist Dahlia Woodson?‹«

»Hm.«

Das Ding war, London wurde nicht gern durcheinandergebracht. Es war natürlich okay, dass Dahlia anscheinend das Kennenlerndinner in den Wind geschossen hatte und dass sie nun vor London arbeiten würde. Aber dass diese ganzen Haare da offen vor sich hin hingen, völlig ungezähmt und überbordend, war eine wirklich unnötige Ablenkung. Wollte die tatsächlich so kochen? Denn das war ja wohl mal richtig unhygienisch. In einer professionellen Gastroküche würde so was niemals durchgehen.

Allerdings waren Haarnetze im Fernsehen auch nicht besonders sexy. Vielleicht hatte das Produktionsteam sie angewiesen, die Haare offen zu lassen? Aber ein kurzer Blick durchs Studio offenbarte, dass die meisten anderen ihre hochgebunden hatten. Je mehr London Dahlias Mähne anstarrte, desto wütender wurde dey.

Beim ersten Anblick dieser Haare war dey bereits so abgelenkt gewesen, dass dey einfach nur dagestanden hatte, während Dahlia, ein energischer Wirbelwind, auf demm zugestürzt und in demm hineingekracht war. Und sich als absolut … hinreißend erwiesen hatte.

Jetzt am Abend trug Dahlia die Haare hochgesteckt, als riesiges, gefährlich schräg sitzendes Vogelnest. Wie genau das der Schwerkraft trotzte, überstieg Londons Vorstellungskraft.

Als sie sich London gegenüber in den Sessel fallen ließ – wobei sie achtlos die Tasche zu Boden schob –, lösten sich ein paar Strähnen und umspielten ihr sonnengebräuntes Gesicht. Obwohl sie erschöpft wirkte, schien ihre Haut zu strahlen, selbst in diesem trüben Hotelbarlicht. Was ziemlich ungerecht war, dachte London, während dey sich den eigenen gespensterweißen Nacken rieb.

»Kann ich Ihnen etwas bringen?« Eine zierliche Kellnerin war an den Tisch getreten. Ihre Haare waren nachlässig zusammengebunden. Der dunkle Ansatz war deutlich zu erkennen. Auf der Schulter hatte sie einen orangefarbenen Fleck, und auch sie machte einen erschöpften Eindruck.

Wow, da kam man ja so richtig in Partystimmung.

Mit dem Kinn deutete Dahlia auf Londons Glas. »Was ist das?«

»Bourbon.« Diese Begegnung hatte London zwar die Sprache verschlagen, und noch war dey nicht ganz auf der Höhe, aber daran erinnerte dey sich.

»Ja, das klingt gut«, sagte Dahlia.

Die Kellnerin nickte nur und eilte davon.

Seufzend fuhr Dahlia sich durchs Gesicht. Sie trug ein grobmaschiges lila Strickkleid über Leggings. Beim Hinsetzen war es ihr auf der einen Seite über die Schulter gerutscht und hatte einen schwarzen BH-Träger und ihr graziles Schlüsselbein enthüllt.

Bisher hatte London noch kaum ein Wort mit dieser Frau gewechselt, trotzdem hatte dey schon das Gefühl, zu viel über sie zu wissen: dass sie sich in der vierten Klasse in die Hose gemacht hatte – wenn auch nur ein bisschen. Wie verletzlich sie ausgesehen hatte, nachdem sie live im Fernsehen gestolpert war, einen Rest Limetten-Dip noch auf der Wange. Dass sie einen schwarzen BH trug. Dass sie heute nervös gewesen war.

London selbst war erstaunlich wenig nervös gewesen. Nur schlecht gelaunt.

Die Kellnerin kam zurück, drückte Dahlia ein Glas in die Hand und verschwand wieder.

Dahlia nahm einen tiefen Schluck, und London räusperte sich. Dey war sich nicht ganz sicher, weshalb Dahlia immer noch hier war, warum sie sich dazu entschieden hatte, sich hinzusetzen, aber wenn London jetzt alles zwischen ihnen ins Lot brachte, ging sie vielleicht schneller wieder.

»Ich wollte vorhin wirklich nicht unhöflich sein. Sorry, wenn das so rüberkam, ich, äh … Die letzten beiden Tage waren echt nicht leicht.«

Dahlia schaute demm über den Rand ihres Glases hinweg an, und für einen kleinen Moment war sie wie erstarrt. Dann stellte sie das Glas mit Schwung auf dem Tisch ab und fing an zu lachen.

Und hörte gar nicht mehr auf.

London konnte nur hilflos zusehen.

»Du bist gut.« Dahlia wischte sich die Augen. »Du hast Lamm zubereitet, das so – Zitat – ›himmlisch‹ war, dass Audra Carnegie dich am liebsten geküsst hätte. Und du hast es hingekriegt, nicht dein komplettes Gericht überall zu verteilen, während du dich in einer landesweit ausgestrahlten Fernsehshow auf die Fresse legst. Aber klar, das war sicher nicht leicht für dich.« Dahlia verdrehte die Augen, holte tief Luft und nahm einen weiteren Schluck Bourbon.

London spürte, wie dey ganz rote Wangen bekam. Also, rötere als sowieso schon.

»Audra Carnegie wollte mich definitiv nicht küssen. Und deine Fisch-Tacos mochte sie auch. Also, nachdem du sie zusammengeklaubt hattest«, fügte dey hinzu und rieb sich erneut den Nacken, in dem Versuch, die Fremdscham zu vertreiben.

»Ja, sicher.« Dahlia verdrehte wieder die Augen.

Dabei brauchte sie sich gar nicht so anzustellen. Immerhin hatte die Jury ihre Tacos schon vor dem dramatischen Live-Sturz probiert. Die Wertung am Ende zu filmen, nahm so viel Zeit in Anspruch, dass das Essen normalerweise längst kalt war. Das bedeutete, die Juror*innen kosteten immer auch während der Zubereitung. Darauf hatte Janet sie mit als Erstes vorbereitet. Dahlias aerodynamisches Kunststück war beeindruckend gewesen, aber ihren Platz in der Show gefährdete es nicht. Und London hatte beobachtet, wie sie die Tacos zubereitet hatte. Sie mussten gut gewesen sein.

»Hey, kann ich noch einen bekommen?«, rief Dahlia der Kellnerin zu, die gerade an ihrem Tisch vorbeirauschen wollte. Dabei deutete sie auf das bereits leere Glas. Die Kellnerin hob eine Augenbraue, wahrscheinlich weil Dahlia ihren Drink so schnell geleert hatte, aber die scherte sich ganz offenkundig nicht darum. Im Gegenteil, sie überflog eine speckige Karte am Rand des Tisches. »Und … ein paar Tortillachips mit Guacamole. Jap, genau. Das wäre wunderbar.«

»Wunderbar«, wiederholte die Kellnerin ausdruckslos und schwebte wieder davon.

London hätte es ihr am liebsten gleichgetan.

Dey lehnte sich nach vorn. »Nur zur Sicherheit: Bist du sauer auf mich?«

London war klar, dass Chef’s Special ein Wettbewerb war. Dass demm egal sein sollte, was Dahlia Woodson von demm hielt. Dey hatte in den letzten Jahren hart daran gearbeitet, sich nicht darum zu kümmern, was andere Leute dachten.

Trotzdem kam es London falsch vor, dass dey in der Lage war, eine Fremde derart auf die Palme zu bringen, aus Gründen, die dey noch nicht hundertprozentig verstand. Und irgendwie wollte dey nicht, dass Dahlia böse auf demm war, so seltsam sie auch sein mochte.

»Ach nein.« Dahlia zuckte mit den Schultern. »Ganz ehrlich? Ich bin überhaupt nicht gut im Sauersein. Immer wenn ich mich über irgendwas aufrege, werde ich am Ende einfach nur traurig, also bemühe ich mich normalerweise, das zu vermeiden, und … ich rede schon wieder viel zu viel. Argh! Ich brauche Nahrung!« Sie hielt inne. »Aber es war ein tapferer Versuch, oder? Sauer zu sein?«

»Du hast mich ›arschig‹ genannt«, bestätigte London.

Dahlia grinste. »Siehst du? Das auszusprechen hat sich komisch angefühlt, aber ich hab’s trotzdem durchgezogen. Sieh mal einer an. Yay!« Sie griff über den Tisch hinweg nach Londons Bourbon. »Warum trinkst du das nicht?« Sie nahm einen großen Schluck und verzog das Gesicht, als hätte der Whiskey ihren Gaumen zu schnell getroffen, ehe sie das Glas zurückstellte. »Tja, na ja, jedenfalls, ich bin durch. Jetzt erzähl mir von deinem schrecklichen Tag.«

Hatte sie gerade ernsthaft einen Schluck von Londons Bourbon getrunken?

Dahlia Woodson war echt ’ne Nummer.

Bevor London überhaupt darüber nachdenken konnte, was dey sagen sollte, kamen Tortillachips und Guacamole zusammen mit Dahlias zweitem Whiskey auf Eis. Sobald die Kellnerin alles abgestellt hatte, schnappte Dahlia sich einen Chip und biss hinein. Ihre Augen weiteten sich. »Oh Mann. Wow! Solche Chips gibt’s an der Ostküste nicht. Du solltest sie probieren.«

London griff nicht nach einem Chip, nahm nun aber endlich einen weiteren Schluck Bourbon. Dey fühlte sich gehetzt, als wäre dey die ganze Zeit einen Schritt hinter Dahlia. Nie war abzusehen, was sie als Nächstes tun oder sagen würde, und London hatte auch keine Ahnung, wie dey aus dieser tristen, düsteren Bar entkommen sollte.

»Also. Wo waren wir? Dein schlechter Tag. Ich höre«, forderte Dahlia demm auf, während sie Guacamole auf einen zweiten Tortillachip schaufelte. Sie lächelte jetzt, als würde sie sich auf einmal königlich amüsieren.

»Warum warst du gestern nicht beim Kennenlerndinner?«, fragte London ausweichend.

Dahlias Lächeln verschwand. Sie wirkte peinlich berührt. »Oh. Ähm. Allein die Vorstellung hat in mir heftige Ängste ausgelöst. Ich habe … einer Produktionsassistentin erzählt, ich hätte schlimme Menstruationsbeschwerden.«

»Dein Ernst?« Nicht zu fassen. Mit einem Mal bekam London den Mund wieder auf. »Das hat in uns allen Ängste ausgelöst! Die ganze Show ist wie eine … Konfrontationstherapie gegen soziale Phobie! Und du hast deine Tage als Ausrede benutzt?!«

»Hey!« Dahlia zog die Brauen zusammen. »Ich habe wirklich schlimm meine Tage, okay? Also, wenn ich sie habe. Mach mir deswegen keine Vorwürfe.«

Aber London machte ihr Vorwürfe. Denn wenn sie zu diesem blöden Kennenlerndinner gekommen wäre, dann müsste dey sich nicht extra vor ihr outen, um das vom Tisch zu kriegen. Und hätte sie ihre fucking Haare auch nur im Geringsten im Griff, hätte London ihr vor ein paar Stunden einfach viel Glück zurückgewünscht oder irgendwie anders zu Dahlias Zufriedenheit reagiert, und sie wäre nicht hier aufgekreuzt, um Londons Moment der Ruhe zu ruinieren.

Dey holte tief Luft.

»Gestern Abend, beim Essen, habe ich mich als nichtbinär geoutet und allen meine Pronomen mitgeteilt: dey/demm/deren. Ich dachte, es wäre gut, wenn alle von vornherein Bescheid wissen, damit es kein peinliches Misgendern gibt und ich bei dieser ganzen Sache wirklich ich sein kann. Ein paar Leute haben allerdings nicht so toll reagiert. Damit hätte ich rechnen sollen, aber es hat mich trotzdem getroffen. Ich war einfach ein bisschen zu optimistisch. Deshalb war ich heute ziemlich schlecht drauf, okay? Zufrieden?«

London bestellte per Handzeichen noch einen Drink bei der Kellnerin. Dahlia blieb still. Ein kleiner Triumph für London, der sich leider gar nicht triumphal anfühlte.

»Wer hat nicht toll reagiert?«, fragte Dahlia dann.

London musterte sie. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich verändert, aber dey konnte ihn nicht deuten.

»Ist egal.«

»Nein, ist es nicht. Ich will mich nicht aus Versehen mit einem Arschloch anfreunden.«

London seufzte und war so müde, dass dey Dahlias Reaktion erst später vollständig erfassen würde. Wie hart ihre Stimme auf einmal geworden war. »Hauptsächlich Lizzie.«

»Hilf mir auf die Sprünge, wer war das noch mal?«

»Krause blonde Haare, weiß, vielleicht so um die fünfzig.«

Konzentriert runzelte Dahlia die Stirn. Sie wirkte plötzlich so ernst. »Brille?«

»Jap.«

Sie nickte. »Was hat sie getan?«

»Ach, na ja, du weißt schon …« London wollte das Ganze eigentlich nicht komplett aufwärmen und wedelte bloß abschätzig mit der Hand. Vor einem Coming-out mit so vielen Fremden auf einmal hatte dey ziemliche Angst gehabt, hatte sich aber überlegt, dass das die effizienteste Methode war. Es war einer der angespanntesten Momente in Londons Leben gewesen, und dey hatte versucht, keine zu große Sache daraus zu machen und es schnell hinter sich zu bringen.

Und zunächst hatte es auch so ausgesehen, als würde alles glimpflich ablaufen. Cath, eine weiße Frau mit dunklen Haaren, die sie unter einem Basecap verbarg, hatte sich vorgebeugt und mit tiefer, beruhigender Stimme gesagt: »Alles klar, cool. Danke, dass du das mit uns geteilt hast, London.« Sie hatte London ein Nicken geschenkt, dass dey direkt als Anerkennung eines weiteren Mitglieds der queeren Community verstanden hatte. Erleichtert hatte dey ausgeatmet. Auch andere am Tisch hatten gelächelt und demm zugenickt.

Doch dann hatte Lizzie sich geräuspert, mit dem Zipfel ihrer Serviette den Mund abgetupft und gefragt: »Entschuldige, aber wie meinst du das?«

Mit einem Schlag hatte sich Londons Magen wieder verkrampft. Schon an einem stinknormalen Tag war es anstrengend, sich selbst und die eigene Existenz ständig erklären und verteidigen zu müssen. Aber nach dem langen Flug von Nashville und vor diesem seltsamen TV-Erlebnis war es besonders schlimm.

London entschied, ganz direkt zu antworten. Geduldig wiederholte dey die Basics, also im Grunde das, was dey zuvor bereits gesagt hatte. Nichtbinär. Pronomen dey/demm/deren. Fertig.

Lizzie starrte demm mit zusammengekniffenen Augen an, als würde dey Klingonisch sprechen.

»Aber das ergibt doch gar keinen Sinn. Du willst wirklich, dass wir dich mit diesen seltsamen Wörtern ansprechen, dey und … demm?«

»Genau.« London ballte die Hände in der Tasche zu Fäusten und presste nur dieses eine Wort zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Der Rest der Tischgesellschaft war wie erstarrt. Konzentriert blickten alle auf ihre Teller und die schwitzenden Wassergläser.

Janet legte Lizzie eine Hand auf die Schulter, während die in die Runde sah. »Ach, kommt schon.« Ihr Tonfall klang spöttisch. »Ich bin hier doch nicht die Einzige, die das völlig gaga findet. Es gibt kei…«

»Lizzie.« Janet unterbrach sie energisch. Nicht einmal Lizzie konnte dieser Stimme etwas entgegensetzen.

Daraufhin hatte Janet die vor sich hin murmelnde Lizzie hastig aus dem Raum bugsiert, während sich peinliche Stille über den Tisch gesenkt hatte. Wahrscheinlich waren nur wenige Sekunden vergangen, ehe Cath mit einem Kommentar das Schweigen gebrochen hatte, aber London hatte sie gar nicht richtig hören können, so laut war das Klingeln in deren Ohren gewesen. Danach hatte dey etwa zwei Bissen runtergeschlungen und war kurz darauf aufgebrochen.

Anderen Unbehagen zu bereiten, weil dey offen mit deren Identität umging, war nichts Neues für London. Nur hatte das bisher immer in viel kleinerem Rahmen stattgefunden.

»Ja, ich kann es mir gut vorstellen.« Dahlias sanfte Stimme holte London in die schummrige Hotelbar zurück.

Dabei hatte London gar nicht laut ausgesprochen, was gestern Abend passiert war.

»Sag Bescheid, wenn ich irgendwas tun kann«, fügte Dahlia hinzu. »Falls Lizzie dir das Leben schwer macht. Oder irgendwer anders.«

London verzog das Gesicht. »Alles gut. Ich hab nur einen Tag gebraucht, um darauf klarzukommen. Du musst …« Dey wedelte wieder mit der Hand. »Du musst mich nicht zu deinem queeren Sozialprojekt machen.«

»Nein, das …« Dahlia setzte erneut an, schloss den Mund wieder. Röte überzog ihre Wangen. Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Mein älterer Bruder Hank ist trans. Er hat vor ein paar Jahren mit der Transition begonnen. Ich weiß also, was manche Leute so von sich geben. Das ist alles.«

Sie nahm einen Schluck von ihrem Drink.

Damit hatte London nicht gerechnet. Wie sollte dey darauf reagieren?

»Es tut mir leid, dass ich gestern nicht dabei war«, ergänzte Dahlia im gleichen sanften Tonfall wie zuvor. Und dann stopfte sie schnell zwei Chips in den Mund. Aber London merkte, dass sie ihr gerade nicht schmeckten.

Dey tat es auch leid, dass Dahlia nicht dabei gewesen war. Um genau zu sein, machte es demm ein bisschen wütend.

Nicht weil dey dachte, dass Dahlia demm jetzt automatisch verstand oder auf magische Weise die Situation hätte retten können. Es gab eine Million Wege, trans zu sein, und nur weil sie ihren Bruder liebte, hieß das nicht, dass sie London kannte.

Aber jetzt wusste dey wenigstens, dass sie ein Ally war. Und sobald dey auch nur ein bisschen über den Ärger hinwegsah, konnte dey es sich plötzlich vorstellen. So direkt, wie Dahlia Woodson war, hätte sie Lizzie wahrscheinlich noch vor Janet gestoppt. Sie hätte irgendwas Merkwürdiges und Lustiges gesagt und das Ganze etwas erträglicher gemacht. Vielleicht.

Aber sie hatte sich ja in ihrem Zimmer versteckt und so getan, als hätte sie Regelschmerzen. Tja.

»Hast du vor, dich auch in der Show zu outen? Vor den Zuschauer*innen, meine ich?«

London räusperte sich. »Ja. Ich wollte meine Pronomen gleich im ersten Solo-Interview mitteilen, aber dann war heute keine Zeit mehr, das zu filmen, also bin ich gar nicht richtig dazu gekommen.«

Jetzt angelte dey sich einen Tortillachip. Und natürlich hatte Dahlia recht. Sie waren wirklich fantastisch.

»Das … das ist eine Riesensache. Hank wird das total feiern. Wahrscheinlich muss er weinen, wenn er es sieht. Allerdings ist er eh ’ne echte Heulsuse.« Dahlia lächelte, aber weniger als vorher, als sie demm zugelacht oder ihren ersten West-Coast-Tortillachip probiert hatte. Es war ein Lächeln ohne Zähne.

In Londons Brust war es bei Dahlias Kommentar ganz warm geworden. Dey wusste, dass es eigentlich egal sein sollte, dass dey das für sich machen sollte, aber … es gab demm Zuversicht. Die Bestätigung, dass deren Coming-out anderen etwas bedeuten könnte. Es war wie ein Geschenk.

Dey hatte das Gefühl, etwas zurückgeben zu wollen.

»Die Chips sind wirklich ziemlich gut«, sagte dey, konnte es sich aber nicht verkneifen hinzuzufügen: »Die Guacamole ist allerdings nur so lala. Die kriege ich besser hin.«

Dahlias Lächeln wurde ein winziges bisschen breiter. »Daran habe ich nicht die geringsten Zweifel.«

London warf ihr einen Blick zu, unsicher, ob das ein Kompliment war oder sie sich über demm lustig machte. Aber in ihren Augen blitzte kein Spott. Sie hatten eine Schattierung, die genau zwischen dem dunklen Braun ihrer Haare und ihrem Hautton lag, wodurch ihr Gesicht eine perfekt aufeinander abgestimmte Farbpalette ergab.

Bloß eine typische Bourbon-Beobachtung.

»Darf ich dich fragen, was du tun willst?« Dahlia sah demm an. »Falls du gewinnst?«

Endlich mal eine einfache Antwort.

»Ich würde mit dem Geld einen gemeinnützigen Verein gründen. Für LGBTQIA+-Kids in Tennessee.«

»Bist du aus Tennessee?«

London nickte. »Aus Nashville.«

Dahlia lächelte wieder, hielt den Blick dabei aber auf die Tischplatte gesenkt. Sie zupfte an ihrem Kleid und zog den lilafarbenen Stoff über ihrer Schulter zurecht. London ignorierte einen kleinen Stich der Enttäuschung.

»Hank will schon ewig mal nach Nashville. Er liebt Country-Musik. Er hat sich nach Hank Williams benannt.«

London beobachtete, wie sie einen Tortillachip nahm, ihn hochkant auf den Tisch stellte und mit den Fingerspitzen vor dem Umkippen bewahrte, ohne Anstalten zu machen, ihn in den Mund zu stecken.

»Das ist wirklich nobel von dir«, sagte sie. »Das mit dem Verein.«

»Ich mein, ich habe keine Ahnung, wie man so was richtig aufzieht«, entgegnete London automatisch und ein bisschen verlegen. Gott, dey wollte nicht als nobel dastehen. Das fühlte sich irgendwie schmierig an. »Aber … na ja, ich würde es gern versuchen.«

»Und das ist großartig!«

Nie hatte sich London ein traurigeres Bild geboten als Dahlia, die mit unbeweglicher Miene diesen Tortillachip anstarrte.

»Hank sollte wirklich mal hin«, sagte London. Plötzlich war dey entschlossen, sich richtig Mühe zu geben. Nicht arschig zu sein. Dahlia von dort zurückzuholen, wohin sie in den letzten paar Minuten verschwunden war. »Nach Nashville. Ist ’ne tolle Stadt.«

»Bestimmt«, erwiderte Dahlia halbherzig.

»Was würdest du denn mit dem Geld machen, wenn du gewinnen würdest?«, fragte London.

Dahlia sackte noch mehr in sich zusammen – falls das überhaupt möglich war.

»Ich habe ziemlich viele Schulden«, sagte sie schließlich und zuckte mit den Schultern. »Wie sich herausgestellt hat, ist eine Scheidung echt teuer. Und ich muss noch meinen Studienkredit zurückzahlen, und …« Sie verstummte. »Ich weiß nicht, ein bisschen Geld wäre ganz nett.«

Moment mal. Diese Frau hier war geschieden? Sie konnte doch nicht viel älter sein als London, und dey war erst sechsundzwanzig.

Ganz offenbar wusste London im Grunde rein gar nichts über Dahlia Woodson.

»Na ja, ich sollte jetzt wohl mal gehen. Tut mir leid, dass ich dich so belagert habe.«

Abrupt stand Dahlia auf und stürzte den letzten Rest Bourbon runter, während sie gleichzeitig nach ihrer Handtasche angelte. Sie legte ein paar Scheine auf den Tisch und hielt dann inne. Nervös spielte sie mit der Schnalle an ihrer Tasche.

»Ähm, das ist mir ein bisschen peinlich …« Sie sah London nicht in die Augen. »Aber ich bin nicht hundertprozentig sicher. Du heißt London, oder? Ich habe so viele neue Leute getroffen, und ich war aufgeregt, und …«

»Ja, ganz genau, London.« Und dann fügte dey albernerweise hinzu: »London Parker«, als würden sie gerade in der Schule die Anwesenheitsliste durchgehen.

Aber Dahlia lächelte. Zumindest leicht.

»Ich bin Dahlia.«

»Ja, ich weiß.«

»Oh. Okay. Also … Sorry noch mal. Bis morgen, London Parker.«

Nachdem sie verschwunden war, fühlte London sich eigenartig. Vielleicht ein bisschen einsam? Obwohl dey sich ja ursprünglich extra hierher zurückgezogen hatte, um allein zu sein. Hastig kippte dey den Rest Bourbon runter und bezahlte die Rechnung. Dey hatte keinerlei Interesse mehr daran, weiter in dieser Bar herumzuhängen, viel zu nah an der Erkenntnis, wie sehr demm der Klang des eigenen Namens aus Dahlias Mund gefiel.

Kapitel 3

Am nächsten Morgen landete Janets Hand auf Dahlias Schulter, fünf Minuten nachdem die Kameras nicht mehr liefen.

»Dahlia, Honey«, sagte sie. »Zeit für dein erstes Interview.«

Heute trug Janet eine lila Brille. Sie lächelte aufmunternd.

Dahlia holte tief Luft. Sie hatte gerade ihr erstes Face-off hinter sich gebracht, bei dem man gegen eine*n der anderen Kandidat*innen antrat, um eine grundlegende Küchenfertigkeit unter Beweis zu stellen. Als Gewinner*in erhielt man Vorteile für spätere Challenges.

Dahlia hatte das Duell verloren. Ausgerechnet gegen Lizzie. Ätzend. Wirklich richtig oberätzend.

Außerdem hatte sie einen leichten Bourbon-Kater.

Immerhin war sie heute noch nicht auf die Nase geflogen.

Und sie hatte sich auch nicht weiter vor London Parker blamiert. Dahlia war fest entschlossen, von nun an vor demm nicht mehr wie ein Trampel dazustehen.

Mit anderen Worten: Sie würde versuchen, von nun an positiv in die Zukunft zu blicken. Komme, was wolle.

Doch während sie Janet und deren lose hochgesteckten, wippenden Locken in die hintere Ecke des Sets folgte, krallte Dahlia die Finger in den Saum ihres Tanktops. Die Demütigungen der letzten vierundzwanzig Stunden, einschließlich der California-Rolls, die Lizzie einfach schneller und kunstvoller geformt hatte als sie, fielen von ihr ab, und eine andere Angst machte sich in ihr breit.

Über diesen Moment hatte Dahlia nachgedacht, seit sie vor einem Monat erfahren hatte, dass sie es in die Show geschafft hatte.

Wenn sich die Kandidat*innen in ihrem ersten Einzelinterview vorstellten, mussten sie nur ein paar grundlegende Fakten über sich erzählen. Woher sie kamen, was sie beruflich taten und was sie sich von der Show erhofften.

Aber wenn sie auch nur versuchte, sich Antworten auf diese simplen Fragen auszudenken, fühlte Dahlia sich in ihrer derzeitigen Situation ziemlich verwirrt und unzulänglich.

Sie stammte aus New Bedford, einer alten Walfängerstadt im Süden von Massachusetts, direkt an der Grenze zu Rhode Island. Sie war ein Kind Neuenglands.

Doch jetzt lebte sie in Maryland. Ihr Ex-Mann, David, war nach Washington, D. C. gependelt, sie nach Baltimore, und in den sechs Jahren ihrer Ehe hatten sie in einer Kleinstadt zwischen den beiden Städten gelebt. Nach der endgültigen Trennung letztes Jahr hatte sie überlegt, nach Baltimore zu ziehen, war letztlich aber bei dem geblieben, was sie kannte. Denn alles, vom morgendlichen Aufstehen bis zur Nahrungsaufnahme, war ihr unendlich schwergefallen, und das Festhalten an Bekanntem schien die einzige Option zu sein. Sie fand eine kleine Wohnung in demselben eintönigen Städtchen, auch wenn sie sich damit und mit den vielen kleinen Einkaufszentren und Restaurantketten nicht mehr wirklich verbunden fühlte. Manchmal fragte sie sich, ob sie das jemals getan hatte.

David war nach Arlington gezogen.

So musste sie sich wenigstens keine Sorgen mehr machen, ihm im Food Lion, ihrem Lieblingssupermarkt, zu begegnen.

Die kleine Kulisse, in der die Einzelinterviews der Kandidat*innen von Chef’s Special gefilmt wurden, befand sich in einer hinteren Ecke des Studios, hinter dem hölzernen Torbogen und neben dem Snacktisch. Ein überwältigendes marmoriertes Fenster aus dickem türkisfarbenem Glas wurde von hinten beleuchtet und nahm die gesamte Rückwand ein. Es war wunderschön und beruhigte Dahlia sofort, auch wenn es ihr leider keinen Geistesblitz verschaffte, was sie sagen sollte.

Sie nahm auf einem Hocker Platz und musste blinzeln, als die Kamera sie ins Visier nahm und die Produktionsassistent*innen das Licht ausrichteten. Die junge Frau hinter der Kamera mit den kurzen, dicht gelockten Haaren lächelte sie freundlich an.

»Hey, Dahlia. Ich bin Maritza. Denk dran, wir brauchen nur die Basics. Fang mit deinem Namen, deinem Alter und deinem Wohnort an. Kann’s losgehen?«

Dahlia nickte wie betäubt. Wortlos zählte Maritza mit den Fingern herunter und gab dann das Zeichen.

»Mein Name ist Dahlia. Ich bin achtundzwanzig und komme ursprünglich aus Massachusetts.«

Ihr Kopf war leer.

Maritza lugte wieder hinter der Kamera hervor. »Okay. Etwas über deine berufliche Laufbahn und vielleicht, warum du hier bist?«

Klar doch, sicher.

Das war eine einfache Frage. Bloß dass Dahlias berufliche Laufbahn in eine Sackgasse geraten war.

In den letzten vier Jahren hatte sie als Redakteurin einer kleinen Zeitung in Baltimore gearbeitet und größtenteils Spaß daran gehabt. Sie hatte schon immer gerne geschrieben und redigiert, und manchmal war die Arbeit auch inhaltlich echt interessant. Zwar wurden immer mehr Artikel der Zeitung einfach von größeren Nachrichtenagenturen übernommen, aber die lokalen Themen, über die ihre Reporter*innen noch berichten konnten, lagen ihr am Herzen. Sie mochte ihre Kolleg*innen, vor allem Josh, der fürs Online-Marketing zuständig war, weil er sie zum Lachen brachte und stets mit Respekt behandelte.

Aber mit der Zeit hatte sie sich rastlos gefühlt, nachdem sie so viele Tage am gleichen Schreibtisch im Großraumbüro verbracht hatte und nie zu etwas Größerem, Besserem und Anspruchsvollerem aufgestiegen war.

Dahlia hatte Träume, aber nur ganz vage, verschwommene. Träume, die keinen handfesten Wert hatten. Die Welt zu sehen. Etwas Sinnvolles zu tun, etwas, wofür sie brannte. Bloß hatte sie keine Ahnung, was dieses Etwas war. Sie hatte Angst, die Freude am Kochen zu verlieren, wenn sie es zu ihrem Beruf machen würde. Im letzten Jahr hatte es sich manchmal so angefühlt, als wäre diese Freude alles, was ihr geblieben war.

Dahlia wollte kein Restaurant besitzen oder auch nur in einem arbeiten, aber Kochen war ihr wichtig geworden, es bedeutete ihr inzwischen einfach sehr viel. Als ihre psychische Gesundheit und ihre Ehe vor zwei Jahren langsam den Bach runtergingen, lange bevor sie beides so richtig wahrhaben wollte, hatte das Kochen sie beruhigt, weil sie dabei genau wusste, was sie tat. Es schenkte ihr das Gefühl, produktiv und nützlich zu sein, und lenkte sie von ihrem inneren Chaos ab.

Als sie dann immer besser wurde und bald nicht mehr bloß kochte, weil sie es musste, begann sie, sich von strengen Rezepten zu lösen und sich allein auf ihren Instinkt und ihr Wissen zu verlassen. Das gab ihr letztlich das Gefühl, kreativ und stark zu sein – zwei Adjektive, die sie schon sehr lange nicht mehr mit sich in Verbindung gebracht hatte. Und schließlich war es nicht mehr nur eine Ablenkung. Das Kochen bot Dahlia Woodson die Möglichkeit, wieder zu sich selbst zu finden.

Na ja, an dem Part arbeitete sie noch.

Denn abgesehen davon, dass sie wirklich gut darin war, Gemüse zu schnippeln und selbst gemachte Pasta zu kochen, und davon, dass sie einen riesigen Studienkredit zu tilgen hatte und aus der Marylander Vorstadthölle verschwinden wollte, war Dahlia allmählich immer weniger klar, wer sie eigentlich war. Als würde sie sich verkehrt herum weiterentwickeln.

Natürlich konnte sie nichts davon in die Kamera sagen.

Also schluckte Dahlia, versuchte zu lächeln und sagte das Fantasieloseste, was ihr einfiel:

»Ich habe erst vor ein paar Jahren ernsthaft angefangen zu kochen, von daher bin ich wirklich gespannt auf alles, was ich hier lernen kann.«

Maritza nickte. »Gut.« Sie checkte eine Notiz auf ihrem Handy und blickte dann zu einer Produktionsassistentin rüber. »AJ, kannst du als Nächstes Khari holen?«

Dahlia verließ den Raum und fürchtete mit einem grausamen Anflug von Scham, dass sie kurz davor war, in Tränen auszubrechen.

Sie hatte nie ein fantasieloser Mensch sein wollen.

Frustriert marschierte sie zum Snacktisch und schaufelte zehn Trauben in sich rein, ohne auch nur eine einzige davon zu schmecken.

*

Dahlia war heute irgendwie anders drauf, und das gefiel London nicht.

Natürlich stand es demm nicht zu, darüber zu urteilen, wie Dahlia Woodson sich fühlte, schließlich kannten sie sich seit kaum vierundzwanzig Stunden. Aber davon hatte London gestern mindestens acht damit verbracht, Dahlias Schultern zu mustern, den Schwung ihres Nackens, wenn sie sich konzentriert vorbeugte, wie sie unbewusst ihr Gewicht verlagerte, wenn sie nervös war. Oder wie ihre Wangen hervortraten, wenn sie lächelte.

London wusste, wie ihr Gesicht aussah, wenn sie lachte, wie ihre Augen vor Freude strahlten, wenn sie etwas probierte, das ihr schmeckte.

Heute trug sie ein Tanktop in einem fröhlichen Gelb. Aber im Gegensatz zu ihrem Oberteil wirkte sie selbst blass und still.

Bestimmt hatte das nichts mit London oder ihrem Gespräch am Vorabend zu tun. Und doch hatte London weit mehr Zeit, als dey zugeben wollte, damit verbracht, sich zu fragen, ob dey sich vielleicht wirklich arschig verhalten hatte. Oder sich Dahlias Gesichtsausdruck vorzustellen, als sie über Geld geredet hatte, ihre Schulden. Dey wünschte, dey hätte ihn in ein Lächeln verwandeln können.

Auch wenn demm eigentlich nichts davon irgendwas anging, erinnerte dey sich selbst...

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