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Für immer wir

Als Buch hier erhältlich:

Eine Familie. Vier Generationen. Und ein ganzes Leben voller ungesagter Dinge.

Grace genießt das Leben in einem malerischen Fischerdörfchen und nimmt gern ein erfrischendes Bad im Meer. Dass sie bald neunzig Jahre alt werden soll, kann sie kaum glauben. Zu ihrem Geburtstag wünscht sie sich nichts anderes als die Versöhnung mit ihrer Tochter Alys, die vor dreißig Jahren den Kontakt zur Familie abgebrochen hatte. Während Elin, Alys′ Tochter, in den Planungen der Geburtstagsparty steckt, schickt Grace Alys im Geheimen eine Einladung.


  • Erscheinungstag: 27.12.2023
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365004470

Leseprobe

Für meine geliebte Mum, Hannah Jones,
die dieser Welt so viel Freude schenkt

PROLOG

Februar 1968

1

Grace

»Alles in Ordnung bei Ihnen?«

Grace kannte den Mann nicht. Vermutlich ein Tourist. Auch den Hund hatte sie noch nie gesehen – war das ein Schnauzer?

»Ja, danke!«, rief sie fröhlich zurück, während sie zügig weiter ins Wasser hineinging in der Hoffnung, seine Sorge damit zu zerstreuen. Doch statt sich zu verziehen, zögerte er.

»Sind Sie sicher, dass das nicht gefährlich ist?«, rief er.

Oje, dachte Grace, ein pflichtbewusster Mitbürger, und sie unterdrückte den Impuls, ihm zu sagen, dass er sich gefälligst verpissen solle. Stattdessen durchschnitt sie nun das Wasser mit gleichmäßigen Brustschwimmzügen. Das Meer lag heute ganz ruhig da. Wie sie es liebte, weit hinauszuschwimmen! Ihr ganz persönlicher Infinity-Pool, denn die Irische See erstreckte sich meilenweit vor ihr, voller Möglichkeiten. Wie oft hatte sie schon gedacht: Was würde wohl passieren, wenn ich einfach immer weiterschwimme?

Nun hörte sie Rufe vom Ufer her, diesmal eine Frauenstimme. »Entschuldigung! Hallooo? Ich glaube, Sie sollten jetzt wirklich umkehren, hören Sie?«

Oh Mann, verzieht euch!, dachte Grace und pflügte weiter mit kräftigen Zügen durchs Wasser.

Meistens ging sie mindestens dreimal die Woche schwimmen, normalerweise in ihrem Außenpool, aber manchmal auch im Meer, als Belohnung. Das tat sie, seit sie vor vierundfünfzig Jahren nach Dylan’s Quay gezogen war. Wenn sie jemandem erzählte, dass sie regelmäßig im Meer schwimmen ging, glaubte man ihr nicht. Wenn sie jemandem erzählte, dass sie einen eigenen Pool besaß, hielt man sie für sehr reich, und die Leute dachten sofort an spanische Villen und Mosaikfliesen und Liegestühle. Doch bei Grace’ Pool handelte es sich einfach nur um ein freistehendes Metallgerüst mit Segeltuch – sozusagen eine tiefere, breitere Ausgabe eines Kinderplanschbeckens, wie es die Rugbyspieler einst nach einem Spiel benutzten. Es war eine hässliche, zweckmäßige Konstruktion, die die untere Hälfte ihres Gartens einnahm, doch Grace liebte ihren Pool, und Schwimmen hielt sie fit. Was mit neunundachtzig eine beachtliche Leistung war.

Als sie ihren üblichen Wendepunkt erreichte – eine große, birnenförmige, rot-weiß gestreifte Boje –, hielt sie kurz inne und trat einige Sekunden lang Wasser. Sie betrachtete die Schönheit des weiten Ozeans und holte tief Luft, ehe sie sich auf den Rücken legte, um sich noch ein wenig treiben zu lassen. In etwas mehr als zwei Monaten wurde sie neunzig. Neunzig Jahre alt! »Du lieber Gott«, flüsterte sie und starrte in den wolkenlosen Sommerhimmel hinauf. »Wie konnte das passieren?«

Niemand antwortete ihr, außer einer missmutigen Raubmöwe, die zu ihr hinunterblickte und verächtlich kreischte. Eine Minute lang lag Grace so auf dem Rücken, vom Meer getragen, und ließ das Wasser sanft an ihre Haut schwappen. Das hier war der beste Ort, um Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen. Seit mehreren Tagen dachte sie nun schon intensiv nach: über eine Sache, die sie einfach nicht losließ. Wenn sie ihre Idee in die Tat umsetzte, würde das viel Ärger bedeuten. Aber wenn sie es nicht tat … dann würde sie sich nie verzeihen, es nicht wenigstens versucht zu haben. Es war durchaus verlockend, sich für ein unkompliziertes Leben zu entscheiden und das Ganze einfach wieder zu vergessen. Schließlich war es dafür noch nicht zu spät – sie hatte mit niemandem darüber gesprochen: John wusste nichts davon, und ihre Enkelin Elin auch nicht.

Bei der Vorstellung, Elin davon zu erzählen, verzog Grace das Gesicht.

Dann drehte sie sich wieder auf den Bauch und begann zurückzuschwimmen. Verärgert stellte sie fest, dass sich inzwischen ein kleines Empfangskomitee am Ufer versammelt hatte. Zu dem Mann mit dem Schnauzer hatten sich drei weitere Personen, vermutlich seine Frau und zwei Söhne, gesellt. Die Frau lief wild gestikulierend auf den Wellensaum zu, gefolgt von ihrem Mann. Iesu Mawr, dachte Grace, sie wollen mich retten.

Und tatsächlich: Als Grace gerade die letzten Schwimmzüge tat, wateten die beiden bis zu den Knien ins Wasser und packten sie links und rechts an den Armen. »Keine Panik«, keuchte die Frau, als sie Grace an den Strand zogen. »Bald sind Sie in Sicherheit und wieder trocken.«

Grace wollte aus Prinzip nicht das Klischee »Missmutige Alte Dame« erfüllen. Sie war grundsätzlich höflich und versuchte stets, anderen mit Respekt zu begegnen, egal wie unterschiedlich deren Weltsicht im Vergleich zu ihrer sein mochte. Doch eines konnte sie partout nicht ausstehen, und das war, bevormundet zu werden. Obwohl sie natürlich wusste, dass diese freundlichen Feriengäste glaubten, eine gute Tat zu vollbringen, konnte sie ihren Ärger nicht verbergen. »LASSEN SIE MICH LOS!«, herrschte sie die beiden an und schubste die Frau etwas zu heftig weg, sodass sie im Sand landete.

»Ist ja schon gut«, sagte der Mann. »Wir sollten jetzt ganz ruhig bleiben, nicht wahr?«

»Ich glaube, sie ist … du weißt schon.« Die Frau rappelte sich auf, klopfte den Sand ab und warf ihrem Mann dabei einen vielsagenden Blick zu.

»Was genau, glauben Sie, bin ich?«, fragte Grace, etwas lauter als beabsichtigt, aber sie hatte Wasser im Ohr. Sie legte den Kopf schief und klopfte ein paarmal dagegen, um die Flüssigkeit zu entfernen. Grace wusste, dies würde die Annahme der Frau lediglich bestätigen, eine verrückte Neunzigjährige vor sich zu haben.

»WO WOHNEN SIE, MEINE LIEBE?«, brüllte die Frau betont langsam und deutlich.

Grace antwortete in derselben Lautstärke und im selben Tempo. »UNGEFÄHR FÜNF MINUTEN ZU FUß VON HIER, MEINE LIEBE

»Mensch, Lyn, die macht sich nur lustig«, nörgelte der Mann.

»Dad, kriegen wir ein Eis?«

»Na los, Lyn«, sagte Grace, »ab mit Ihnen, und kaufen Sie Ihren Söhnen ein Eis.« Sie zog sich ihre mobile Umkleidekabine – im Grunde ein langer, selbst genähter Frottee-Poncho – über den Kopf und begann sich auszuziehen. Lyn schien hin- und hergerissen zu sein, ob sie bleiben oder ihrer Familie folgen sollte, die der ganzen Seniorinnen-Rettungsaktion überdrüssig geworden war und den Strand hinaufging. Grace half ihr bei der Entscheidung, indem sie dümmlich grinsend flüsterte: »Ich bin jetzt splitterfasernackt, Lyn. Woll’n Sie mal sehen?« Die Frau brauchte keine weitere Ermunterung, sondern machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon, wobei der Sand ihre Schritte ausbremste. »Unglaublich, da will man mal jemandem helfen!«, schimpfte sie empört vor sich hin.

Grace lachte leise, während sie mit geübten Griffen ihre Unterhose und den BH anzog. Nur ihr Kopf schaute oben aus dem Poncho heraus, während sie sich rasch vollends ankleidete. Sollte ich es mal bis neunzig schaffen, hatte sie immer gesagt, dann hoffe ich, immer noch ohne Stock gehen und meinen BH selbst schließen zu können. Dieses Ziel hatte sie eindeutig übertroffen: Abgesehen vom Schwimmen machte sie nach wie vor zweimal die Woche Yoga, kam problemlos die steilen Hügel von Dylan’s Quay hinauf und fuhr einmal im Monat nach Aberystwyth. Die Angestellten von Cadwallader House – einem Pflegeheim am Ort, das ihr sehr am Herzen lag – wurden nie müde, ihr zu versichern: »Grace Meredith, Sie sind ein Phänomen und ein leuchtendes Beispiel für uns alle.«

Grace trocknete sich den Kopf mit einem Handtuch ab, kämmte ihre Haare und sammelte ihre Sachen ein. Ihre Lippen schmeckten herrlich salzig, ehe sie großzügig Balsam auftrug. Sie liebte das Prickeln auf ihrer Haut nach einem Bad im Meer – es belebte sie, gab ihr das Gefühl, quicklebendig zu sein, was sie inzwischen nicht mehr als selbstverständlich betrachtete. Oben an der Treppe zum Strand setzte sie sich auf eine bunt angestrichene Bank, um eine Runde zu verschnaufen und die Aussicht zu betrachten. Dylan’s Quay, seit nun mehr als fünf Jahrzehnten ihre geliebte Heimatstadt. Es gab auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort.

Aus der Seitentasche ihres kleinen Rucksacks holte Grace die Grußkarte, die sie nun schon seit zwei Tagen mit sich herumtrug, und betrachtete sie zum x-ten Mal. Das Motiv stammte aus einem Gemälde der Brecon Beacons – eine Winterlandschaft mit verschneiten Gipfeln und klaren, deutlichen Linien. Doch es war nicht das Bild, das Grace in seinen Bann zog: Es war das, was auf der Rückseite aufgedruckt stand. Der Name.

Einen Moment lang schloss sie die Augen und holte tief Luft. Es hatte keinen Sinn. Der Gedanke würde sie einfach nicht loslassen, viel zu lange schon lag sie nachts wach und quälte sich damit herum. Sie musste ihn einfach mit jemandem teilen, um einen frischen Blick darauf zu bekommen. Sosehr sie sich auch davor scheute, sie würde mit John reden müssen. Grace steckte die Karte zurück in ihren Rucksack und machte sich mit zügigen Schritten auf den Weg den Berg hinauf.

2

Elin

In Cardiff, zwei Autostunden östlich von Dylan’s Quay, stand Grace’ einundfünfzigjährige Enkelin in ihrer Küche und starrte auf eine von Post-its übersäte Frühstückstheke. Jedes pinkfarbene Quadrat trug einen Namen der Gästeliste, die Elin Matthews in der Hand hielt. Momentan beschäftigte sie die Frage, wo sie eine ältliche Cousine und eine sehr gute Freundin der Familie platzieren sollte. »Setz die beiden doch einfach nebeneinander!«, schlug ihr Ehemann Greg entnervt vor, weil ein weiterer Sonntagmorgen für die Planung dieser verdammten Feier draufging. »Ich verstehe nicht, wo das Problem ist!«

»Das Problem, Greg«, erwiderte Elin, in gleichermaßen gereiztem Tonfall, »ist, dass die beiden in ihrer politischen Einstellung Welten trennen. Und das Letzte, was ich am neunzigsten Geburtstag meiner Großmutter gebrauchen kann, ist ein Scharmützel zwischen zwei Greisinnen!«

Das eigentliche Problem hatte natürlich nichts mit dem Sitzplan zu tun. Das eigentliche Problem war, dass die Party eine Überraschung werden sollte. Und der Grund dafür wiederum war, dass Grama Grace kategorisch verkündet hatte, keine verdammte Party zu wollen. »Bloß kein Haufen Theater und Quatsch wegen einer dummen alten Frau wie mir!«, hatte sie gegrummelt.

Elin hatte erwidert, das sei gemein und undankbar. »Die Leute wollen dich feiern, Grama Grace! Nimm ihnen nicht die Gelegenheit, das zu tun!«

»Na, das können sie auch gemütlich von zu Hause aus«, hatte Grace zurückgegeben. Und damit war das Thema erledigt gewesen. Zumindest für Grace.

Doch Elin hatte – wie gewöhnlich – das Gefühl, es besser zu wissen, ihre Großmutter sei einfach nur bescheiden, glaubte sie. »Am Tag selbst wird sie begeistert sein!«, hatte sie verkündet und sich geärgert, als Greg zweifelnd eine Augenbraue hochzog. Den Anflug von Verunsicherung ignorierend, hatte sie sich in die Planung der Party gestürzt. Was ihr große Freude bereitete, denn Organisieren – sprich, etwas unter Kontrolle zu haben – war Elins Lieblingsbeschäftigung. Zugegeben, das Ganze war leichter gesagt als getan. Sich für eine Teeparty am Nachmittag zu entscheiden, war kein Problem. Selbst einen geeigneten Ort zu finden, war einfach – das Brookfield Hotel in Dylan’s Quay am 2. September, Grace’ Geburtstag.

Es war die Gästeliste, die sie vor die größte Herausforderung stellte. Seit sie mit der Planung begonnen hatte, waren bereits drei der potenziellen Gäste verstorben. Nicht überraschend, schließlich hatten die schon die Neunzig weit überschritten. Erschwerend kam hinzu, dass, wann immer Elin dachte, sie hätte die Liste endlich fertig, ihr noch jemand aus der Vergangenheit ihrer Großmutter einfiel, den sie gerne einladen wollte. Und dann waren da noch die Einwohner von Dylan’s Quay, zum Beispiel der Fensterputzer oder der Straßenkehrer: Grace unterhielt sich grundsätzlich mit allen und vermittelte jedem das Gefühl, er sei ihr Freund. Wie sollte Elin da priorisieren?

Es wäre natürlich hilfreich gewesen, hätte sie John um Unterstützung bitten können. Doch John, der im Grunde Elins Stief-Großvater war, hätte sich garantiert verplappert und Grace von dem Plan erzählt: Schließlich gab es zwischen den beiden keine Geheimnisse.

»Was, bitte schön, ist denn ein Scharmützel?«, wollte die sechzehnjährige Beca von ihren Eltern wissen. Sie hing seit dem Frühstück in der Küche herum, dankbar für jede Ablenkung vom Lernen für ihre Geografieabschlussprüfung. Selbst die öden Details, wer beim Geburtstagstee ihrer Urgroßmutter wo sitzen sollte, erschienen ihr immer noch interessanter als die Entstehung von Gletscherlandschaften.

»›Scharmützel‹ ist ein altmodischer Ausdruck für ein kämpferisches Gerangel«, erklärte Greg lächelnd. »Und deine altmodische Mutter ist wie immer übervorsichtig.«

»Bin ich nicht! Ich will nur, dass alle Spaß haben, das ist alles!«

Greg küsste seine Frau auf den Kopf, als er mit Becas leerer Müslischüssel auf dem Weg zur Spülmaschine an ihr vorbeiging. »Das weiß ich doch, Schatz. Aber diese Party vereinnahmt so langsam dein ganzes Leben. Und meines, wenn ich’s mir recht überlege.«

»Und meines«, murmelte Beca.

»Ähm … Entschuldigung, junge Dame!«, sagte Elin in einem Tonfall, den Beca nur zu gut kannte. »Das Einzige, was dein Leben momentan vereinnahmen sollte, ist deine Abschlussprüfung morgen.«

Beca rollte mit den Augen.

Elin wandte ihre Aufmerksamkeit wieder der Sitzordnung zu und seufzte frustriert. Sie war allergisch auf Asymmetrie. Sie mochte es, wenn die Dinge im Gleichgewicht waren, ordentlich und akkurat, und diese beiden einzelnen Gäste machten ihr zu schaffen.

»Setz sie doch einfach irgendwo dazu«, schlug Greg vor. »Am besten an einen Tisch voller dünner Gäste, dann haben sie mehr Ellbogenfreiheit. Ich geh eine Runde joggen.«

»Bitte sei bis zwei zurück. Du musst Beca zum Thema Wasserversorgung und -verbrauch abfragen. Wenn ich das mache, schreit sie nur rum.«

»Ich muss überhaupt nicht abgefragt werden!«, stöhnte Beca prompt, die es hasste, wie ihre Mutter sich in ihre Prüfungsvorbereitung einmischte. Vor allem, weil sie gar nicht wirklich lernte und nicht auffliegen wollte.

»Lass uns keine Zeit mit Streitereien verschwenden, Bec.« Elin versuchte, sich ihre Verärgerung nicht anhören zu lassen. Heute mussten sie um jeden Preis Streit vermeiden. Beca hatte nur noch diese eine Prüfung, und danach konnten sie alle entspannen.

»Bis nachher!«, rief Greg, und die Haustür fiel ins Schloss.

Doch Elin antwortete nicht. Sie war schon wieder tief in ihrer Planung und einer Welt voller Post-its versunken.

3

Grace

Die erhabene Erscheinung von Cadwallader House täuschte über das eher funktionale, klinische Innere, das Altenheime mitunter so an sich haben, hinweg. Das Gebäude thronte hoch über Dylan’s Quay in einem von Tannen umgebenen Gelände und brüstete sich mit zweiunddreißig Zimmern, alle mit Meer- oder Bergblick. Früher war das Haus der Landsitz eines ortsansässigen Wohltäters und Schifffahrtsmagnaten gewesen, der es per Testament der Gemeinde überlassen hatte. Seit zwanzig Jahren war es nun ein gut geführtes, freundliches Seniorenheim. Alle Besucher bestaunten ausnahmslos die riesigen bodentiefen Fenster, durch die man einen Blick auf die Stadt und die Küste von Westwales hatte. Durch sie strömte auch viel Licht in die Zimmer, was der Seele guttat und das nicht ganz so wohltuende, eher praktische Mobiliar wettmachte, ebenso wie die Geländer, Treppenlifte und Sicherheitsgitter – nicht schön, aber notwendig.

Grace besuchte das Cadwallader House seit über drei Jahren regelmäßig und kannte mehr oder weniger jeden der Bewohner persönlich. Zwei von ihnen lagen ihr allerdings ganz besonders am Herzen: ihr geliebter John natürlich und seine jüngere Schwester Cynthia, Cissie genannt. Die drei kannten sich schon ihr ganzes Leben lang, und so viele Jahre hatte Grace gedacht, gemeinsam seien sie unbesiegbar. Was natürlich nicht so war. Die Zeit forderte früher oder später von einem jeden ihren Tribut. Cissie zog als Erste ins Cadwallader House, nachdem ihr Geist so abgedriftet war, dass als einziger Weg nur noch die Vollzeitpflege blieb. Was für eine herzzerreißende Entscheidung das gewesen war! Grace und John hatten noch weitere achtzehn Monate zusammengewohnt, doch Johns Gleichgewichtssinn verschlechterte sich rapide, was immer wieder zu Stürzen führte. Und so beschlossen sie widerwillig, dass auch er ins Cadwallader House ziehen müsse, zu Cissie. Natürlich war es beruhigend für Grace, sie gut versorgt zu wissen, doch der Auszug hatte eine klaffende Lücke in ihrem Zuhause hinterlassen. Die beiden fehlten ihr mehr, als sie je zugeben würde. Das war auch der Grund, weshalb sie im Cadwallader House so regelmäßig ein und aus ging – mindestens einmal am Tag kam sie zu Besuch. Selbst während der Corona-Pandemie bestand Grace’ tägliches Sportprogramm aus einem Spaziergang, hoch zum Cadwallader House, wo sie im Garten stand und den beiden durch ihre jeweiligen Fenster zuwinkte. Als das Leben wieder so etwas Ähnliches wie Normalität annahm und sie das Gebäude wieder betreten durfte, erkundigten sich die Pflegerinnen und Pfleger häufig, wann sie denn ebenfalls einziehen würde. Doch Grace lehnte das Angebot stets mit einem höflichen Lächeln ab. Sie wusste, dass John hin- und hergerissen war: Einerseits fände er es wunderbar, wieder mit ihr unter einem Dach zu wohnen, andererseits bewunderte er die Tatsache, dass sich seine annwyl Grace mit neunundachtzig immer noch ihre Unabhängigkeit bewahrte. Cissie, die Gute, hatte in dieser Angelegenheit keine eigene Meinung. Nicht mehr.

An diesem Nachmittag saß Cissie in ihrem Stuhl am Fenster, sah hinaus und redete mit sich selbst in einer Sprache, die nur sie verstand. Ihr Zimmer wirkte fröhlich. John und Grace hatten ihr Möglichstes getan, es mit Kissen und Decken in kräftigen Farben, mit frischen Blumen und Duftzerstäubern aufzuhellen. Gerahmte Fotos füllten Wände und Regale mit dem Lächeln längst vergangener Zeiten: Momente aus glücklicheren Tagen ihres langen Lebens. Eines dieser Bilder war eine Schwarz-Weiß-Aufnahme von ihrer Hochzeit mit Syd. Da war Cissie gerade mal zwanzig gewesen. Aber inzwischen erkannte sie Syds Gesicht ebenso wenig wie das von Grace oder John.

Heute war sie ganz in Lila, die Pfleger hatten ihr ein hübsches Kleid angezogen, das ihr einmal richtig gut gepasst hatte. Nun aber hüllte es ihre schrumpfende Gestalt in viel zu viel Stoff. An ihren winzigen Füßen trug sie die Wollsocken, die Grace ihr zu Weihnachten gestrickt hatte, und darüber mit Fell gefütterte Hausschuhe. Draußen war Sommer, doch Cissies Körper war für Kälte anfällig, selbst an den heißesten Tagen.

»Sie hat heute eine Maniküre bekommen«, sagte John und zog zwei Stühle heran. »Stimmt’s, meine Schöne?« Seine Schwester lächelte ihn an. Ihr Gesicht war immer noch hübsch, und ihre Augen glänzten, trotz der Krankheit, die in ihrem Kopf Einzug gehalten hatte und sie Tag für Tag weiter von der Welt der anderen entfernte.

»Na, dann lass mal sehen!« Grace bewunderte Cissies lackierte Nägel. »Sehr schick! Da stellst du mich echt in den Schatten!«

»Und sie hat dir was gekauft, hab ich recht, Ciss?«, sagte John und zog ein in rosafarbenes Papier eingeschlagenes Päckchen unter Cissies Stuhl hervor. Er legte es Cissie in den Schoß in der Hoffnung, sie würde verstehen und das Geschenk Grace überreichen. Doch ihr Gehirn konnte die Aufgabe, die er ihr gestellt hatte, nicht verarbeiten. Liebevoll streichelte sie das Päckchen.

»Oh, vielen Dank, cariad«, sagte Grace und spielte mit, indem sie vorsichtig das Geschenk nahm. Cissie sah zu, wie Grace es auspackte, bis zwischen den Lagen dünnen Seidenpapiers ein Kopftuch mit einem Muster aus kupferroten und gelben Quadraten auftauchte. »Wow!«, rief Grace und wickelte sich das Tuch um den Kopf. »Wie Audrey Hepburn, findet ihr nicht?«

Cissie schnaufte vor Freude, ehe sie eine ihrer wenigen zusammenhängenden Äußerungen machte: »Hübsch, hübsch.«

John drückte Grace’ Hand.

Sie blieben über zwei Stunden bei Cissie. Die Pflegerin brachte ihnen Tee und einige Stücke selbst gebackenen Kuchen, und dann legte Grace die CD mit den Klassikern aus den Fünfzigerjahren ein, die Cissie immer zum Lächeln brachte. Es war inzwischen ihr festes Ritual, und es bot sowohl ihr als auch John eine kurze, aber kostbare Auszeit von dem Schmerz, Cissie an diese für sie beide unerreichbare Welt zu verlieren. Ihre Verwandlung, wenn sie mitsang, war eine solche Freude. Schon beim ersten Stück fiel Cissie jedes Mal sofort ein und machte dann weiter, egal ob Elvis Presley oder Frank Sinatra sang. Dabei artikulierte sie die Texte so klar, dass Grace manchmal versucht war zu sagen: Das ist doch alles nur gespielt, oder? Du tust doch nur so?

*

John begleitete sie zur Tür und ein Stück die Auffahrt hinunter, wobei er sehr viel langsamer unterwegs war als Grace und sich auf seinen Gehwagen stützen musste.

»Komm schon, Captain Tom.« Grace war überzeugt, je weniger man Senioren in Watte packte, desto mobiler blieben sie – schließlich war sie selbst das beste Beispiel dafür. »Beca hat morgen ihre letzte Abschlussprüfung.«

»Mensch, die ist aber schnell groß geworden, was?«

»Ja, das ist sie wirklich.« Grace’ Stimme wurde leiser. Sollte sie es ihm erzählen?

Wie immer konnte er ihre Gedanken lesen. »Also gut, komm schon, Grace Meredith. Spuck’s aus.«

»Was denn?«, fragte Grace zurück, wohlwissend, wie sinnlos es war, ahnungslos zu tun. Er sah sie abwartend an. Also holte sie tief Luft, schloss die Augen und erzählte es ihm.

»Ich glaube, ich habe Alys gefunden.«

Ihre Stimme zitterte, und John blieb stumm, während er die Neuigkeit verdaute.

»Sie wohnt in Brecon, John. Achtzig und ein paar zerquetschte Meilen von hier entfernt. Ist das zu fassen? Ich hatte angenommen, dass sie irgendwo im Ausland leben würde, oder, schlimmer noch, vielleicht …«

»Hey, jetzt mal ganz langsam, meine Liebe. Du bist zu schnell für mich.«

Grace holte noch einmal tief Luft, um sich zu sammeln. Dann berichtete sie ruhig, wie sie Anfang der Woche ein kleines Dankeschön von Dolly Hughes bekommen hatte.

»Dolly Hughes?«

»Aus dem Yoga. Die, die Windhunde rettet.«

»Ach ja. Und weiter?«

»Also, ich hatte für sie die Hunde gehütet, als sie ihren grauen Star hat operieren lassen. Deshalb hat sie mir ein Früchtebrot gebacken, um sich zu bedanken, und hat das hier mitgeschickt.«

Grace holte die Brecon-Beacons-Grußkarte aus ihrem Rucksack.

John nahm sie und starrte sie einige Augenblicke lang an. »Jetzt komm ich nicht mehr mit«, sagte er.

»Dreh sie um. Du musst die Rückseite anschauen.«

Er tat wie geheißen. Auf dem schlichten, gedruckten Aufkleber stand: Arcadia Gallery, Brecon. Aus einem Gemälde der ortsansässigen Künstlerin Alys Meredith.

»Das bedeutet überhaupt nichts«, sagte er schließlich und reichte ihr die Karte zurück. »Das könnte irgendwer sein.«

»Aber Alys hat immer gerne Berge gemalt, oder? Und es ist ungewöhnlich, ›Alys‹ so zu schreiben, oder nicht? Auf die walisische Art?«

»Nicht wirklich, meine Beste. Wir sind hier schließlich in Wales.«

»Jedenfalls« – Grace machte eine Pause, aber sie konnte ihm nicht in die Augen sehen – »überlege ich gerade, ob ich mich bei ihr melden soll.«

»Nein.« Das Wort war ausgesprochen, ehe er Zeit gehabt hatte nachzudenken.

Rasch griff er nach ihrer Hand und fügte mit fester, klarer Stimme hinzu: »Was sie dir angetan hat, Grace, und Elin – das war schrecklich.«

»Das ist dreißig Jahre her«, gab Grace zurück. Es lag eine Entschlossenheit in ihrem Tonfall, die er selten gehört hatte. »John, ich bin fast neunzig. Und Alys ist meine Tochter!«

»Die kleine Beca glaubt, die Frau sei tot! Weiß nicht mal, dass sie überhaupt eine Großmutter hat.«

Grace schüttelte den Kopf. »Nun, Elin wollte das so – das musste ich respektieren, oder?«

»Ach, Gracie, Gracie …« Dieses ganze Thema nahm John offensichtlich wesentlich mehr mit, als sie erwartet hatte.

»Hör zu, du hast ja recht«, sagte sie nun, etwas leiser. »Vermutlich ist das gar nicht meine Alys, und selbst wenn doch, wird sie wahrscheinlich gar nicht antworten …«

»Du hast ihr schon geschrieben?«

»Noch nicht«, flüsterte sie.

»Tu’s nicht, Gracie. Tu’s nicht! Warum willst du dir das antun?« Seine übliche Ruhe und Gelassenheit waren verschwunden. In seinen freundlichen Augen glänzten Tränen.

Sie seufzte. Vielleicht hatte er recht.

»Ich nehme mal an, du hast über all das noch nicht mit Elin gesprochen?«, erkundigte er sich vorsichtig.

»Natürlich nicht!« Bei der Vorstellung schlich sich eine Spur Hysterie in ihre Stimme. »Sie würde völlig ausrasten.«

»Nun, es kommt nicht oft vor, dass ich mit deiner Enkelin einer Meinung bin.« Er lächelte. »Aber ich glaube, in diesem Fall hätte sie guten Grund dazu.« Dann zog er sie an sich und gab ihr einen beruhigenden Kuss auf die Wange, während sie seinen seit Jahrzehnten vertrauten Duft nach Brylcreem und Palmolive-Seife einatmete.

»John, ich liebe dich.«

Und John antwortete, wie er es immer tat, auf Walisisch: »Caru ti ’fyd, Grace.«

4

Beca

»BRING MICH NICHT DAZU, ZU DIR HOCHZUKOMMEN …«

Beca schloss eine Wette mit sich selbst ab, was ihre Mutter als Nächstes rufen würde.

»… WIR STARTEN IN FÜNFZEHN MINUTEN

Fast richtig, dachte Beca. Nur mit der Zeit hatte sie falschgelegen, sie hatte fünf Minuten Spielraum erwartet, nicht fünfzehn. Aber das waren gute Nachrichten. Noch ganze zehn Minuten länger im Bett. Beca schloss die Augen und zog sich die Decke über den Kopf. Eigentlich hätte sie aus dem Bett springen sollen, es kaum erwarten können, dass der heutige Tag überstanden war, dass sie die Schule endlich hinter sich hatte. Doch bei der Vorstellung, in einem Raum voller stumm vor sich hin kritzelnder Sechzehnjähriger zu sitzen und ein Blatt mit lauter Fragen anzustarren, die sie sowieso nicht beantworten konnte, wurde Beca Matthews übel. Bis Mittag würde sie ihren neunzehnten Prüfungsbogen abgegeben haben und durch die neunzehnte Prüfung gerasselt sein. Das wusste sie, ohne den Hauch eines Zweifels.

Die Schüler im Jahr über ihr jammerten immer noch über die Tatsache, dass sie ihre Abschlussprüfungen letzten Sommer nicht schreiben konnten wegen des blöden Corona, wie es einige nannten. Weshalb sollte man freiwillig eine Prüfung schreiben wollen? Beca hielt den Jahrgang über ihr für bescheuert. Sie hätte alles dafür gegeben, ihre ganzen Scheißnoten einfach von einem Algorithmus berechnen zu lassen – wobei, wie ihre Mutter ja so gern betonte: »Bei dir, meine liebe Beca, würde das keinen Unterschied machen, denn du gibst dir so oder so keine Mühe!« Sie versuchte, sich an eine Zeit zu erinnern, als ihre Mutter sie auch mal gelobt hatte, statt immer nur zu schimpfen. Hin und wieder war das durchaus vorgekommen, die Frau war schließlich kein Monster. Es war nur so, dass Anerkennung nicht zu ihrer Grundeinstellung passte.

Als Beca beim Klavierspielen die erste Stufe geschafft hatte, war ihre Mutter definitiv stolz gewesen. Und bei der zweiten, dritten und vierten auch. Als sie bei der fünften eine Auszeichnung erhielt, hatte sie sogar geweint. Geweint! Die Freude währte natürlich nicht lange, denn als die dazugehörige Theorieprüfung kam, war Beca mit Pauken und Trompeten durchgerasselt. Da hatte ihre Mutter mal wieder diesen schrecklichen, enttäuschten Seufzer ausgestoßen, den sie so gut beherrschte. »Aber so was liegt mir einfach nicht«, hatte sich Beca jammernd verteidigt. »Musiktheorie ist genauso schlimm wie Mathe!« Ein großer Fehler, denn daraufhin hatte ihre Mutter lediglich dieselbe alte Platte aufgelegt wie immer. Du bist nicht gut in Mathe, weil du dich weigerst zuzuhören!

Das stimmte nicht. Sie kam mit dem Unterricht einfach nicht klar. Sie konnte die Logik nicht nachvollziehen. Ihre Mutter hatte sie im Lauf der Jahre zu allen möglichen Spezialisten und Psychologen geschleppt, um die Wurzel des Übels zu finden. War es ADHS? Eine Depression? Dyslexie? Asperger? Als würde eine Diagnose irgendwie Elins Frust mildern. Als würde ein Stempel, der das Versagen ihrer Tochter auf so ziemlich jedem Gebiet erklärte, ihnen auch gleich den Schlüssel liefern, um das Problem zu lösen.

»Vielleicht hat sie gar kein Problem«, hatte ihr Vater einmal während einer der vielen elterlichen Unterhaltungen im Flüsterton zu äußern gewagt, von denen sie glaubten, Beca würde sie nicht hören. »Vielleicht ist sie einfach …«

»Wage es ja nicht, das auch nur zu denken, Greg!«, hatte ihre Mutter ihn angefahren.

»Was denn?«

»Unsere Tochter ist nicht … dumm.« Sie hatte das letzte Wort ausgespuckt, als handelte es sich um Psychopathin oder Mörderin.

»Ich wollte künstlerisch veranlagt sagen«, murmelte er daraufhin.

Doch ihre Mutter hatte gar nicht richtig zugehört. »Sie war ja bei den ganzen verdammten Tests! Sie ist weder autistisch noch sonst was!«

»Elin, jetzt beruhig dich mal. Ich habe gesagt, künstlerisch veranlagt, verdammt noch mal.«

Dann war ein Streit entbrannt, in dem ihr Dad zur Verteidigung seiner Tochter vorgebracht hatte, dass sie wunderschöne Bilder malte, Klavier spielen konnte und zeichnen auch. Dann konnte sie eben keine quadratische Gleichung lösen oder beantworten, wer Winston Churchill war, ja und?! Sie war Künstlerin!

In diesem Moment hatte Beca ihren Vater dafür geliebt, auch wenn seine Einschätzung nicht stimmte. Ja, sie war nicht schlecht in Kunst, aber van Gogh war sie ganz sicher auch nicht.

»Mein Gott, Beca, du bist ja noch nicht mal angezogen!«, kreischte ihre Mutter, als sie in Becas Halbschlaftraum platzte und mit einem Ruck die Jalousien hochzog. »Du bringst mich zur Verzweiflung, echt. Und jetzt KOMM ENDLICH

Als Elin ihr die Bettdecke wegzog, wie an fast jedem Morgen, kreischte Beca zurück: »Das ist Misshandlung! Das ist eine Verletzung meiner Menschenrechte!«

»Schuluniform! Sofort!« Elin hob den dunkelblauen Rock und das Poloshirt auf, die seit gestern auf dem Fußboden lagen, und warf sie ihr zu. »Ich werde dieses Zimmer erst wieder verlassen, wenn du das angezogen hast.«

»Du bist doch total verrückt.«

»Du kannst mich nennen, wie du willst, Beca Matthews. Du hast die Verantwortung, diese Prüfungen zu beenden, und das wirst du auch tun!«

Zehn Minuten später waren sie in Elins Škoda auf dem Weg zur St. Stephen’s Highschool. Sie unternahmen diese Fahrt zur Schule seit fünf Jahren gemeinsam. Keinen einzigen Schultag hatte Becca verpasst – ihre Anwesenheit war lückenlos. Was aber nicht im Geringsten mit irgendeinem Pflichtbewusstsein ihrerseits zu tun hatte, sondern ausschließlich mit der Entschlossenheit ihrer Mutter. »Wir müssen mit gutem Beispiel vorangehen«, hatte sie stets gesagt, immer mit einem entschuldigenden Lächeln, das Beca nahelegte, die Dinge doch auch mal aus der Perspektive ihrer Mutter zu sehen und mit ihr an einem Strang zu ziehen.

Denn Becas Mutter war Mrs. Elin Matthews.

Und Mrs. Elin Matthews war die Rektorin der St. Stephen’s Highschool.

*

Die Tochter der Schulleiterin zu sein brachte seine ganz eigenen Nachteile mit sich. Niemand wagte es, mit der Tochter der Schulleiterin über jemanden zu lästern oder ein Geheimnis zu teilen, aus Angst, verpetzt zu werden. Und niemand wagte es, die Tochter der Schulleiterin zu Hause zu besuchen, weil es auch das Haus der Schulleiterin war. Deshalb war es die beste und sicherste Strategie, die Tochter der Schulleiterin komplett zu meiden. Inzwischen hatte sich Beca daran gewöhnt. Dieser freundschaftslose Zustand begleitete sie durch ihre ganze Highschool-Zeit hindurch. Man konnte nicht sagen, dass irgendjemand gemein zu ihr wäre – das war der Vorteil an ihrer Stellung –, doch die anderen behandelten sie mit einer Art distanziertem Respekt. Sie wurde wahrgenommen, aber nie mit einbezogen. Angelächelt, aber beim Lachen nie dabei. So war es einfach.

Zur Wahrheit gehörte allerdings auch, dass Beca eigentlich ganz gern allein war. Nicht dass sie die anderen Mädchen an der Schule nicht leiden konnte oder die Jungs. Sie fand sie nur alle ein bisschen … eintönig. Sie zogen sich gleich an, mochten die gleiche Musik, hatten keine wirkliche Meinung – zumindest keine, die aufregend oder unkonventionell war. Darum hatte sie nicht wirklich das Gefühl, etwas zu verpassen. Beca wusste, dass sie anders war. Aber warum war anders schlecht? Allein kriegte sie so viel mehr geschafft: Allein konnte Beca sich in die Welt eines Buches vertiefen. Oder das E-Piano in ihrem Zimmer spielen. Stundenlang, mit Kopfhörern, ohne dass ihre Eltern je hörten, was sie spielte, aber immer davon ausgingen, es sei Klassik. Denn auf dem Notenhalter standen Werke von Komponisten, die ihre Mutter bekanntermaßen liebte: Mahler, Mozart und Brahms. Und falls ihre Mutter oder ihr Vater zufällig an der Zimmertür vorbeikamen oder heimlich hineinspähten, sahen und hörten sie ja nur die samtigen Anschläge der Tasten, während Beca sich mit Fingerfertigkeit und Geschwindigkeit durch Dur, Moll und Arpeggios arbeitete. Und sie beglückwünschten sich dazu, dass ihre Tochter eine solch versierte klassische Pianistin war. Doch was Beca wirklich spielte, war alles andere als Klassik: Was Beca wirklich spielte, war komplett improvisiert, während sie sich in den Noten und Tonartwechseln verlor. Die Augen geschlossen, ließ sie sich von der Musik in eine Welt transportieren, die nur sie kannte, wo sie alles Zeitgefühl verlor und erst aufhörte, wenn ihre Mutter ihr sanft auf die Schulter tippte, um sich zu erkundigen, was sie zum Abendessen haben wollte. Das weckte sie aus ihrem trance-ähnlichen Zustand und holte sie zurück in die langweilige Gegenwart ihres Lebens.

»Bist du sicher, dass ich dich nicht an der Aula absetzen soll?«, fragte Elin vorsichtig.

»Nein, passt schon.« Beca stieg aus dem Auto. »Tschüss, Mum.«

Die einzige Bedingung, die Beca ihrer Mutter im Gegenzug für den gemeinsamen Schulweg gestellt hatte, war, zwei Straßen entfernt abgesetzt zu werden. Die Vorstellung, jemand könnte sie dabei beobachten, wie sie aus dem Auto der Schulleiterin stieg, ließ sie bis zu den Haarwurzeln erröten. »Was für einen Unterschied macht das denn?«, hatte Elin wissen wollen. »Es weiß doch jeder, dass du meine Tochter bist!« Doch hätte ihre Mutter sich dieser Forderung verweigert, wäre Beca gar nicht erst ins Auto gestiegen.

Als sie gerade die Beifahrertür schließen wollte, hielt Elin sie auf. »Becs?«

»Was denn?« Beca wusste genau, was jetzt kam, und sie beobachtete, wie ihre Mutter mit ihren Gefühlen kämpfte.

»Ich bin, weißt du …«

Beca sah sich um, ob auch niemand Zeuge wurde. Sie konnte es nicht erwarten, möglichst schnell vom Auto ihrer Mutter wegzukommen. »Mum, ich muss los«, nuschelte sie und schlug die Autotür zu.

»Viel Glück! Gib alles!«, rief Elin.

Beca schluckte mühsam. Ihr war lieber, wenn ihre Mutter sauer auf sie war oder enttäuscht von ihr. Es war viel einfacher, mit einer wütenden Mutter umzugehen als mit einer traurigen. Sie wusste, dass Elin es gut meinte und sich dafür schalt, als Elternteil versagt zu haben, mehr, als sie je zugab. Als Beca in Richtung Schule ging, drehte sie sich nicht um, aus Angst, das Gesicht ihrer Mutter zu sehen, verloren und beklommen. Beim Vorbeifahren hupte Elin kurz, und Beca hob die Hand zu einem halbherzigen Winken.

Als sie das Haupttor erreichte, betrachtete Beca die altersmüden Gebäude, die Schüler in ihren identischen Uniformen, die in alle Richtungen wuselten wie tausend emsige Ameisen, hierhin und dorthin, voller Lärm und Hormone und Energie. Und sie fühlte sich befreit. Denn nun hatte sie einen Meilenstein erreicht, auch wenn das in diesem Moment noch ihr Geheimnis war: Das hier war das letzte Mal, dass sie durch dieses Tor schritt. Sie hatte keinen Plan, was sie nach heute tun oder wohin sie gehen würde. Das Einzige, was sie mit Sicherheit wusste, war, sie würde im September nicht hierher zurückkehren. Oder überhaupt jemals wieder. Sie musste nur noch einen Weg finden, dies ihrer ausbildungsbesessenen Mutter klarzumachen. Denn welchen Schritt Beca auch immer tat, er würde bei Elin garantiert nicht auf Zustimmung stoßen.

5

Elin

Als sie an diesem Abend nach Hause kam, erwartete Elin eigentlich gar nicht, dass jemand daheim war. Dennoch rief sie erst nach Greg, dann nach Beca, doch die Antwort war nur Stille. Sie hatte Beca vorhin angerufen, um zu fragen, wie die Geografieprüfung gelaufen war. Und wie immer war aus ihrer verschlossenen, einsilbigen Tochter nichts weiter herauszukriegen gewesen als ein ganz okay, ehe sie sich mit der Begründung, der Empfang sei schlecht, verabschiedet hatte. Es wäre schön gewesen, heute Abend mit Beca zu feiern – das Ende mehrerer für sie beide stressiger Monate, im Grunde das Ende eines Kapitels. Im September ging es natürlich mit der Oberstufe weiter, Becas Schulzeit war noch nicht vorbei. Doch den mittleren Schulabschluss geschafft zu haben war ein Meilenstein im jungen Leben ihrer Tochter.

Elin schlüpfte aus ihren hohen Schuhen, rieb sich die schmerzenden Füße und schimpfte mit sich selbst, dass sie keine bequemen Halbschuhe trug. Aber Pumps entsprachen nun mal so viel mehr dem Bild einer Rektorin. Auf dem Weg in die Küche nahm sie die Post mit – das meiste ein Haufen Werbemüll, den sie direkt ins Altpapier warf. Sie seufzte. Was für eine unnötige Papierverschwendung! Doch mitten im Stapel befand sich auch ein schmaler Karton mit dem Logo Party Time Printers. Die Einladungskarten für Grama Grace’ neunzigsten Geburtstag waren da! Wie schön! Elin freute sich schon darauf, sie gleich in Ruhe anzuschauen. Außerdem war ein Paket für Greg gekommen. Sie schüttelte es kurz und lächelte nachsichtig. Noch mehr seiner geliebten Nahrungsergänzungsmittel. Der arme Kerl war besessen davon, gegen das Altern zu kämpfen und irgendwie die Zeit aufzuhalten.

Kurz blickte sie in den Spiegel an der Wand und unterzog sich einer schnellen Prüfung: Sie sah immer noch gut aus für ihr Alter, alle Achtung. Die Strähnchen in ihren schulterlangen kastanienbraunen Haaren ließen diese noch mehr leuchten, und ihr Teint war frisch und ebenmäßig. Sogar nach einem harten Arbeitstag. Elin war mit vollen Lippen und strahlenden Augen gesegnet, und auch wenn das Alter sie bei der Verteilung von Krähenfüßen nicht vergessen hatte, fand sie das nicht weiter schlimm. Es war schließlich nur natürlich. Sie war stolz darauf, nie Botox oder Filler gespritzt zu haben – Gott bewahre, damit würde sie gar nicht erst anfangen.

Sie öffnete die Türen zur Terrasse, um die warme Juniluft hereinzulassen, schloss die Augen und atmete tief durch. Heute Abend konnte sie sich erlauben, ein bisschen zu entspannen, und sich ohne schlechtes Gewissen einen Gin Tonic genehmigen. Gin war bei ihr eine seltene Ausnahme, denn Elin glaubte, dass man sich Vergnügen, wie alles im Leben, verdienen musste. Sie maß ein Schnapsglas voll ab und goss es über Eis und Zitrone in ein blitzsauberes Kristallglas, das sie dann mit Tonicwater auffüllte. Greg verstand nie, weshalb sie den Gin abmessen musste. »Schätz die Menge doch einfach! Schütte das verdammte Zeug rein!«, sagte er immer. Doch Elin wusste aus bitterer Erfahrung, dass man Alkohol mit Respekt begegnen musste.

Draußen auf der Terrasse ließ sich Elin in den ausladenden Gartenstuhl fallen, legte die Füße hoch und wandte ihr Gesicht der Abendsonne zu, die immer noch recht hoch am Himmel stand – schließlich war Mittsommer. »Iechyd da«, prostete sie sich selbst zu, ehe sie einen kleinen Schluck von dem frischen, würzigen Drink nahm, der ein willkommenes Kribbeln in ihre Fingerspitzen schickte. Dann schlitzte sie mit einem kleinen Küchenmesser das Päckchen in ihrem Schoß auf und holte vorsichtig den Inhalt heraus: ein sauber verpackter Stoß aus sechzig Einladungskarten. Auf roséfarbenem, festem Papier gedruckt und von Efeu eingerahmt stand da geschrieben:

Herzliche Einladung zu

Grace Merediths

ÜBERRASCHUNGS-Party

zu ihrem 90. Geburtstag

am 2. September 2022, um 14 Uhr

im Brookfield Hotel, in Dylan’s Quay

Achtung: Es soll eine ÜBERRASCHUNG sein!

Grace darf nichts davon erfahren!

uAwg: ueberraschungsparty@widenet.com

oder

23 Elm Tree Avenue, Lakeside, Cardiff CF23 3SX

Und nicht vergessen: NICHTS VERRATEN!

Hatte sie es mit dem Wort »Überraschung« etwas übertrieben? Jetzt, mit etwas zeitlicher Distanz betrachtet, klang die Einladung ein bisschen … nun ja, verkrampft. Das würde Greg sicher nicht unkommentiert lassen. Doch sie kam lieber als herrschsüchtige Enkelin rüber, als das ganze Unterfangen zu gefährden. Elin legte die Einladungen sorgfältig zurück in die Schachtel. Morgen würde sie sie verschicken. Mit einem Gefühl des Stolzes lehnte sie sich zurück, atmete tief durch und entspannte sich.

Doch ihre Ruhe wurde bald von zwei männlichen Stimmen aus dem Garten nebenan gestört. Das Haus stand schon fast ein Jahr leer, seit die alte Mrs. Latham gestorben war, und Elin hatte sich daran gewöhnt, dass niemand dort wohnte. Offenbar hatte nun jemand das Haus gekauft. Sie stand auf und ging zur Trennmauer hinüber. »Hallo?«, rief sie zaghaft. Die Stimmen verstummten.

»Ja?«, ertönte die ungeduldige Antwort.

Elin konnte durch das dichte Gebüsch nicht viel erkennen außer zwei Gestalten auf der anderen Seite der Mauer: Ein Mann asiatischer Herkunft mit ergrauenden Schläfen und kleinem, getrimmtem Bart, ungefähr so alt wie sie, stand einem jungen Typen, vielleicht Mitte dreißig, mit langen blonden Locken gegenüber. Der jüngere der beiden trug ein ärmelloses T-Shirt, das schamlos seinen Bizeps zur Schau stellte. Der zweifellos viel zum Einsatz kam, gemessen an der schweren Heckenschere, die er in der Hand hielt.

»Hallo, ich heiße Elin«, sagte sie. »Willkommen in der Nachbarschaft! Tut mir leid, ich kann Sie nicht wirklich sehen …«

»Mein Name ist Sunil Chakrabarti«, erwiderte der ältere Mann höflich, aber sehr förmlich. »Ich treffe nur Vorbereitungen. Wir werden uns erst in absehbarer Zeit hier niederlassen.«

»Oh.« Elin war etwas irritiert von der Tatsache, dass sie nicht wirklich erkennen konnte, mit wem sie sprach. »Und wann ziehen Sie dann ein?«

»Es steht mir leider nicht frei, das zu sagen. Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt wirklich weitermachen. Die Zeit arbeitet gegen uns.« Und mit diesen Worten nahm er sein Gespräch mit Mr. Bizeps wieder auf, der ihr als Entschuldigung freundlich zuzunicken schien, wobei das durchs Gebüsch hindurch schwer feststellbar war.

Elin ging zurück zum Haus. Wie spannend! Greg würde sicher mehr herausfinden. Er war ein wesentlich besserer Detektiv als sie und auch viel geübter in gesellschaftlichen Dingen. Bestimmt war Mr. Chakrabarti, ehe sie sichs versah, ein neuer Freund der Familie.

Ihr Handy vibrierte.

Hab im Studio nochn Platz erwischt. Bis 8 oder so?

Elin wünschte, Greg würde richtige Sätze schreiben. Seine Nachrichten wirkten in letzter Zeit so … pubertär. Der Mann war schließlich zweiundfünfzig. Sie wollte gerade antworten, als eine neue Nachricht in der WhatsApp-Gruppe ihres Lesezirkels reinkam.

Nicht vergessen, Ladys – unser Treffen wurde von nächster Woche auf heute verschoben. Bis später, ihr Bücherwürmer, Joan x

Oh Gott, das hatte sie tatsächlich vergessen! Mist.

Ihr erster Gedanke war, einfach nicht hinzugehen. Sie hatte es sich doch gerade erst gemütlich gemacht, und weil sie schon von ihrem Gin getrunken hatte, konnte sie nicht mehr fahren, also müsste sie zu Fuß gehen. Sie schrieb Greg:

Hab den Lesezirkel vergessen! Tut mir leid! Hol mich doch um 10 Uhr bei Joan ab, wenn du kannst. Danke.

Okay. Sie sollte sich umziehen. Und die Notizen holen, die sie sich zum aktuellen Buch gemacht hatte. Es hieß Killer in Blau – ein Jack-Danfield-Thriller über einen mordenden amerikanischen Polizisten. Nicht gerade das beste Buch, das Elin je gelesen hatte, wenn sie ehrlich war. Extrem vorhersehbar und wenig originell. Seltsamerweise schon wieder Joans Wahl für diesen Monat, aber Elin wollte sich nicht beschweren: Die Frauen im Lesezirkel waren nett, und sie fühlte sich geehrt, dass man sie dazu eingeladen hatte. Wobei es sie frustrierte, dass die Teilnehmerinnen sich hauptsächlich dafür interessierten, Brownies zu futtern, Prosecco zu trinken und über die Rollenbesetzung einer eventuellen Verfilmung des jeweiligen Buchs zu fantasieren. Morgan Freeman und Colin Firth schienen für jeden Roman in der engeren Auswahl zu stehen, wobei auch Benedict Cumberbatch in letzter Zeit oft vorgeschlagen wurde. Warum können wir uns nicht einfach über das verdammte Buch unterhalten?, dachte Elin dann immer, doch da kämpfte sie auf verlorenem Posten.

Oben im Flur hörte Elin ein vertrautes Geräusch – den leisen, dumpfen Aufschlag von Fingern auf einer stummen Tastatur. Ah, dann war Beca also doch zu Hause. Aus Höflichkeit klopfte sie an der nur angelehnten Tür, wobei Beca sie vermutlich sowieso nicht hören konnte, wie sie da mit Kopfhörern über ihr Klavier gebeugt hing, ganz versunken in ihre eigene Welt. Elin wollte Beca nicht erschrecken und auch den friedlichen Moment nicht stören, den ihre Tochter offensichtlich gerade genoss, doch als sie sich zum Gehen wandte, hörte das samtige Klappern plötzlich auf.

»Alles klar?«, fragte Beca, die die Anwesenheit ihrer Mutter offenbar gespürt hatte und ihre Kopfhörer abzog.

»Na, ich wette, da ist jemand so richtig glücklich!«, sagte Elin lächelnd und versuchte, fröhlich zu klingen.

»Sicher«, murmelte Beca, die dabei aber überhaupt nicht glücklich wirkte.

»Jetzt hast du erst mal Pause, bevor du anfangen musst, dir Gedanken über die Abitur-Prüfungen zu machen. Ich hab mich gefragt, ob du vielleicht …«

»Mum, hör auf! Echt, lass gut sein …« Beca wirkte irgendwie verloren. »Du bist immer gleich schon beim Nächsten. Du stehst nie still.«

Elin nickte. »Tut mir leid. Du hast recht. Lass uns genießen, was du heute erreicht hast.« Es folgte eine unbehagliche Stille. »Ich muss heute Abend zum Lesezirkel, sonst hätten wir feiern können. Hast du denn irgendwelche Pläne?« Sie bereute die Frage, sobald sie ausgesprochen war. Natürlich hatte Beca keine Pläne. Sie hatte keine Freunde.

»Nö. Ich FaceTime nachher Grama Grace und dann hol ich mir vielleicht ’ne Pizza.«

Elin suchte in ihrer Handtasche nach Geld. »Ah, da ist es – bitte schön, geht auf mich.« Sie reichte Beca einen Zwanzig-Pfund-Schein.

»Danke.«

»Und vergiss nicht, wenn du mit Grama Grace sprichst, sag nichts von …«

»Sag nichts von der tollen Party! Ja, Mum, ich weiß, du brauchst es nicht ständig zu wiederholen.«

Elin lächelte etwas verlegen, weil sie sich ihres Kontrollzwangs bewusst war. Wieder breitete sich unbeholfenes Schweigen zwischen den beiden aus, ehe Beca ihren Kopfhörer wieder aufsetzte und sich zum Klavier zurückdrehte. Wieder einmal hatte die unsichtbare Mauer aus all dem Unausgesprochenen Elin besiegt, und sie erreichte ihr kleines Mädchen nicht, wie so oft. Ein Schluchzen unterdrückend, suchte sie Zuflucht in ihrem Badezimmer und drehte die Dusche auf.

6

Beca

Becas übliche Pizza-Bude hatte wegen eines familiären Trauerfalls geschlossen, sie würde also einen neuen Imbiss ausprobieren müssen. Nachdem ihre Mutter zu ihrem Buchclub aufgebrochen war, hatte sich Beca aufgerafft und war die zehn Minuten zu Bellamy’s Italian Place spaziert. Der Name war ziemlich vollmundig für das, was geboten war: ein günstiger Schnellimbiss, der ein Vermögen damit verdiente, überteuerte Stücke Pepperoni-Deluxe-Pizza an hungrige Teenager zu verkaufen. Zwei Jungs, die sie aus der Schule kannte, warteten vor ihr in der Schlange. Sie ignorierten Beca natürlich, denn sie waren viel zu sehr mit ihrem eigenen Kram beschäftigt, um irgendjemanden auch nur wahrzunehmen, und außerdem waren sie bester Laune, vermutlich von Wodka oder anderen Substanzen beflügelt. Die beiden alberten nur herum, waren dabei aber so laut und auffällig, dass die junge Frau hinter der Theke sie böse anfunkelte. »Ruhe dahinten!«, rief sie, »sonst fliegt ihr in hohem Bogen raus!«

Beca biss sich auf die Lippe, um nicht zu grinsen. Der Verkäuferin war deutlich anzuhören, dass sie aus Cardiff stammte. Während sie die Bestellung der beiden Jungs einpackte, wandte sie sich mit etwa so viel Herzlichkeit wie eine kalte Schüssel Haferbrei an Beca, um zu fragen, was sie wolle. »Und bestell keine Schnitte, denn die sind aus. Entweder ganze Pizza oder zieh Leine.«

»Eine Slim Jim mit extra Chilis«, sagte Beca schnell und fügte ein ängstliches »Bitte« hinzu.

Die junge Frau nickte, und Ruhe kehrte ein.

Beca versuchte zu entziffern, was auf ihrem Namensschildchen stand: Soozi. Was für eine coole Schreibweise für einen eher langweiligen Namen, dachte sie. Aber um ehrlich zu sein, wirkte »Soozi« ansonsten auch ziemlich cool. Ebenmäßige dunkle Haut, gebleichte Zöpfe, die sie hochgesteckt hatte, und an den Seiten waren ihre Haare dunkel und kurz abrasiert. Sie trug kein Make-up, aber eine Reihe Stecker zierte ihr rechtes Ohr und das linke Nasenloch ein dünner Silberring. Bestimmt hat sie auch ein Piercing in der Zunge, dachte Beca. Soozi trug Hygienehandschuhe, doch durch das weiße Latexmaterial konnte Beca sehen, dass ihre Fingernägel leuchtend orange lackiert waren.

»Mach ’n Foto, das hält länger!«, bellte Soozi, als sie Becas Blick bemerkte. Dann wandte sie sich wieder ihrem Teig zu.

Beca wurde rot, weil sie ertappt worden war, aber sie schaute fasziniert zu, wie Soozi den weißen mehligen Ball hin und her warf und dabei seine Form veränderte, sodass innerhalb von Sekunden ein runder dünner Teigfladen entstand. Mit geübtem Schwung donnerte sie ihn auf die Arbeitsfläche, klatschte einen Löffel Tomatensauce in die Mitte, den sie gleichmäßig bis an den Rand verstrich. Dann griff sie eine Handvoll geriebenen Mozzarella und ließ ihn von weit oben auf die Pizza regnen, ehe sie Schinkenstücke, Kräuter und Chili darauf verteilte. Der ganze Ablauf wirkte wie ein sorgfältig einstudierter Tanz. Zuletzt schaufelte sie mit einer raschen Bewegung die rohe Pizza mit ihrem Schieber auf, schubste sie in den Ofen und verschloss die Tür. »Macht fünf fünfundsiebzig«, seufzte Soozi, zog die Latexhandschuhe aus und streckte die Hand nach dem Geld aus. Beca reichte ihr die zwanzig Pfund, woraufhin Soozi ihr vierzehn Pfund Wechselgeld gab und die restlichen fünfundwanzig Pence in ein Glas auf der Theke warf. »Danke schön«, sagte sie. Beca runzelte die Stirn, war aber zu schüchtern, um sich über das erzwungene Trinkgeld zu beschweren. »Bin schließlich am Sparen, nich wahr?«, fügte Soozi als Erklärung hinzu. »Für meine Tour.«

»Backpacking?«

»Gigs«, antwortete sie. »Ich bin Sängerin.«

»Oh. Verstehe.«

Und das war das Ende ihrer Unterhaltung. Schweigend warteten sie, während die Pizza im Ofen vor sich hin backte. Soozi wischte die Oberflächen ab, dann faltete sie innerhalb von Sekunden eine Take-away-Schachtel zusammen. Sie muss schon eine ganze Weile hier arbeiten, dachte Beca.

Als der Ofen schließlich piepste, zog Soozi die brutzelnd heiße Pizza heraus, teilte sie in sechs Stücke und schob sie in die Schachtel. »Guten Appetit«, sagte sie. »Ach, und tu mir ’nen Gefallen, dreh das Schild auf Geschlossen, wenn du rausgehst. Ich mach ’ne Zigarettenpause.«

Völlig unvermittelt platzte es aus Beca heraus: »Warum rauchst du, wenn du singst?«

Soozi, die schon halb im Raum hinten verschwunden war, blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich um. »Was haste gesagt?«

»Macht die Stimmbänder kaputt. Und die Atmung.«

Beca erntete einen bitterbösen Blick. Doch sie wich nicht aus. »Da kannst du mir nicht widersprechen, oder?«, forderte sie Soozi heraus, deren Miene plötzlich freundlich wurde. Sie lächelte.

»Nee, tu ich nicht«, sagte sie. »Und jetzt verzieh dich, und mach die Tür hinter dir zu.«

Zu Hause angekommen, setzte Beca sich aufs Bett, das Handy in der Hand, die Pizzaschachtel auf dem Schoß, und rief per FaceTime ihre Grama Grace an. Sie fand es toll, so eine moderne Urgroßmutter zu haben, die vor Technik keine Angst hatte. Seit zwei Jahren telefonierten sie auf diese Weise jeden Freitag miteinander.

»Und, wie war’s?«, erkundigte sich Grace und nippte an ihrem Teebecher.

»Totale Katastrophe«, antwortete Beca und war froh, nicht das übliche tröstend gemeinte Blabla zu ernten. Kein Wird schon nicht so schlimm sein, wie du denkst oder Du wirst uns noch alle überraschen, wart’s ab. Stattdessen sagte Grace: »Nun ja, das hast du ja schon so erwartet, oder, mein Schatz? Und wenigstens musst du jetzt nie wieder irgendein blödes Geografiebuch aufschlagen.«

»Stimmt«, antwortete Beca.

Grama Grace redete nicht gern um den heißen Brei herum. Und genau aus diesem Grund hielt Beca Elins Überraschungsparty auch für einen großen Fehler. Grace hatte nichts übrig für Schnickschnack, und wenn sie sagte, dass sie etwas nicht wollte, dann meinte sie das auch so. Beca fürchtete, ihre Urgroßmutter könnte stinksauer sein, dass Elin ihre Wünsche missachtete. Sollte sie Grama Grace vorwarnen? Nur damit der Schock nicht allzu groß sein würde? Damit sie sich darauf vorbereiten konnte? Doch was, wenn Grama Grace total ausflippte und anfing, Elin zu beschimpfen? Elin würde Beca nie verzeihen, das Ganze vermasselt zu haben. Natürlich bestand auch die Gefahr, dass sonst irgendjemand die Katze bereits aus dem Sack gelassen hatte. Vielleicht jemand aus Dylan’s Quay. Denn irgendwie war Grama Grace heute Abend anders als sonst. Sie wirkte abwesend.

Beca beschloss, das Risiko einzugehen und das Thema vorsichtig anzusprechen, ohne das Wort Feier zu benutzen. »Wie geht’s dir denn mit der Aussicht, neunzig zu werden?«, fragte sie beiläufig und vermied dabei bewusst jeglichen Blickkontakt, um sich nicht zu verraten. Grama Grace hatte nämlich eine extrem gute Beobachtungsgabe, selbst durch eine Wolke von Pixeln hindurch. Ein Faden aus geschmolzenem Pizzakäse fiel zurück in die Schachtel, als Beca versuchte, ihn mit dem Mund aufzufangen.

»Hab nicht viel drüber nachgedacht, Liebes. Sind ja noch mehr als zwei Monate bis dahin.«

Beca forderte ihr Glück noch etwas mehr heraus. »Vielleicht könnten wir dich ja zum Mittagessen ausführen oder so? Du könntest nach Cardiff kommen, oder …«

Doch Grace unterbrach sie. »Was weißt du eigentlich über deine Großmutter, cariad? Über Alys.«

Das kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel.

»Ähm … nicht viel.« Becas Mund brannte von den Chilis auf der Pizza. Sie verschwendete eigentlich nie einen Gedanken an die Mutter ihrer Mutter. Die war gestorben, als Elin noch jünger war, so viel wusste sie, und Becas Dad hatte mal gesagt, sie sei ein ziemlicher Hippie gewesen. Wobei Beca keine Ahnung hatte, woher er das wissen wollte, da er der Frau ja nie begegnet war.

Grace lächelte betrübt. »Erwähnt deine Mutter sie manchmal?«

»Nein … aber du ja auch nicht.«

»Nur weil es mich traurig macht.«

Beca bekam ein schlechtes Gewissen. Sie hatte so oft gehört, dass Teenager gar nicht wirklich wahrnahmen, was um sie herum geschah. Vielleicht stimmte das ja. Sie hatte nie eine Großmutter gehabt, deshalb vermisste sie es auch nicht. Außerdem erfüllte schließlich Grama Grace diese Rolle, oder etwa nicht?

»Für Mum bist eher du ihre Mum, oder? Und das hab ich einfach so übernommen. Aber wie kommt’s, dass du plötzlich nach Alys fragst?«

Grace seufzte und setzte zu einer Antwort an, doch dann hielt sie inne. »Ach, nichts.« Lächelnd änderte sie ihre Tonlage. »Hat wahrscheinlich doch mit diesem Geburtstag zu tun, der da naht. Du hast recht, Liebes. Vielleicht sollten wir irgendwohin zum Mittagessen gehen. Irgendwas Einfaches. Hauptsache kein Theater!«

Oh Gott, dachte Beca, die Elins Sitzordnung aus rosafarbenen Post-its vor sich sah, du wirst komplett durchdrehen, Grama Grace.

7

Grace

Grace war prinzipiell nicht anfällig für schlechte Laune oder Ängste. Sie schrieb das vor allem den Vorzügen eines aktiven Lebensstils zu, der Energie, die sie aus dem Schwimmen im offenen Meer zog, und einer natürlichen Resilienz, die sie im Zuge all dessen entwickelt hatte, womit das Leben sie im Lauf der Jahre konfrontiert hatte. Aber heute Abend … Ach, heute Abend war anders. Nach dem Gespräch mit Beca hatte sie sich schlechter gefühlt als je zuvor und sich selbst einen Abendspaziergang verordnet. Dabei hatte sie bei Neeta im Café vorbeigeschaut, die nach einem erfüllten Arbeitstag gerade mit Aufräumen beschäftigt war. Wie immer versuchte die einundsechzigjährige Neeta, Grace mit etwas Selbstgebackenem zu verwöhnen, indem sie ihr ein großes Stück Karottenkuchen und eine Tasse heiße Schokolade hinstellte.

»Hast du schon mal von Diabetes gehört?«, erkundigte sich Grace mit entgeistertem Blick auf die üppige Portion.

»Ach, so ein Quatsch«, erwiderte ihre Freundin. »Du wirst uns noch alle überleben. Und außerdem hab ich den selbst gebacken – also sei nicht unhöflich.«

Neeta war mit Grace befreundet, seit sie 2010 das Café eröffnet hatte, und die beiden gingen völlig entspannt miteinander um. Neeta liebte es zu reden. Normalerweise machte das Grace nichts aus, denn auch sie unterhielt sich gern über Gott und die Welt, doch heute Abend schien sie nichts von dem zu hören, was Neeta sagte.

Nachdem sie das Café verlassen hatte, wanderte sie hinunter zum Pier und blickte aufs Meer hinaus. Die See war heute ziemlich aufgewühlt durch einen Landwind, der die Wellen majestätisch an den Strand branden ließ. Sie atmete die salzige Luft ein und suchte nach nährender Ruhe in deren Ionen. Doch selbst das funktionierte nicht. Sollte sie zum Cadwallader House hochspazieren und John besuchen? Würde eine Runde Singen mit Cissie ihre Seele besänftigen? Doch es war schon fast neun Uhr, und die beiden waren wahrscheinlich bereits im Bett. »Na komm, hör auf zu jammern!«, befahl sie sich selbst, und eine vorbeifliegende Möwe kreischte zustimmend, als Grace sich auf den Weg nach Hause machte.

Die Schuhe auszuziehen war eine echte Erleichterung. Sie war zu lange auf den Beinen gewesen, und nun begannen die Füße anzuschwellen und zu schmerzen. Einen Moment lang überlegte sie sogar, das Fußbad herauszukramen, das Elin und Greg ihr vor zwei Jahren geschenkt hatten. Doch selbst dieser Akt erschien zu mühsam. Stattdessen sank sie in ihren gemütlichen Lieblingssessel und stieß einen erschöpften Seufzer aus. An Tagen wie diesem fühlte sie ihr Alter tatsächlich...

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