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Frisch verheiratet

hier erhältlich:

Ihre Rückkehr nach Seattle hatte sich Jesse anders vorgestellt. Ihre Schwestern sind von ihrem verbesserten Ich nicht wirklich beeindruckt. Und Matt, der Vater ihres Sohnes, reagiert zwar immer noch leidenschaftlich auf sie, will sie aber trotzdem nie wiedersehen. Jesse weiß nicht, ob sie die Fehler der Vergangenheit wieder gutmachen kann. Aber allein die Sehnsucht danach, wieder in Matts Armen zu liegen, ist ein Anreiz, es mit aller Macht zu versuchen. Sie will ihm beweisen: Mit der Liebe ist es wie mit einem Eclair: Man muss hineinbeißen, um die leckere Füllung zu entdecken.


  • Erscheinungstag: 03.10.2019
  • Aus der Serie: The Bakery Sisters
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745751635
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Die bezeichnen Sie als skrupellosen Mistkerl“, bemerkte Diane, während sie den Artikel in dem Wirtschaftsmagazin überflog. „Das muss Sie doch fröhlich stimmen.“

Matthew Fenner sah seine Sekretärin wortlos an. Schließlich hob sie lächelnd den Kopf.

„Sie mögen es, wenn man Sie einen skrupellosen Mistkerl nennt.“

„Ich werde gern respektiert“, korrigierte er.

„Oder gefürchtet.“

Er nickte. „Das funktioniert auch.“

Diane legte das Magazin offen auf seinen Schreibtisch. „Wollen Sie denn nie, dass man Sie auch einmal nett findet?“, fragte sie ihn.

„Nein.“

Nett zu sein bedeutete, reingelegt zu werden. Das hatte er vor langer Zeit gelernt. Er nahm einen der Notizzettel, die neben seinem Telefon lagen, in die Hand. Komischerweise hatte die Frau, die ihm diese Lektion in allen Einzelheiten vermittelt hatte, gerade angerufen.

Seine Sekretärin seufzte. „Ich mache mir Sorgen um Sie.“

„Sie verschwenden nur Ihre Zeit.“

„Keine Panik. Das mache ich ausschließlich in meiner Freizeit.“

Er bedachte seine etwa fünfzigjährige Assistentin mit einem finsteren Blick, aber sie ignorierte ihn. Die Tatsache, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern ließ, war einer der Gründe, weshalb sie immer noch bei ihm war, auch wenn er das niemals zugeben würde. Denn obwohl er den Ruf hatte, zu den Geschäftsmännern zu gehören, die ihre Konkurrenz blutend am Straßenrand liegen ließen, sah er es nicht gerne, wenn seine Angestellten vor ihm kuschten. Zumindest nicht ständig.

„Gibt es noch etwas?“, fragte er sie und sah dabei demonstrativ in Richtung Tür.

Sie erhob sich. „Jesse hat noch einmal angerufen. Das sind jetzt drei Anrufe in drei Tagen. Werden Sie sie zurückrufen?“

„Ist das so wichtig?“

„Ja, denn wenn Sie vorhaben, sie weiterhin zu ignorieren, würde ich es ihr gerne mitteilen und ihrem Elend ein Ende bereiten.“ Diane runzelte die Stirn. „Normalerweise sind Sie mit ihren BFs deutlicher. Die wenigsten rufen noch mal an, nachdem Sie ihnen den Laufpass gegeben haben.“

„Ich hatte Sie darum gebeten, sie nicht mehr so zu nennen.“

Diane blinzelte unschuldig. „Hatten Sie das? Tut mir leid. Das vergesse ich immer wieder.“

Sie schwindelte, aber er ließ es auf sich beruhen. Es war ihre Art, Missbilligung auszudrücken, wenn sie die Frauen, mit denen er sich traf, BFs nannte – Kürzel für Bimbo-Freundinnen. Sie warf ihm vor, dass seine Frauen austauschbar seien. Wie Modepuppen sähen sie sich alle physisch ähnlich, seien unnatürlich schön, und allen würde es an Herz und Verstand mangeln. Womit sie nicht unrecht hatte.

Allerdings wollte Diane einfach nicht glauben, dass er absichtlich diese Wahl traf. Er war an nichts anderem interessiert.

„Sie ist eine Bekannte von früher“, bemerkte er und wünschte auf der Stelle, er hätte es nicht getan. Das ging Diane nichts an. Es war ein Abschnitt seines Lebens, der vor langer Zeit ein Ende gefunden hatte.

„Wirklich? Hat sie etwa tatsächlich eine Persönlichkeit oder …“, sie wedelte mit den Händen vor dem Gesicht, als müsse sie sich Luft zufächeln, um nicht in Ohnmacht zu fallen, „… sogar Verstand? Jetzt, wo sie es erwähnen, sie klang beinahe normal.“

„Das habe ich nicht erwähnt.“

„Hmm. Ich bin mir sicher, dass Sie so etwas gesagt haben. So erzählen Sie mir doch schon von ihrer geheimnisvollen Vergangenheit mit dieser Frau.“

„Sie können jetzt gehen.“

„Weshalb ist sie nach Seattle zurückgekehrt? Ist sie nett? Würde ich sie mögen? Mögen Sie sie?“

Er wies auf die Tür.

Diane durchquerte sein Büro. „Sie meinen also, ich soll sie zu Ihnen durchstellen, wenn sie das nächste Mal anruft, richtig?

Das überhörte er, und sie verschwand.

Matt stand auf und ging zum Fenster. Sein Büro befand sich im obersten Stockwerk eines Hochhauses an der Eastside und bot eine beeindruckende Aussicht. Sein berufliches Dasein zeugte in jeder Hinsicht von Erfolg. Er hatte es geschafft. Er besaß alles, was er wollte, und mehr. Geld, Macht, Respekt, und es gab niemanden, dem er Rechenschaft schuldig war.

Langsam und bedächtig zerknüllte er den Notizzettel mit der Nachricht von Jesse und warf ihn in den Papierkorb.

Trotz der Versprechungen vieler berühmter Dichter und einiger rührseliger Countrysongs hatte Jesse Keyes entdeckt, dass es doch möglich war, nach Hause zurückzukehren. Ihr Pech! Nicht, dass sie irgendjemanden für ihre momentane Situation verantwortlich machen konnte. Die Entscheidung, nach Seattle zurückzugehen, hatte sie ganz allein getroffen. Nun ja, vielleicht hatte das schlaue Kerlchen, das jetzt zu ihrem Leben gehörte, ein wenig nachgeholfen.

Sie warf einen Blick in den Rückspiegel und lächelte ihren vierjährigen Sohn an.

„Weißt du was?“, fragte sie ihn.

Seine dunklen Augen leuchteten auf, als er sie angrinste. „Sind wir angekommen?“

„Wir sind da!“

Gabe klatschte in die Hände. „Das gefällt mir.“

Sie würden den Sommer – oder wie lange es auch dauern würde, um ihre Vergangenheit in Ordnung zu bringen und die Weichen für ihre Zukunft zu stellen – in der Stadt verbringen. Auf eine Woche mehr oder weniger kam es dabei nicht an.

Jesse stellte den Hebel der Gangschaltung auf Parken, stieg aus und öffnete die hintere Tür. Sie schnallte Gabe von seinem Kindersitz los und half ihm beim Aussteigen. Dann stand er neben ihr und starrte das vierstöckige Gebäude an.

„Hier wohnen wir?“, fragte er mit einer Stimme, die vor Ehrfurcht ganz leise geworden war. „Echt?“

Das Langzeithotel ließ sich bestenfalls als anständig bezeichnen. Ein örtliches Unternehmen. Jesse hatte nicht das Geld für eine dieser schicken landesweiten Hotelketten. Aber das Zimmer hatte eine Küche, und den Bewertungen im Internet zufolge war es sauber, und darauf kam es ihr an. Sobald sie eine Vorstellung davon hätte, wie lange sie bleiben würden, wollte sie sich darum kümmern, ein möbliertes Apartment im Universitätsviertel anzumieten. Es war Sommer, und das bedeutete leerstehende Zimmer, solange die Studenten weg waren, und dementsprechend niedrige Mietpreise.

Für Gabe aber, der in seinem ganzen Leben noch nie in einem Hotel gewohnt hatte, war ihre vorübergehende Unterkunft neu und aufregend.

„Echt“, sagte sie und nahm seine Hand. „Willst du, dass ich für uns ein Zimmer im oberen Stockwerk nehme?“

Er riss die Augen auf. „Geht das denn?“, hauchte er.

Es bedeutete zwar, dass sie mehr Treppen steigen musste, aber oben würde sie sich wesentlich sicherer fühlen. „Ich hatte darum gebeten.“

„Cool!“

Sein neues Lieblingswort. Er hatte es aus der Kita, und heute hatte sie es schon ungefähr vierhundert Mal gehört. Es fing an, ihr auf die Nerven zu gehen. Aber dann sagte sie sich, dass „cool“ immer noch sehr viel besser war als einige andere Wörter, die er hätte lernen können.

Dreißig Minuten später testeten sie die Sprungkraft der beiden Doppelbetten aus, während Gabe versuchte, sich für eins der beiden zu entscheiden. Sie packte den einzigen Koffer aus, den sie drei Stockwerke hoch die Treppen hinaufgeschleppt hatte, und sagte sich, dass sie wirklich daran denken musste, wieder zu trainieren. Ihr Herz raste noch immer nach diesem Anstieg.

„Zum Essen werden wir heute ausgehen“, verkündete sie. „Wie wär’s mit Spaghetti?“

Gabe warf sich an sie, schlang beide Arme um ihre Schenkel und drückte sie so fest, wie er konnte. Sie strich über sein weiches braunes Haar.

„Danke, Mommy“, flüsterte er, denn es war ein seltenes Vergnügen, sein Lieblingsessen in einem Restaurant zu bekommen.

Jesse überlegte, ob sie sich schuldig fühlen sollte, weil sie an ihrem ersten Abend in Seattle nicht kochen würde, beschloss dann aber, sich später dafür zu bestrafen. Im Augenblick war sie nur müde. Die Fahrt von Spokane hatte fünf Stunden gedauert, und gestern Abend hatte sie bis weit über Mitternacht hinaus gearbeitet, um auch noch das letzte Trinkgeld verdienen zu können, das möglich war. Geld würde knapp werden, solange sie sich in Seattle aufhielten.

„Gern geschehen.“ Sie hockte sich hin, um auf Augenhöhe mit ihm zu sein. „Ich glaube, dass dir das Lokal gefallen wird. Es heißt Old Spaghetti Factory.“ Ein perfektes kinderfreundliches Restaurant. Niemand würde sich gestört fühlen, wenn Gabe rumkleckerte, und sie könnte in Ruhe ein Glas Wein trinken und so tun, als sei alles in Ordnung.

„Kann ich meinen Daddy morgen sehen?“

Wieder raste ihr Herz, und diesmal hatte es nichts mit Treppensteigen zu tun. „Morgen wahrscheinlich nicht, aber bald.“

Gabe biss sich auf die Unterlippe. „Ich hab meinen Daddy lieb.“

„Das weiß ich ja.“

Oder zumindest doch die Vorstellung, einen Vater zu haben. Ihr Sohn war der Grund dafür, dass sie beschlossen hatte, sich allen Geistern ihrer Vergangenheit zu stellen und nach Hause zu kommen. Vor etwa einem Jahr hatte er angefangen, Fragen über seinen Vater zu stellen. Warum hatte er keinen Daddy? Wo war sein Daddy? Warum wollte sein Daddy nicht bei ihm sein?

Jesse hatte mit sich gekämpft, ob sie nicht lieber lügen und einfach behaupten sollte, Matt sei tot. Aber als sie vor fünf Jahren von Seattle weggegangen war, hatte sie sich geschworen, ein anderes Leben zu beginnen. Keine Lügen mehr. Nie wieder Mist bauen. Sie hatte hart daran gearbeitet, erwachsen zu werden, sich ein Leben aufzubauen, auf das sie stolz war, ihren Sohn allein aufzuziehen und unter allen Umständen aufrichtig zu sein.

Was wiederum bedeutete, dass sie Gabe die Wahrheit sagen musste. Dass Matt nichts von ihm wusste, es aber vielleicht an der Zeit war, dies zu ändern.

Sie erlaubte sich nicht, über ein Wiedersehen mit Matt nachzudenken. Sie konnte es nicht. Jedenfalls nicht, wenn sie dabei weiteratmen wollte. Daher gab es fürs Erste nur ihren Sohn, der sie anlächelte, und die Liebe, die sie für ihn empfand. Alles andere würde sich von selbst regeln. Jedenfalls hoffte sie doch, dass es so sein würde.

Es war ja auch nicht nur Matt, dem sie sich stellen musste. Da waren noch Claire, ihre ältere Schwester, die sie nie wirklich kennengelernt hatte, und Nicole, ihre ältere Schwester, die sie wahrscheinlich immer noch abgrundtief hasste. Und so was nannte sich dann „Heimkehr“.

Aber damit würde sie sich morgen befassen. Der heutige Abend versprach Spaghetti, dann eine aufregende Nacht voller Cartoons und schöne Momente mit dem Besten, was sie im Leben hatte.

„Bist du bereit?“, fragte sie, griff nach ihrer Handtasche und breitete die Arme aus, um Gabe aufzuheben.

Er sprang in ihre Umarmung, voller Liebe und Vertrauen, so als könnte sie ihm niemals wehtun, ihn niemals fallen lassen. Und zwar deshalb, weil sie es auch nie tun würde. Unter keinen Umständen. Wenigstens etwas, das sie richtig gemacht hatte.

Jesse prüfte die Adresse auf dem Notizzettel und warf dann einen Blick auf das tragbare Navi, das sie sich von Bill ausgeliehen hatte. Sie stimmten überein.

„Da ist aber jemand die Leiter raufgefallen“, murmelte sie, während sie die lange Auffahrt hinaufsah, die zu einem Haus am See führte, das mitten im mondänen Teil von Kirkland lag. Das Grundstück war mit einem Tor abgesichert, aber es stand offen. Sie war dankbar dafür, ihre Anwesenheit keinem der Angestellten, die zum Haus gehören mochten, erklären zu müssen. Nicht, als könnte sie sich Matt überhaupt mit Hausangestellten vorstellen. Sie müssten ihm doch auf die Nerven gehen. Zumindest hätten sie das vor fünf Jahren getan. Aber zweifellos hatte er sich verändert. Der Mann, an den sie sich erinnerte, hätte niemals in einem gewaltigen, weitläufigen Anwesen mit einer Bronzeskulptur auf dem Rasen gelebt.

Beim Anblick des irritierenden modernen Kunstwerks zog sie die Augenbrauen hoch, dann fuhr sie daran vorbei und parkte nahe der breiten Doppeltür hinter einem BMW Cabriolet. Sie nahm sich vor, beim Aussteigen nicht daran zu denken, wie schäbig ihr zehn Jahre alter Subaru im Vergleich dazu aussah. Allerdings war ihr Wagen zuverlässig, und der Vierradantrieb bedeutete sicheres Fahren im Schnee von Spokane.

Als stille Entschuldigung dafür, dass sie bemerkt hatte, wie hübsch der BMW aussah, der in der Sonne strahlte, tätschelte sie das Armaturenbrett ihres Wagens. Dann griff sie sich ihre Handtasche und stieg aus. Ehe sie die Eingangstreppe des riesigen Hauses hinaufstieg, vergewisserte sie sich noch rasch, dass die neuesten Fotos von Gabe im vorderen Fach ihrer Handtasche steckten. Ein Gefühl sagte ihr, das sie nervös sein würde, wenn sie Matt sah. Da wollte sie nicht nach den Fotos suchen müssen.

Die Haustür war himmelhoch. Jesse schätzte, dass es mindestens vier bis sechs Meter sein mussten, und das alles vermutlich aus massivem Holz. Da hätten selbst die Westgoten ihre Schwierigkeiten gehabt, ins Haus einzudringen. Sie schluckte gegen die plötzliche Anspannung in ihrem Körper an und mahnte sich, unter allen Umständen weiterzuatmen. Dann drückte sie auf die Klingel.

Irgendwo tief im Innern des Hauses erklang ein Glockenspiel. Jesse wartete, wobei sie sich darüber im Klaren war, dass es eine Weile dauern könnte, das ganze Haus zu durchqueren. Sie zählte bis zehn, dann bis zwanzig. Sollte sie noch einmal klingeln? Es war halb zehn, an einem Samstagvormittag. Sie hatte gehofft, Matt zu Hause anzutreffen. Aber natürlich, es gab tausend Orte, wo er sonst sein könnte. Das Fitnessstudio, das Büro, das Haus eines Freundes. Oder besser, Freundin. Sie bezweifelte, dass er im Lebensmittelgeschäft sein könnte, denn er war …

Die Tür ging auf. Jesse wappnete sich für das Wiedersehen mit Matt, nur um dann festzustellen, dass sie eine große schlanke Rothaarige anstarrte, die ein sehr kurzes, sehr erotisches Nachthemd trug, und offensichtlich nichts weiter.

Die Frau war Anfang zwanzig und mehr als schön. Ihre Augen waren groß, dunkelgrün und von unglaublichen Wimpern umrahmt. Ihre Haut hatte die Farbe von Sahne, die Brüste wiesen zum Himmel, und ihre vollen Lippen bildeten einen perfekten Schmollmund.

„Ma-att“, quengelte sie, wobei sie seinen Namen auf zwei Silben ausdehnte. „Es ist ja eine Sache, mir ständig zu sagen, dass ich nicht die Einzige bin. Das akzeptiere ich ja. Mir gefällt es nicht, aber ich akzeptiere es. Dass aber eine von denen hier auftaucht, wenn ich mit dir verabredet bin? Das geht nun wirklich zu weit.“

Jesse hatte die Situation nicht durchdacht. Wenn sie es getan hätte, wäre sie auf den Gedanken gekommen, dass es absolut möglich war, dass eine Frau an die Tür kommen könnte. Es war fünf Jahre her, natürlich war Matt eine andere Beziehung eingegangen. Wahrscheinlich bereits mehrfach.

„Ich bin nicht mit ihm verabredet“, sagte sie schnell und wünschte, sie hätte heute Morgen mehr Zeit auf ihr Äußeres verwendet. Aber alles, was sie geschafft hatte, war zu duschen, sich schnell etwas Feuchtigkeitscreme und Wimperntusche aufzutragen und dann ihr langes glattes Haar an der Luft zu trocknen. Sie hatte sich mehr darauf konzentriert, Gabe fertig zu machen.

Die Rothaarige runzelte die Stirn. „Ma-att!“

Nun ging die Tür ein Stück weiter auf, und Jesse trat unwillkürlich einen Schritt zurück. Nicht, dass ein halber Meter Abstand mehr oder weniger die Schockwirkung, ihn wiederzusehen, abgeschwächt hätte.

Er war so groß, wie sie ihn in Erinnerung hatte, aber er war kräftiger geworden. Ein kurzärmliges Hemd hing offen über verwaschenen Jeans, sodass sie seine muskulöse Brust sehen konnte und auch das dunkle Haar darauf.

Ihr Blick wanderte nach oben, zu seinem Gesicht, zu den Augen, die den Augen ihres Sohnes so ähnlich waren. Das Wiedererkennen löste ein Ziehen in der Magengegend aus, und es wurde ihr klar, dass sie ihn, trotz der langen Zeit der Trennung, noch immer vermisste. Wahrscheinlich deshalb, weil sie ihn in Gegenwart von Gabe niemals vergessen konnte.

Matt hatte immer schon über Potenzial verfügt, und in den letzten fünf Jahren hatte er dieses Potenzial entwickelt. Er strahlte Energie und Zuversicht aus. Er war der Typ Mann, der die Frauen dazu brachte, sich Gedanken darüber zu machen, wer er wohl war und wie sie mit ihm zusammen sein könnten.

„Jesse.“

Er sprach ihren Namen ruhig aus, als wäre er nicht überrascht, sie zu sehen, so als hätten sie sich letzte Woche erst zufällig getroffen.

„Hallo, Matt.“

Die Rothaarige stemmte die Hände in die Hüften. „Verschwinde. Huschhusch.“

Huschhusch? Jesse unterdrückte ein Lächeln. War das alles, was diese Frau aufzubieten hatte?

„Warte in der Küche auf mich, Electra“, sagte Matt, ohne dabei den Blick von Jesse abzuwenden. „Es wird nicht lange dauern.“

„Ich werde nicht gehen. Wer ist das, Matt?“

Electra? Ihr Name war Electra? Ob sie wohl auch ein goldenes Lasso und ein fliegendes Pferd hatte?

„Warte in der Küche auf mich“, wiederholte er in strengem Tonfall.

Die Rothaarige stapfte davon. Matt wartete, bis sie verschwunden war, ehe er die Tür freigab.

„Komm rein“, sagte er.

Jesse betrat das Haus.

Sie erhielt einen flüchtigen Eindruck von Weitläufigkeit, mit sehr viel Holz und einem unglaublich schönen Ausblick auf den See und die Skyline von Seattle in der Ferne. Dann wandte sie sich Matt zu und holte einmal tief Luft.

„Es tut mir leid, dass ich so unangemeldet hereinschneie. Ich habe versucht, dich anzurufen.“

„Tatsächlich?“

An seinen dunklen Blick konnte sie sich zwar noch erinnern, ihn aber heute wesentlich schlechter interpretieren. Sie hatte keine Ahnung, was er dachte. War er unangenehm überrascht? Verärgert? Oder war sie einfach eine Frau, die er von früher her kannte und die ihn nur von seinem Frühstückskaffee abhielt?

Es war verwirrend, ihn zu sehen. Eine seltsame Mischung aus vertraut und fremd. Das letzte Mal, als sie sich zusammen in einem Raum befunden hatten, war er so wütend gewesen, so verletzt. Er hatte regelrecht ausgeholt, um sie fertigzumachen, und es war ihm gelungen.

„Du hast meine Nachrichten nicht erhalten?“, fragte sie, überzeugt davon, dass er sie bekommen hatte.

„Was willst du, Jesse? Es ist lange her. Warum jetzt?“

Das war’s dann also schon mit müßigem Geplauder, dachte sie und fühlte sich plötzlich unwohl und nervös. Hätten sie es nicht etwas leichter angehen können, zum Beispiel mit einem „Wie geht es dir“?

Es gab tausend Dinge, die sie sagen könnte, tausend Entschuldigungen und Erklärungen. Nicht eine davon schien wichtig zu sein.

Also öffnete sie die Handtasche, zog die Fotos heraus und reichte sie ihm.

„Vor fünf Jahren hatte ich dir gesagt, dass ich schwanger bin und du der Vater bist. Du hast mir nicht geglaubt, sogar als ich dir sagte, dass ein DNA-Test die Wahrheit nachweisen würde. Er ist jetzt vier Jahre alt und fragt mich ständig nach dir. Er möchte dich kennenlernen. Ich hoffe, dass jetzt genügend Zeit vergangen ist, sodass du das ebenfalls willst.“

Sie hätte gerne noch weitergeredet, erklärt, sich verteidigt. Stattdessen zwang sie sich, die Lippen aufeinanderzupressen und still zu sein.

Matt nahm die Fotos und blätterte sie durch. Zuerst registrierte er nicht viel mehr als einen kleinen Jungen. Ein Junge, der lachte oder in die Kamera lächelte. Ihre Worte hatten für ihn keine Bedeutung. Ein Kind? Er wusste, dass sie schwanger gewesen war. Sein Kind? Unmöglich. Damals hatte er sich geweigert, das zu glauben, und er glaubte es auch jetzt nicht. Sie war zurückgekehrt, weil er Erfolg hatte und sie ein Stück vom Kuchen haben wollte. Das war alles.

Beinahe gegen seinen eigenen Willen ging er die Fotos dann ein zweites Mal durch, schließlich ein drittes Mal, und dabei bemerkte er, dass das Kind ihm irgendwie vertraut schien. Da war etwas in seinen Augen, das …

Dann sah er sie. Die Ähnlichkeiten. Diese Biegung des Kinns wurde ihm jeden Morgen beim Rasieren widergespiegelt. Diese Augenform. Er erkannte Teile von sich selbst, Spuren der Mutter.

„Was ist das?“, knurrte er.

Ein Kind! Sein Kind?

„Sein Name ist Gabe“, sagte Jesse leise. „Gabriel. Er ist vier und ein wirklich tolles Kind. Er ist klug und witzig, und er hat eine Menge Freunde. Er kann gut rechnen, was er wahrscheinlich von dir geerbt hat.“

Matt konnte sich auf ihre Worte nicht konzentrieren. Wie Regen tropften sie auf ihn herunter, ohne Sinn zu ergeben, und prallten von ihm ab. Ärger flackerte in ihm auf, der sich sogleich in Wut auswuchs. Sie hatte ein Kind von ihm und sich nicht die Mühe gemacht, ihm etwas davon zu sagen?

„Du hättest es mir sagen müssen“, sagte er, die Stimme belegt und kalt vor Zorn.

„Das habe ich getan, aber du hast dich geweigert, mir zu glauben, erinnerst du dich? Wörtlich hast du gesagt, dass es dir völlig gleichgültig sei, ob ich ein Kind von dir bekomme. Du wolltest kein Kind mit mir haben.“ Sie nahm die Schultern zurück. „Er möchte dich kennenlernen, Matt. Er möchte wissen, wer sein Vater ist. Deshalb bin ich hergekommen. Weil es für ihn wichtig ist.“

Für sie aber war es nicht wichtig. Das musste sie nicht aussprechen. Ihm war längst klar, dass es so war.

Er wollte ihr die Fotos zurückgeben, aber sie schüttelte den Kopf. „Behalte sie. Ich weiß, es ist eine Menge zu verkraften. Wir werden miteinander reden müssen, und du wirst Gabe kennenlernen. Vorausgesetzt, du willst das.“

Er nickte, weil er viel zu aufgebracht war, um etwas sagen zu können.

„Meine Handynummer findest du hinten auf dem ersten Bild. Ruf mich an, wenn du so weit bist, und wir werden etwas arrangieren.“ Sie zögerte. „Das alles tut mir leid. Ich wollte mit dir sprechen, bevor ich vorbeikomme, aber du warst nicht erreichbar. Es war ja nicht meine Absicht, ihn dir zu entziehen. Nur hattest du es so überaus deutlich gemacht, wie gleichgültig es dir war.“

Damit drehte sie sich um. Er sah ihr nach, wie sie das Haus verließ.

Etwas in ihm schrie, er sollte ihr nachgehen, aber die Mühe machte er sich nicht. Sie mochte weglaufen, verstecken konnte sie sich nicht. Nicht vor ihm. Nicht jetzt.

Er schloss die Haustür und wollte in sein Büro, als Electra im Flur erschien.

„Wer war das? Was wollte sie? Du triffst dich doch nicht mit ihr, Matt? Sie sah nicht aus wie dein Typ.“

Er ließ sie einfach stehen und betrat sein Arbeitszimmer. Nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, ging er zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Er breitete die Bilder vor sich aus und sah sich jedes einzelne genau an.

Electra klopfte an die Tür, ohne sie jedoch zu öffnen. Er vernahm so etwas wie eine Drohung, dass sie ihn verlassen würde. Darauf gab er nicht einmal eine Antwort.

Er hatte einen Sohn. Und das nun schon mehr als vier Jahre, und nie hatte er davon erfahren. Rein faktisch gesehen hatte Jesse, bevor sie Seattle verlassen hatte, wohl versucht, ihm zu sagen, dass das Kind von ihm war, aber sie hatte genau gewusst, dass er ihr das nicht glauben würde. Nicht nach allem, was geschehen war. Das hatte sie mit Absicht getan.

Er griff nach dem Telefon und wählte eine Nummer aus dem Gedächtnis. „Heath, hier ist Matt. Hast du einen Augenblick Zeit?“

„Natürlich. Wir sind mit dem Boot unterwegs, aber ich habe Zeit. Was gibt’s?“

„Ich habe ein Problem.“

In kurzen Worten erklärte er, dass eine alte Freundin unerwartet mit einem vierjährigen Jungen aufgetaucht war, von dem sie behauptete, er sei sein Sohn.

„Als Erstes werden wir einen Vaterschaftstest veranlassen müssen“, erklärte ihm sein Anwalt. „Wie stehen die Chancen, dass du als der Vater daraus hervorgehen wirst?“

„Es ist mein Sohn.“ Matt starrte auf die Fotos und hasste Jesse jede Minute mehr. Wie hatte sie das nur vor ihm verbergen können?

„Also, was wollen Sie tun?“, fragte Heath.

„Sie auf jede mögliche Weise verletzen.“

2. KAPITEL

Fünf Jahre früher …

Jesse schlürfte ihren Kaffee Latte, während sie die Stellenanzeigen in der Seattle Times las. Genau genommen suchte sie gar keinen Job. Für alles, was sie gerne getan hätte, war sie nicht qualifiziert, und nichts von dem, wofür sie qualifiziert war, schien besser zu sein als ihre lausige Schicht in der Bäckerei. Wozu also sollte da ein Wechsel gut sein?

„Da sollte wohl mal jemand seine Einstellung ändern“, murmelte sie vor sich hin, denn sie wusste, dass es in ihrer Situation wenig hilfreich war, sich wie ein Versager zu fühlen. Dasselbe galt für das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Aber beides schien in ihrem Leben allmählich bedrohliche Formen anzunehmen.

Sie dachte daran, dass es an ihrem letzten Streit mit Nicole liegen könnte, auch wenn Auseinandersetzungen mit ihrer Schwester nichts Neues waren. Vielleicht aber hatte es auch damit zu tun, dass es ihr in jeglicher Hinsicht an Richtung mangelte. Sie war zweiundzwanzig. Sollte sie da nicht irgendwelche Ziele haben? Pläne? Wie es aussah, ließ sie sich einfach durch ihren Alltag treiben, als würde sie darauf warten, dass irgendetwas geschah. Wäre sie auf dem College geblieben, hätte sie jetzt ihren Abschluss bereits in der Tasche. Aber stattdessen hatte sie dort nur zwei Wochen lang durchgehalten, ehe sie das Studium abbrach.

Sie legte die Zeitung zusammen, setzte sich gerade hin und versuchte, sich für irgendeine Aktivität zu begeistern. Sie konnte sich nicht länger so treiben lassen. Das war ungesund und machte trübsinnig.

Sie nippte an ihrem Kaffee und dachte darüber nach, welche Möglichkeiten sich ihr boten. Bevor sie sich aber für etwas entscheiden konnte, betrat ein Mann das Starbucks.

Jesse war so etwas wie ein Stammgast und war ganz sicher, dass sie ihn dort noch nie zuvor gesehen hatte. Er war groß und hätte irgendwie geil aussehen können, aber alles an ihm war daneben. Der Haarschnitt: eine Katastrophe. Dicke Brillengläser, die den „Computerfreak“ regelrecht ausposaunten. Sein kurzärmliges kariertes Hemd war viel zu groß und – sie hätte sich fast an ihrem Kaffee verschluckt – mit einem waschechten Hemdtaschenschoner versehen. Schlimmer noch, seine Jeans hatten Hochwasser, und dazu trug er spießige Tennisschuhe mit weißen Socken. Der arme Kerl. Er sah aus, als hätte ihn eine Mutter eingekleidet, die ihn nicht besonders lieb hatte.

Gerade wollte sie sich schon wieder ihrer Zeitung widmen, als sie sah, wie er die Schultern zurücknahm, eine Geste, die von Entschlossenheit sprach. Kaffee zu bestellen war doch eigentlich gar nicht so schwer.

Also drehte sie sich ein Stück in ihrem Sitz herum und bemerkte zwei Frauen, die an einem Tisch an der gegenüberliegenden Wandseite saßen. Sie waren jung und schön, Frauen, die aussahen wie Models und wahrscheinlich mit Rockstars ins Bett gingen. Das kann er doch nicht, dachte sie verzweifelt. Nicht sie. Die beiden waren nicht bloß eine Nummer zu cool für ihn, sie befanden sich auf einer völlig anderen Ebene der Realität.

Noch nie zuvor hatte sie wirklich erlebt, was der Ausdruck „sich in den Fuß schießen“ bedeutete, aber jetzt geschah es. Mit leicht zuckenden Händen ging er auf die beiden Frauen zu. Sein Blick schien sich auf die linkerhand sitzende Brünette einzupegeln. Jesse war klar, dass sich ein unausweichliches Debakel anbahnte. Wahrscheinlich sollte sie lieber verschwinden und ihn seinen Absturz unbeobachtet durchleben lassen. Aber irgendwie schien sie sich nicht aufraffen und gehen zu können, also machte sie sich ganz klein und auf das Schlimmste gefasst.

„Uh, Angie? Hi. Ich bin, hm, äh, Matthew. Matt. Letzte Woche habe ich dich bei einem Fotoshooting auf dem Campus gesehen. Da bin ich dir irgendwie über den Weg gelaufen.“

Eine tiefe Stimme hat er, dachte Jesse. Durchaus mit dem Potenzial, sexy zu wirken. Wenn er doch nur nicht so nuscheln würde. Er klang so zögerlich.

Während er sprach, sah Angie ihn höflich an, aber ihre Freundin verzog schon verärgert das Gesicht.

„Du meinst, bei Microsoft?“, fragte Angie. „Das hat Spaß gemacht.“

„Du hast so schön ausgesehen“, nuschelte Matt, „in diesem Licht und mit diesen Sachen, und ich hatte mir überlegt, ob du vielleicht einmal einen Kaffee mit mir trinken wolltest oder sonst etwas, und es muss auch nicht Kaffee sein, weil, wir könnten auch, äh, spazieren gehen oder, äh, ich weiß nicht …“

Atmen! Jesse versuchte, ihn mittels Gedankenübertragung dazu zu bringen, dass er eine Pause einlegte und seine Konversation in Sätze unterteilte. Es war schon erstaunlich genug, dass Angie ihn wirklich anlächelte. Könnte dieser Computerfreak es wohl tatsächlich schaffen, das Mädchen für sich einzunehmen?

Aber Matt bemerkte es nicht, denn er redete immer weiter.

„Oder etwas anderes machen. Wenn du ein Hobby hast oder, weißt du, irgendwas mit einem Haustier, einem Hund, schätze ich mal, weil, ich mag Hunde. Wusstest du, dass es mehr Katzen als Hunde gibt, die als Haustiere gehalten werden, was überhaupt keinen Sinn macht, denn wer mag schon Katzen, richtig? Ich bin allergisch, und sie tun nichts anderes, als ihre Haare überall zu verteilen.“

Jesse zuckte zusammen, während Angies Miene einen harten Ausdruck annahm und das Gesicht ihrer Freundin sich vollends zu zerknautschen begann.

„Was ist denn mit dir los?“, fragte Angie, stand auf und funkelte den armen, zitternden Matt wütend an. „Meine Freundin musste ihre Katze gestern einschläfern lassen. Wie kannst du nur so etwas sagen? Ich glaube, du solltest uns jetzt lieber allein lassen. Jetzt!“

Mit großen Augen und völlig verwirrt starrte Matt sie an. Er machte den Mund auf und klappte ihn gleich wieder zu. Niedergeschlagen ließ er die Schultern sacken und verließ das Starbucks.

Jesse sah ihm nach. Betrübt dachte sie, dass er so nahe daran gewesen war, das Mädchen für sich zu gewinnen. Wenn er doch nur nicht weiter über Katzen hergezogen wäre. Nicht, dass es wirklich ein Fehler war. Wie groß war die Chance, gerade damit ins Fettnäpfchen zu treten?

Sie schaute durch die Glasfront und sah ihn draußen stehen. Er wirkte völlig verblüfft und schien keine Ahnung zu haben, was schiefgelaufen war. Pluspunkte an Angie. Sie war bereit gewesen, an der traurigen Gestalt vorbei den Kerl zu sehen, der dahintersteckte. Wenn er doch nur früher mit dem Reden aufgehört hätte. Und sich besser anziehen würde. Im Grunde genommen brauchte der Typ eine Generalüberholung.

Während Jesse ihn beobachtete, schüttelte er langsam den Kopf, als gäbe er sich geschlagen. Sie wusste, was er dachte. Sein Leben würde sich niemals ändern, und niemals würde er ein Mädchen abkriegen. Er saß in der Falle. Genau wie sie. Nur, dass sein Problem leichter zu lösen war.

Ohne die geringste Ahnung zu haben, was genau sie da tat, sprang Jesse auf, warf den leeren Kaffeebehälter in die Mülltonne und trat vor die Tür. Sie konnte ihn sehen, wie er die Straße hinaufging.

„Warte“, rief sie.

Er drehte sich nicht um. Vermutlich deshalb, weil es ihm gar nicht in den Sinn kam, dass er gemeint sein könnte.

„Matt, warte.“

Er blieb stehen, warf einen Blick über die Schulter zurück und runzelte die Stirn. Sie eilte auf ihn zu.

„Hi“, sagte sie, noch immer völlig ohne irgendeinen Plan. „Wie geht es dir?“

„Kenne ich dich?“

„Nicht wirklich. Ich habe nur, ah …“ Jetzt war sie an der Reihe, zu stottern. „Ich habe das da eben mitbekommen. Ein Albtraum, könnte man sagen.“

Er schob beide Hände in seine Jeans und zog den Kopf ein. „Danke, dass du das so auf den Punkt gebracht hast“, sagte er und ging weiter.

Sie lief ihm nach. „So war das doch nicht gemeint. Aber offensichtlich kannst du mit Frauen wirklich nicht besonders gut umgehen.“

Er wurde rot. „Gute Einschätzung. Machst du das immer? Den Leuten hinterherlaufen und ihnen ihre Schwächen vorhalten? Ich weiß sehr gut, was nicht stimmt.“

„Darum geht es doch nicht. Ich kann dir helfen.“

Sie hatte keine Ahnung, woher diese Worte gekommen waren, aber in dem Moment, als sie sie ausgesprochen hatte, wusste sie auch schon, dass es stimmte.

Er ging kaum langsamer. „Verschwinde.“

„Nein. Sieh doch mal, du besitzt eine Menge Potenzial, hast aber keine Ahnung. Ich bin eine Frau. Ich kann dir sagen, wie du dich kleiden musst, was du sagen sollst, welche Themen zu vermeiden sind.“

Er zuckte zusammen. „Das glaube ich nicht.“

Plötzlich wurde dies wichtig für sie, auch wenn sie nicht sicher war, weshalb. Außer vielleicht, dass es leichter wäre, sich um die Probleme einer anderen Person zu kümmern, als über die eigenen nachzudenken. Abgesehen davon – sein Leben ließ sich in Ordnung bringen.

Sie erinnerte sich an etwas, das sie vor ein paar Wochen in den Nachrichten gesehen hatte. „Ich bin in der Ausbildung zur Lebensstilberaterin. Ich brauche jemanden, an dem ich üben kann. Du brauchst Hilfe. Und ich werde dir meine Zeit nicht berechnen.“ Vor allem deshalb, weil sie das alles gerade aus dem Stegreif erfand. „Ich werde dir alles beibringen, was du wissen musst. Du wirst das Mädchen gewinnen.“

Er blieb stehen und sah sie an. Sogar durch diese dicken Gläser hindurch konnte sie erkennen, dass er große dunkle Augen besaß. Schlafzimmeraugen. Die Mädchen würden verrückt danach sein, wenn sie sie nur sehen könnten.

„Du lügst“, sagte er rundheraus. „Du bist keine Lebensstilberaterin.“

„Ich sagte, ich bin in der Ausbildung. Trotzdem kann ich dir helfen. Ich kenne Männer. Ich weiß, was funktioniert. Sieh es doch so, du hast keinerlei Grund, mir zu glauben, aber zu verlieren hast du auch nichts.“

„Und was hättest du davon?“

Sie dachte an die permanenten Auseinandersetzungen mit ihrer Schwester, die Arbeit, die sie hasste, und daran, dass ihr jegliches Ziel im Leben fehlte. Sie dachte daran, wie sie jeden einzelnen Tag damit verbrachte, sich wie die größte Versagerin auf Erden zu fühlen.

„Ich werde endlich einmal dazu kommen, etwas richtig zu machen“, erklärte sie wahrheitsgemäß.

Lange sah er sie prüfend an. „Warum sollte ich dir vertrauen?“

„Weil ich die Einzige bin, die dir das Angebot macht. Was wäre denn das Schlimmste, was passieren könnte?“

„Du könntest mir ein Betäubungsmittel verabreichen und mich in irgendein Land verfrachten, wo dann meine Leiche irgendwann an den Strand gespült wird.“

Sie lachte. „Wenigstens hast du Fantasie. Das ist gut. Sag Ja, Matt. Gib mir eine Chance.“

Sie war gespannt, ob er darauf eingehen würde. Bislang hatte noch nie jemand an sie geglaubt. Schließlich zuckte er die Schultern.

„Was soll’s.“

Sie grinste. „Super. Also gut, als Erstes …“ Ihr Handy klingelte. „Entschuldigung“, murmelte sie und zog es aus der Tasche. „Hallo?“

„Hey, du Superfrau. Wie geht’s dir?“

Sie zog die Nase kraus. „Zeke, im Augenblick ist es schlecht.“

„Das hast du letzte Woche nicht gesagt. Wir hatten eine schöne Zeit zusammen. Der Sex mit dir ist …“

„Ich habe keine Zeit“, unterbrach sie ihn und legte auf, ohne hören zu wollen, wie der Sex mit ihr war. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Matt. „Tut mir leid. Wo war ich stehen geblieben? Ah ja. Der nächste Schritt.“

Sie zog den Rechnungsbeleg des Starbucks aus der Gesäßtasche und nahm sich einen der Stifte, die aus seinem Hemdtaschenschoner hervorlugten. Dann teilte sie das Papier in zwei Hälften, notierte ihre Handynummer auf einem der beiden Stücke und reichte es ihm.

Er nahm es an sich. „Du gibst mir deine Telefonnummer?“

„Ja. Es dürfte etwas schwierig sein, dich zu verändern, wenn wir uns nicht treffen. Jetzt gib du mir deine Nummer.“

Das tat er.

Sie reichte ihm seinen Stift zurück. „Okay. Ich brauche ein paar Tage, um einen Plan zu entwerfen, dann werde ich mich bei dir melden.“ Sie lächelte. „Das wird einfach fantastisch. Vertraue mir.“

„Habe ich denn eine Wahl?“

„Ja, aber tue so, als hättest du keine.“

Jesse ließ ihren schweren Rucksack auf einen der Stühle am Tisch fallen und stellte ihren Kaffee Latte ab. Sie hatte mit Matt ein Treffen in einem anderen Starbucks vereinbart, um ihren Plan zu erörtern.

Sie kramte ihre Liste hervor und suchte zwischen all dem Material, das sie mitgebracht hatte, nach einem Stift. Ungeduldig rutschte sie hin und her, während sie auf ihn wartete.

Sie war zu früh. Eigentlich war sie nie zu früh. Noch ungewöhnlicher war, dass sie sich für ihr Umwandlungsprojekt tatsächlich richtig begeistern konnte. Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr zuletzt etwas so viel Spaß gemacht hatte. Nicht, dass Matt sonderlich enthusiastisch geklungen hätte, als sie ihn anrief, um dieses Treffen zu vereinbaren. Aber er hatte zugestimmt.

Fünf Minuten später betrat er das Starbucks. Er war noch genauso schlecht gekleidet wie beim ersten Mal, als sie ihn gesehen hatte. Was sollte nur aus den kurzen Jeans werden? Und dem Hemdtaschenschoner? Sie waren das Erste, was verschwinden musste.

Er winkte ihr zu und ging zur Theke, um zu bestellen. Ihr Handy klingelte.

Sie nahm das Gespräch an. „Hallo?“

„Babe. Andrew. Heute Abend?“

„Andrew, ist dir je der Gedanke gekommen, dass die Dinge in deinem Leben besser laufen könnten, wenn du Verben benutzen würdest?“ Sie sah hoch und lächelte, als Matt auf sie zukam. „Dauert nur eine Sekunde“, flüsterte sie.

„Ich brauch’ keine Verben, Babe. Ich hab’ andere Talente. Sind wir dabei, oder was? Da ist ’ne Party. Wir gehn hin, hinterher zu mir. Alle sind zufrieden.“

Wahnsinn, das war ja schon fast eine Rede. „Sehr verlockend, aber nein“, antwortete sie. Ausnahmsweise war sie einmal nicht in der Stimmung für Andrew und seine „Talente“, womit er sich auf seinen Penis bezog, was ja vermutlich sogar noch etwas besser klang, als wenn er von „Andrew Junior“ gesprochen hätte.

„Du versäumst was.“

„Ganz bestimmt, ich werde es wochenlang bedauern. Und tschüs.“ Sie legte auf. „Ich werde jetzt offiziell mein Handy abstellen. Es wird uns nicht mehr stören.“

Matt setzte sich ihr gegenüber. „Das war jetzt aber nicht dein Freund?“

„Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“

„Der Typ neulich hieß Zeke. Das hier war Andrew.“

„Du bist sehr aufmerksam. Eine hervorragende Qualität. Und nein, keiner von beiden ist mein Freund. So ernst wird es bei mir nie.“ Wozu auch? Sie hatte noch nie jemanden gefunden, den sie öfter als zweimal treffen wollte.

„Interessant. Warum ist das so?“

Sie sah ihm tief in seine dunklen Augen. „Glaube auch nicht eine Sekunde lang, dass du mich dazu bringen könntest, zu vergessen, weshalb wir hier sind, indem du jetzt mich ausfragst.“

Er zuckte die Schultern. „Einen Versuch war es wert.“

„Hmm-hmm. Weiter jetzt. Wir haben heute einiges vor.“ Sie legte eine Kunstpause ein. „Ich habe einen Plan ausgearbeitet.“

Matt nippte an seinem Getränk und blinzelte sie an.

Sie war nicht bereit, sich von seiner mangelnden Unterstützung bremsen zu lassen. „Als Erstes muss ich dir ein paar Fragen stellen. Was machst du beruflich? Irgendwas mit Computern?“

Er nickte. „Programmierer. Ich beschäftige mich viel mit Spielen. Bei Microsoft.“

„Dachte ich mir. Hast du irgendwelche Hobbys?“

Er überlegte einen Moment. „Computer und Spiele.“

„Weiter nichts?“

„Vielleicht noch Filme.“

Was so viel bedeutete wie Nein. Aber er hatte sich schnell etwas ausdenken müssen. „Hast du schon ‚Wie werde ich ihn los – in 10 Tagen‘ gesehen? Der ist letzte Woche angelaufen.“

Er schüttelte den Kopf.

„Den musst du dir ansehen“, wies sie ihn an und klopfte dann auf den Tisch vor ihm. „Mach dir Notizen. Du wirst Hausaufgaben bekommen.“

„Was denn?“

„Du musst eine Menge lernen. Etwas wirst du dich schon anstrengen müssen. Bist du dabei oder nicht?“

Er zögerte einen Moment. „Ich bin dabei“, sagte er dann, auch wenn er von der Aussicht nicht sonderlich begeistert schien.

Sie schob ihm ein paar Blatt Papier hin, und pflichtbewusst notierte er den Filmtitel.

„Um deine Wohnung kümmern wir uns später. Heute will ich mit dir kulturelle Empfehlungen und deine Garderobe durchgehen.“

„Ich habe keine Wohnung.“

Sie blinzelte ihn an. „Wie bitte?“

„Ich wohne zu Hause. Bei meiner Mutter.“ Er schob sich die Brille auf der Nase hoch. „Bevor du etwas sagst, es ist wirklich ein schönes Haus. Viele Männer wohnen zu Hause. Das ist praktisch.“

Oh je. Die Lage war schlimmer, als sie angenommen hatte. „Wie alt bist du?“

„Vierundzwanzig.“

„Dann ist es wahrscheinlich an der Zeit, das Nest zu verlassen. Was soll es denn bringen, sich ein Mädchen zu angeln und dann nicht zu wissen, wohin mit ihr?“ Sie machte sich eine Notiz. „Wie gesagt, das gehört zum fortgeschrittenen Teil des Unterrichts.“

„Und wo wohnst du?“

Verblüfft sah Jesse ihn an, dann fing sie an zu lachen. „Bei meiner Schwester.“

Er wirkte richtig selbstgefällig. „Siehst du?“

„Ich bin auch kein Mann.“

„Na und?“

„Ein Punkt an dich. Aber erst musst du ausziehen.“ Sie griff in ihren Rucksack und zog einen Stapel Zeitschriften heraus. „People erscheint wöchentlich. Du solltest es abonnieren. Cosmo und Car and Driver kommen einmal im Monat raus. Dasselbe gilt für In Style. Du musst sie lesen. Wir werden einen Test machen.“

Er verzog das Gesicht. „Das sind alles Frauenzeitschriften, außer der mit den Autos. Und für Autos interessiere ich mich nicht.“

„Das ist kulturelles Unterrichtsmaterial. In Style hat eine tolle Rubrik über Männer, die sich gut kleiden. Und massenhaft Fotos von hübschen Frauen. Das wird dir gefallen. Mit People kannst du dich auf dem Laufenden halten, was Neuigkeiten von Promis angeht. Das mag dich zwar nicht interessieren, aber zumindest wirst du dann ein paar der Namen kennen, von denen die Leute reden. Mit der Autozeitschrift wirst du etwas vielseitiger, und Cosmo ist der ständige Begleiter jeder Frau über zwanzig. Sieh es einfach als das Spielbuch deines Gegners an.“ Sie schob ihm die Zeitschriften hin.

„Als Nächstes“, fuhr sie fort, „kommen wir dann zum Fernsehen.“

„Ich sehe nicht sehr viel.“

„Du wirst damit anfangen, dir American Idol und Gilmore Girls anzusehen. Alte Folgen der Gilmore Girls kannst du jeden Tag auf dem Family Channel finden. Nimm sie auf und sieh sie dir an, wenn du Zeit dazu hast. Das wird dir zeigen, wie du mit einer Frau reden musst, oder zumindest wie Frauen fantasieren, dass Männer mit ihnen reden werden. Es ist spritzig, witzig und sehr aufschlussreich. American Idol ist die beliebteste Show im Fernsehen. Engagiere dich. Sprich mit deinen Kollegen darüber.“

„Man kann doch durchs Fernsehen nicht lernen, wie man mit Frauen spricht“, wandte Matt ein.

„Woher willst du das wissen? Hast du es schon mal versucht?“

„Nein.“

„Na also.“ Sie warf einen Blick auf ihre Liste. „Nächster Punkt. Wir werden miteinander zum Essen ausgehen. Ich will, dass du mich anrufst und mich zu einem Date einlädst. Wieder und wieder. Manchmal werde ich Ja sagen, und manchmal werde ich Nein sagen. Das werden wir dann zwei Wochen lang täglich üben, bis dir das locker von den Lippen kommt. Weiter geht’s mit Einkaufen. Du brauchst ein paar neue Klamotten.“

Er sah an sich hinab. „Was ist denn mit meinen Sachen nicht in Ordnung?“

„Wie viel Zeit hast du? Keine Sorge. Das lässt sich alles regeln. Tatsächlich mache ich mir viel mehr Gedanken um deine Brille.“

Er verzog das Gesicht. „Kontaktlinsen kann ich nicht vertragen.“

„Hast du schon einmal an eine Laserbehandlung gedacht?“

„Nein.“

„Informiere dich darüber im Internet. Du hast fantastische Augen. Es wäre schön, wenn wir sie sehen könnten. Also, welche Chancen haben deiner Meinung nach die Mariner in dieser Saison?“

Sein Blick wurde ausdruckslos. „Das ist Baseball, richtig?“

Sie stöhnte. „Ja. Halte das Team während der Saison im Auge. Das kannst du gleich mit auf die Hausaufgabenliste setzen.

Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. „Das ist mir zu blöd. Ich weiß nicht, weshalb du dir die Mühe machst. Vergiss es einfach.“

Sie sprang auf und hielt ihn am Arm fest. Er war sehr viel größer als sie und hatte ziemliche Muskeln. Das war gut. „Matt, tu es nicht. Ich weiß, das alles scheint sehr viel zu sein, aber wenn wir einmal die größten Hindernisse aus dem Weg geräumt haben, ist es halb so wild. Vielleicht gefällt es dir sogar. Möchtest du denn nicht jemand Besonderes finden?“

„So sehr vielleicht auch wieder nicht.“

„Das meinst du doch nicht so.“

„Warum tust du das?“, wollte er wissen. „Was hast du davon?

„Es macht mir Spaß“, räumte sie ein. „Es gefällt mir, über dich nachzudenken. Das ist leichter, als über mich selbst nachzudenken.“

„Warum?“

„Weil ich im Augenblick feststecke.“ Sie hatte weder eine Karriere noch sonst etwas, wie Richtung oder Ziel. Sie wechselte die Liebhaber so häufig, wie die meisten anderen Frauen ihre Slips wechselten, und nicht, dass sie darauf stolz wäre.

Er schien überrascht. „Du bist doch diejenige, die sich mit Veränderungen so gut auskennt.“

„Wer es kann, tut es. Wer es nicht kann, unterrichtet.“

Einen Augenblick lang sah er sie prüfend an. „Du weichst aus.

„Manchmal, ja.“

„Warum?“

Interessante Frage. „Weil ich nicht immer mit mir zufrieden bin“, gab sie zu. „Weil ich nicht weiß, wie ich mich ändern soll, aber ich sehe ganz klar, wie ich dich verändern kann. Und wenn ich etwas bewirken kann, werde ich mich besser fühlen.“

„Eine ehrliche Antwort.“

„Ich weiß. Das hat mich auch überrascht.“ Sie wartete, bis er sich setzte. „Gib mir einen Monat. Einen Monat lang musst du tun, was ich dir sage. Wenn du die Veränderungen dann ablehnst, kannst du wieder zu deinem alten Leben zurückkehren, und es wird sein, als wäre nichts geschehen.“

„Aber nicht nach einer Laseroperation.“

„Wäre denn das so schlimm?“

„Vielleicht ja nicht.“

„Du musst mir vertrauen“, redete sie ihm zu. „Ich will, dass das für dich funktioniert.“ Denn vielleicht würde es ja irgendwie auch für sie funktionieren, wenn sie mit ihm Erfolg hätte. Jedenfalls war das die Theorie.

Zehn Tage später wäre Jesse im Kirkland Olive Garden beinahe vom Hocker gefallen. Sie sprang auf und zeigte mit dem Finger auf ihn.

„Wer bist du?“, fragte sie.

Matt grinste und baute sich vor ihr auf. „Du hast mir doch gesagt, welche Sachen ich kaufen soll. Also dürfte es für dich ja wohl kaum eine Überraschung sein.“

„Angezogen sehen sie aber viel besser aus, als ich es in Erinnerung habe“, murmelte sie und machte ihm ein Zeichen, dass er sich einmal langsam um die eigene Achse drehen sollte.

Es war erstaunlich, was ein wenig Zeit und ein paar Hunderter weniger auf der Kreditkarte bewirken konnten. Er war von Kopf bis Fuß verwandelt. Ein Haarschnitt für achtzig Dollar in einem der exklusiven Salons in Bellevue war nur der Anfang gewesen. Die Hochwasser-Jeans, die Tennisschuhe und das spießige Hemd mit dem Hemdtaschenschoner waren verschwunden. Stattdessen trug Matt nun ein blassblaues Hemd und eine gut geschnittene Hose, die seine schmalen Hüften und seinen Hintern betonten, der überraschend sexy war. Sie hatte ihn dazu verleitet, Lederschuhe zu kaufen, die fast vierhundert Dollar gekostet hatten, aber sie waren auch jeden einzelnen Penny wert.

Die eigentliche Veränderung war allerdings, wie er ohne Brille aussah.

Sein Gesicht hatte maskuline Züge und ein gemeißeltes Kinn, was ihr vorher noch nie aufgefallen war. Seine Augen waren sogar noch besser, als sie es sich vorgestellt hatte, und sein Mund … war der schon immer so sexy gewesen mit diesem leicht schiefen Lächeln?

„Du bist umwerfend“, versicherte sie ihm und empfand dabei tatsächlich ein leichtes inneres Beben. „Wirklich sexy. Wow.“

Er wurde ein bisschen rot. „Du siehst auch gut aus.“

Mit einer Handbewegung tat Jesse sein Kompliment ab. Es war nicht wichtig, wie sie aussah. Es ging um ihn.

Die Hostess kehrte zurück und bot an, ihnen ihre Plätze zu zeigen. Jesse fiel auf, wie sie Matt abcheckte, während sie zu ihrem Tisch geführt wurden.

„Hast du das gesehen?“, fragte sie leise, als sie in ihr Separee rutschten. „Sie war total fasziniert von dir.“

Matt lief nun völlig rot an. „Das sagst du so.“

„Das glaube ich nicht. Wenn ich jetzt aufstehen und zur Toilette gehen würde, dann würde sie dich mit Sicherheit anmachen.“

Er wirkte eher nervös als erfreut. „Du wirst aber doch jetzt nicht gehen, oder?“

Sie lachte. „Vielleicht beim nächsten Mal. Erst einmal wirst du dich an die Aufmerksamkeit gewöhnen müssen, bevor du damit anfangen kannst, sie zu genießen.“ Sie ignorierte die Speisekarte und beugte sich zu ihm vor. „Also erzähl mir. Was gibt es Neues bei der Arbeit?“

„Wir sammeln gerade Ideen für ein neues Spiel. Die Theorie dahinter ist wirklich weit fortgeschritten, aber es gibt da …“ Er unterbrach sich, als sie den Kopf auf den Tisch legte und stöhnte. „Was ist los?“

„Sehe ich so aus, als ob ich mich für Spieltheorien interessiere?

„Nein, aber du hast doch danach gefragt.“

„Ich habe danach gefragt, was es Neues bei der Arbeit gibt. Das bedeutet, dass ich etwas über deine Kollegen hören will.“

„Oh.“ Er hob die Hand ans Gesicht, als wolle er sich die Brille hochschieben, ließ sie dann aber in den Schoß fallen. „Es ist anders geworden.“

Sie richtete sich wieder auf. „Wie anders?“

„Die Leute reden mit mir.“

Sie lächelte, denn damit war klar, dass er bereits erste Erfolge verbuchen konnte. „Die Frauen, nicht wahr? Du meinst die Frauen.“

Matt grinste. „Ja. ’Ne Menge Sekretärinnen sagen jetzt Hallo zu mir. Und eine Frau aus der Buchhaltung hat mich gebeten, ihr dabei zu helfen, irgendwelche Sachen zum Auto zu tragen. Nur, es war gar nicht so viel, und sie hätte es auch gut allein schaffen können.“

„Hast du sie eingeladen?“

„Was? Nein.“ Er wirkte geschockt. „Das geht doch nicht. Sie ist älter als ich, weißt du.“

Jesse hob die Augenbrauen. „Wie viel älter?“

„Fünf oder sechs Jahre vielleicht. Sie wird sich doch nicht für mich interessieren.“

„Oh, Schätzchen, du wirst noch so viel über die Frauen lernen müssen. Du bist groß, glänzend in Form, siehst gut aus. Du hast einen guten Job, bist grundsätzlich süß, witzig und klug. Was daran sollte man nicht mögen?“

Wieder schoss ihm die Röte ins Gesicht. „Das bin nicht ich.“

„Genau das bist du. Es war längst alles vorhanden, die ganze Zeit schon, nur dass es sich hinter einem Hemdtaschenschoner versteckt hatte.“ Eindringlich sah sie ihn an. „Ich hatte dir gesagt, dass du sie alle wegwerfen sollst. Hast du das getan?“

Er verdrehte die Augen. „Ja. Das hatte ich dir doch schon gesagt.“

„Gut.“

Ihr Handy klingelte. Sie zog es aus der Handtasche und sah auf das Display.

„Andrew oder Zeke?“, fragte Matt.

„Joe.“ Sie stellte das Telefon ab. „Entschuldigung.“

Matt sah sie prüfend an. „Wie viele Kerle hast du eigentlich?“

Keine Frage, die sie beantworten wollte. „Das ist kein besonders interessantes Thema.“

„Mich interessiert es.“

„Ich habe Männerbeziehungen, aber ich lasse es nie so weit kommen, dass es ernst wird. Nicht der Rede wert.“

„Triffst du denn so viele verschiedene Männer?“

„Sicher. Das ist leicht. Sie sind doch überall.“ Und es war nicht die geringste Herausforderung für sie, Männer anzuziehen. Aber nicht, dass sie daran interessiert wäre, sie für längere Zeit um sich zu haben.

Der Kellner erschien. Jesse war dankbar für die Unterbrechung. Es hätte sie deprimiert, weiter über ihr Privatleben zu reden, und am Ende könnte er sie noch für eine …

Für was halten? Eine Schlampe? Hatte nicht ihre Schwester sie bereits so genannt? Hör auf, an Nicole zu denken, befahl sie sich und klappte ihre Speisekarte auf.

Matt wartete ab und ließ sie ihre Bestellung zuerst aufgeben, dann zählte er die Dinge auf, die er sich ausgesucht hatte. Dazu gehörte auch ein Glas Wein.

„Sehr lässig“, lobte sie ihn, als sie wieder allein waren. „Das Glas Wein gibt einen netten Touch. Weißt du was, wir könnten einmal zusammen in die Château-St.-Michelle-Kellerei gehen. Dort werden Weinproben veranstaltet, und du könntest mal üben, versnobt zu sein.“

Er lachte. „Du willst mich also zum Snob machen?“

„Man kann doch nie wissen, wann es einmal nützlich sein könnte.“

Der Kellner brachte die Getränke. Jesse rührte in ihrem Eistee. „Du hast dich ganz schön verändert. Wie geht es dir dabei?“

„Du wirst mich nicht dazu bringen, über meine Gefühle zu sprechen“, erklärte er ihr. „Männer sind so.“

„Gute Antwort.“

„Du machst dich wohl lustig über mich?“

„Ein bisschen vielleicht.“

„Damit kann ich leben.“

In seiner Stimme lag ein ruhiges Selbstvertrauen, wie sie es bei ihm noch nie gehört hatte. Es passte zu seiner aufrechten Haltung und der Art, wie er ihr gerade in die Augen sah.

Ohne den Blick abzuwenden, fragte er: „Willst du mir nicht einmal deine Geschichte erzählen? Ich weiß, du bist nicht wirklich eine Lebensstilberaterin. Also, wer bist du? Und was tust du, wenn du mich nicht gerade in ein Einkaufszentrum jagst?“

Wenigstens keine Frage zu meinem Privatleben, dachte Jesse und rümpfte die Nase. Aber auch der Rest ihrer Welt befand sich in keiner wesentlich besseren Verfassung. „Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich arbeite in der Bäckerei, die meiner Schwester und mir gehört. Das heißt, meine Hälfte wird treuhänderisch verwaltet, bis ich fünfundzwanzig bin. Mir gefällt die Arbeit dort nicht besonders, aber das hat vor allem damit zu tun, dass ich mit Nicole nicht gut klarkomme.“

„Warum versteht ihr euch nicht?“

Jesse überlegte, wie viel sie ihm erzählen sollte. „Ich habe noch eine zweite Schwester. Claire. Sie ist Pianistin und ziemlich berühmt. Gleich nach meiner Geburt hat sie das Haus verlassen, um in der ganzen Welt aufzutreten, daher kenne ich sie auch kaum. Als ich dann sechs war, ist unsere Mutter losgezogen, um Claire auf ihren Reisen zu begleiten, und meine Erziehung blieb dann an Nicole hängen. Unser Dad war keine große Hilfe. Ich muss wohl ein ganz schönes Früchtchen gewesen sein, wie man so sagt. Nicole glaubt, dass ich nichts anderes kann, als ständig nur Mist zu bauen, und ich halte sie für die Zickenkönigin der westlichen Hemisphäre. Zum Beispiel die Bäckerei. Ich habe sie darum gebeten, mich auszuzahlen, damit ich einfach gehen kann, aber sie will nicht.“

„Was würdest du denn mit dem Geld anfangen?“

„Keine Ahnung.“

„Vielleicht ist das ja der Grund, weshalb sie es dir nicht gibt.“

Jesse lächelte. „Wenn du den Vernünftigen spielen willst, werden wir dieses Gespräch nicht fortsetzen können.“

„Tut mir leid.“

„Schon in Ordnung. Jetzt aber genug von mir. Ich weiß, dass du bei deiner Mom lebst. Was ist mit deinem Dad? Sind sie geschieden?“

„Sie waren nie verheiratet. Meine Mom spricht überhaupt nicht von ihm. Von Anfang an waren wir zwei allein. Als ich klein war, hat sie wirklich hart gearbeitet. Geld war immer knapp, und sie hat alles für mich getan.“

Möglicherweise eine beängstigende Vorstellung, aber Jesse beschloss, kein Urteil zu fällen, bis sie alle Fakten kannte. „Sie scheint ein netter Mensch zu sein.“

„Meistens ist sie das auch. Für sie war es nie ein Problem, dass ich mich so für Computer begeistert habe. Nie ist sie mir damit auf die Nerven gegangen, dass ich rausgehen sollte oder dass sie besorgt war, weil ich nicht so viele Freunde hatte. Sie hat immer gesagt, ich würde einmal das werden, was mir bestimmt ist, und ich müsste mir keine Sorgen machen, wenn die Dinge gerade einmal nicht so liefen, wie ich sie gern hätte.“

„Das ist toll“, sagte Jesse.

„Als ich fünfzehn war, hatte mich dann ein Computerspiel, das ich gerade spielte, irgendwann total frustriert. Also habe ich mich in deren System eingeloggt, den Code geknackt und das Spiel neu geschrieben. Dann bin ich hingegangen und habe ihnen die neue Version gezeigt, und sie haben mich für die Lizenz bezahlt. Das hat unsere finanzielle Situation dann deutlich verbessert.“

Jesse starrte ihn an. „Du hast mit fünfzehn die Lizenz für ein Computerspiel verkauft?“

Er nickte.

„Für richtig viel Geld?“

„So zwei Millionen im Jahr.“

Wenn sie gerade getrunken hätte, sie hätte sich verschluckt. „Dann bist du also reich?“

„Ich schätze ja. Ich denke nicht so viel darüber nach.“

„Du bist also reich, und dann hast du einen Hemdtaschenschoner getragen?“

„Du musst jetzt mal damit aufhören. Ich habe doch gesagt, dass ich sie alle weggeworfen habe.“

„Du bist reich.“ Sie konnte den Gedanken nicht fassen.

„Was willst du damit sagen? Macht das jetzt einen Unterschied?“

Mehr als er glaubte. Aber ihn vor den Frauen zu warnen, die nur des Geldes wegen hinter ihm her sein würden, war etwas, worüber sie später noch reden konnten. Sie lachte. „Der Unterschied wird sein, wer für das Essen bezahlt.“

3. KAPITEL

Gegenwart …

Von Anfang an hatte Jesse vorgehabt, alle Wiederbegegnungen so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Es war wie der Sprung in einen kalten Pool am tiefen Ende. Sicher, der Schock brachte einen fast um, aber dann war es auch schnell vorbei. Daher bemühte sie sich nach Kräften, das Gespräch mit Matt zu vergessen, ihr heftiges Herzklopfen und die vielen Erinnerungen, die ihr Hirn überschwemmten, zu ignorieren, und die zweite unbekannte Adresse aufzusuchen, zu der ihr zuverlässiges Navi sie leitete.

Dieses Haus war mit keinem riesigen Tor versehen, aber es war fast so groß wie das, von dem sie gerade kam. Das zweistöckige weitläufige Gebäude war allerdings weniger ein Zeugnis großartiger Architektur, als dass es stolz verkündete, von einer Familie bewohnt zu sein.

Ein Dreirad und verschiedene Spielsachen lagen auf der breiten überdachten Veranda herum, während ein Minivan vor der Garage parkte. An der Haustür hing einer dieser dekorativen Kränze, was Jesse stutzig machte. Vielleicht hatte sie ja doch das falsche Haus erwischt, denn Nicole war eigentlich nicht der Typ für solche Kränze. Nun, vielleicht hatte sie sich ja geändert.

Jesse versuchte, sich das vorzustellen, aber es gelang ihr nicht. Dennoch, in den fünf Jahren, die sie weg gewesen war, hatte ihre Schwester nicht nur geheiratet – eine Hochzeit, zu der Jesse nicht eingeladen gewesen war -, sondern auch einen Sohn und zwei Mädchen bekommen, ein Zwillingspärchen. Die Information hatte sie, mit herzlichen Grüßen, von Nicoles Zwillingsschwester Claire erhalten, der Schwester, die Jesse nie wirklich gekannt hatte.

Sie parkte auf der Straße und zog weitere Fotos aus der Handtasche. Nicole davon zu überzeugen, wer der Vater ihres Kindes war, war für Jesse fast ebenso wichtig, wie Matt zu überzeugen, wenn auch aus völlig anderen Gründen.

Sie stieg aus dem Wagen und nahm den Hauptweg zum Haus. Als sie sich der Haustür näherte, fielen ihre Schultern nach vorne. Die alten Gefühle, von denen sie geglaubt hatte, sie längst überwunden zu haben, stellten sich wieder ein. Diese Stimmen, die ihr sagten, dass sie nichts anderes war als eine Versagerin. Dass sie alles zerstörte, was sie anrührte. Dass sie nichts zu schätzen wusste.

„Schluss damit!“, sagte sie laut und blieb vor der Treppe stehen. „Ich bin nicht mehr diese Person.“

Und das war sie auch nicht. Sie war erwachsen geworden und hatte sich verändert. Sie hatte Verantwortung übernommen, eine alleinerziehende Mutter, die es ohne Hilfe geschafft hatte. Als Jesse damals gegangen war, hatte Nicole behauptet, sie würde innerhalb weniger Wochen wieder angekrochen kommen. Das war nicht geschehen.

Also nahm sie die Schultern zurück, hob das Kinn, ging die Treppe hinauf, drückte auf die Klingel und wartete.

Drinnen hörte sie jemanden etwas rufen, und dann Fußgetrappel. Ruckweise ging die Haustür auf und ein kleiner Junge starrte zu ihr herauf.

„Wer bist du?“, fragte er laut, denn seine Stimme musste sich gegen Babygeschrei durchsetzen. Wie es aussah, waren beide Zwillinge wach und gar nicht glücklich.

„Eric, ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht an die Tür gehen, ohne mir vorher Bescheid zu sagen. Und frag die Leute nicht, wer sie sind.“

Wie seine Mom hatte Eric blondes Haar und blaue Augen. Er war so groß wie Gabe und musste ungefähr im selben Alter sein. Er seufzte und wandte sich an Jesse.

„Ich soll nicht allein die Haustür aufmachen.“

„Das habe ich gehört. Vielleicht willst du deine Mom ja mal holen.“

„Bin schon da“, sagte Nicole und kam mit einem Baby auf dem Arm um die Ecke. „Was kann ich für Sie …“

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