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Friesenherzen und Winterzauber

Als Buch hier erhältlich:

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Die Hamburgerin Ellen muss vor ihrem Liebeskummer fliehen. Wie soll die Autorin da bloß für ihr neues Buch in Romantik schwelgen? Auf nach St.Peter-Ording. Sofort ist sie verzaubert von den vereisten Salzwiesen, der Weite des Strandes und dem gemütlichsten Teeladen der Welt. Und von einem geheimnisvollen Briefkasten neben dem alten Leuchtturm. Ihm vertraut sie einen Brief mit ihren Gefühlen an. Was sie nie erwartet hätte: Am nächsten Tag erhält sie eine Antwort…

"Tanja Janz hat einen wunderschönen Wohlfühlschmöker geschrieben, der in der Winterzeit das Herz erwärmt" Neue Freizeit


  • Erscheinungstag: 07.11.2016
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956496547

Leseprobe

Tanja Janz

Friesenherzen und Winterzauber

Roman

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der HarperCollins Germany GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2016 by Tanja Janz

Dieses Werk wurde vermittelt

durch die Literaturagentur Scriptzz, Berlin.

Originalausgabe

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner GmbH, Köln

Umschlaggestaltung: büropecher, Köln

Redaktion: Friderike Baum

Titelabbildung: Maskot, Ian Nolan / Getty Images;

Ian Nolan / Thinkstock; büropecher, Köln

ISBN eBook 978-3-95649-930-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. Kapitel

„Bedarfshalt Sandwehle“, erklang eine Frauenstimme aus einem Lautsprecher. Die Regionalbahn nach St. Peter-Ording glitt im gemächlichen Tempo über die Schienen. Links und rechts der Bahngleise erstreckte sich schneebedecktes Land, so weit die Augen blicken konnten, das durch seine platte Beschaffenheit die unmittelbare Nähe zur nordfriesischen Küste erahnen ließ, wenngleich der typisch salzige Geruch der Luft in der kalten Jahreszeit gänzlich fehlte. Wind strich über die scheinbar endlosen blütenweißen Weiten, die sich bis zum Horizont ausbreiteten, und wirbelte feinen Schneestaub auf. Die Wintersonne schien von einem wolkenlosen Himmel auf die helle Schneedecke herab, die aus Tausenden glitzernden Punkten zu bestehen schien. Wie viele kleine Spiegel warfen sie das Sonnenlicht in alle Himmelsrichtungen und verliehen der Landschaft etwas Mystisches, als läge ein wohlbehütetes Geheimnis unter dem strahlenden Weiß verborgen.

Die Sitzplätze der wenigen Waggons der Nord-Ostsee-Bahn waren bis auf wenige Ausnahmen frei. Nur hier und da fanden sich vereinzelt von Fahrgästen belegte Sitze, sodass die überschaubare Anzahl der Reisenden genügend Platz hatte, um ihre Taschen und Gepäckstücke auf den unmittelbaren Nachbarsitzen abstellen zu können.

Zur Urlaubssaison sah dies natürlich ganz anders aus. Dann kamen jedes Jahr neben unzähligen Touristen auch saisonale Arbeitskräfte auf die Halbinsel Eiderstedt in Nordfriesland. Besonders der Küstenort St. Peter-Ording zog Kurgäste, Urlaubsreife und Arbeitswillige an wie das Licht die Motten.

Vier langhaarige Typen in lässiger Kleidung, mit farbenfrohen Beanies auf ihren Köpfen, hatten den hinteren Teil der Bahn mit ihren großen Reiserucksäcken in Beschlag genommen und beschallten den Zug mit englischsprachiger Rockmusik, die aus einem Gettoblaster tönte. Zwei ältere Damen mit altrosafarbenen und gelben Angoramützen, robusten Steppjacken und Stiefeletten zum Schnüren rümpften missbilligend ihre Nasen ob der Ruhestörung. Wobei nicht eindeutig auszumachen war, ob sie sich durch die Rockmusikklänge oder eher durch die schreienden Kinder einer Großfamilie, die im Nachbarwaggon saß, belästigt fühlten, die laut im Chor kreischend eine Autoalarmanlage imitierten und dadurch den akustischen Eindruck erweckten, als wäre der Zug bis auf den letzten Platz belegt.

Weit vorn im ersten Wagen saß Ellen einem älteren Mann gegenüber, der in unregelmäßigen Abständen an einer Holzpfeife zog, die jedoch nicht angezündet war und dabei in seinem rechten Mundwinkel wippend verweilte. Der Mann ließ sich durch den Geräuschpegel nicht aus der Ruhe bringen. Er studierte eine aktuelle Ausgabe der Tageszeitung Husumer Nachrichten und kommentierte einzelne Meldungen hin und wieder mit einem Brummen oder einem Hochziehen seiner Augenbrauen. Ellen war um einiges jünger als er. Sie hielt ein iPad auf ihrem Schoß und tippte eifrig mit den Fingern auf den Tasten des Bildschirms herum.

„Och, nee. Wieder keine Internetverbindung“, seufzte sie und streckte das iPad nun in ungelenken Winkeln von ihrem Körper weg, in der Hoffnung wieder eine Verbindung mit ihrem Tablet zum World Wide Web zu bekommen. Sie trug wadenhohe beigefarbene und mit Schaffell gefütterte Ugg Boots über enge ausgewaschene Jeans und einen kakifarbenen Parka, der bis zur Mitte ihrer Oberschenkel reichte. Ihr hellblondes mittellanges Haar trug sie zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammengebunden und ihren Hals wärmte ein marineblauer grob gestrickter Loop, in dessen Strickmuster weiße Anker eingearbeitet waren.

Der ältere Herr schaute ihr über den Rand der Zeitung amüsiert dabei zu, wie sie sich vergeblich in abenteuerlichen Posen verbog, um eine Verbindung zum Internet zu bekommen. „In Nordfriesland richtet sich der Empfang nach dem Wind, junge Dame“, bemerkte er.

Ellen hielt überrascht in ihrer Bewegung inne und schüttelte dann den Kopf, als hätte sie den Mann nicht richtig verstanden. „Wie bitte?“

„Stimmt die Richtung, hat man Empfang“, erklärte er und zwinkerte ihr vergnügt zu.

Sie ließ die Hand, in der sie das iPad hielt, sinken und setzte sich wieder zurück auf den Platz, dem Mann gegenüber. „Und wenn die Richtung nicht stimmt? Was ist dann?“, fragte Ellen und legte den Kopf schief.

Der Mann zuckte bloß mit den Schultern. „Dann hat man Pause. So einfach ist das hier.“ Er lächelte ihr noch einmal zu, wobei sich seine Augenpartie in Fältchen legte, und vertiefte sich dann wieder in die Lektüre der Tageszeitung.

Sie lächelte zurück, auch wenn der Mann es nicht mehr sah. Dann verstaute sie ihr Tablet in ihrer Reisetasche, tastete nach der Dose mit Hustenbonbons und steckte sich ein quaderförmiges Klümpchen in den Mund.

Pause, dachte Ellen und lehnte ihre Stirn gegen die kalte Fensterscheibe des Zuges. Sie blickte nachdenklich auf die vorbeirasende Schneelandschaft. Wann hatte sie eigentlich das letzte Mal eine wirkliche Pause, eine Art Time-out, gehabt? Sie überlegte kurz, konnte sich aber nicht wirklich daran erinnern.

Natürlich, als Kind, da hatte es solche Zeiten gegeben. In den Schulferien zum Beispiel. Und das war damals für sie völlig selbstverständlich gewesen, wie für alle Kinder. Nichts Besonderes eben. Nie wäre sie auf die Idee gekommen in der lernfreien Zeit freiwillig auch nur ein Schulbuch anzurühren. Damals war ihr ihre Freizeit heilig gewesen. Doch das hatte sich schlagartig nach dem Abitur geändert.

Neben der Ausbildung zur Bankkauffrau und dem nachfolgenden BWL-Studium, das sie nach dem fünften Semester wieder aufgab, da sie mehr Zeit in ihren Nebenjobs verbrachte als im Hörsaal, war immer etwas zu tun gewesen.

Und als dann auch noch unverhofft einer ihrer Regionalkrimis aus Lübeck auf der Bestsellerliste eingestiegen war und sie sich vor Lesungsanfragen kaum mehr retten konnte, begriff Ellen bald, dass auch für sie der Tag nur vierundzwanzig Stunden hatte.

Die Schreiberei hatte sie bis dato lediglich als Hobby neben ihrem Job in einer Bank betrieben, den sie nach dem geschmissenen Studium wieder aufgenommen hatte – als kreativen Ausgleich sozusagen. Doch schon ein paar Wochen später, nachdem ihr Krimi bereits in die dritte Auflage gegangen war und der Verlag ihr erneut zu dem Überraschungserfolg gratuliert und Blumen geschickt hatte, wurde es schwierig für sie, ihre regulären Arbeitszeiten und die wiederholten Anfragen nach einem weiteren Roman unter einen Hut zu bringen.

Und dann hatte es da noch Laurits gegeben, Hamburgs Star- und Szene-Gastronom Nummer eins und Ellens fester Freund. Jedenfalls hatte sie bis vor wenigen Tagen noch geglaubt, sich in einer festen Beziehung zu befinden, als sie sich mit ihm zum Frühstück in einem Lokal an der Außenalster getroffen hatte.

Es sollte eine Überraschung sein. Ellen hatte zufällig auf einem Immobilienportal im Internet die absolute Traumimmobilie für sich und Laurits entdeckt und kurzerhand das Exposé des urigen Fährhauses von dem Makler angefordert. Sie waren nun schon seit über einem Jahr liiert, was in Ellens Augen höchste Zeit war, um den nächsten Schritt zu wagen, sprich ein gemeinsames Heim zu beziehen und dadurch ihre Beziehung auf die nächste Stufe zu stellen.

Als sie an dem besagten Morgen Laurits aufgeregt von ihrer Immobilien-Entdeckung berichtete und ihm das Exposé unter die Nase hielt, zog er ein Gesicht, als hätte er auf Alufolie gebissen und nicht in ein frisch gebackenes Franzbrötchen. Er legte das Hefegebäck zurück auf seinen Teller und eröffnete Ellen, nie solch konkrete Zukunftspläne mit ihr gehabt zu haben. Er wollte lieber alles auf sich zukommen lassen, ohne gleich Nägel mit Köpfen machen zu müssen.

Ellen war durch seine Aussage wie vor den Kopf gestoßen. Sie hörte ihm sprachlos zu und fragte sich, ob sie sich im falschen Film befand. Sie konnte einfach nicht glauben, was sie da hörte – geschweige denn konnte sie es begreifen.

„Ich bin von deiner Hausaktion wirklich völlig überrascht. Du weißt doch, wie wichtig mir Unabhängigkeit ist“, wiederholte Laurits und schaute dabei auf sein Handy. Dann stand er auf, biss noch einmal von seinem Franzbrötchen ab und kippte hastig einen Schluck aus der Kaffeetasse hinterher. Er steckte sich das Mobiltelefon in die Gesäßtasche seiner Designerjeans und angelte mit einer Hand nach seinem Schal, den er zuvor achtlos über die Stuhllehne geworfen hatte. „Sorry, aber ich habe gleich einen wichtigen Termin mit einem meiner Lieferanten. Wir können ja später telefonieren.“

Ellen nickte bloß und schaute ratlos auf das Exposé, das vor ihr auf dem Tisch lag.

Kaum war Laurits aus ihrem Sichtfeld verschwunden, fragte sie sich, ob das gerade wirklich passiert war oder ihr ihre durchaus blühende Fantasie mal wieder einen Streich gespielt hatte.

Das angebissene Gebäckstück und die leere Kaffeetasse, die ihr gegenüberstand, bewiesen ihr jedoch, dass ihre Vorstellungskraft ihr dieses Mal keinen Streich gespielt hatte und das Gespräch mit Laurits tatsächlich in der Realität stattgefunden hatte – leider.

Ellen griff nach ihrer Tasse, wobei ihre Hände leicht zitterten. Sie hatte ihr Leben für die nächsten Monate bereits fest durchgeplant gehabt und in ihrem Kopf hatte sich ein regelrechtes Konstrukt manifestiert, das nun wie ein Kartenhaus in sich zusammengefallen war.

Die heiße Flüssigkeit durchfuhr sie angenehm warm, konnte aber nicht die Taubheit des Schocks vertreiben. Tief durchatmend massierte Ellen sich die Schläfen. Jetzt bloß nicht in Panik verfallen, versuchte sie sich zu beruhigen. Vielleicht sollte sie später einfach noch einmal mit Laurits reden. In Ruhe und ganz vernünftig. Eventuell stellte sich die Situation dann ganz anders dar, als sie sie gerade empfand. Es konnte doch nicht möglich sein, dass sie davon ausgegangen war, mit ihm in einer festen Beziehung zu sein, und Laurits diese „Beziehung“ die ganze Zeit eher als eine lockere Sache betrachtete. Oder?

Aus ihrer Handtasche erklang der Klingelton ihres Mobiltelefons und unterbrach ihre Grübeleien über ihr aktuelles Beziehungschaos. Ellen hatte eigentlich keine Lust, mit jemanden zu telefonieren. Dennoch griff sie pflichtbewusst in ihre Tasche und zog ihr Handy hervor. Auf dem Display erschien der Name von Isabel Allekotte, ihrer Verlagslektorin.

Auch das noch! dachte Ellen. Ausgerechnet jetzt. Normalerweise freute sie sich über Anrufe vom Verlag, da es sich bisher ausschließlich um positive Gespräche gehandelt hatte. Außerdem mochte sie die fröhliche Art ihrer Lektorin, die von Anfang an an sie als Autorin und ihren Krimi geglaubt hatte. Doch im Moment war Ellen völlig von der Rolle, wegen des Gesprächs mit Laurits. Aber sie konnte auch den Anruf nicht einfach ignorieren. Sie wusste, dass ihre Lektorin immer nur dann anrief, wenn sie wichtige Dinge mit ihr zu besprechen hatte.

Ellen würde ihr gesamtes schauspielerisches Talent aufbringen müssen, um sich nichts von ihrer aktuellen Stimmungslage anmerken zu lassen. Sie räusperte sich und wischte dann einen Augenblick später mit einem Finger über den grünen Hörer auf dem Display des Handys. „Ellen Carstens?“, meldete sie sich, betont gut gelaunt.

„Isabel Allekotte. Guten Morgen, Frau Carstens. Ich hoffe, ich störe Sie nicht?“, erklang die dynamische Stimme der Lektorin am anderen Ende der Leitung.

„Guten Morgen, Frau Allekotte. Nein, Sie stören überhaupt nicht“, log Ellen so überzeugend, dass sie sich selbst fast glaubte.

„Ich habe ganz tolle Nachrichten für Sie, Frau Carstens. Ihr Krimi geht schon wieder in eine neue Auflage.“

„Ach! Im Ernst?“, fragte Ellen erstaunt. „Ist die letzte Auflage denn schon wieder vergriffen?“ Normalerweise wäre Ellen bei der Nachricht vor Freude an die Decke gesprungen, denn was gab es Schöneres für eine Autorin, als zu hören, dass sich die eigenen Bücher wie geschnitten Brot verkauften? Doch ihre Freude wurde durch das vorangegangene Gespräch mit Laurits merklich getrübt.

„Fast komplett abverkauft“, bestätigte ihr Frau Allekotte.

„Das ging aber fix. Damit habe ich gar nicht gerechnet.“

„Ja, wir sind auch alle sehr begeistert, denn Sie steigen mit Ihrem Krimi in der nächsten Woche wieder auf Platz 24 der Spiegel-Bestsellerliste ein“, verkündete Frau Allekotte enthusiastisch.

„Ich dachte, wenn ich einmal aus der Liste raus bin, dann war es das“, sagte Ellen überrascht.

„Nicht unbedingt. Zumal vor Kurzem ein Tatort im Fernsehen lief, der ebenfalls in Lübeck spielte. Dies kann durchaus ein Multiplikator gewesen sein und dazu geführt haben, dass Leser Lust auf Krimis aus Lübeck bekommen und die Buchhändler Ihr Buch dann empfohlen haben“, erklärte Frau Allekotte.

„Das sind ja in der Tat wunderbare Nachrichten“, sagte Ellen. Ihr tat die Neuigkeit über die Verkaufserfolge ihres Krimis gut. Gerade nach dem unerwarteten Gesprächsausgang mit Laurits war dies Balsam für ihre geschundene Seele. Wenigstens beruflich lief es rund. Immerhin.

„Aber ich rufe Sie noch wegen einer ganz anderen Sache an. Ich habe quasi einen kleinen Überfall auf Sie vor.“

„Aha? Das hört sich ja gefährlich an“, erwiderte Ellen vorsichtig.

„Keine Sorge, gefährlich ist es nicht. Dafür könnte es aber durchaus spannend werden.“

„Klingt ja fast wie nach einem Experiment.“

Frau Allekotte lachte leise. „Im Grunde genommen ist es sogar tatsächlich eine Art Experiment, oder nennen wir es besser einen Versuch.“

Ellen runzelte die Stirn. Was mochte das bloß sein? „Aha? Ich bin ganz Ohr.“ Intuitiv kramte sie in ihrer Handtasche nach einem Zettel und einem Stift, falls sie sich während des Gesprächs Stichpunkte machen musste, um kein wichtiges Detail später zu vergessen. Sie beförderte einen zerknitterten Einkaufszettel zutage, dessen Rückseite noch unbeschrieben war, und einen Ikea-Bleistift, dessen Miene bei nächster Gelegenheit mal wieder angespitzt werden musste.

„Bei der letzten Programmkonferenz haben wir beschlossen, dass wir unbedingt noch einen tollen Liebesroman für das übernächste Sommerprogramm benötigen. Ein richtiger Strandschmöker zum Wohlfühlen, wo die Seiten beim Lesen nur so dahinfliegen. Und da in Ihrem letzten Krimi auch die eine oder andere romantische Szene vorkommt, habe ich sofort an Sie gedacht. Ich glaube nämlich, dass in Ihnen auch eine große Liebesromanautorin steckt.“

Ellen ließ den Bleistift sinken. „An mich?“, fragte sie perplex und überlegte, wie Frau Allekotte bei ihrem Mord- und Totschlag-Stoff an einen „Strandschmöker zum Wohlfühlen“ denken konnte.

„Ja, an Sie. Sie sind in meinen Augen die ideale Autorin für einen solchen Roman. Ich traue Ihnen zu, dass Sie durchaus genreübergreifend schreiben können und Ihnen Liebesromane mindestens genauso liegen wie spannungsgeladene Krimis. Wir möchten Sie gerne auch in diesem Genre aufbauen.“

Ellen schüttelte den Kopf. Ausgerechnet jetzt, wo ihr eigenes Liebesleben den absoluten Tiefpunkt erreicht hatte, wollte der Verlag einen Liebesroman von ihr haben. Das Timing hätte nicht unpassender sein können. Aber vermutlich nannte man dies Ironie des Schicksals. „Meine Spezialität sind doch eher Krimis“, merkte sie an. „Außerdem ist Lübeck vielleicht nicht unbedingt das perfekte Setting für einen Liebesroman“, gab sie zu bedenken.

„Das eine muss das andere doch nicht ausschließen. Und der Roman muss auch nicht unbedingt in Lübeck spielen, da lasse ich Ihnen völlig freie Hand. Wie schon erwähnt, ich halte Sie für außerordentlich talentiert und bin mir sicher, dass sie einen wunderbaren Liebesroman für unsere Leser schreiben werden – ob in Lübeck oder anderswo. Außerdem ist der Zeitpunkt wirklich mehr als ideal. Jetzt, wo sie eine erfolgreiche Bestsellerautorin sind und die Leute gerne mehr von Ihnen lesen möchten. Mit einem Liebesroman könnten Sie sowohl neue Leser gewinnen, als auch bestimmt den einen oder anderen Fan Ihrer Krimis dafür begeistern. Könnten Sie es sich denn vorstellen, einen solchen Roman zu schreiben?“

Konnte sie es sich vorstellen? Was sollte Ellen darauf antworten? Sie war sich nicht sicher. Auf der einen Seite wollte sie Frau Allekotte nicht enttäuschen, indem sie ein Manuskript einreichte, das weit hinter den Erwartungen des Verlages zurückblieb. Doch auf der anderen Seite, käme es wahrscheinlich einem Eigentor gleich, dieses Angebot abzulehnen, und würde obendrein höchst unprofessionell wirken. „Tja … ich kann es ja mal probieren“, antwortete sie vage.

„Darf ich das als Zusage Ihrerseits werten?“, fragte die Lektorin begeistert.

Durfte sie? Vielleicht war es ja doch einen Versuch wert? Und womöglich würde ein neues Buchprojekt sie auch von ihrem aktuellen Liebeschaos mit Laurits ablenken und ihr sogar dabei helfen, ihren Liebeskummer zu verarbeiten. Es war definitiv besser, sich in einem neuen Genre zu probieren, als Trübsal zu blasen und sich in Form von Schokolade Seelentrost zu holen.

Ellen gab sich einen Ruck und nahm all ihren Mut zusammen. „Dürfen Sie“, bestätigte sie mit fester Stimme. Wahrscheinlich sollte sie ihrer Lektorin einfach vertrauen. Schließlich verfügte Frau Allekotte über jahrelange Erfahrung in der Literaturbranche, und wenn sie sagte, dass sie Ellen einen Liebesroman zutraute, dann sollte sie sich einmal an eine solche Geschichte heranwagen.

„Das ist ja wunderbar! Ich freue mich sehr über Ihre Zusage, Frau Carstens!“

„Und ich mich über das Vertrauen, das Sie in mich setzen“, erwiderte Ellen.

„Aber natürlich! Wir müssen nur das zeitliche Prozedere genau durchplanen. Meinen Sie, Sie könnten mir ein erstes Exposé am Anfang des nächsten Jahres zukommen lassen?“

„Dann hätte ich einen guten Monat Zeit, das Exposé zu schreiben. Das erscheint mir machbar“, überlegte Ellen laut.

„Großartig! Dann plane ich die Abgabe für den zehnten Januar ein, wenn Sie nichts dagegen haben. Vorher passiert im Verlag nach den Feiertagen eh nichts.“

„Einverstanden“, stimmte Ellen zu.

„Falls Sie irgendeine Form von Hilfe benötigen sollten, dann wenden Sie sich bitte zu jeder Zeit an mich“, bot ihre Lektorin an.

„Vielen Dank. Ich komme bestimmt darauf zurück. Hoffentlich wollen die Leute im Sommer dann, neben einem Krimi aus Lübeck auch einen Liebesroman von Greta Bennert lesen.“

„Oh, gut, dass Sie dieses Thema ansprechen, das hätte ich ja fast vergessen zu erwähnen. Wir haben uns überlegt, dass es besser wäre, den Liebesroman nicht unter Ihrem Krimi-Pseudonym zu veröffentlichen. Das könnte zu einer falschen Erwartungshaltung bei der Leserschaft führen“, erklärte Frau Allekotte.

„Verstehe. Also soll ich mir ein zweites Pseudonym für das Liebesroman-Projekt ausdenken?“

„Das wäre prima. Der Verlag würde sich nämlich wünschen, dass Sie unter einem zweiten offenen Pseudonym veröffentlichen würden. Wir würden auch dafür sorgen, dass die Leser eine direkte Verbindung zwischen ihrem zweiten Pseudonym und Greta Bennert herstellen können. In etwa so wie bei J. K. Rowling, die ja auch unter dem Pseudonym Robert Galbraith erfolgreiche Krimis verfasst.“

„Ach so.“ Ellen schluckte. Eigentlich war die Herausforderung, in einem ihr bis dato fremden Genre zu schreiben, schon eine verdammt harte Nuss für sie, und nun sollte sie das Ganze auch noch unter einem offenen Pseudonym tun, das die Leser mit Greta Bennert in Verbindung brachten. Kein Pseudonym, hinter dem sie sich notfalls hätte verstecken können, falls das Buch ein totaler Reinfall wurde.

„Der Autorenname Greta Bennert passt ideal für das Krimi-Genre. Sicherlich finden Sie auch einen wunderbaren Namen, der sich perfekt nach einer Autorin von Liebesromanen anhört“, unterstrich Frau Allekotte nochmals den Wunsch des Verlages.

Den Einkaufszettel hatte Ellen mittlerweile zu einer kleinen Papierkugel zusammengeknüllt und kullerte diese mithilfe des Ikea-Bleistifts über den Tisch. „Okay, dann machen wir das so“, stimmte sie nach kurzem Zögern zu.

Was für ein Tag! Erst brach ihre private Welt komplett zusammen, und dann eröffneten sich schlagartig völlig neue berufliche Perspektiven für sie. Vermutlich stimmte der Spruch, dass wenn sich eine Tür schloss, sich eine andere öffnete.

Nachdem sie das Telefonat mit Frau Allekotte beendet hatte, bestellte sie sich bei der Kellnerin einen Grog, da sie irgendetwas brauchte, um ihre Nerven zu beruhigen. Und zwar jetzt, unabhängig von der Uhrzeit.

Die Bedienung brachte das Getränk, und Ellen genehmigte sich die ersten drei Schlucke, als ihr Handy erneut klingelte. Vielleicht war es ja dieses Mal Laurits, der ihr mitteilen wollte, dass er es sich mit dem Fährhaus doch anders überlegt hatte, schöpfte sie Hoffnung. Eilig griff sie nach dem Handy und seufzte, als sie den Namen des Anrufers auf dem Display las. Mama.

„Guten Morgen, Mama“, versuchte sie in einem möglichst unbedarften Tonfall zu sagen, der keine mütterlichen Fragen nach ihrem Befinden auf den Plan rufen sollte. Ihre Mutter weilte zusammen mit ihrer besten Freundin Rita seit einer Woche in dem nordfriesischen Bad St. Peter-Ording, wo sie einer lästigen Schuppenflechte im Rahmen einer Schwefelkur den Kampf angesagt hatte. Rita war kurz entschlossen einfach mitgekommen, um dort Wellness zu machen und sich vom neuen Rentnerdasein ihres Mannes zu erholen.

„Ist bei dir alles in Ordnung, Ellen?“, fragte ihre Mutter sie argwöhnisch.

„Ja, natürlich!“ Ihrer Mutter hatte Ellen noch nie etwas vormachen können. Und dennoch wurde sie es nicht müde, es zu versuchen. „Was soll denn nicht in Ordnung sein?“, fragte sie leichthin.

„Ich merke doch, dass etwas nicht stimmt. Mich kannst du nicht täuschen. Deine Stimme ist immer eine Oktave höher, wenn du versuchst etwas zu verheimlichen.“

Verdammt! Damit hatte sie recht und Ellen sich verraten. Ausreden zwecklos, niemand kannte sie besser als ihre Mama.

„Der Verlag hat mir gerade angeboten, einen Liebesroman zu schreiben“, rückte Ellen mit der halben Wahrheit raus.

Mit ihrem Liebeschaos und der Befürchtung, eventuell bald wieder als Single dazustehen, wollte sie ihre Mutter nicht belasten. Es reichte schon, dass ihr die Vorstellung fast das Herz zerriss. Zumal noch nicht sicher war, ob sich die Situation mit Laurits nicht doch noch klären ließe … Obwohl ihr Bauchgefühl ihre Hoffnung rasch im Keim erstickte und ihr signalisierte, dass ihre Mutter mit ihrer Einschätzung vermutlich richtiggelegen hatte. Sie hatte Laurits nämlich von Anfang an skeptisch gegenübergestanden. Für sie war er wahlweise ein „Luftikus“ oder eine „Mogelpackung“ gewesen.

„Kein Mann für Enkelkinder“, hatte sie Ellen gleich eröffnet, nachdem sie ein Foto von ihm gesehen hatte.

„Aber du kennst ihn doch noch nicht mal“, hatte Ellen protestiert.

„Das muss ich auch nicht. Da reicht das Foto völlig aus“, hatte ihre Mutter gefunden.

Durch die morgendliche Episode mit dem Fährhaus hätte sich ihre Mutter unter Garantie bestätigt gefühlt, und dies hätte dann einen endlosen Monolog von ihr zur Folge gehabt. Das wollte Ellen sich und auch ihrer Mutter ersparen. Schließlich sollte sie sich in St. Peter-Ording erholen, und auch ihre eigenen Nerven wollte Ellen keinem weiteren Stress an diesem Vormittag aussetzen.

„Ach! Das ist doch aber toll, Ellen-Mäuschen. Wieso bist du denn deswegen so durch den Wind?“, fragte ihre Mutter.

„Ich habe überhaupt keine Idee für eine Liebesgeschichte und soll dem Verlag schon im Januar das Buch in einer kurzen Zusammenfassung präsentieren. Außerdem wünscht sich der Verlag, dass ich dieses Mal unter einem offenen Pseudonym das Buch veröffentliche, das mit den Krimis von Greta Bennert in Verbindung gebracht werden kann.“

„Na, das ist für dich doch kein Problem“, sagte Frau Carstens voller Überzeugung. „Du hattest doch im Aufsatzschreiben immer die besten Noten.“

„Mama …“ Ellen musste lachen. „Was du hier für Vergleiche anstellst!“ Ihre Mutter stellte sich die Arbeit einer Schriftstellerin definitiv zu einfach vor. Dass zum Schreiben eines Buches mehr gehörte, als bloß gute Deutschaufsätze in der Schule geschrieben zu haben, konnte sie sich nicht vorstellen. Klar, ein gewisses Grundtalent zum Schreiben sollte schon vorhanden sein und eine übersprudelnde Fantasie. Doch Schriftstellerei war vor allem ein Handwerk, das man erlernen musste und das keineswegs einfach war.

„Ein ganz toller Vergleich ist das sogar! Ein Buch ist doch im Grunde genommen nichts anderes als ein Aufsatz. Nur etwas länger eben. Oder Rita?“

„Auf jeden Fall“, erklang im Hintergrund Ritas Stimme.

Ellen schloss kurz die Augen und schüttelte den Kopf, ob der Logik ihrer Mutter und deren bester Freundin, die sich gewiss von ihr nicht vom Gegenteil überzeugen lassen würden. „Wieso hast du mich eigentlich angerufen, Mama?“, wechselte sie das Thema. „Wolltest du etwas Bestimmtes?“

„Ach ja. Das hätte ich ja jetzt fast vergessen. Wir sitzen hier gerade so schön beim Frühstück im Deichkind und genießen den Blick auf die verschneiten Salzwiesen.“

„Okay … und deswegen rufst du mich an? Um mir von der Aussicht zu erzählen?“, fragte Ellen verwirrt.

„Nein. Natürlich nicht! Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.“

„Aha? Um was denn für einen?“

„Ich wollte dich fragen, ob du mir einen bestimmten Rollkragenpullover nach St. Peter-Ording schicken kannst, den ich vergessen habe einzupacken“, erklärte ihre Mutter. „Den, den ich von dir letztes Jahr zu Weihnachten bekommen habe. Du weißt schon, den blauen mit dem Zopfmuster.“

„Ja sicher. Kein Problem.“

„Du weißt ja, wie dein Vater ist“, seufzte ihre Mutter ins Telefon. „Der findet den Pullover eh nicht, selbst dann nicht, wenn ich ihm genau beschreiben würde, wo im Schrank er liegt und es auf einer Landkarte einzeichnen würde. Auf dem Auge ist er auf ganzer Linie blind. Womöglich schickt er mir am Ende noch eine kurze Hose.“

Ellen musste schmunzeln, denn sie wusste, dass die Befürchtungen ihrer Mutter nicht völlig unbegründet waren. Ihr Vater war manchmal tatsächlich etwas verpeilt. Als sie in der achten Klasse mit ihrer Stufe nach Italien in die Skifreizeit fahren wollte, hatte er ihr Sandalen in den Koffer gepackt. „Ich dachte, du fährst nach Italien?“, hatte er verständnislos gefragt, nachdem ihre Mutter kopfschüttelnd die offenen Schuhe wieder in den Schrank zurückgestellt hatte.

„Fahr ich ja auch“, hatte Ellen gesagt.

„Dann verstehe ich nicht, warum deine Mutter die Sandalen wieder ausgepackt hat. Da ist es doch warm.“

„Damit die Mutter der Tochter noch drei Paar dicke Wollsocken extra einpacken kann. Deine Tochter fährt in die Dolomiten, Norbert. Zum Skifahren. Nicht nach Rimini zum Badeurlaub an den Strand“, hatte ihre Mutter erklärt und dabei die Augen verdreht – aber so, dass er es nicht sehen konnte.

„Ich fahre nachher zu Papa, und dann bring ich den Pullover heute noch zur Post.“ Ellen strich den zerknüllten Einkaufszettel notdürftig glatt und griff dann erneut nach dem Bleistift. „Ich brauche nur die Adresse, an die ich den Pulli schicken soll.“

„Hm“, brummte ihre Mutter.

„Du kannst sie mir auch später per SMS schicken, falls du sie gerade nicht parat hast“, schlug Ellen vor, die nicht genau wusste, was sie von dem „Hm“ ihrer Mutter halten sollte.

„Ich habe nur überlegt, ob du mir den Pullover überhaupt schicken sollst.“

Ellen runzelte die Stirn. Einen Moment zuvor wollte ihre Mutter das Oberteil noch unbedingt haben, und nun hatte sie es sich scheinbar wieder anders überlegt? Diese Art von Sprunghaftigkeit war wieder mal typisch für sie. „Tja, das musst du wissen, ob du den Pullover brauchst …“

„Natürlich brauche ich den Pullover“, erwiderte ihre Mutter entschieden. „Was glaubst du wohl, warum ich dich angerufen habe?“

„Okay … Dann schick mir einfach später die Adresse, ja?“

„Ich habe gerade überlegt“, nahm ihre Mutter den Faden wieder auf, „ob du nicht vielleicht einfach nach St. Peter-Ording kommen solltest.“

„Ich soll nach St. Peter-Ording kommen?“, fragte Ellen ungläubig. Solch eine Idee, einfach alles stehen und liegen zu lassen und von jetzt auf gleich in den Urlaub zu fahren, konnte nur von ihrer Mutter kommen. „Einfach so?“

„Richtig“, erwiderte ihre Mutter, als wäre ihr Vorschlag das Selbstverständlichste der Welt.

„Warum das denn? Ich brauche doch gar keine Kur“, entgegnete Ellen. Wobei sie gegen ein paar Tage Urlaub nichts einzuwenden gehabt hätte.

„Um nach St. Peter-Ording zu fahren, muss man ja nicht unbedingt eine Kur machen. Dafür brauchst du aber einen Einfall für deinen Liebesroman. Und im stressigen Hamburg kommst du bestimmt nicht so leicht auf eine tolle Idee für eine romantische Geschichte“, argumentierte ihre Mutter.

„Hm“, brummte nun Ellen.

„Nicht hm. Sondern ja. Was du jetzt brauchst, ist einen freien Kopf. Und den bekommst du hier. Was meinst du, was der Nordseewind hier pustet! Da kommen die kreativen Gedanken ganz von allein, und du hast in null Komma nichts eine Idee für dein Buch, die den Verlag aus den Socken haut.“

Der Gedanke, ein paar Sachen in eine Reisetasche zu packen und spontan an die Nordsee zu verduften, hörte sich eigentlich ganz verführerisch an. Aber konnte sie das wirklich einfach so tun? Sie hatte zwar keinen festen Job mehr, der sie daran hinderte, doch fühlte sie sich immer noch an Laurits gebunden, obwohl er das anscheinend anders sah als sie.

Konnte sie in der jetzigen Situation wirklich einfach so wegfahren? Bevor sie ein klärendes Gespräch mit ihm geführt hatte? Doch auf der anderen Seite wusste sie, dass Laurits ein unglaubliches Talent zum Abtauchen hatte und es sein konnte, dass er in den nächsten Tagen nichts von sich hören ließ und auch nicht erreichbar war, um so der Situation aus dem Weg zu gehen. Da würde ihr die ganze Warterei in Hamburg auch nichts bringen. Die paar Tage konnte sie genauso gut an der nordfriesischen Küste verbringen und sich von ihren trüben Gedanken ablenken und vielleicht sogar inspirieren lassen.

„Und wo soll ich dann übernachten? Ich habe doch gar keine Unterkunft reserviert“, überlegte Ellen laut.

„Ach, mach dir darüber mal keine Sorgen. Um die Jahreszeit ist in St. Peter-Ording sehr wenig los. Da hast du quasi freie Auswahl bei den Unterkünften.“

„Hm“, machte Ellen noch einmal.

„Rita und ich würden uns jedenfalls freuen, wenn du kommen würdest. Gib dir einen Ruck. Sei spontan, und kauf dir ein Zugticket nach St. Peter-Ording“, forderte ihre Mutter sie auf.

Vielleicht hatte sie recht. Zum einen brauchte Ellen wirklich möglichst schnell eine zündende Idee für das Liebesroman-Projekt, und zum anderen wäre es eventuell gar nicht schlecht, wegzufahren, um etwas Abstand zu der Laurits-Situation zu bekommen.

Höchstwahrscheinlich würde dies mehr bringen als ein Versuch, die Situation zu klären. Bestimmt würde es Laurits eher zum Nachdenken bringen, wenn sie einfach mal etwas plante, ohne es vorher mit ihm abzusprechen. So könnte sie ihm zeigen, dass sie eine unabhängige Frau war und ihre Entscheidungen nicht von ihm abhängig machte, und, wer weiß, vielleicht – hoffentlich – würde er sie am Ende sogar vermissen und merken, was er an ihr hatte.

Ellen erinnerte sich an einen Spruch aus einem Glückskeks, mit dem sie bis jetzt nichts hatte anfangen können. Was du liebst, lass frei. Kommt es zu dir zurück, gehört es dir für immer. Doch nun erschloss sich ihr plötzlich der Sinn dieser Weisheit.

„Okay, Mama. Ich komme“, sagte Ellen schließlich. Sie hatte das Gefühl, dass es die richtige Entscheidung war, nach St. Peter-Ording zu fahren.

„Sehr gut! Wann?“, fragte ihre Mutter.

„Morgen“, sagte sie kurz entschlossen. „Gleich morgen früh mache ich mich auf den Weg zu euch. Mit deinem Pullover.“

„Das nenne ich wirklich spontan. So gefällst du mir, mein Mäuschen!“

„Ich werde mir gleich ein Zugticket besorgen und dir dann Bescheid sagen, wann ich in St. Peter-Ording ankomme“, meinte Ellen.

„Superduper. Rita und ich holen dich dann vom Bahnhof ab“, sagte ihre Mutter freudig.

Das Telefonat war gerade mal vierundzwanzig Stunden her, und dass ihre Entscheidung für den Trip an die Nordseeküste genau richtig war, hatte ihr die Tatsache bestätigt, dass sie Laurits am Abend zuvor nicht mehr erreicht hatte und er ihr auf ihre spätere SMS, in der sie ihm mitteilte, am nächsten Tag in das nordfriesische Bad zu reisen, lediglich eine gute Fahrt gewünscht hatte. Sie war mittlerweile richtig wütend auf ihn, dass ihn ihr Gespräch vom Vortag und auch ihre Nachricht von ihrem Spontanurlaub so kaltließ.

Ja, Abstand und eine Pause würden ihr guttun.

„Nächster Halt, Bad St. Peter-Ording“, plärrte die Frauenstimme wieder aus dem Lautsprecher. „Diese Fahrt endet hier.“

Ellen war so in ihre Gedanken versunken gewesen, dass sie gar nicht gemerkt hatte, wie der Zug sich ihrem Zielort genähert hatte.

„Da wären wir. Endstation, junge Dame.“ Der Pfeifenmann ihr gegenüber faltete seine Zeitung zusammen und zog sich eine Pudelmütze über den Kopf.

Ellen erhob sich ebenfalls, schulterte ihre Reisetasche und zog sich ein paar graue Handschuhe über. „‚Endstation‘ hört sich irgendwie ein bisschen nach Ende der Welt an“, bemerkte sie stirnrunzelnd.

„Im Winter kommt es einem auch manchmal so vor in St. Peter. In dieser Zeit, in der nur wenige Touristen kommen, ist es hier ziemlich ruhig. Aber ich mag das. Sehr gerne sogar. Da kommen mir immer die besten Ideen“, sagte der Mann und stellte sich an die Zugtür.

Ellen folgte ihm. „Was für Ideen denn?“

„Meistens für meine Bilder. Ich male Landschaftsbilder – St. Peter-Ording zu jeder Jahreszeit sozusagen. Im Winterlicht sieht die Landschaft manchmal richtig magisch aus. Aber das werden Sie bald selbst bewundern können … Und Sie? Machen Sie Urlaub in St. Peter?“

Sie stützte sich mit einer Hand an der Innenseite der Tür ab, um das Gleichgewicht in dem ruckelnden Waggon besser zu halten. „Nein. Jedenfalls nicht im klassischen Sinne. Meine Mutter ist mit ihrer besten Freundin zur Kur da, und ich besuche die beiden sozusagen für einige Tage. Und ein paar Ideen könnte ich zufällig auch gebrauchen.“

„Ah. Da wünsche ich Ihnen eine angenehme Zeit hier. Und das mit den Ideen wird garantiert funktionieren. Sie müssen nur genau in die Ruhe und Weite hineinhorchen, dann werden Sie die Inspiration flüstern hören. Hier sind mir noch immer die besten Einfälle gekommen“, sagte der Mann.

Der Zug wurde langsamer und hielt schließlich am Bahnhof Bad St. Peter-Ording an.

„Vielen Dank. Etwas Erholung kann ich neben grandiosen Einfällen gut gebrauchen“, erwiderte Ellen und blickte aus dem Fenster des Zugs auf den Bahnsteig. Wohlgemerkt auf den Bahnsteig. In St. Peter-Ording existierte nämlich nur der eine und deswegen erspähte sie auch sogleich ihre Mutter und Rita, die neben einer Handvoll Reisenden standen und sich bereits die Hälse nach ihr verdrehten. „Mein Empfangskomitee ist auch schon da“, bemerkte sie grinsend.

„Ein bisschen großer Bahnhof muss auch sein, wenn man in St. Peter ankommt“, sagte der Mann und zwinkerte Ellen zu.

Der Zug kam zum Stehen, und die Türen des Waggons öffneten sich zischend und entließen die Reisenden auf den Bahnsteig.

„Auf Wiedersehen, die Dame“, sagte der Mann, dessen Pfeife immer noch lässig in seinem Mundwinkel verweilte. Er tippte zum Abschied mit zwei Fingern an seine Stirn und zündete sich im nächsten Moment mit einem Streichholz gekonnt die Tabakpfeife an. Dann schlenderte er von dannen, am rot verklinkerten Bahnhofsgebäude vorbei, in dem eine Verkaufsstelle zum Erwerb von Fahrkarten untergebracht war. Als Abschiedsgruß hinterließ er einen würzigen Tabakpfeifengeruch in der eisigen Winterluft.

„Ellen! Huhu! Hier sind wir!“, rief ihre Mutter und wedelte wild mit den Armen durch die Luft, als ob sie befürchtete, ihre Tochter könnte sie übersehen oder gar überhören.

Ellen lief auf die beiden Frauen zu und ließ sich von ihrer Mutter in den Arm nehmen, die sie fest an sich drückte. „Mama, ich krieg keine Luft mehr.“

„Keine Mütze hast du auf. Bei dem Wetter“, ermahnte ihre Mutter sie sogleich kopfschüttelnd zur Begrüßung. „Und dann wunderst du dich, wenn du hinterher mit einer Erkältung flachliegst. Eigentlich müsstest du langsam mal vernünftiger werden.“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen.“ Ellen lachte hell auf und strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr, die sich durch einen Windstoß aus ihrem Zopf gelöst hatte. Das war mal wieder typisch ihre Mutter. Diese Sprüche würde sie sich vermutlich noch von ihr anhören müssen, wenn sie längst sechzig oder noch älter war. Sie zog sich provisorisch einen Teil ihres Loopschals über den Kopf. „Bist du jetzt zufrieden?“

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