Bedürfnisse
»Du lässt sie einfach laufen?«, fragt Marlies, als sie im Auto sitzen.
»Wir haben nicht wirklich etwas gegen sie in der Hand. Exclusive Men – kennst du diese Agentur?«
»Nein. Klingt eigentlich wie ein Schwulenclub.«
»Ich weiß nicht, was die alles im Angebot haben.«
Marlies grinst. »Die Ladys haben gar nichts mehr gesagt wegen der Fotos.«
»Tja. Haben sie in ihrer Panik wohl vergessen.«
»Vielleicht dachten sie zuerst, der Herrgott schickt Blitze auf den Ort der Sünde hernieder. Dabei war’s nur der Fotoblitz, der das frivole Treiben ins rechte Licht rückte.«
»Wirst du jetzt moralisch, Marlies?«
»Da wär ich die Letzte.«
Andrea grinst. »Mit den Bildern machst du aber nix!«
»Niemals. Bei meiner Großmutter. War’s das für heute?«
Andrea schüttelt den Kopf und zieht den Notizzettel mit den Kontaktdaten von Exclusive Men aus der Hosentasche. »Die Agentur besuchen wir gleich.«
»Na, ob da noch einer da ist?«
»Ach, das sind doch Nachtarbeiter. Je später der Abend, desto dringlicher die Bedürfnisse.« Andrea wählt die Nummer. Am anderen Ende der Leitung meldet sich tatsächlich noch jemand. Andrea vereinbart einen Termin und legt auf. »Wir fahren gleich hin. Die Agentur wird von einer Frau geführt. Sabine Kramberg.«
»Ja, Frauen wissen, was Frauen wollen. Wo geht’s hin?«
»Maximilianstraße.«
»Wo sonst? Edelboutiquen, Herrenausstatter, Anti-Aging-Ärzte.«
»Und Männer für gewisse Stunden.«
Der Porsche röhrt durch das mitternächtliche München. Andrea sieht auf das Display von Marlies’ Handy. Vier Nachrichten. Sie kennt die Nummer. Hört die Nachrichten ab. Josef. Verärgert. Sehr verärgert. Wird sie morgen in Stücke reißen. Kündigt er zumindest an.
Sie wählt seine Nummer, erreicht aber nur den AB. Sie setzt schon an zu erklären, was sich ereignet hat, lässt es dann aber bleiben. Sie hat nichts Konkretes, außer dass sie zwei lebenslustige ältere Damen bei ihren Sexspielchen aufgeschreckt hat. Der Besuch bei der Agenturfrau wird zeigen, ob die beiden Männer wirklich ein Alibi haben. Wobei das mit ziemlicher Sicherheit bestätigt wird. Aber vielleicht erfahren sie ein bisschen mehr zu den Damenkränzchen auf der Wiesn.
Sie biegen in die Maximilianstraße. Die Agentur befindet sich an der Kreuzung zum Altstadtring in einem repräsentativen Bürokomplex, zusammen mit Rechtsanwaltskanzleien und Arztpraxen. Alle Vorurteile bestätigt.
Zu dieser späten Stunde findet Marlies sogar einen Parkplatz. Sie quetscht ihren alten Porsche zwischen einen Hummer-Geländewagen und ein Jaguar-Cabrio. »Gute Gesellschaft«, murmelt sie und folgt Andrea, die bereits die Klingelschilder an der Eingangstür des Bürohauses studiert.
Andrea sagt ihr Sprüchlein auf, der Summer ertönt.
Im Treppenhaus spiegelnder Marmor, mit gebürstetem Messing eingefasste Stufen.
Andrea deutet auf den Fotoapparat in Marlies’ Hand. »Nie ohne, oder?«
»Du gehst ja auch nicht ohne Pistole zur Arbeit. Ohne meine Nikon fühl ich mich nackt.«
Sie steigen in den Lift.
Im vierten Stock steht am Ende des Ganges eine Tür halb offen. Auf einen großzügigen Vorraum mit verwaistem Empfangstresen folgt ein weitläufiges, geschmackvoll eingerichtetes Büro. Teure Designermöbel, cremefarbener Teppich mit Mondrian-Muster.
Eine Frau mittleren Alters in elegantem, dunklem Kostüm sitzt hinter einem riesigen Glastisch, spricht in ihr Headset: »P1, Schuhmann’s, ja, alles klar. – Nein, Pacha machen wir nicht. – Und vergiss nicht, Toni hat morgen früh den Termin im Bayerischen Hof. – Alles klar, Helen?«
Wie ein Taxiunternehmen, denkt Andrea.
Jetzt ist die Dame fertig und nimmt das Headset ab. Kommt um den Tisch und reicht ihnen die Hand. »Sabine Kramberg, tut mir leid, um diese Zeit herrscht bei mir Hochbetrieb. Sie sind von der Polizei?«
»Frau Kramberg, wir sind nicht hier, um uns über die Seriosität Ihres Betriebs zu unterhalten …« Völlig falscher Einstieg, wie Andrea sofort merkt.
Die Agenturchefin kneift die Augen zusammen. »Mein Begleitservice ist hoch angesehen. Zu meinen Klientinnen gehören Richterinnen, Professorinnen und Politikerinnen!«
Andrea nickt kühl, gibt Marlies ein Zeichen. Marlies hält der Agenturchefin die Rückseite ihrer Kamera hin. Auf dem Display ist das Wohnzimmer der Villa in Pasing zu sehen. Als die Agenturchefin die Personen erkennt, zeigt sich Verblüffung in ihrem Gesicht, dann lacht sie laut und herzhaft.
»Was ist so komisch?«, fragt Andrea.
»Na ja, wenn ich sehe, was meine Jungs nach Dienstschluss so alles treiben. Oh, là, là!«
»Aha, nach Dienstschluss?«
»Von wann ist das Foto?«
»Taufrisch. Gerade erst gemacht.«
»Die beiden hatten nur Dienst auf dem Oktoberfest. So ist der Deal. Was sie hinterher treiben, ist nicht mein Bier.«
»Ja. Ein bisschen Taschengeld. So weit waren wir schon. Aber vorher, das war dienstlich? Wir brauchen die Termine der beiden Herren.«
»Sie dürfen sich gerne meine Dispo ansehen. Wenn es dafür einen guten Grund gibt.«
»Den gibt es. Die beiden Herren waren bei zwei Wiesn-Gesellschaften dabei, bei denen anschließend zwei Damen zu Tode kamen.«
»Wie, wer ist tot?!«
»Die Gräfin von Dalheim und Martina Wismar, die Ehefrau des bekannten Notars Wismar. Jeweils eine Überdosis K.-o.-Tropfen. Verabreicht bei einem Après-Wiesn-Rendezvous. Waren die Damen Kundinnen von Ihnen?«
Die Agenturchefin schluckt. »Ja, beide. Warum erfahre ich nichts davon, warum steht nichts in der Zeitung?«
»Wir halten die Presse vorerst raus. Um den Täter nicht aufzuschrecken. Wir denken, dass er nochmal zuschlägt.«
Die Agenturchefin nickt verwirrt. »Das ist ja furchtbar! Wenn ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann?«
»Können Sie. Gehen wir gemeinsam Ihren Terminkalender durch. Ich muss wissen, was die zwei Herren an den letzten beiden Abenden gemacht haben. Und ob die zwei verstorbenen Damen für diese Abende Verabredungen mit diesen Herren oder mit anderen Männern aus dieser Agentur hatten. Wir haben den Verdacht, dass die Person, mit der die Damen heimgegangen sind, für ihren Tod verantwortlich ist.«
»Es geht in beiden Fällen um dieselbe Person?«
»Ja, so sieht es aus. Und offenbar wollte diese Person mehr als nur ein bisschen Taschengeld.«
»Sparen Sie sich Ihre Anspielungen. Für meine Jungs lege ich die Hand ins Feuer! Das sind Gentlemen!«
Andrea sieht noch einmal auf den Bildschirm von Marlies’ Fotoapparat und kratzt sich am Kopf. »Gut, Frau Kramberg, Sie können sich vorstellen, was passiert, wenn sich auch nur der Hauch eines Gerüchts über die Umstände des Todes zweier Ihrer Kundinnen herumspricht. Also, was haben Ihre Herren die letzten zwei Abende gemacht?«
Frau Kramberg nickt resigniert und schaut konzentriert in ihren Kalender.
»Beide hatten an diesen Abenden noch Spättermine. Die sie auch wahrgenommen haben.«
»Was für Spättermine?«
»Anschlusstermine. Mit jüngeren Kundinnen. Die älteren gehen ja lieber etwas früher aus, Empfänge, Oper oder ein Restaurantbesuch – gesellschaftliche Termine, bei denen man sich nicht so gern alleine zeigt. Jüngere Damen bevorzugen Bars oder Discos und ersparen sich dort lästige Anmachversuche.«
»Gut, die beiden Herren hatten also noch Spättermine. Können Sie das präzisieren?«
Die Agenturchefin dreht den Laptop zu ihren Besucherinnen und deutet auf das Display: »Hinter jedem Termin stehen zwei Personen. Dienstleister und Kundin. Auch wenn ich keinen gesteigerten Wert darauf lege, dass Sie sich bei den betreffenden Damen melden, die Termine sind überprüfbar – also, theoretisch.«
Andrea liest die Namen und muss grinsen. Bestens bekannt in München.
»Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion.«
Andrea nickt und zieht die Fotos mit den Tischgesellschaften der verstorbenen Damen aus der Tasche. »Schauen Sie bitte mal auf die Bilder. Vielleicht ist da etwas, was wir übersehen haben.«
Frau Kramberg betrachtet die Fotos. »Die Damen kenn ich, auch wenn nicht alle Kundinnen bei mir sind.« Sie legt die Fotos nebeneinander, konzentriert sich.
»Stimmt was nicht?«, fragt Andrea.
»Ich weiß nicht. Hier sitzt noch jemand am Tisch, man sieht nur den Hinterkopf, sehen Sie, der blonde Haarschopf. Der kommt mir bekannt vor. Und hier derselbe Mann im Hintergrund. Man sieht nur den Arm, aber es ist derselbe blaue Janker. Mit den großen Knöpfen. Sehen Sie?«
Jetzt sehen es auch Marlies und Andrea. Da ist an beiden Abenden noch jemand mit am Biertisch. Jemand, dem sie noch keine Beachtung geschenkt haben. Wie auch. Man sieht kaum etwas von ihm. Ein geheimnisvoller Dritter!
Marlies drückt hektisch auf ihrer Kamera herum. »Ich hatte heute so einen Blondschopf vor der Linse. So ein Schönling. Kurze wasserstoffblonde Haare. Das war im Käfer-Zelt.« Sie klickt sich weiter durch die Bilder. Schließlich stoppt sie. »Hier, auch nicht komplett, etwas unscharf, ganz links außen.«
Andrea und die Agenturchefin starren auf das Bild. Der blaue Janker. Marlies zoomt den Bildausschnitt heran. Das leicht verschwommene Gesicht eines Mannes um die Dreißig.
Frau Kramberg nickt. »Das ist Mike, also Michael Kramer, er hat früher für mich gearbeitet. Dann gab es Stress mit einer meiner besten Kundinnen. Es ging um Geld. Ich hab ihn gefeuert.«
»Haben Sie noch Kontakt zu ihm?«, fragt Andrea.
»Nein, er ist damals einfach verschwunden, nach Zürich angeblich. Das muss vor fünf Jahren gewesen sein. Ich hab nie wieder von ihm gehört. Sieht aus, als wär er wieder da.«
»Und reaktiviert alte Kontakte. Offenbar braucht er Geld. Und benutzt dazu K.-o.-Tropfen. Leider überdosiert. Adresse haben Sie nicht?«
»Nein. Wir haben uns im Streit getrennt.«
»Okay, das kriegen wir raus. Michael Kramer.«
Marlies deutet auf das Bild. »Viel wichtiger ist im Moment: Wer ist die Frau, die sich hier an ihn lehnt? Das Foto ist von heute Abend!«
Die Agenturchefin wird blass. »Das ist Else.«
»Wer?«, fragt Andrea.
»Können Sie sie anrufen und warnen?«
Frau Kramberg greift zum Telefon, wählt, wartet, schüttelt den Kopf. »Ans Handy geht sie nicht.« Sie probiert noch eine Nummer, wieder erfolglos. »Zu Hause geht auch keiner dran!«
»Wo wohnt sie?«
»Auf Schloss Geiersfeld bei Dachau.«
»Nichts wie los!«, meint Andrea und dreht sich zum Gehen.
Marlies hält sie fest. »Willst du nicht lieber deine Kollegen anrufen? Die können doch von Dachau aus jemanden schicken.«
»Bislang ist es nur ein Verdacht. Wie spät ist es jetzt?«
»Kurz vor eins.«
»Das Bild ist aus dem Käfer-Zelt?«
»Ja, wieso?«
»Die haben länger offen. Bis halb eins.«
»Else ist immer bei den Letzten, wenn’s ums Heimgehen geht«, sagt die Agenturchefin.
»Wir fahren zu ihr nach Hause!«, sagt Andrea.
»Aber wenn sie einfach in ein Hotel gehen?«, meint Marlies.
»Da gibt es doch nichts zu holen für ihn. Los jetzt!«
»Kann ich mitkommen?«, fragt Frau Kramberg. »Else ist eine gute Freundin von mir.«
»Sie wissen bestimmt, wie wir unbemerkt ins Schloss kommen, oder?«