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Fernschuss

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Zufällig live am Tatort...

ist eigentlich Hummels Spezialität. Diesmal trifft er dort auch seine neue Kollegin Andrea Mangfall. Sie will nach ihrem Urlaub in Italien tanken und wird ebenfalls Zeugin der laufenden Geiselnahme . Das SEK ist vor Ort, Schüsse fallen und schließlich explodiertein Treibstofftank. Resultat: Verwüstung und drei Tote. „Der Einstand ist dir gelungen“, sagt Hummel zu Andrea, die nach einer Umstrukturierung im Präsidium jetzt zu Maders Team gehört. Ebenso wie Hauptkommissarin Christine Pulver, eine Kollegin von Andrea. Mader muss zusehen, wie er das neue Team zusammenschweißt. Andrea meldet Zweifel am vermeintlich klaren Tathergang der Geiselnahme an und stößt mit ihren unkonventionellen Gedanken zum Tathergang nicht bei allen auf Begeisterung. Dosi reagiert eifersüchtig und Zankl hat sowieso Probleme mit selbstbewussten Frauen. Als im Rahmen der Ermittlungen Christine plötzlich spurlos verschwindet, geben aber alle ihr Bestes.


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Aus der Serie: Chefinspektor Mader, Hummel & Co.
  • Bandnummer: 9
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365008317

Leseprobe

Für
M & P

Fernschuss ist der neunte Kriminalroman mit dem Ermittlerteam um den Münchner Kriminalrat Karl-Maria Mader und seinen Dackel Bajazzo. Neu an Bord ist das Personal aus Harry Kämmerers dreibändiger Serie Mangfall ermittelt.

Karl-Maria Mader: Kriminalrat im Dezernat für Gewaltverbrechen in München, Mitte 50, geschieden, wohnhaft im betonierten Neuperlach, liebt Frankreich und Catherine Deneuve (Fernbeziehung, einseitig). Maders ständiger Begleiter ist sein Dackel Bajazzo, der klügste Hund Münchens.

Klaus »Soulman« Hummel, fantasievoller Kriminalbeamter und Gelegenheitskrimiautor ohne rechten Erfolg, ist immer noch unsterblich verliebt in die Schwabinger Kneipenwirtin Beate.

Hummels Kollege Frank Zankl hat seine großen Testosteron-Reserven weitgehend aufgebraucht. Zu Hause haben Frau Jasmin, Tochter Clarissa und der jüngste Spross Angelo die Hosen bzw. die Windeln an.

Doris »Dosi« Roßmeier ist nach wie vor die niederbayerische Seele der Münchner Mordkommission: loses Mundwerk, fintenreich. Klein, stark, rothaarig – »das Sams« (Zitat Zankl). Ihr Freund Fränki liebt sie abgöttisch.

Rechtsmedizinerin Dr. Gesine Fleischer kümmert sich auch diesmal hingebungsvoll um Tote und Todesursachen aller Art.

Dezernatsleiter Dr. Gisbert Günther ist wie immer besorgt um das gute Ansehen der Polizei.

Andrea Mangfall ist Oberkommissarin und neu in Maders Team, auch wenn sie schon länger bei der Münchner Kripo arbeitet. Andrea ist Anfang 30 und hilft sporadisch in der Band ihres Bruders als Bassistin aus. Berufliches und Privates geraten bei ihr gelegentlich durcheinander.

Paul Mangfall ist Mitte 20, mittelloser Musiker und wohnt »nur vorübergehend« bei seiner Schwester Andrea im Westend. Paul sieht gut aus und weiß das auch. Seine große Liebe ist die reizende Französin Madelaine. Paul zieht Unheil an wie »Scheiße die Fliegen« (Zitat Andrea).

Christine Pulver, Hauptkommissarin, Ende 30, ist Andreas Kollegin und arbeitet jetzt ebenfalls für Mader. Sie hat nach langer Suche endlich ihr persönliches Glück gefunden. Allerdings sind die Rahmenbedingungen suboptimal, denn ihr Freund ist verdeckter Ermittler mit Wohnort in Hannover.

Dr. Tom Lechner ist Abteilungsleiter der Kriminaltechnischen Untersuchung und dem Dezernat für Gewaltverbrechen zugeordnet. Tom ist der Partner von Andrea, die ihn allerdings gelegentlich am ausgestreckten Arm verhungern lässt.

Die Trauerhilfe Miller in München-Giesing ist auch diesmal am Start. Die Mitarbeiter Andi, Diego und Wotan sorgen weiterhin für Glamour im grauen Bestatter-Business.

Sonne scheint hier sowieso

Fünf Sterne selbst das Bahnhofsklo

Billig ist es anderswo

München, Munich, Monaco!

Paul & the Boys

Wie immer

Ja, das war nicht schlecht, denkt Andrea. Endlich mal eine Woche raus aus dem Münchner Irrsinn. Die letzten Fälle hatten es in sich gehabt. Ihr Überstundenkonto war durch die Decke gegangen. Der zeitliche Aufwand war zu verkraften, anderes weniger. Gleich mehrmals war sie in lebensgefährliche Situationen geraten. Auch ihr Freund Tom. Wie schon andere vor ihm wurde er Opfer eines Psychopathen, der ahnungslose Menschen vom Bahnsteig vor einfahrende U-Bahnen stieß. Tom hatte Glück. Er kam mit schweren Verletzungen davon. Der Fall ist abgeschlossen, der Täter kam bei einem Autounfall ums Leben. Gott sei Dank, denkt Andrea immer noch – ohne jedes schlechte Gewissen.

Andrea fährt auf Autopilot, tiefenentspannt, erholt. Für Anfang Dezember war es in der Toskana noch erstaunlich warm gewesen. Ein bisschen Kultur, aber nicht zu viel, und dann in der Nachmittagssonne bei einem Aperol auf der Piazza sitzen und später ein, zwei Gläser Rotwein zur Pasta, bis die nötige Bettschwere erreicht war. Sex kaum erwähnenswert, dazu fehlte ihr die Energie, und Tom war nach seinem Unfall immer noch wackelig auf den Beinen. Alles schön slow motion. Ihrer Beziehung hat der Urlaub definitiv gutgetan. Zusammensein ohne viel reden zu müssen, ist eine coole Sache, findet Andrea. Zum Glück ist Tom keiner, der rumstresst oder ständig Liebesbeweise verlangt. Wobei – ein bisschen mehr Feuer wäre auch nicht schlecht. Aber man kann nicht alles haben. Nun freut sie sich, als sie am Ende der Autobahn Salzburg-München das Riesenrad am Ostbahnhof sieht. In einer knappen halben Stunde sind sie zu Hause auf der Theresienhöhe.

Stau auf dem Autobahnring in Richtung West. Andrea wählt den Weg durchs Zentrum. Sie denkt an Morgen. Ihr graut schon ein wenig. Gar nicht so wegen der zu erwartenden Mailflut, sondern diesmal aus ganz anderen Gründen. Im Büro wird kein Stein auf dem anderen sein. Wie auch? Sie hat jetzt einen Schreibtisch in einem Großraumbüro im dritten Stock, zusammen mit zwei neuen Kollegen und einer neuen Kollegin. Plus neuer Chef.

Sie hat ja nichts gegen berufliche Veränderung, aber in letzter Zeit war das alles etwas viel und ein bisschen zu schnell. Klar, ihr Job bleibt ihr Job, aber leider arbeitet sie nicht mehr mit ihrem Chef Josef Hirmer zusammen. Der hatte sich offenbar auf eine Dezernatsleitung in Regensburg beworben und die Stelle auch umgehend bekommen, kaum dass der letzte Fall abgeschlossen war. Die Regensburger hatten wohl schon länger jemanden gesucht. Sie dachte immer, Josef sei ein eingefleischter Münchner. Tja. Vielleicht war auch der Beruf seiner Frau der Grund für den Umzug. Als Chefkonservatorin am Nationalmuseum hat sie einen langjährigen Forschungsauftrag an der Regensburger Universität angenommen mit mehr Geld und mehr Verantwortung. Andrea muss grinsen. Josef würde seiner Frau jeden Wunsch erfüllen.

Und nicht nur ihr guter alter Chef ist weg: Ihr Kollege Harry ist mitgegangen in die Oberpfalz. Verständlich, denn das bedeutet einen echten Karrieresprung. Und selbst ihr Kollege Karl ist nicht mehr an Bord, weil er zur Drogenfahndung gewechselt ist. Warum, weiß sie nicht. Vielleicht hatte er gedacht, der neue Chef nach Josef zu werden. Pech gehabt. Karls Chauvi-Sprüche wird sie nicht vermissen. Auf alle Fälle gibt es viele und große Veränderungen in dem sonst so behäbigen Beamtenapparat. Gut, dass ihr wenigstens Christine erhalten bleibt. »Niemals würde ich von München weggehen«, hat Christine zu ihr gesagt, als die ganze Abteilung plötzlich in Auflösung begriffen war. Na ja, nach Hannover zu ihrem Freund wäre ja definitiv keine Option. Und sie selbst? Von München weg? So toll kann kein Job sein. Und ein Mann auch nicht.

Mit ihrem neuen Chef Kriminalrat Mader hat sie sich vor ihrem Urlaub noch kurz getroffen und einen guten Eindruck gewonnen. Angenehmer Typ. Da verschlechtert sie sich nicht, auch wenn Mader etwas distanzierter rüberkommt als ihr alter Chef. Duzen ist da vorerst nicht angesagt. Mader genießt im Präsidium einen hervorragenden Ruf. Keiner, der seine Leute anscheißt. Das ist schon mal viel wert. Von den neuen Kollegen hat sie nur den einen noch kurz gesehen – Klaus Hummel wirkte etwas linkisch auf sie, aber nett und sicher ein unkomplizierter Zeitgenosse. Frank Zankl und Doris Roßmeier wird sie morgen kennenlernen. Die beiden waren auf einer Fortbildung, als sie sich mit Mader und Hummel getroffen hat.

Neben Christine bleibt ihr vom alten Team noch Tom erhalten, der als Leiter der kriminaltechnischen Untersuchung weiterhin für ihre Fälle zuständig ist. Eine Konstellation mit Vor- und Nachteilen. Gelegentlich ist ihr das zu eng mit ihm, oft ist sie aber einfach froh, dass auch nach Feierabend noch jemand da ist, der versteht, wovon sie redet, was sie in der Arbeit beschäftigt. Außerdem ist es gut, dass es in ihrem privaten Umfeld zumindest eine vernünftige Person gibt, denn ihr Bruder Paul ist das definitiv nicht. Der wird sein Chaos nie in den Griff kriegen. Ob Paul jemals wieder bei ihr auszieht? Will sie das eigentlich? Da ist sie unentschieden. Allein schon der Gedanke, abends in eine leere Wohnung heimzukommen, ist Horror. Reicht das als Pluspunkt für Paul? Der keine Miete zahlt, ihr nur auf der Tasche liegt, niemals den Abwasch macht und auch noch seine charmante und verrückte französische Freundin bei sich wohnen lässt? Von Pauls Schwierigkeiten mit der Polizei mal ganz zu schweigen. Regeln und Gesetze legt Paul ziemlich flexibel aus: Legal, illegal, scheißegal – ist nicht nur ein Spruch von ihm, sondern tatsächlich seine Lebensmaxime. Pauls sehr lässige Lebenseinstellung missfällt ihr. Aber Familie kann man sich nun mal nicht aussuchen, denkt sie und freut sich, ihren Bruder gleich wiederzusehen.

»Reicht das Benzin noch?«, holt Tom sie aus ihren Gedanken und deutet auf die Tankuhr, wo das rote Lämpchen schon länger auf sich aufmerksam macht.

»Lässig, bis ins Westend allemal.« Im selben Moment verschluckt sich der Motor. Andrea macht einen Schlenker, der das Restbenzin schwappen lässt.

»Am Ring ist eine Tanke«, sagt Tom, »Effnerplatz.«

»Ja, die fahren wir wohl besser an.«

»Wie geht’s Paul eigentlich?«

»Gut, hoffe ich. Ich hab gestern mit ihm telefoniert. Er ist zu Hause. Und er hat Besuch.«

»Lass mich raten – Madelaine?«

»So ist es.«

»Sie ist wieder fest in Deutschland?«

»Jepp. Bei mir. Vollpension im Hotel Mama Andrea. Die fragen mich nicht mal. Vielleicht übernachten wir besser bei dir.«

»Da liegt der Staub bestimmt zentimeterdick. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus sind wir ja gleich losgefahren.«

»Egal. Ich werf mein Gepäck zu Hause ab, wir trinken mit Paul und Madelaine einen Kaffee und fahren dann zu dir rüber.«

»Ich würde gerne vorher noch putzen.«

»Sei nicht spießig, Tom.«

»Und ich hab nichts zum Essen daheim.«

»Wir lassen uns was bringen, Pizza. Und trinken dazu eine gute Flasche Rotwein.« Sie deutet mit dem Daumen in Richtung Kofferraum.

Tom grinst. »Okay. Und nächste Woche bin ich wieder am Start. Nach der langen Zwangspause kann ich’s kaum erwarten zu arbeiten.«

»Ernsthaft?«

»Todernst.«

Andrea konzentriert sich auf die Straße und betet, dass der Sprit noch die paar Meter bis zur Tankstelle reicht. Selber schuld. Vielleicht ist sie ebenfalls spießig. Sie hätte vorhin tanken sollen. Aber auf der Autobahn war ihr der Sprit einfach zu teuer.

»Was ist da los?«, murmelt Andrea, als sie die Blaulichter bei der Tankstelle sieht. »Polizeifunk müsste man haben. Tom, das sehen wir uns an.«

»Andrea, du bist nicht im Dienst.«

»Berufliche Neugier ist eine Schlüsselqualifikation für eine Polizistin.«

»Tu, was du nicht lassen kannst.«

Andrea scrollt durch das Telefonverzeichnis ihres Handys und drückt einen Kontakt.

»Berner«, meldet sich der Kollege über die Freisprechanlage. »Hey, Andrea, was gibt’s? Immer noch Urlaub?«

»Schön wär’s. Fritz, sag mal, was ist da los bei der Tankstelle Ecke Effnerstraße-Walpurgisstraße? Wir stehen da gerade, und die Kollegen haben alles abgesperrt.«

»Großeinsatz. Unschöne Sache. Schießerei mit Geiselnahme. Mindestens ein Toter. Ein SEK ist vor Ort.«

»Das schauen wir uns an.«

»Wir?«

»Ich bin mit Tom unterwegs.«

»Na dann, viel Spaß euch.«

»Muss das jetzt sein?«, fragt Tom, als das Telefonat beendet ist.

»Ach, komm. Könnte gut sein, dass das morgen sowieso auf meinem Schreibtisch landet. Du hast ja gehört, was Fritz gesagt hat. Ein Gewaltverbrechen. Und die brauchen bestimmt auch einen guten Mann von der KTU

Zwecklos

Die Straßen an der großen Kreuzung sind abgesperrt. Schaulustige säumen die rot-weißen Bänder rund um die Tankstelle. Andrea stellt den Wagen auf dem Gehweg ab und legt den Parkausweis vom Präsidium aufs Armaturenbrett. Sie steigen aus und sehen sich um. Andrea entdeckt Hummel. Er spricht gerade mit dem Einsatzleiter des SEK.

»Hi Klaus.«

»Oh, Andrea, ist der Urlaub schon vorbei? Woher weißt du von der Sache?«

»Reiner Zufall. Wir waren auf den letzten Metern heimwärts von Italien und wollten hier tanken. Daraus wird ja offenbar nichts. Sind die anderen aus dem Team auch hier?«

»Nein. Bei mir ist es Zufall, dass ich hier bin. Ich war gerade in der Nähe, als es passiert ist. Meine Band hat in der Nähe einen Übungsraum.«

»Oh, wie Paul, mein Bruder. Vielleicht kennt ihr euch? So ein dunkler Wuschelkopf. Gitarre und Gesang. Paul & the Boys.«

»Ah, Paul. Klar. Also flüchtig zumindest. Hier draußen in den Baracken proben viele Bands.«

»Und was macht ihr für Musik?«

»So Rock und Pop. Vor allem Covers, Partymusik. Ich spiel Sax und Trompete.«

»Cool, ich helf manchmal bei Paul am Bass aus.«

»Hey, dann können wir ja bald eine Polizeiband aufmachen.«

»Die Dirty Cops.«

»Klingt vielversprechend.«

»Also, was geht hier ab, Hummel? Was hast du gesehen?«

»Ich wollte an der Tanke Zigaretten kaufen, da war schon alles abgesperrt. Ich hab Mader angerufen, und er meinte, ich soll schauen, ob ich den Kollegen behilflich sein kann.«

»Und was sagen die?«

»Überfall. Ein Toter. Vermutlich erschossen. Der Schütze hat sich im Kassenraum verschanzt. Mit einer Geisel, offenbar ein Angestellter der Tankstelle.«

»Wer ist das Opfer?«

»Vielleicht eine Kassenkraft oder der Pächter. Ist noch nicht raus.«

»Und, was passiert jetzt gerade?«, fragt Andrea. »Also vonseiten der Polizei?«

Hummel zuckt mit den Achseln. »Musst du die Einsatzleitung fragen. Das ist eine ziemlich brenzlige Situation.« Er deutet zu dem Auto an der Zapfsäule. »Der Tankstutzen steckt noch in der Einfüllöffnung. Die Kollegen haben strikte Anweisung, nicht zu schießen. Ein Funke und das ganze Ding kann hochgehen. Also nicht nur das Auto, vielleicht auch die Tanks unter der Erde. Die Leute aus den Nachbarhäusern sind noch nicht alle evakuiert.«

»Das ist übrigens Tom, mein Freund.« Andrea deutet auf ihren Begleiter.

»Ah, okay. Wir kennen uns bereits von der KTU. Servus, Dr. Lechner.«

»Tom, bitte.«

»Hummel.«

Tom zeigt zu dem Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Auf dem Parkplatz herrscht Chaos. Kein Vor und kein Zurück. »Hummel, was ist mit dem Laden da drüben?«

»Tja, wenn die Leute nicht alle gleichzeitig rausfahren, dann klappt das auch mit dem Räumen. In der Theorie zumindest.«

Andrea zeigt dem Einsatzleiter ihren Dienstausweis. »Wie ist der Plan? Haben Sie bereits mit dem Geiselnehmer gesprochen?«

Der deutet auf ein bereitliegendes Megafon. »Ich werde ihn gleich auffordern rauszukommen.«

Andrea nickt und fragt: »Und wenn der Geiselnehmer nicht reagiert, wie geht es denn weiter?«

»Werden wir sehen. Wenn der Typ wirklich schon jemanden erschossen hat, dann schätzt er seine Lage sicher nicht als allzu vorteilhaft ein. Wenn er klug ist, gibt er auf.«

Andrea sieht zu den Polizisten, die mit Ferngläsern die Tankstelle beobachten. Sie geht zu einem von ihnen und präsentiert wieder ihren Dienstausweis. »Darf ich mal kurz?« Der Kollege reicht ihr den Feldstecher. Sie sieht durch das starke Fernglas, studiert das Innere des Kassenraums. Die Fensterscheibe bei Kasse und Nachtschalter hat ein Loch und einen großen Sprung. Auf dem Tresen ist der zusammengesunkene Oberkörper einer Person zu erkennen. Weitere Personen sind im Kassenraum nicht zu sehen.

»Wie viele Leute sind da drin, außer dem Toten oder Verletzten?«

»Vermutlich zwei. Der Täter und eine Geisel.«

Andrea starrt weiter durchs Fernglas. Jetzt bewegt sich etwas. Nicht nur in der Tankstelle. Sie registriert genau, wie die Gewehrläufe der SEK-Leute ihr Ziel ins Visier nehmen. Es wird doch niemand schießen?, überlegt Andrea. Ein Querschläger, ein Funke, und das war’s!

»Ich seh ihn klar und deutlich«, sagt einer der SEK-Leute.

Andrea starrt durchs Fernglas. Ja, das ist der Täter, oder? Sie sieht sein Gesicht. Ein junger Typ mit langen Haaren. Es trifft sie wie ein Blitz. Paul! Also nicht Paul selbst, aber einer seiner Musikerfreunde. Der Typ aus der Band, mit der Paul gelegentlich zusammen auftritt. Wie hießen die noch mal? Mocking Birds? Der Sänger und Schlagzeuger jedenfalls.

»Ich kenn den Typen«, sagt Andrea zum Einsatzleiter, der gerade das Megafon ansetzt, um den Geiselnehmer zur Aufgabe aufzufordern.

»Wie?«, fragt er.

»Ich hab den schon mal gesehen.«

»Wie heißt er?«

»Das weiß ich nicht. Aber gleich. Vielleicht krieg ich auch seine Handynummer. Bitte machen Sie noch nichts!«

»Ich geb Ihnen fünf Minuten!«

»Hummel, kennst du den Sänger und Schlagzeuger von den Mocking Birds?«

Hummel sieht Andrea irritiert an und schüttelt den Kopf.

Andrea wählt Pauls Nummer und erreicht ihn zu ihrem Erstaunen sofort. Sie erzählt ihm keine Details, nur so viel, dass es lebenswichtig ist, umgehend die Handynummer von dem Musiker zu bekommen. Sie duldet keine Rückfragen. Paul verspricht, ihr die Nummer gleich zu schicken.

Unruhig wartet Andrea auf Pauls Nachricht, checkt die Lage. Rund um die Tankstelle ist viel los, zu viel: Schaulustige, die nur schwer davon abzuhalten sind, nicht alles mit ihren Handys zu filmen, Leute, die noch immer aus dem angrenzenden Wohn- und Bürogebäude geholt werden, jede Menge Polizisten.

Endlich hört sie das Bing der WhatsApp. Sie liest die Nachricht. »Ich hab Namen und Nummer«, sagt sie zu dem Kollegen. »Er heißt Patrick.«

»Rufen Sie ihn an!«, drängt der Einsatzleiter.

Andrea tippt auf die Nummer. Es klingelt unendlich lange. Schließlich springt die Mailbox an. Nach dem Piep-Ton spricht Andrea ihre Nachricht: »Patrick, hier ist Andrea Mangfall, die Schwester von Paul. Von Paul & the Boys. Wir haben mal zusammen im Backstage gespielt. Vielleicht erinnerst du dich an mich. Ich arbeite bei der Polizei, und ich stehe gerade draußen vor der Tankstelle. Ruf mich bitte an, damit wir besprechen können, wie wir das hier in Ordnung bringen. Ich kann dir helfen, Patrick. Bitte melde dich!«

»Und?«, fragt der Einsatzleiter.

»Geht nicht dran. Was habt ihr jetzt vor?«

»Schwierig. Die Geiseln. Der Treibstoff. Wir müssen zusehen, dass er aufgibt. Ich werde ihn jetzt ansprechen.« Er hebt das Megafon an.

»Warten Sie«, sagt Andrea. »Wenn Sie das tun, dann wissen die Schaulustigen alle Bescheid. Dann kann eine Panik ausbrechen!«

»Haben Sie eine bessere Idee?«

Jetzt klingelt Andreas Handy. Sie geht sofort dran.

»Patrick?«

»Ja …?«

Der Einsatzleiter sieht Andrea fragend an.

»Patrick, komm da raus!«

»Und dann?«

»Leg die Waffe weg. Komm raus, nimm die Hände über den Kopf, dann passiert dir nichts.«

»Ich kann nichts dafür, ich hab keine …«

»Patrick?«

»Ja?«

»Lass die Geiseln frei. Komm mit erhobenen Händen raus, ja?«

»Ich, ich …«

Das Telefonat bricht ab, die Leitung ist tot.

»Scheiße«, murmelt Andrea. Sie sieht den Einsatzleiter an. »Er hat aufgelegt.«

»Wie klang er?«

»Verwirrt. Er sagte, dass er nichts dafür kann.«

»Sehr witzig. Klang er aggressiv?«

»Nein, verwirrt, verzweifelt.«

»Okay. Dann gehen meine Leute jetzt von hinten rein. Ohne Ansage.«

Andrea zuckt mit den Achseln. Hier hat sie eh nichts zu melden. Sie überlegt, Patricks Nummer noch mal zu wählen. Nein, sie hat hier nicht das Kommando. Warum gibt Patrick nicht auf? Es ist doch völlig aussichtslos.

Jetzt öffnet sich die elektrische Glasschiebetür des Verkaufsraums.

»Geisel oder Täter?«, fragt Andrea.

Niemand antwortet ihr. Auch reicht ihr keiner mehr das Fernglas, damit sie die Person in der offenen Glastür genauer betrachten kann. Aber Andrea sieht es auch so: das Hemd, die Hose, die Farben, blau und rot – das muss ein Mitarbeiter der Tankstelle sein. Er kommt auf die Polizisten zu. Plötzlich zuckt der Mann, stürzt zu Boden und bleibt liegen.

»Was ist da los?«, zischt Andrea.

Im nächsten Moment gibt es eine Explosion. Mit heftiger Druckwelle. Tom reißt Andrea zu Boden und zieht sie hinter einen Stromkasten. Ein Feuerball steigt in den Himmel, fauchende Flammen: gelb, rot, blau, grün, schneeweiß. Weitere Explosionen, beißender schwarzer Qualm, verbrannter Kunststoff.

Die Schaulustigen haben sich auf die andere Straßenseite und den Parkplatz des Supermarkts zurückgezogen. Geschockt starren alle auf die Flammen. Jetzt rücken die Feuerwehrkräfte an. Kommandos werden gebellt, das Blaulicht lässt den Qualm mystisch leuchten. Löschschaum zischt in den Flammen.

Hummel rappelt sich auf, sieht Andrea geschockt an.

»Was ist passiert?«, fragt Andrea. »Also, was hat das ausgelöst? Unsere Leute waren das nicht. Was ist mit dem Tankwart? Der Mann ist doch erschossen worden? Hat Patrick geschossen?«

»Ich hab nichts gehört«, sagt Tom.

Hummel nickt. »Ja, komisch.«

»Schalldämpfer?«

Hummel schüttelt den Kopf. »Seit wann verwendet man bei einem Überfall eine Waffe mit Schalldämpfer?«

Tom zuckt mit den Achseln. »Ich weiß es nicht. Ich habe noch nie eine Tankstelle überfallen.«

»Das macht doch keinen Sinn«, sagt Hummel.

Tom nickt nachdenklich. Er lässt den Blick über die Verwüstungen streichen und murmelt dann: »Kommt, Leute, wir gehen.«

»Wie bitte?«, fragt Andrea.

»Hier können wir aktuell nichts machen.«

»Aber die Leute von der Tankstelle? Und Patrick?«

»Das hat niemand überlebt. Die Feuerwehrleute löschen und sichern das Gelände. Vor morgen macht sich die KTU nicht an die Arbeit.«

»Warum erst morgen?«, fragt Hummel.

»Jegliche Gefahr für die Ermittler muss ausgeschlossen sein.«

Wie zur Bestätigung explodiert jetzt noch ein unterirdischer Tank, und sie gehen abermals in Deckung.

»Okay, wir verschwinden jetzt«, sagt Hummel, nachdem er wieder aufgestanden ist.

»Was ist mit den Leuten aus den umliegenden Häusern?«, fragt Andrea. »Tom, können die Leute in ihre Wohnungen zurück?«

»Glaub ich nicht. Schätze, die müssen heute Nacht in Notunterkünften bleiben. Hotel oder Turnhalle. Wer weiß, wie es mit den Tanks unter der Erde aussieht. Da könnte noch mehr in die Luft fliegen.«

Andrea nickt nachdenklich. »Okay, dann fahren wir jetzt. Hummel, wir sehen uns morgen im Büro.«

Sie verabschieden sich von Hummel und gehen rüber zu Andreas Auto.

Tom lässt sich auf den Beifahrersitz fallen. »Boh, ich will nach Hause!«

»Wir fahren zu mir. Ich muss mit Paul sprechen.«

»Auch gut. Und wir müssen noch tanken.«

007

Zu Hause wartet Paul schon ungeduldig auf Andrea. Auf dem Küchentisch steht ein offenes Bier. Die Balkontür ist gekippt. Andrea riecht sofort, dass Paul in der Küche geraucht hat.

»Mach die Tür zu, es ist arschkalt«, weist sie Paul an. »Und drinnen wird nicht geraucht. In der Küche schon gar nicht. Ist das klar? Geh gefälligst zum Rauchen auf den Balkon!«

Paul schließt die Balkontür. »Sorry, ich war so aufgeregt.« Jetzt sieht er Tom im Flur. »Hallo Tom, alles fit?«

»Ja, gut erholt.«

»Aber kaum sind wir wieder hier, passieren schreckliche Dinge«, sagt Andrea.

»Was war das für eine Aktion mit Patrick vorhin?«, fragt Paul. »Ist was passiert?«

»Patrick hat eine Tankstelle überfallen.«

»Wie bitte?«

»So sieht es zumindest aus. Mit einer Waffe.«

»Quatsch!«

Sie atmet tief durch. Dann sagt sie leise: »Patrick ist tot.«

»Wie?«, fragt Paul fassungslos.

»Patrick ist tot. Also höchstwahrscheinlich. Er hat eine Tankstelle überfallen und dabei offenbar zwei Menschen erschossen. Dann gab es eine Explosion. Patrick ist tot. Davon ist jedenfalls auszugehen. Also, wenn er zum Zeitpunkt der Explosion noch im Kassenraum war.«

Paul schüttelt heftig den Kopf. »Patrick? Das kann nicht sein! Patrick überfällt keine Tankstelle! Patrick bringt keine Leute um! Niemals! Patrick ist ein Mamasöhnchen, der steht auf Love and Peace, der tut keiner Fliege was. Wo sollte Patrick eine Waffe herhaben? Eine Tankstelle überfallen? Warum? Das kann er nicht getan haben, das passt überhaupt nicht zu ihm.«

Andrea zuckt mit den Achseln. »So sieht es aber leider aus. Wir waren vor Ort. Ich hab ihn gesehen und mit ihm telefoniert. Offenbar hatte er bereits jemanden erschossen und hielt noch eine weitere Person als Geisel fest.«

»Aber warum sollte er das tun?«

»Das frag ich mich auch. Warum überfällt jemand eine Tanke? Weil er oder sie Geld braucht? Wofür? Drogen? Dafür machen manche Leute alles. Nimmt Patrick Drogen, Paul?«

»Pff, so gut kenn ich ihn auch nicht.«

»Jetzt sag schon, nimmt oder nahm Patrick Drogen?«

»Patrick ist ein ganz weicher Typ. Vielleicht kifft er ab und zu mal. Das ist schon alles. Der nimmt keine harten Sachen, ganz sicher nicht.«

»Wofür braucht er sonst Geld?«

»Das weiß ich doch nicht. Wegen ein paar Euros für Gras überfällt doch niemand eine Tankstelle. Das ist doch Wahnsinn!«

»Und woher hat Patrick eine Waffe?«

»Was weiß denn ich? Was für eine Waffe überhaupt?«

»Offenbar eine Waffe mit Schalldämpfer. Man hat die Schüsse nicht gehört.«

Tom sieht sie verwundert an. »Hey, Andrea, also …« – »Misch dich nicht ein, Tom. Ja, ich weiß, das ist ermittlungsrelevantes Detailwissen. Aber Paul hat uns bereits in dem Fall geholfen. Auch wenn es leider nichts gebracht hat.«

Tom will etwas erwidern, aber er spart es sich.

Paul schüttelt den Kopf. »Patrick, Schalldämpfer, eh klar, wie 007. Der lautlose Tod. Das ist doch kompletter Bullshit!«

»Ich weiß es auch nicht. Das ist jedenfalls alles sehr sonderbar.«

»Allerdings. Oh, Mann. Patrick! So ein netter Typ. Einer der besten Schlagzeuger in München. Und ein guter Sänger. So talentiert, so jung.«

Andrea holt zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank und reicht eine Tom. »Wo ist eigentlich Madelaine?«, fragt sie Paul.

»Noch unterwegs. Sie kommt später erst.«

»Erzähl ihr bitte nichts von der Sache.«

»Warum sollte ich das?«

»Weil ich dir schon zu viel erzählt habe. Außerdem gefällt es mir nicht, dass du schon wieder in einen unserer Fälle verwickelt bist.«

»Das ist ja wohl dein Verdienst, Schwesterherz. Ich persönlich hab mit der Sache nichts zu tun. Du hast mich angerufen. Aber ich sag dir eins: Das ist alles kompletter Schwachsinn! Patrick ist kein Typ für Waffen. Überhaupt nicht. Ein Krimineller wohnt auch sicher nicht mehr bei seinen Eltern.«

»Sind die Eltern eigentlich schon verständigt worden?«, fragt Tom.

»Scheiße«, murmelt Andrea. Sie hat in dem ganzen Trubel vergessen, dem Einsatzleiter des SEK Patricks Familiennamen anzugeben. Aber wie auch, sie kennt ihn ja gar nicht.

»Paul, wie heißt Patrick mit Nachnamen?«

»Geyer. Mit E und Ypsilon.«

»Und wohnt wo?«

»Ramersdorf, Balanstraße stadtauswärts. Genau weiß ich es auch nicht.«

Andrea zieht sich in ihr Zimmer zurück, um die Kollegen anzurufen.

Anschließend setzt sie sich wieder zu Tom und Paul an den Küchentisch. Sie nimmt einen großen Schluck aus ihrer Bierflasche.

»Und?«, fragt Tom. »Was machen die Kollegen?«

»Sie prüfen das. Die Leichen sind geborgen worden. Sie brauchen noch zweifelsfreie Identitätsfeststellungen. Ausweispapiere, falls da noch was übrig geblieben ist. Erst, wenn die Kollegen in der Rechtsmedizin Gewissheit haben, sollen Familien oder Verwandte informiert werden.«

»Der eine ist der Pächter?«

»Vermutlich. Und noch jemand. Und Patrick. Morgen wissen wir vermutlich mehr.«

»Wenn der eine Tote wirklich Patrick ist, gehst du dann persönlich bei seinen Eltern vorbei?«, fragt Paul.

»Mal sehen, wer das macht.«

»Mach bitte du das.«

»Ich werde sehen.«

»Du hast ihn schließlich ebenfalls gekannt.«

Andrea nickt langsam. Dann sagt sie: »Ich muss jetzt irgendwas essen.«

»Ich koch uns was«, sagt Paul. »Sind Spaghetti okay?«

»Ja, sehr okay. Sollen wir auf Madelaine warten?«

»Nein. Sie ist mit einer Freundin unterwegs. Das kann spät werden.«

Rastlos

Hummel ist zu Hause. Er ist aufgewühlt. Warum passiert das immer ihm? Warum ereignen sich Katastrophen ausgerechnet dort, wo er gerade unterwegs ist? Zieht er Mord und Totschlag an? Wie damals, als in der Kardinal-Faulhaber-Straße der Geistliche aus dem Fenster stürzte oder in der Fußgängerzone ein Attentat auf einen italienischen Journalisten verübt wurde. In seiner Rat- und Rastlosigkeit ist er vorhin tatsächlich noch zur Bandprobe gegangen. Quatsch natürlich. Er war voll durch den Wind. Jetzt sitzt er rauchend zu Hause in der Küche und versucht seine Gedanken auf Papier zu sortieren.

Liebes Tagebuch,

die Bandprobe heute war voll für den Arsch. Natürlich hatten die anderen mitgekriegt, dass die Tankstelle in die Luft geflogen ist. Und ich verplappere mich auch noch, dass ich vor Ort war. Und sie löchern mich und ich kann und darf nichts sagen. Mein musikalischer Beitrag war dann natürlich nicht der Bringer. Eigentlich war ich ja heute früher gekommen, um noch ein bisschen allein zu üben. Aber egal. Kunst braucht Muße. Und die gab es heute nicht. Ich bin mit den anderen dann auch nicht mehr mit in die Kneipe, wollte nur noch nach Hause. Ein Wahnsinn! Patrick war so ein junger Kerl! Und jetzt ist er tot. Darf man eigentlich Mitleid haben mit einem Täter? Ich weiß es nicht. Und dann war vorhin auch noch die Neue am Start. Zufällig. Ist doch mein Privileg, vor Ort zu sein, wenn gerade ein Verbrechen passiert. Na ja, jetzt haben wir unseren ersten gemeinsamen Fall. Andrea ist cool und ganz schön selbstbewusst. Als sie gemerkt hat, dass sie den Jungen kennt, hat sie gleich seine Nummer bei ihrem Bruder organisiert. Geholfen hat ihr Anruf leider nicht. Interessant, dass Paul Andreas Bruder ist. Der hübsche Paul. Mir persönlich sind seine Songs ja zu gefällig, aber er hat eine tolle Stimme und die Frauen fliegen auf ihn. Oder die Mädchen. Paul ist kaum älter als dieser Patrick. Oh Gott!

Schwierig

Als Andrea am nächsten Morgen aufwacht, ist Tom bereits weg. Um halb acht schon? Ist es so ungemütlich bei ihr? Sie steht auf und geht in den Flur, öffnet leise die Tür von Pauls Zimmer. Paul und Madelaine liegen eng umschlungen im Bett. Sie lächelt und schließt die Tür. In der Küche setzt sie Kaffee auf, steckt zwei Brotscheiben in den Toaster. Alte Krümel fangen an zu schmurkeln. Bei dem Brandgeruch wird ihr ganz anders. Sie wirft die Toasts weg und fahndet im Küchenschrank nach dem Müsli. Als sie das Glas findet, ärgert sie sich. Viel hat Paul nicht drin gelassen. »Der werte Herr könnte auch mal einkaufen gehen, wenn er sieht, dass etwas ausgeht!«, murmelt sie und schüttet den Rest in eine Schale. Sie gießt Milch drauf und geht duschen. Kurz darauf löffelt sie die immer noch harten Getreideflocken in sich rein, trinkt in kleinen Schlucken zu heißen und zu starken Kaffee.

Paul ist noch nicht aufgestanden, als sie die Wohnung verlässt. Gerne hätte sie mit ihm noch mal über Patrick gesprochen. Vielleicht hat Paul doch noch eine Idee, was Patrick zu dieser Wahnsinnsaktion verleitet haben könnte. Aber Paul aufwecken wäre sinnlos, denn morgens ist er zu nichts zu gebrauchen. Egal, dann sprechen sie heute Abend mit etwas mehr Abstand darüber.

Andrea macht vor dem Büro noch einen Abstecher zum gestrigen Tatort. Sie nimmt die U-Bahn zur Haltestelle Arabellapark und geht das letzte Stück zu Fuß. Jetzt im fahlen Morgennebel sieht die Szenerie mit dem rußigen Gebäudeskelett aus wie eine Kriegsregion. Die Verwüstung ist final – kein Stein mehr auf dem anderen. Sie entdeckt Tom inmitten seines Teams in weißen Einweganzügen bei der Arbeit. Die Leute von der Spurensicherung steigen vorsichtig durch die rußigen Reste, inspizieren den trümmerübersäten Boden.

»Guten Morgen, Tom, doch schon im Dienst?«, begrüßt sie ihn. »Solltest du nicht noch ein paar Tage zu Hause bleiben?«

Er lächelt müde. »Warum warten, wenn ich mich schon heute nützlich machen kann.«

»Ich hab dich vorhin gar nicht gehört.«

»Senile Bettflucht. Ich bin um halb sieben los.«

»Habt ihr denn schon was gefunden?«

»Wir wissen nicht einmal, wonach wir suchen sollen. Die Waffe, klar, aber abgesehen von Betontrümmern, Stahlträgern und Glasscherben ist hier alles voller deformierter Kleinteile, Werkzeuge, Dosen, dazu eine Menge geschmolzener Kunststoff, verbrannte Reifen. Ein einziges Chaos.«

»Kein Wunder, nach der Explosion.«

»Was könnte der Grund für den Überfall gewesen sein? Ein so junger Typ? Warum tut er so was?«

»Na ja, schon merkwürdig. Ich sprech mit Patrick am Handy, sag ihm, er soll die Geisel gehen lassen. Er legt auf, und dann kommt die Geisel raus, und er erschießt sie. Warum sollte er so was tun? Das macht doch überhaupt keinen Sinn.«

»War das Opfer denn die Geisel?«

»Patrick war es jedenfalls nicht. Die Kleidung sah nach Arbeitsuniform aus. Wie viele Tote haben wir denn? Sind es immer noch drei?«

»Ja. Auf dem Gelände wurden drei Leichen gefunden. Alle stark verbrannt. Eine ziemliche Herausforderung für die Rechtsmedizin.«

»Die Identität zu bestimmen?«

»Das auch. Und die Todesursache.«

»Wie meinst du das, Tom? Zwei wurden erschossen und einer ist verbrannt.«

»Ja, schon, also vermutlich. Aber wie gesagt – bislang haben wir keine Waffe gefunden. Vielleicht wurde die Waffe durch die Explosion weit weg geschleudert. Die ganzen Kleinteile aus Metall, die Suche kann ewig dauern. Wenn wir sie überhaupt finden.«

»Sind die Leichen schon bei Dr. Sommer?«

»Ja, oder bei Gesine.«

»Wer ist Gesine?«

»Dr. Gesine Fleischer, ebenfalls Rechtsmedizin. Sie macht viel für Mader.«

»Gesine. Aha. Attraktiv?«

»Mitte 60 und kurz vor der Pensionierung.«

»Verarschen kann ich mich selber.«

»Wer blöd fragt, kriegt blöde Antworten.«

»Weiß Mader eigentlich Bescheid, dass wir gestern auch vor Ort waren? Ich hab ihn gar nicht mehr angerufen.«

»Hummel hat ihm das bestimmt gesagt.«

»Gut, dass Hummel nicht auch gerade in dem Laden war.«

»Allerdings. Tom, ich muss jetzt los. Wir sehen uns später im Präsidium. Pass gut auf dich auf. Nicht, dass noch was explodiert.«

»Die Feuerwehr hat das Gelände freigegeben. Das ist safe. Sonst wären wir nicht hier.«

»Trotzdem!«

Andrea küsst ihn und macht sich auf den Weg zur U-Bahn. Sie grübelt: Mal schnell Zigaretten kaufen und das war’s dann. Aber wer rechnet auch mit so was? Hat Patrick den Überfall genau geplant oder war das eine Kurzschlussreaktion? Ist er da irgendwie reingeschlittert? Mit einer Pistole? Woher hatte er die? Was für eine Waffe überhaupt? Wo ist die verdammte Pistole?

Ungewöhnlich

»Muss Andrea heute schon arbeiten?«, fragt Madelaine Paul bei einem Milchkaffee in der Küche.

»Ja, bei Andrea gibt es nur Vollgas«, sagt Paul und streicht sich Nutella auf den Toast. »Kaum aus dem Urlaub zurück, ist sie schon wieder im Einsatz.«

»Ja?«

»Erinnerst du dich an Patrick, den Schlagzeuger?«

»Mit den langen Haaren?«

»Ja, genau.«

»Hübscher Junge. Was ist mit ihm?«

»Äh …« Paul beißt sich auf die Zunge. Mann, er kann einfach nicht den Mund halten. Er hat Andrea doch versprochen, nichts zu erzählen. »Äh, wir wollten mal wieder was zusammen machen. Also Musik.«

»Ja, mach das. Patrick ist ein wirklich guter Schlagzeuger. Ich bin heute Abend eh unterwegs. Ruf ihn doch an, ob er Zeit zum Proben hat.«

»Ja, später vielleicht. Der schläft bestimmt noch.«

Paul dreht sich zum Herd und beschäftigt sich ausführlich mit dem Rührei in der Pfanne. Vor seinen Augen flimmert es. Patrick schläft nicht, Patrick ist tot. Verbrannt. Gerade mal 20 Jahre alt. Patrick wird nie wieder Schlagzeug spielen. Ob seine Freundin und seine Mutter schon Bescheid wissen? Soll er sie anrufen? Nein, das ist nicht sein Job. Das bringt nur Ärger. Offiziell darf er ja gar nichts wissen. Für so was ist Andrea zuständig. Und ausgebildet. Paul sieht traurig das schlabbrige Rührei an. Der Appetit ist ihm vergangen.

Aufmerksamkeit

Bevor Andrea im Präsidium ins Büro hochgeht, stattet sie der Rechtsmedizin im Untergeschoss einen Besuch ab. Dort trifft sie Hummel. 

»Guten Morgen, Andrea. Wie geht’s dir?«

»Bisschen wenig Schlaf. Und dir?«

»Geht so. Auch wenig geschlafen. Das war furchtbar gestern.«

»Gibt es denn schon genauere Infos zu den Opfern?«

»Bei einer Person ist es unklar. Bei den zwei weiteren sind die Brieftaschen nicht komplett verbrannt. Das sind offenbar der Pächter und sein Sohn: Paul und Peter Fromader.«

»Weiß die Ehefrau des Pächters schon Bescheid?«

»Es gibt keine Ehefrau.«

»Wie?«

»Paul Fromader ist verwitwet.«

»Verwandte?«

»Nein. Also keine näheren zumindest. Die Eltern von Paul Fromader sind bereits verstorben. Die Eltern seiner Frau leben in einem Altersheim in Aschaffenburg. Ich hab das recherchiert.«

»Wann hast du das denn gemacht?«

»Ich war heute schon ganz früh da, ich konnte nicht schlafen.«

»Hat der Sohn eine Freundin?«

»Nicht, dass wir wüssten. Also bis jetzt. Aber wir haben ja noch gar nicht richtig angefangen zu ermitteln. Hab ich das gestern eigentlich richtig verstanden? Du kennst den mutmaßlichen Geiselnehmer persönlich? Also näher?«

»Kennen ist zu viel gesagt. Patrick war Schlagzeuger, und Paul hat gelegentlich mit ihm zusammengespielt. Und wir sind auch mal zusammen aufgetreten. Du kennst Patrick wirklich nicht, also vom Bürgerpark?«

»Wenn, dann nur ganz flüchtig. Da draußen proben sehr viele Leute. Kann schon sein, dass ich mal mit ihm gequatscht habe, aber ich erinnere mich nicht. Was für ein Typ war Patrick denn?«

»Nett, zurückhaltend. Den Eindruck hatte ich. Jedenfalls keiner, der Tankstellen überfällt und Geiseln nimmt.«

»Hat er aber getan. Daran besteht kein Zweifel. Das hat auch der Zeuge ausgesagt.«

»Es gibt einen Zeugen, Hummel?«

»Ja, ein Typ, der da gestern Abend getankt hat. Er war noch beim Tanken und ist in den Kassenraum wegen neuen Wischerblättern. Er sagt, dass der junge Mann da drin war und ohne Vorwarnung den Mann an der Kasse attackiert hat.«

»Das hat der Zeuge gesehen?«

»Na ja, der Mann, also vermutlich dieser Patrick, stand vor dem Tresen, und der Kassierer dahinter ist zusammengebrochen. So steht es in der Zeugenaussage.«

»Ist ein Schuss gefallen?«, hakt Andrea nach.

»Der Zeuge war sich nicht sicher.«

»Das kriegt man doch mit. Also, wenn es in demselben Raum passiert. Selbst bei einem Schalldämpfer. Und das Kordit riecht sehr scharf. Steht dazu was im Protokoll?«

»Nein, das müssen wir noch mal genau überprüfen. Draußen hat es auch nicht geknallt. Also später, als die Geisel rauskam. Da haben wir ja auch nichts gehört.«

»Ja, die Geschichte mit dem Schalldämpfer. Aber macht das denn Sinn? Jemand schraubt einen Schalldämpfer auf eine Waffe, damit es nicht so laut Bumm macht, wenn er sie bei seinem Tankstellenüberfall einsetzt. In meiner Fantasie benutzen nur Profikiller Schalldämpfer. Und warum sollte Patrick den Mann an der Kasse überhaupt niederschießen? Also, was wäre der Grund dafür? Weil der die Kasse nicht schnell genug aufgemacht hat?«

»Das weiß ich doch nicht«, sagt Hummel leicht genervt.

»’tschuldigung. Ich denk nur laut. Was hat denn dieser Zeuge gemacht? Also, als der Kassierer zusammengebrochen ist?«

»Sich auf den Boden geworfen, als der andere Tankwart auf den Täter losgegangen ist.«

»Den hat er dann nicht einfach erschossen?«

»Scheinbar nicht.«

»Und wie hat es der Zeuge dann rausgeschafft?«

»Offenbar hinten durch die Werkstatt.«

»Das klingt alles ziemlich verwirrend.«

»Das war gestern nur eine allererste Befragung. Da standen doch noch alle voll unter Strom, weil der ganze Laden in die Luft geflogen ist.«

»Okay. Dann schauen wir jetzt mal, was die Rechtsmedizin meint«, sagt Andrea und betritt den Obduktionssaal. »Du kennst Dr. Sommer?«

»Flüchtig, er hat gelegentlich schon mit Gesine zusammengearbeitet.«

»Guten Morgen!«, zwitschert Gesine, die gerade mit einem Kaffeebecher in der Hand hereinspaziert. »Sie sind Frau Mangfall?«, fragt sie Andrea.

»So ist es. Ich bin jetzt bei Herrn Mader im Team.«

»Das ist schön. Je mehr Frauen, desto besser. Ich bin Gesine.« Sie reicht ihr die Hand.

»Andrea, ich freu mich.«

Dr. Sommer räuspert sich. »Wenn ich um eure ungeteilte Aufmerksamkeit bitten darf?«

»Ach ja, entschuldige, Martin«, sagt Andrea. »Das ist Klaus Hummel, ihr hattet schon mal das Vergnügen, sagt Hummel?«

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