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Experienced. Die Liebe bietet unbegrenzte Möglichkeiten

Als Buch hier erhältlich:

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Jung, lustig und sexy – ein Buch voller Zeitgeist: Kate Young schreibt den Roman des Jahres über Dating(-katastrophen), die Liebe und den Mut, zu sich selbst zu stehen

Die dreißigjährige Bette muss erstmal verarbeiten, was gerade passiert ist: Mei, die Frau, die sie eigentlich gern als feste Freundin behalten würde, drängt ihr drei Monate Beziehungspause auf, damit Bette »sich auch einmal richtig ausleben kann«. Dass die daran überhaupt kein Interesse hat, ist erst einmal egal – und Bette war noch nie gut darin, zu sagen, was sie will. So landet sie schneller, als ihr lieb ist, auf diversen Dating-Apps und hat desaströse und nicht ganz so desaströse Begegnungen mit Menschen, die ihr dabei helfen sollen, mehr zu sich selbst und ihrer Queerness zu finden. Bald ereilt sie eine völlig unerwartete Erkenntnis: Ist ihre Vielleicht-bald-wieder-Freundin möglicherweise doch nicht ihre große Liebe, jetzt, da sich unbegrenzte Möglichkeiten bieten?


  • Erscheinungstag: 21.05.2024
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906635
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für die Girls, die neben mir auf dem Sofa Nudeln essen

Die Pause

Das Gespräch begann in Meis Bett, was sehr gut passte. An dem heißen Sommermorgen Mitte Juli fiel das Licht klischeehaft durch die dünnen Vorhänge und wärmte Bettes Haut. Es hatte etwas unleugbar Luxuriöses, im Sommer so zusammen im Bett zu liegen, am Abend zuvor hatten sie stundenlang Zeit gehabt, das letzte Tageslicht auszukosten und den goldenen Schimmer auf der Haut der anderen zu bewundern.

Normalerweise hasste Bette Schwitzen, hasste den Sommer. Wenn es heiß war, fühlte sich ihr Körper so dick an, als würde sie zu viel Platz beanspruchen, prall und warm wie ein aufgehender Teig. Aber es war was anderes – etwas völlig anderes –, mit Mei hier zu liegen, erhitzt und warm in ihrer Leinenbettwäsche, also sah sie gern darüber hinweg.

Irgendwann demnächst wollte Bette sich mit ein paar Freund*innen im Park treffen und die Sonne genießen, solange sie da war. Aber als Mei und sie um acht aufgewacht waren, schien der Nachmittag noch eine herrliche Ewigkeit entfernt. Sie hatten keine Eile. Mei verschwand, um Tee zu machen, und Bette … Bette vermisste sie. Sie war höchstens zehn Minuten weg, nur nebenan. Bette hatte gehört, wie sie das Radio einschaltete und Wasser aufsetzte. Dennoch vermisste sie sie. Also stand Bette auf, ohne darüber nachzudenken, wie lächerlich das war, wie schnell sie wieder zurück gewesen wäre, und folgte ihr.

Mei stand an der Spüle, schaute aus dem Fenster, hatte den Kopf schief gelegt und drückte sich die Finger im Nacken gegen die Wirbelsäule, die nach einer Woche im Atelier immer verspannt war. Ihr Morgenmantel war auf einer Seite von der Schulter gerutscht, und sie summte mit der Radiomusik mit, die Bette nur als »irgendwas Klassisches« identifizieren konnte. Bette trat dicht hinter Mei und presste ihr die Lippen in den Nacken, wo gerade noch ihre Hand gewesen war. Mei summte weiter, neigte den Kopf, griff nach hinten und schob Bette die Finger ins Haar, brachte sie dazu, an ihrem Ohrläppchen zu knabbern und die Lippen zu ihrem Kiefergelenk wandern zu lassen. Bette zerrte am Knoten von Meis Mantel, drehte sie um und hob sie auf die Küchenanrichte, direkt neben die Kanne mit dem ziehenden Tee. Mei zog eine Augenbraue hoch und ließ den Blick über Bettes Körper schweifen. Sie stand nackt in Meis Küche, als würde sie das ständig so machen, als sei es nicht die jüngste in einer langen Liste von Premieren. Als sei Mei sich nicht völlig im Klaren darüber, wie absolut neu das alles war.

Bette glaubte, ein Zögern bei Mei wahrzunehmen – wahrscheinlich lag es an der heißen Kanne direkt neben ihnen oder der offenen Jalousie in der Küche oder daran, dass Bette so offensichtliches und peinliches Verlangen nach ihr empfand, dass sie nicht einmal zehn Minuten auf den Tee warten konnte – aber einen Augenblick später war sie sich sicher, es sich nur eingebildet zu haben. Denn Mei schlang die Beine um sie, küsste sie, weich und offen, zog sie an sich und hüllte sie beide in Seide. Irgendwann schafften sie es zurück ins Bett, ließen den viel zu starken Tee stehen. Schließlich war es wichtiger, viel wichtiger als Tee, in Meis volle Lippen zu beißen, sich auf die zarte Haut über ihrem Hüftknochen zu konzentrieren, sie zurück aufs Laken zu drücken.

In den nächsten Stunden verlor Bette aus den Augen, auf wie viele Arten sie zusammenpassten. Erst, als ihr Puls sich wieder normalisierte und sie mit der ganzen Welt im Reinen war, sprach Mei es ganz beiläufig an. Als sei es die logische Fortsetzung einer Unterhaltung, die sie bereits geführt hatten.

»Ich finde es toll, dass du das hier so toll findest«, hauchte Mei, ihre Stimme klang immer noch weich und intim, und sie legte unter der Decke die Hand an Bettes Hüfte. »Dass es dir so gut gefällt. Macht mich echt traurig, dass du das all die Jahre nicht hattest. Dass du so viele Erfahrungen verpasst hast.«

Ihre Worte hatten ein solches Gewicht, viel zu schwerwiegend für einen Samstagmorgen, dass Bette die Erschütterung spürte, als sie zwischen ihnen auf dem Bett aufschlugen.

»Du … du findest, ich sollte mehr Erfahrung haben?« Bettes Stimme hatte einen seltsamen, langsamen Ton angenommen, sie konnte das sich einschleichende Grauen nicht verbergen. Der unbändige Stolz, mit dem sie ihre sexuellen Fähigkeiten noch vor wenigen Minuten erfüllt hatten, als sie Meis in das Laken gekrallte Hand gesehen hatte, ihren komplett angespannten Körper, verflog.

»Nein, nein.« Mei lachte, beruhigte sie sofort. »Mehr Erfahrungen. Plural«, betonte sie. »Ich meine, ich … ich glaube, ich hätte dich einfach lieber erst kennengelernt, nachdem du mehr Zeit hattest, diese Seite an dir zu entdecken.«

Bette nickte, tat entspannt, verständnisvoll und locker, aber ihr Mund öffnete sich wie von selbst. »Okay, aber das klingt trotzdem ein bisschen, als sollte ich deiner Meinung nach besser sein.«

»Hör auf! Du weißt genau, dass das Blödsinn ist. Jetzt versuchst du nur, mir Komplimente zu entlocken. Na gut, dann hör mir jetzt mal genau zu. Du bist großartig. Fantastisch, überwältigend großartig.« Mei beugte sich vor und küsste sie ermutigend, bevor sie fortfuhr. »Aber ich meinte damit alles, nicht nur den Sex. Ich date seit Ewigkeiten Frauen. Ich weiß, was ich will. Und ich will, dass du auch die Gelegenheit dazu hattest.«

»Aber ich …«, setzte Bette an, doch Mei legte ihr die warme Hand über die immer noch geschwollenen Lippen und das Kinn, beugte sich vor und saugte an ihrem Schlüsselbein. Leider Gottes hatte sie herausgefunden, wo genau sie Bette küssen musste, damit sie den Mund hielt. Es war fürchterlich (unglaublich), dass jemand sie so gut kannte. Bette wartete darauf, dass sie weitersprach.

»Das mit uns ist toll. Wirklich toll, und so easy. Das geht bei mir sonst nie so schnell.« Obwohl Mei zu oft blinzelte, merkwürdig nervös, und obwohl Bettes Eingeweide sich immer noch vor Angst zusammenzogen, konnte sie sich des befriedigten Gefühls nicht erwehren, sie die Wahrheit aussprechen zu hören. Dass es für Mei genauso ungewöhnlich war. Bette war so was noch nie passiert. »Aber – weißt du – ich muss einfach die ganze Zeit daran denken, dass du irgendwann später bereust, dass du dir nach deinem Coming-out nicht mehr Zeit genommen hast, zu daten, mit anderen zu schlafen. Ich will dir diese Möglichkeit nicht nehmen. Ich will nicht, dass du mir das irgendwann vorwirfst. Dass du es bereust, dich an die erste Frau gebunden zu haben, mit der du geschlafen hast. Verstehst du?«

Bette schwieg. Nein, beschloss sie. Sie verstand es nicht. Vor drei Minuten hatte ihre größte Sorge noch darin bestanden, ob sie es noch einmal treiben könnten, bevor Mei in ihr Atelier ging. Wie hatte alles in ein paar Minuten so aus dem Ruder laufen können? Meinte Mei das ernst, sie könnte das hier bereuen? Sie bereuen? Das war das genaue Gegenteil von dem, was Bette die ganze Zeit dachte. Sollte sie ihr sagen, dass sie sich vorgestellt hatte, wie sie Weihnachten gemeinsam Meis Familie besuchten? Dass Mei ihre Schwester in Tokio erwähnt hatte und Bette seitdem mehr als einmal nach Flügen geschaut hatte? Dass sie sich letzte Woche gefragt hatte, wie es wäre, wenn sie ein Baby hätten? Wenngleich Mei sie immer wieder angespornt hatte, ihre Gefühle offener zu teilen und mehr von sich selbst preiszugeben, als sie gewohnt war, kam ihr das dann doch überstürzt vor. Es waren ja erst ein paar Monate. Also drückte sie es auf andere Weise aus.

»Ich meine es ernst, genau wie ich es vom ersten Tag an gesagt habe. Ich bin aus Überzeugung monogam. Ich muss mich nicht durch die Dating-Wildnis schlagen und so viele Frauen vögeln wie möglich. Ich will dich. Ich will das hier.« Bette lag auf dem Rücken, die Augen zur Decke gerichtet, und suchte nach den richtigen Worten, um es auf den Punkt zu bringen, um Mei zu sagen, wie viel ihr das alles bedeutete. »Ja, du bist die erste Frau, mit der ich geschlafen habe. Aber ich kann mir trotzdem nicht vorstellen, dass es sich mit irgendjemand anderem so gut – so richtig, meine ich – anfühlen könnte.«

Bette drehte den Kopf und stellte fest, dass Mei sie mit dem Kopf auf dem Kissen ansah. Ihr gerader Pony war zu kurz (am Dienstag war sie stinksauer gewesen, nachdem sie ihn hatte schneiden lassen), das dunkle Haar stand ab, weil sie vorhin daran gezogen hatte. Ihr Augen-Make-up vom Abend zuvor war verschmiert, die ehemals perfekt geschwungenen Wings blätterten ab und hatten sich auf ihren Wangen und am unteren Wimpernkranz abgesetzt. Bette sah den deutlichen Knutschfleck an ihrer Brust, direkt unter dem hervortretenden Schlüsselbein. Sobald sie es entdeckte, würde Mei genervt tun. Es war unerträglich intim, Mei sah unfassbar umwerfend aus, und Bette konnte nicht glauben, dass sie ihr immer noch nicht gesagt hatte, dass sie sich in sie verliebt hatte. Konnte nicht glauben, dass sie es sich verkniffen hatte. Sie wollte es aussprechen, wollte es ihr sagen, aber etwas an dieser Unterhaltung machte es unmöglich. Es war nicht der richtige Zeitpunkt.

Stattdessen drehte Bette sich ganz auf die Seite, schlang Mei den Arm um die Taille und strich ihr mit den Fingern übers Rückgrat. Sie schob das Knie zwischen Meis Beine, verschränkte ihre Körper unter der dünnen Sommerdecke. Mei lächelte ihr richtiges Lächeln, bei dem sie ihrer Meinung nach zu viele Zähne zeigte, und Bette küsste sie auf den offenen Mund. Es war ungeschickt und unbeholfen, und Bette erschauerte. Sie kicherten beide hilflos. Mei zog Bette fester an sich und legte ihr die Hand unten an den Rücken.

»Das verstehe ich. Wirklich. Ich will dir nicht erklären, was du fühlst. Ich denke einfach darüber nach, weißt du? Über uns, meine ich, über die Zukunft.« Mei sprach in einem locker-leichten Ton, der sich erzwungen anfühlte. »Unsere Zukunft.«

»Ah ja.«

»Aber … Ich finde einfach, wenn es einen richtigen Augenblick dafür gibt, dann jetzt. Also, du weißt schon, um eine kleine Pause einzulegen.«

»Eine Pause?« In Bettes Hirn setzte ein schwaches Läuten ein, ein verspätetes Warnzeichen einer nahenden Katastrophe – die Glocke auf der Titanic, die erst erklang, als es längst kein Zurück mehr gab.

»Natürlich nicht für immer, keine Trennung. Nur eine Pause. Damit du Zeit hast, zu erleben, wie es ist, geoutet zu sein. Gay zu sein. Spaß zu haben, bevor du dich festlegst. Bevor wir uns festlegen.«

Bette ging mit pochendem Herzen den Morgen noch einmal durch, versuchte die Bruchstücke wieder zusammenzusetzen, aber es gelang ihr einfach nicht. Sie zog das Bein zwischen Meis Knien hervor und rutschte unter der Decke rückwärts. Ihr wurde bewusst, dass sie vergessen hatte, wo ihre Klamotten gelandet waren. Deshalb sollte man die Nacht nicht nackt miteinander verbringen. Sie war verletzlich. Entblößt.

»Du willst, dass wir uns nicht mehr sehen? Damit ich mit anderen Frauen schlafen kann?«

Das kam ihr irrsinnig vor. Lächerlich. Bestimmt hatte sie was falsch verstanden.

»Ja. Mit ihnen schlafen. Ein bisschen daten, wenn du willst. Die Zeit haben, die ich hatte. Damit du das alles erkunden kannst, weißt du? Aber ja.«

Die Stille zwischen ihnen dehnte sich immer weiter aus, bis Bette klar wurde, dass Mei auf eine Reaktion wartete. Sie ergriff den erstbesten Gedanken und bereute es beinahe sofort.

»Wäre … ich weiß nicht. Wäre eine offene Beziehung da nicht die bessere Lösung?«

»Ich will eigentlich keine offene Beziehung.« Meis Stimme klang so ruhig, beschwichtigend und bestimmt, dass Bette eine Welle des Zorns in sich aufsteigen spürte. Sie hatte genug Zeit gehabt, sich eine Antwort auf alle möglichen Einwände einfallen zu lassen, die Bette vorbringen konnte. Ihrem Tonfall nach war das hier ein vollkommen alltägliches Gespräch, eine Unterhaltung, die absolut dazu passte, dass sie in diesem Bett gerade noch Sex gehabt hatten. Als hätte sie bereits festgelegt, dass es keine große Sache werden würde, als hätte Bette keinerlei Mitspracherecht bei dieser Entscheidung. »Außerdem hast du doch gerade gesagt, dass du auch monogam bist. Ich glaube, dann würde alles einfach so bleiben, wie es ist.«

Dass alles so blieb, wie es war, war genau das, was Bette wollte. Ihr wurde schlecht. Und was noch schlimmer war, ihre Klamotten, da war sie sich nun sicher, lagen im Wohnzimmer. Alle. Sie musste nach dieser Unterhaltung nackt hier rauslaufen.

»Also findest du, wir sollten uns lieber trennen.«

»Doch nicht für immer!« Mei schien Bette eine Schwimmweste zuzuwerfen, während sie langsam abtrieb. »Nur ein Weilchen. Und dann, nach drei Monaten …« Bette riss die Augenbrauen hoch, und Mei geriet zum ersten Mal ins Stocken. »Oder, na ja, was weiß ich … Ich fand einfach, drei Monate wären gut, dann könnten wir ein paar Wochen vor Erins und Niamhs Hochzeit wieder zusammenkommen? Jedenfalls, nach drei Monaten können wir es richtig ernsthaft angehen. Aber du sollst vorher rausfinden können, was du willst.«

»Ich will das hier«, beharrte Bette. Mei hatte sich das alles gut überlegt, erkannte sie nun. Der Plan war so detailliert, so schrecklich durchdacht. Und so haarsträubend bescheuert. Aber dann dachte sie an Ryan, wie sie mit ihm Schluss gemacht hatte, als sie an einem verregneten Sonntagnachmittag auf dem Sofa saßen. Dachte daran, wie er so erbittert um sie gekämpft hatte, dass ihr Mitgefühl sich in Mitleid verwandelt hatte. Verzweiflung war nicht gerade attraktiv. Eher demütigend mit anzusehen. Sie holte angestrengt Luft und merkte, dass sie den Tränen gefährlich nahe war.

»Ich weiß, dass du das glaubst. Und ich will auch nicht abstreiten, wie wunderbar alles ist«, sagte Mei voller sanfter Aufrichtigkeit. »Aber vielleicht fühlt es sich mit jemand anderem auch großartig an. Du hast ja keinen Vergleich. Und ich will, dass du dir ganz sicher bist.«

Dagegen konnte sie nichts sagen. Aber es schien so unfair. Bestand nicht bei jeder Beziehung ein gewisses Risiko? Es war doch immer so, dass man voller Hoffnung und Risiko gemeinsam von einer Klippe sprang, ohne zu wissen, wo man landen würde.

»Aber … Mei … ich … ich liebe dich.« Bette hasste die Verzweiflung in ihrer Stimme, eine störrische Träne entschlüpfte ihr zusammen mit ihren Worten. Was für eine Qual, es auf diese Art zu sagen.

»Ach, Bette.« Meis Augen schimmerten feucht, und sie streckte die Hand nach ihrer aus. Bette klammerte sich daran fest, als könnte sie sich so vor dem Ertrinken retten. »Ich verliebe mich doch auch in dich. Genau deshalb glaube ich ja, dass wir das tun müssen.«

Vielleicht ergab doch alles auf schreckliche Weise Sinn. Woher sollte Bette das wissen? Plötzlich fühlte sie eine Last, als würde ihre Unerfahrenheit sie niederdrücken wie eine zu schwere Reisetasche. Vielleicht hatte Mei recht damit, sie davon befreien zu wollen. Vielleicht würde dann alles besser werden. Leichter. Weniger vorbelastet.

Sie holte tief Luft und ließ Meis Hand los, spürte ihre Abwesenheit wie körperlichen Schmerz. »Na dann. Also eine Pause. Gut. Wenn das … ich meine, wenn wir das machen wollen … kann ich dann einfach … Würdest du dich bitte umdrehen? Ich muss meine Sachen holen.«

Und statt ihr zu sagen, sie solle nicht albern sein, statt zu lachen und sie quer übers Bett an sich zu ziehen, nickte Mei und hielt sich die Hand vor die Augen.

Samstag, 16. Juli
Noch 91 Tage

Bette rannte. Dabei hasste sie Rennen. Aber ihr Weg von Mei zum Park führte an dem Pub vorbei, in dem sie ihr erstes Date gehabt hatten. Deshalb verspätete sich Bette. Sie hatte ihrer Mitbewohnerin Ash versprochen, sie würde sich nicht ablenken lassen, sie würde zur Semesterabschlussfeier kommen und sei nicht die Art Mensch geworden, die jemanden kennenlernt und sofort ihre Freund*innen sitzen lässt. Wobei sie am Ende lieber so ein Mensch wäre als der hier: der zu spät kam, weil er eine Ewigkeit lang in der Öffentlichkeit wegen einer Nicht-Trennung geheult hatte.

So sah es nämlich aus. Der ganze Morgen mit Mei lief letztlich auf diesen einen springenden Punkt hinaus: Es war keine Trennung.

Natürlich fühlte es sich trotzdem so an. Als würde Mei sich eine Weile irgendwo aufhalten, wo sie weder technologisch noch physisch erreichbar war, als würde sie eine Installation am Südpol errichten. Nur dass sie in Wirklichkeit in Bristol blieb und sie oft zusammenarbeiteten, also würden sie sich unter Garantie in der Zwischenzeit über den Weg laufen.

Das würde die Hölle werden.

Idealerweise, überlegte Bette, sollte sie einfach nach Hause gehen, sich im Bett verkriechen und erst wieder aufstehen, wenn die angeordneten drei Monate vorüber waren.

Aber Ashs zahlreiche Nachrichten machten deutlich, dass ihr so ein Samstag nicht vergönnt war. Nein, sie kam zu spät in den Park. Außerdem sollte sie Chips und Dip mitbringen, die sie nicht hatte, und wenn sie jetzt noch einkaufen ging, würde sie sich noch weiter verspäten. Bette hatte dem Plan vor Tagen zugestimmt, als sie sich noch hatte vorstellen können, dass Mei sich zu ihnen gesellte, sobald sie im Atelier fertig war. Sie hatte sich vorgestellt, wie sie zusammen auf einer Picknickdecke lagen, wie sie dösend den Kopf auf Meis Bauch legte. Sie hätten ausgesehen wie eine Werbung für Dosen-Gin-Tonic.

Aber so würde es nun ganz und gar nicht laufen. Ash war schon da, Anton und Carmen auch. Sie würden alle annehmen, dass sie so spät kam, weil sie noch mit Mei im Bett gewesen war, was streng genommen auch stimmte, und mit der Diskrepanz zwischen ihrer Vorstellung und der Realität der Situation konnte sie nicht so recht umgehen. Schrecklicher Gedanke, es ihnen erklären zu müssen.

Sie würden es nicht verstehen. Sie verstand es ja selbst nicht.

Also beschloss sie außer Atem vor dem Chipsregal im Laden an der Ecke, dass sie es lieber gar nicht erst ansprach. Wenn sie nach Mei fragten oder wie ihr Vormittag gewesen war, konnte sie ganz unverbindlich bleiben. Fröhlich. Sie konnte so tun, als wäre sie spät aufgestanden, hätte sich in Windeseile angezogen, und als hätte es das Gespräch im Bett gar nicht gegeben.

Sie sah sich selbst kurz in einer Kühlregaltür, während sie in der Kassenschlange stand, und erschrak über ihr strähniges Haar, das ungewaschen eher schmutzig braun als rot wirkte. Hinter der Sonnenbrille spürte sie, wie verkrustet ihre Augen waren, der Lidstrich von gestern Abend war mit Sicherheit auch verschmiert. Sie trug ein Hemdkleid aus Denim, das über ihren Brüsten immer wieder aufging und das natürlich gerade jetzt auch tat. Sie war zu spät dran und sah unmöglich aus, dachte sie, als sie die Chips auf die Theke fallen ließ, die Sisyphosknöpfe wieder zuknöpfte und ihr Haar zu einem verschwitzten kleinen Knoten band.

Wie unwirklich, dass sie achtzehn Stunden zuvor mit Mei in einer Van-Gogh-Ausstellung gestanden hatte, voller Licht und Farben und Polster.

Ihr erstes Date war vier Monate her, und alles war ein Traum gewesen: spätabendliche SMS-Marathons, lange Spaziergänge am Fluss und Mei, die sie bekochte. Eines Abends hatten sie im Restaurant so sehr lachen müssen, dass sie zur Ordnung gerufen wurden, und an einem anderen hatten sie in einem so gut wie leeren Kino rumgemacht. Als Meis Eltern zu Besuch waren, hatten sie in einem französischen Bistro gegessen, Mei hatte Bette ganz selbstverständlich unter dem Tisch die Hand auf den Oberschenkel gelegt, und Mr. Hinota hatte sie eingeladen, sie doch mal in Cheltenham zu besuchen.

Und gestern waren sie spät mittagessen gegangen und danach Hand in Hand durch die Ausstellung geschlendert. Sie hatten eine ganze Stunde in der Ecke eines der Räume verbracht und zugesehen, wie das Licht auf ihre verschlungenen Arme fiel, während Mei Bette den Kopf auf die Schulter gelegt hatte. Sie hatten über ihre Lieblingskünstler*innen gesprochen, über die Drucke, die sie während der Uni gekauft und die ihre Persönlichkeiten geprägt hatten. Wie Mei sich in Yayoi Kusamas Pilze verliebt hatte, in die Zypressen von van Gogh und in Matisse. Wie Bette einen Druck von Hockneys Pool gekauft hatte, von Paul Fischers Frauen am Strand und von Klimts Frau in Gold.

»Wie konnte dir nicht auffallen, dass du lesbisch bist?«, hatte Mei gefragt, als würden Bettes billige Kunstposter keinen anderen Schluss zulassen. Und sie hatten beide gelacht. Als sei das alles kein Grund zur Besorgnis, sondern einfach ein Teil von Bettes Vergangenheit, über den sie sich amüsieren konnten.

Ash hatte ihren Standort geteilt, und Bette ließ sich durch den Park zu einer schattigen Ecke führen. Aus der Ferne sah sie Anton mit dem Kopf auf Carmens Bauch liegen, und einen kurzen Moment hasste sie die beiden. Dann winkte Ash, Carmen rief »Hallo!«, und sie spürte einen nervigen Anflug von Liebe für sie.

»Da bist du ja«, sagte Ash, und darin schwang echte Freude über ihre Ankunft ebenso mit wie ein sanft passiv-aggressiver Ton, wahrscheinlich wegen der Zeit. Sie war schon aufgesprungen, bevor Bette etwas erwidern konnte, und nahm sie in die Arme. Ihr schwarzes Haar glänzte seidenglatt in dem Dutt auf ihrem Kopf, ihre Sonnenbrille war gigantisch und ihr Shirt so blendend weiß, dass man es kaum ansehen konnte. Sie verkörperte den perfekten Sommernachmittag. Bette war sich bewusst, wie zerknautscht und schmuddelig sie in ihrem Outfit von gestern aussah.

»Sorry, dass ich so spät komme«, entschuldigte Bette sich sofort. »Aber ich hab was mitgebracht.« Sie griff in ihre Tasche und holte nacheinander die Chipstüten hervor: Skips, Monster Munch, Pom-Bären und Walkers und was sie sonst noch alles gefunden hatte, und warf sie in der Mitte der Decke auf einen Haufen.

»Meine Heldin!« Anton hatte sich die Cap tief in die Stirn gezogen, schnappte sich eine Tüte Prawn Cocktail und riss sie begeistert auf. Er fischte einen besonders großen Chip heraus, schob ihn in den Mund, wischte sich die Hand vorn am grauen T-Shirt ab und griff erneut zu.

»Perfekt zusammengestellt«, stimmte Carmen zu, die sich dank Antons Kopf nicht bewegen konnte, Bette aber trotzdem zur Begrüßung die Hand gab. »Wie geht’s dir, Süße? Kommt mir vor, als hätten wir uns ewig nicht gesehen.«

Etwas übertrieben, es war höchstens einen Monat her, dass Anton und Carmen zum Essen vorbeigekommen waren. Aber Bette schien es auch wie eine Ewigkeit – seitdem war so viel passiert, dass sie gar nicht wusste, wo sie anfangen sollte. Sie ahnte, worauf Carmen hinauswollte, sah das leicht anzügliche Grinsen. Aber sie wählte lieber ein unverfängliches Thema.

»Ja, bei der Arbeit ist es zurzeit voll stressig.«

Art’s Aflame (der Name war so peinlich, dass Bette ihn so selten wie möglich benutzte) war eine Stiftung, die bildende Künstler*innen in Grundschulen und zu sozialen Initiativen schickte. Sie arbeitete seit ein paar Jahren dort, lange genug, dass die Routine ihr langsam auf die Nerven ging. Aber sie hatte die Finanzierung für ein paar neue Projekte gesichert, die im September losgehen würden, und die Planung hatte sie im letzten Monat auf Trab gehalten. Carmen war Theaterautorin und verstand, wie anstrengend die Jagd nach Finanzierung war.

»Ist bestimmt ein großartiges Projekt, das du dir da ausgedacht hast.« Carmen unterbrach Bettes Gedankengänge. Sie blinzelte sie durch ihre Goldrandbrille an und versuchte, ihre Augen vor der Sonne abzuschirmen. »Aber das wollte ich eigentlich gar nicht wissen. Dein Job ist toll, aber nichts Neues. Im Gegensatz zu deiner Freundin.«

Noch vor ein paar Stunden hätte Bette das genossen. Da war es immer noch ein aufregendes Vergnügen gewesen, im Mittelpunkt von Gesprächen über Sex und Beziehungen zu stehen. Über Liebe. Als sie Anton und Carmen zuletzt gesehen hatte, war alles noch so herrlich frisch gewesen.

Sie hätte Carmen eine Menge erzählen können. Wie sie Meis Eltern kennengelernt hatte zum Beispiel, oder wie Mei sich mit Ashs Freund Tim zum Klettern verabredet hatte oder von Meis Freundin von der Kunsthochschule, mit der sie essen gegangen waren. Ihr Leben war so von Mei bestimmt gewesen, dass sie sie nicht einmal aus einem Winkel rausretuschieren konnte.

Carmen lauschte erwartungsvoll. Sie könnte es ihnen allen erzählen. Das mit der Pause. Dann würden sie ihr Mitgefühl und Umarmungen spenden und wahrscheinlich noch den ganzen Abend mit ihr verbringen, um sich um sie zu kümmern. Bei dem Gedanken wurde Bette ganz schlecht.

Wenn sie sagen würde, sie wollte sich mit neuen Menschen treffen, würden sie das verstehen. Aber eine Beziehungspause mit Mei, damit sie ein paar One-Night-Stands haben konnte? Sie wusste immer noch nicht, wie sie das verpacken sollte, ob sie sagen wollte: Ich habe mir wichtige Erfahrungen entgehen lassen und freue mich darauf, das nachzuholen, oder: Ist es ein Problem, dass es mit Mei so gut läuft, dass ich mir gar nicht vorstellen kann, mit jemand anderem zusammen zu sein? Sie war sauer auf Mei, sauer, dass sie komplett missverstanden hatte, was Bette brauchte. Andererseits fürchtete sie auch, dass Mei genau wusste, was sie brauchte, dass Bette – wieder einmal – etwas Fundamentales an sich selbst entgangen war. Wäre ja nicht das erste Mal.

Also: »Sie ist toll. Wir waren gestern in der Van-Gogh-Ausstellung. Die mit den Lichtern. Würde euch bestimmt auch gefallen.«

»Aaah genau, dafür wollte ich mir auch bald ein Ticket besorgen«, sagte Ash und holte allen Ernstes eine Quiche aus einem Korb. Bette war so dankbar. Wenn sie alle über die Ausstellung und Ashs Backkünste sprechen konnten, fiel es vielleicht nicht auf, wenn sie die Sache mit Mei den Rest des Nachmittags nicht mehr erwähnte.

»Sollen wir Tickets für August buchen?«, fragte Carmen Anton.

»Na klar! Freiheit! Wir sind fertig.« Anton streckte bei jedem Wort die Arme aus und erwischte Carmen fast an der Nase. Sie schlug in seine Richtung und schob seine Schulter von sich, bis er sich aufsetzen musste. »Das Jahr kam mir echt lang vor. Endlos. Dabei soll die Zeit doch immer schneller vergehen, je älter man wird.«

Er nahm das Stück Quiche von Ash entgegen, biss die Spitze ab und hielt kauend den Daumen hoch.

»Tut sie auch. Hat was mit der Wahrnehmung zu tun«, erwiderte Ash. »Jedes neue Jahr unseres Lebens ist ein kleinerer prozentualer Anteil unserer gesamten Lebenszeit, deshalb fühlt es sich kürzer an.«

»Das ist … das ist ja … Ash, das ist ganz schön deprimierend.« Carmen verzog missmutig den Mund.

»Echt beunruhigend«, stimmte Bette zu.

»Klappe, ist doch was Gutes!«

»Nee, ist es nicht«, widersprach Anton, und Ash schnaubte spöttisch.

Bette biss in ihre Quiche und hätte fast angefangen zu weinen. Die Quiche war toll, Ash war toll, Carmen und Anton waren auch toll. Alles war toll, wirklich alles, außer dass ihr Herz gebrochen und sie müde war und ihr jeden Moment jemand noch eine Frage stellen konnte. Sie legte sich neben Ashs Hüfte auf die Picknickdecke und schloss die Augen.

Sonntag, 17. Juli
Noch 90 Tage

Als Bette am nächsten Morgen in die Küche kam, füllte Ash – immer noch in Pyjamahose mit Schottenkaro – gerade den Wasserkocher und ließ dabei einen Podcast aus ihrem blechernen Handylautsprecher schallen. Ash hatte ein verblasstes Fun-Run-Shirt an, und ihr Haar hing ihr lose ums Gesicht. Eindeutig kurz vor den Sommerferien, sonst war Ash selbst am Sonntag schon lange wach und angezogen, bevor Bette aufstand.

»Soll ich Kaffee machen?«

Ash zuckte übertrieben zusammen und kreischte auf, sie reagierte in allen möglichen Situationen gern mal über.

Sie legte den Arm um Bette und gab ihr einen extravaganten Wangenkuss, bevor sie sie aus dem Weg schob und sich im Schrank über dem Kühlschrank auf die Suche nach der French Press machte.

»Morgen! Nö, bin schon dabei. Gut geschlafen?«

»Ganz okay«, log Bette. Sie hatte die halbe Nacht ihre Notizen-App auf dem Handy mit Message-Entwürfen an Mei gefüllt, die sie sowieso nicht abschicken würde.

»Okay.« Ash hatte die Hand immer noch im Schrank. »Du bist irgendwie komisch. Gestern warst du auch total komisch. Bist du müde? Bringt Mei dich immer noch um den Verstand?«

»Na ja, eigentlich sind wir …« Bettes Stimme stockte und blieb ihr merkwürdig in der Kehle stecken. Es war Zeit. »Wir machen eine Pause.«

Ash ließ beinahe die Kanne fallen, die sie endlich gefunden hatte, und sah Bette fassungslos an.

»Ihr macht was?«

»Eine Pause«, wiederholte Bette und merkte, wie seltsam das klang. »Eine Beziehungspause.«

»Eine Pause.«

Bette nickte.

»Mei und du habt euch getrennt?«

»Ja … na ja, nein. Nein, haben wir nicht. Sie hat das – also – das hat sie so nicht gesagt – wir sind nicht getrennt. Glaube ich. Wir wollen im Oktober wieder zusammenkommen.«

»Warte. Das verstehe … Scheiße, Bette. Scheiße. Willst du darüber reden? Willst du allein sein? Was brauchst du?«

Bette zuckte die Schultern, in ihrer Brust nistete sich ein schweres Gefühl ein. Zum Glück war immer noch Wochenende. Der Gedanke, heute zur Arbeit zu müssen, fröhlich zu tun, charmant und professionell zu sein, war grauenhaft. Plötzlich war sie sich Ashs Nähe überaus bewusst, Ash, die nach sauberen Laken und Salz und Sommer roch, so warm und weich. Sie vergrub das Gesicht an Ashs Schulter und ließ sich von ihr umarmen. Bette stieß ein schwaches Seufzen aus.

»Geht schon. Mir geht’s gut.«

Ash drückte sie fester an sich. »Würde es dir besser gehen, wenn wir Kaffee trinken und dazu Aufbackgebäck essen?«

Bette nickte und setzte sich auf die Fensterbank, während Ash gemahlenen Kaffee in die French Press löffelte, ein Blech mit zwei Croissants aus dem Ofen zog und sie auf einen Teller legte. Sie drückte den Stempel in der Kanne nach unten und trug sie zusammen mit den feinen Tässchen ins Wohnzimmer, die Bette eigentlich hasste – sie waren viel zu klein –, aber laut Ash »kamen sie gut auf Fotos«. Bette nahm den Teller und folgte ihr. Sie ließen sich auf das Sofa fallen, das Ash quasi geschenkt im Internet gefunden hatte und das sie bis nach Totterdown getragen hatten und sich dabei wahnsinnig clever vorgekommen waren, weil sie sich die dreißig Pfund sparten, um jemanden mit einem Transporter anzuheuern. Sie hatten sechs Stunden für eine einzige Meile gebraucht und immer wieder angehalten, sich darauf gesetzt und YouTube-Clips angeschaut, wenn es zu schwer wurde. Als sie es endlich durch die Haustür und in die Wohnung manövriert und Akku und Daten ihrer Handys aufgebraucht hatten, als ihnen Stellen wehtaten, von denen Bette sich sicher war, dass keine von ihnen dort Muskeln hatte, waren sie sich einig gewesen, dass sie noch mindestens ein Jahr dort wohnen bleiben mussten, damit das Ganze sich gelohnt hätte. Seitdem waren über acht Jahre vergangen, und die Fünfzimmerwohnung war zweifelsfrei ihr Zuhause. Auch wenn aus dem Sofa inzwischen an einigen Stellen der Schaumstoff vorguckte, wurde Bette immer noch sentimental, wenn sie sich gemeinsam darauf setzten.

Ash arrangierte das Gebäck auf dem Tisch und schenkte Kaffee ein. Es sah – wie alles bei Ash – aus, als sollte es auf Instagram gepostet werden. Sie neigte einfach dazu, alles schön zu machen, womit Bette sich nie so viel Mühe gab, nicht mal an ihren besten Tagen.

»Okay, also – eine Pause.« Ash zog die Beine unter sich. Marge ließ sich herab, zu ihnen hochzuspringen und in der Mitte Platz zu nehmen. Ihr getigerter Schwanz kitzelte Bette am Knöchel. »Willst du darüber reden?«

Tatsächlich wollte sie das überhaupt nicht. Sie war immer noch nicht sicher, ob sie das Ganze gut genug verstand, um es verteidigen zu können.

»Noch nicht. Heute will ich nur Trübsal blasen.«

»Okay.«

Einen Moment schwiegen sie beide, dann legte Ash ein wenig den Kopf schief, als wüsste sie schon, was gleich kam. Bette holte schaudernd Luft.

»Es war so perfekt. Ich war so glücklich.« Unvermeidlich rollten ihr nun die Tränen über die Wangen.

Und genauso war es wirklich: Sie war so glücklich gewesen und hätte sich nichts Besseres vorstellen können. Mei war im Februar in ihrem Büro vorbeigekommen, nachdem sie wegen eines Projektes ein Jahr in Italien verbracht hatte. Als Künstlerin hatte sie früher schon Workshops für die Stiftung gegeben, in den Jahren bevor Bette dort angefangen hatte. Sie hatte ein ärmelloses Oberteil und eine weite schwarze Hose getragen, die von einem breiten Gürtel weit oben in der Taille gehalten wurde, und ihr Pony hatte ihr in die dunklen Augen gehangen. Bette hatte sich augenblicklich zu ihr hingezogen gefühlt. Ihre Kollegin Erin, einen Kopf kleiner als Bette, mit einem Körper aus kompakten Muskeln und hellgrünen Augen, hatte ihr Mei vorgestellt. Bette war selbstreflektiert genug zu wissen, dass sie ohne Erins Verlobte Niamh ihre ersten Monate als Lesbe damit verbracht hätte, einen alles überschattenden Kolleginnen-Crush auf sie zu haben. Somit war es wirklich ein bemerkenswerter Anblick gewesen, die beiden auf sie zukommen zu sehen. Und als Mei Bette die Hand gegeben und ihr in die Augen geschaut hatte, hatte Erin auf eine Weise geschmunzelt, die Bette vermittelte, dass sie rot angelaufen war. Dass sie sich sofort verraten hatte.

»Ich wohne ein paar Wochen bei meinen Eltern in Cheltenham«, hatte Mei gesagt. »Ich war so lange weg, da wollen sie sich unbedingt um mich kümmern. Aber im März bin ich wieder da, falls ihr dieses Jahr noch jemanden für ein paar Sessions braucht?«

Sie nahm Bette den Stift aus der Hand und suchte sich ein Post-it auf ihrem Schreibtisch.

»Sag einfach Bescheid, ja?« Sie gab ihr beides zurück.

Bette sah ihr nach, und dann auf den zerknickten Zettel in ihrer schwitzigen Hand. Für eine Session oder einen Drink, wie du willst stand da, zusammen mit einer fein säuberlich notierten Nummer. Bette schnappte nach Luft. Sie hatte sich erst vor wenigen Monaten geoutet, wollte Erin irgendwann mal nach geeigneten Apps fragen, oder ob sie irgendwelche Frauen kannte, die sie ihr vorstellen konnte. So einfach konnte es doch unmöglich sein.

Sie hatte Mei noch am selben Abend eine Nachricht geschrieben, und die nächsten zwei Wochen über wurden es immer mehr. Sie war clever, aufmerksam und brachte Bette zum Lachen. Auf dem Post-it hatte der Drink noch ziemlich ernsthaft geklungen, aber in den folgenden zwei Wochen verließ Bette die Zuversicht. Sie schrieben täglich über Kunst, Essen, Bücher, die sie gelesen hatten, über ihre Lieblingsorte in Bristol. Es fühlte sich gut an, aufregend. Voller Funken. Aber sicher war sie sich nicht.

Eines Abends hatte sie mit Ash gerade genug Wein getrunken, dass sie in Betracht zog, sich in den Zug nach Cheltenham zu setzen und Mei persönlich zu fragen. Nachdem Ash dem Plan energisch eine Absage erteilt hatte, schrieb sie stattdessen Erin.

Bette: Hey, kein Ding, wenn du das nicht weißt, aber ich frage mich, ob Mei eigentlich Frauen datet?

Bette: Ich meine die Installationskünstlerin Mei

Bette: Die vor ein paar Wochen bei uns im Büro war

Bette: Du musst sie natürlich nicht outen, wenn sie das nicht will

Bette: Und sorry, dass ich einfach davon ausgehe, dass du das wissen könntest

Bette: Nicht weil ich denke, dass alle queeren Frauen sich kennen oder so

Bette: Oder dass du dich überhaupt so bezeichnest

Bette: Ich meine, ich hab echt keine Ahnung, wieso ich das von dir gedacht habe

Bette: Oder was ich überhaupt denke

Bette: Weißt du was, ignorier das einfach

Bette: Ich hab Wein getrunken

Bette: Tut mir leid

Es dauerte eine Viertelstunde, bis Erin antwortete, und für Bette war jede Sekunde des Wartens eine Qual.

Am nächsten Tag hatte sie einen leichten Kater, und Erin zog sie gnadenlos auf, aber das war es wert gewesen. Und als Mei zurück nach Bristol kam, gingen sie nach der Arbeit in dem Pub um die Ecke von Bettes Büro was trinken, nippten an Gin Tonics und unterhielten sich genauso wie vorher per SMS. Bette musste ihr die ganze Zeit auf den Mund starren, auf ihre Zunge, die immer an einem Zahn lag, wenn sie lächelte. Wie hatte Bette das hier jemals als platonisch einschätzen können? Als es draußen dunkel war und das Eis in ihren letzten Drinks geschmolzen war, fiel Bette ein, dass sie noch gar nichts gegessen hatten.

»Es ist erst ein richtiges Date, wenn es auch was zu essen gibt!« Sie zog Mei aus dem Pub und war beschwipster als gedacht, sobald sie auf ihren wackeligen Beinen stand.

»Das würde ich zwar nicht sagen«, Mei lachte, »aber ich will nicht riskieren, dass du wieder so verwirrt bist, dass du Erin fragen musst. Also sollten wir wohl lieber was essen gehen.«

Irgendwas an der Sache mit Erin sollte Bette wahrscheinlich peinlich sein, aber sie konnte und wollte sich einfach nicht damit befassen. Sie drehte sich um, legte Mei die Hand an die Taille, zog sie an sich und war gleichermaßen erfreut wie verdutzt, dass ihr der Move so gut gelungen war. »Wenn wir es zu einem ganz eindeutigen Date machen wollen, gibt es wahrscheinlich auch noch eine andere Möglichkeit.«

»Ach ja?« Meis Mund war Bettes ganz nah, und sie lächelte breit. »Und was für eine wäre das?«

Bettes Herz raste. Aus der Nähe roch Mei nach Kokosshampoo und etwas Rauchigem wie verbrannten Holzspänen, wahrscheinlich aus ihrem Atelier, und Bette hatte noch nie in ihrem Leben jemanden so sehr gewollt. Sie beugte sich vor und stieß mit der Nase gegen Meis, als sie die Lippen auf ihre legte. Der Kuss war keusch, weiche Lippen auf weichen Lippen, und Bette spürte ihn bis in die Knie. Mei lächelte an ihrem Mund und wich ein Stück zurück, aber nur um Bette direkt wieder zu küssen.

»Siehst du?« Mei löste sich wieder von ihr. »Eindeutig ein Date.«

»Weißt du was? Ich bin mir immer noch nicht sicher.« Bettes Stimme bebte. »Das könnte auch ein freundschaftlicher Kuss gewesen sein. Oder nicht? Eine schöne platonische Geste unter Kolleginnen.«

Bevor sie verstand, was passierte, spürte sie etwas gegen ihr Schlüsselbein drücken, direkt über dem Herzen, und begriff, dass Mei sie rückwärtsschob. Sie geriet fast ins Stolpern, aber Mei hielt sie mit der anderen Hand im Rücken fest und führte sie vorsichtig und geschickt. Total heiß. Bette spürte eine Ziegelmauer im Rücken und stellte peinlich berührt fest, dass sie aufstöhnte. Mei lächelte und beugte sich vor.

Es war völlig anders als der erste Kuss. Mei öffnete beinahe sofort den Mund, saugte an Bettes Unterlippe und knabberte sanft daran. So anders dürfte es sich eigentlich nicht anfühlen, dachte Bette. Männer hatten ja auch Münder. So einen extremen Unterschied konnte es nicht machen, dass Mei eine Frau war. Aber noch mehr als Meis weiche Lippen und ihre süße Zunge war es das Wissen, dass Mei sie küsste – dass eine Frau sie küsste, das Bette entflammte. Zusätzlich zu allem anderen empfand sie heftige Erleichterung. Genau so hatte sie gehofft, dass es sich anfühlen würde. Die Hand an ihrem Kinn schob ihren Kopf zur Seite, und sie spürte Meis Zunge über ihre Lippe gleiten. Die Hand an ihrem Rücken bewegte sich nach vorn zu ihren Rippen, und sie war so abgelenkt von allem, was mit ihrem Mund passierte, dass sie gar nicht daran dachte, sich aufrecht hinzustellen oder den Bauch einzuziehen. Ihr Kopf und ihr ganzer Körper waren vollends von Mei eingenommen. Alles andere hatte keinen Platz mehr. Sie küsste sie und küsste sie und küsste sie.

»Und?« Ein paar Minuten später trat Mei einen Schritt zurück. Ihre Lippen waren geschwollen und feucht, und Bette war froh, dass sie so schlau gewesen war, keinen Lippenstift zu benutzen. Sie wollte sie sofort wieder berühren.

»Eindeutig ein Date.« Bettes Stimme klang fester als erwartet. »Ein für Kolleginnen äußerst unangemessener Kuss. Die Personalabteilung würde sich freuen. Oder Amanda.« Unwillkürlich musste sie an die Büroleiterin der Firma denken. »Wahrscheinlich ihre Aufgabe, wir haben ja gar keine Personalabteilung. Sollte es mich beunruhigen, dass wir keine Personalabteilung haben?«

»Damit das hier auch weiterhin eindeutig bleibt, weigere ich mich, mich jetzt auf eine Personaldiskussion einzulassen.« Mei bückte sich und hob eine Stofftasche auf, die sie anscheinend hatte fallen lassen, als sie Bette gegen die Wand gedrückt hatte. »Also. Pommes? Oder wollen wir zu mir?«

Bette zuckte die Achseln. »Beides?«

Die nächsten paar Wochen, als alles anfing, gehörten wohl zu den überwältigendsten in Bettes Leben. Jeden Tag wachte sie voller kribbelnder Vorfreude auf, Mei zu sehen, ihr zu schreiben, sie zu küssen, mit ihr zu schlafen. Als würde Mei mit allen ihren Ecken und Kanten einfach perfekt zu ihren passen. Jedes Klischee, das ihr in den Sinn kam – ein Puzzleteil, ein optimales Möbelstück für ein unfertiges Zimmer –, traf es nicht, zog nicht die Verschwommenheit ihrer Ecken und Kanten in Betracht oder die Tatsache, dass sie nicht nur zueinander, sondern auch ineinander passten. Bette hatte noch nie was mit dem Konzept Seelenverwandtschaft anfangen können, der Vorstellung, dass es den perfekten Partner gab. Aber sie konnte sich unmöglich jemand Passenderen als Mei vorstellen. Es war so leicht gewesen, sich in sie zu verlieben, sich so bereitwillig den Gefühlen hinzugeben, die sie überwältigten. Vier Monate waren genug gewesen, um sich quasi untrennbar mit Mei verbunden zu fühlen, als hätte sie bereits zu viel von sich gegeben, um es je wieder zurückzubekommen.

»Ja.« Ash riss Bette aus ihren Erinnerungen. Sie klang seltsam, beinahe abschätzig. Als hing ein Fragezeichen hinter ihrer Antwort. Damit hatte Bette nicht gerechnet. Ash streichelte gedankenverloren Marge, und die Katze sprang wenig überraschend vom Sofa und stolzierte davon. Ash strich sich die Katzenhaare vom Morgenmantel und zog die Brauen zusammen. »Ich meine, am Anfang lief es ja eindeutig richtig gut, aber …«

Die Andeutung ließ Bette zögern.

»Wie meinst du das, am Anfang?«

»Es kam mir einfach so … Ich weiß nicht, ich hatte das Gefühl, dass du … Nein. Vergiss es. Vergiss, dass ich das gesagt habe. Tut mir leid.«

Bette wollte verlangen, dass Ash ihr erklärte, was sie meinte. Aber sie konnte es sich schon denken. Sie wusste, dass sie selten da gewesen war, dass sie ihr immer wieder abgesagt hatte. Aber sie war davon ausgegangen, dass Ash das verstand. So hatte sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben gefühlt. Da war es doch sicher normal, sich ein bisschen zu verlieren.

»Wollen wir was gucken?« Ash griff nach Bettes Hand.

Bette nickte. Das war einfacher, als darüber zu reden, genau das Richtige. »Good Wife? Eine Folge mit Elsbeth?«

»Klar.« Ash nahm ihren Laptop. »Iss doch ein Croissant. Das hilft.«

Tat es.

Montag, 18. Juli
Noch 89 Tage

»Ich hab Tim gesagt, dass ich heute Abend wahrscheinlich nicht kann«, sagte Ash, als Bette sich neben sie aufs Sofa fallen ließ.

»Ach Quatsch, nein! Er soll ruhig herkommen.« Bette kraulte Marge unterm Kinn. Die Tigerkatze ließ sich die Aufmerksamkeit einen Augenblick länger gefallen als sonst, ein kleines Opfer. Als könnte sie die komplizierten Gefühle des vergangenen Tages erahnen. Ein langer Tag. Und dann hatte Bette am späten Nachmittag eine Nachricht auf dem Handy entdeckt, bei der ihr Herz einen Satz machte.

Sie wusste es. Mehr oder weniger. Und wenn die Pause nicht verhandelbar war, konnte es ja nicht schaden, ein bisschen zu experimentieren, oder? Zu flirten und Neues auszuprobieren. Mei hatte recht. Für Bette war das alles noch so neu. Und Frauen waren wunderschön. Und man konnte so viel Spaß mit ihnen haben. Seit ihrem Coming-out hatte sie sich ausgemalt, wie sehr sie das Daten endlich genießen würde, wo nun die Möglichkeit bestand, dass sie ihr Gegenüber tatsächlich anziehend fand. Vielleicht war es doch richtig, sich Zeit dafür zu nehmen, bevor sie eine ernsthafte Bindung einging.

An ihrer Wohnungstür angekommen, hatten ihre losen Grübeleien langsam Form angenommen. Sie müsste einfach auf ein paar Dates gehen. Sich mit ein paar Mädchen treffen. Halb so wild. Ein Hot-Girls-Summer. Buchstäblich. Und wenn es dann richtig Herbst wurde, konnte sie Mei sagen, sie hätte Spaß gehabt und sei sich nun ganz sicher. Dann wäre die Pause vorbei. Und sie könnten in ihr gemeinsames Leben starten.

»Ich wollte ihn nicht dabeihaben, falls du … Ich weiß auch nicht. Was du eben brauchst«, sagte Ash, und Bette dachte an ihre finstere Stimmung am Tag zuvor und wie lieb Ash zu ihr gewesen war. Wie wenig Druck sie ausgeübt hatte.

»Alles gut. Wirklich. Bestens. Heute Abend will ich ein paar von den Apps einrichten, und da sollte er auf jeden Fall dabei sein, findest du nicht?«

»Ha, mir fällt nichts ein, was ihm mehr Spaß machen würde.« Das meinte Ash ganz ernst. »Er wäre echt traurig, wenn wir das ohne ihn machen würden. Aber … Willst du drüber reden? Ich meine, ich bin total dafür, dass du neue Leute kennenlernst, und scheiß auf sie, und ich verfluche sie mit aller Macht und so, aber … Geht es dir gut?«

»Ja. Ich glaube schon. Und ich muss damit so schnell wie möglich anfangen. Darum geht es ja.«

»Worum?« Ash wirkte verwirrt und setzte sich an die Sofakissen gelehnt aufrechter hin. Bette fiel auf, dass sie das Ganze am Tag zuvor nicht in allen Einzelheiten erklärt hatte. Das holte sie nun nach und betonte dabei besonders den zentralen Punkt: dass sie Mitte Oktober wieder zusammen sein würden.

Als Bette fertig war, folgte Schweigen. Langes Schweigen.

»Aha.«

»Ich meine, wahrscheinlich hat sie schon recht. Weißt du, das würde uns beide ja so unter Druck setzen, wenn ich bei der ersten Frau bleibe, mit der ich je geschlafen habe. Ich bin dreißig. Ich habe mit mehr Männern als Frauen geschlafen, habe mehr Männer geküsst. Soll nicht heißen, dass ich mitzähle, aber … na ja. Ist wahrscheinlich wichtig.«

Bette holte Luft. Das fühlte sich so gut an, dass sie vorher wohl eine ganze Weile nicht mehr durchgeatmet hatte. Sie wandte sich zu Ash um, die sich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemühte, ihre Stirn war gerunzelt und der Mund zusammengekniffen. Bette beobachtete, wie sie sich anstrengte, aber dann, wie ein Tablett voller Gläser, die erst schwankten, dann kippten und umfielen, verlor sie rasch die Kontrolle.

»Bette, du … Ich weiß nicht … Gestern warst du echt traurig.« Ash zupfte an den Knötchen in ihrer uralten Jogginghose und mied Bettes Blick. »So richtig deprimiert. Toll, wenn es dir jetzt besser geht, aber ich …«

»Alles gut, wirklich. Ich gehe auf ein paar Dates, und dann kommen wir wieder zusammen. Und eines Tages ist es nur noch eine lustige Geschichte, die wir bei Dinnerpartys erzählen. Wie mich meine Frau damals in die Dating-Wildnis geschickt hat. Dann lachen wir drüber.«

Ash sah immer noch skeptisch aus. Sie stand auf und ging in die Küche, und Bette folgte ihr, weil die Unterhaltung nicht beendet schien. Tatsächlich war sie gerade erst durch die Tür, als Ash wieder anfing.

»Und was macht sie, solange du dein großes Abenteuer erlebst?«

Eine unangenehm gute Frage, dachte Bette, als sie zusah, wie Ash Lebensmittel aus dem Kühlschrank holte. Über den Aspekt hatte sie sich noch kaum Gedanken gemacht. Aber das brauchte Ash ja nicht zu wissen.

»Das geht mich eigentlich nichts an. Ist ja eine Pause. Sie kann machen, was sie will.« Bette legte mehr Leichtfertigkeit in ihren Tonfall, als sie fühlte.

»Und dann, nach was, ein paar Monaten? Dann seid ihr einfach wieder zusammen? Als wäre nichts gewesen?«

Ash hatte leicht reden, dachte Bette mit einem Funken Missgunst. Ash, die Tim mit sechsundzwanzig kennengelernt hatte. Ash, deren britisch-indische Eltern den sehr weißen Freund ihrer einzigen Tochter mit offenen Armen aufgenommen hatten. (»Schon ein bisschen rassistisch, so was anzunehmen«, hatte Ash gesagt, als Bette ihr von ihren Bedenken erzählt hatte. Und damit hatte sie nicht unrecht, aber sie hatte dennoch erleichtert gewirkt und Tims Hand festgehalten.) Ash, die vorher mit ein paar anderen absolut anständigen Typen ausgegangen war. Ash, die einen Zehnjahresplan mit ihrem Freund hatte und wusste, dass sie mit dreiunddreißig versuchen würde, schwanger zu werden, wenn sie stellvertretende Chefin war und sich ein Jahr Mutterschaftsurlaub leisten konnte. Alles ziemlich einfach, fand Bette, wenn man nicht auf den letzten Metern seines neunundzwanzigsten Lebensjahres in eine Sexualitätskrise stolperte.

Erst nach einer ganzen Weile wurde ihr klar, dass sie immer noch nicht auf Ashs Frage geantwortet hatte.

»Ja?« Sie hasste das Fragezeichen, das sich einfach an das Wort heftete, sich im -a verhakte und es nach oben in die Ungewissheit zog. »Ja«, wiederholte sie. Und dann, um die Sache noch mehr zu erhärten: »Genau.«

Ash nickte, erst zögerlich, dann überzeugter. »Gut. Also, wollen wir Nudeln essen? Dann basteln wir dir zum Nachtisch ein Profil.«

Ash kochte, während Bette zwei Flaschen Bier aufmachte und eine Tüte Chips in eine Schüssel kippte. Als Tim kam, das Poloshirt von der Arbeit in die ausgebleichte Jeans gesteckt, gesellte er sich zu ihnen in die Küche. Aus seiner Umarmung konnte Bette entnehmen, dass Tim Bescheid wusste.

»Mir geht’s gut«, sagte sie entschieden, bevor er fragen konnte, und merkte, wie er nickte.

»Nach dem Essen machen wir Bette ein ordentliches Dating-Profil.« Ash ließ kurz von den Nudeln ab und verpasste Tim einen Wangenkuss.

»Die Lesben von Bristol werden sich umgucken.« Seine Stimme klang scherzhaft und liebevoll zugleich. Bette wollte sich davon aufbauen und trösten lassen. Aber es war ihr zu peinlich. Das Ganze hatte etwas Gönnerhaftes, als müsste man ihr auf die Sprünge helfen. Sie wollte, dass Tim sie aufzog, und fand es furchtbar, dass sie ihm womöglich leidtat.

Am Anfang hatte sie ihre Probleme mit Tim gehabt, damit, dass er so viel Zeit mit Ash verbrachte und sie verdrängte, dass er einfach so mir nichts, dir nichts in ihre Leben marschiert war. Er war auf eine Art unkompliziert, wie es weder sie noch Ash je gewesen waren. Wahrscheinlich war das einfach so als weißer Heteromann: Man gehörte überall ganz selbstverständlich hin. Aber Tim konnte sie das einfach nicht übelnehmen; er war so aufrichtig liebevoll. Er war wie ein Bruder, mit dem sie reden konnte und der auf sie aufpasste, der sie liebte, auch wenn sie ihm auf die Nerven ging. Das Gegenteil von ihrem echten Bruder, wenn sie so darüber nachdachte.

Später, als Bette mit dem Finger den letzten Rest von Ashs berühmter Erdnuss-Soja-Chilisoße aus ihrer Schale gewischt hatte und Tim alles aus den »Ahnungslose Leute wollen Wanderschuhe und Campingzubehör kaufen«-Anekdoten aus dem Laden rausgeholt hatte – wie immer ein reicher Fundus –, legte Bette ihr Handy in die Tischmitte.

»Also.«

»Also«, wiederholte Ash mit ernster Miene.

»Also«, schloss Tim sich an und grinste, als freue er sich auf eine besondere Belohnung.

Bette lud ein paar Optionen herunter – Hinge, Tinder, Her –, und Ash befüllte den Wasserkocher.

»Weißt du noch, als ich bei Guardian Soulmates war?« Bette klickte sich durch die Grundeinstellungen, erlaubte den Zugriff auf ihr Handy und ihre Daten, wobei sie sich wie immer kurz fragte, ob sie nicht zu sorglos war.

Sie wusste gar nicht mehr, wie sie sich damals beschrieben hatte, wusste nicht mehr, wie sie sich Fremden vorgestellt hatte vor dem Slogan Ich hatte keine Ahnung, dass ich lesbisch bin, aber jetzt weiß ich es; ist es nicht toll, auf andere Menschen zu stehen?

»Ach, Soulmates! RIP. Das waren noch Zeiten.« Ash stellte allen Tee hin und setzte sich wieder. »Oh Mann, dieser Typ! Der mit dem Stock im Arsch!«

»Ach ja, der«, erinnerte sich Bette.

»Wer?«, fragte Tim.

»Der war total dröge. Seinen richtigen Namen weiß ich gar nicht mehr. Wie soll man ihn beschreiben?« Ash sah Bette nachdenklich an. »Mir fällt nichts ein. Der hatte überhaupt keine Persönlichkeit, und Bette war ein endloses halbes Jahr mit ihm zusammen.«

Ein halbes Jahr, tatsächlich, dachte Bette. Länger als mit Mei. Unvorstellbar.

»Hör mal, Tim. Wenn man nicht auf Männer steht – ist jetzt echt nicht böse gemeint, du weißt, wie toll ich dich finde –, ist halt jeder vollkommen in Ordnung. Jeder, mit dem ich mich getroffen habe, war nett, nichts zu beanstanden. Aber eben auch komplett uninteressant. Heute ist mir das alles sonnenklar, aber damals …«

»Jetzt musst du hier ein paar Fragen beantworten«, brachte Ash sie wieder auf Kurs. Tim beugte sich vor und scrollte die Liste durch.

»Moment mal. Geschichte deines Coming-outs? Deine Love Language? Top, Bottom oder Switch? Also ganz lockere Sachen zum Einstieg? Damit man sich erst mal kennenlernen kann?« Er lachte.

»Willkommen beim lesbischen Hinge. Das wird dir echt die Augen öffnen.«

»Bring mir bei Pünktchen, Pünktchen, Pünktchen.« Ash deutete auf einen anderen Vorschlag. »Ich meine …«

»Ja, bin mir echt nicht sicher, wie ich das hinkriegen soll«, meinte Bette. »Also, hi, bring mir bei, auf was für Sex du stehst, vielleicht steh ich ja auch drauf? Bring mir bei, wie ich es dir am besten besorge, damit ich meine neuen Skills dann bei jemand anderem anwenden kann?«

»Ja, damit würde ich vielleicht lieber bis zum Date warten.« Ash lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder aufs Hier und Jetzt.

Bette suchte nach Fragen, die eher casual waren, anstatt direkt alles preiszugeben. Tim und Ash schwiegen, während sie tippte, die gespannte Erwartung war förmlich mit Händen greifbar.

»Also, wie wäre das hier? Meine Ästhetik: Möchtegern-Dana-Scully circa Staffel vier. Ein Lebensziel von mir: Tegan and Sara live sehen. Wie man mich erobert: mit stinknormalen Chips und echt schönem Schlüsselbein.«

»Perfekt«, bestätigte Ash. »Nichts zu Ernsthaftes, gaye Band erwähnt, Chips erwähnt. Gefällt mir. Aber jetzt. Fotos?«

»Wartet. Das mit dem Schlüsselbein ignorieren wir einfach?« Tim hielt die Hand über das Handy auf dem Tisch, als hätte er Angst, die Sache könnte übergangen werden. »Im Ernst? Also … von allen Möglichkeiten ausgerechnet das Schlüsselbein? Das Schlüsselbein?«

»Mein Gott, ja«, sagte Bette verträumt. Mei hatte ein unglaubliches Schlüsselbein. »Das ist so elegant. Und hot. Keine Ahnung, warum, ist ja nicht irgendwie schlüpfrig oder so, aber …«

»Leute, bitte. Wenn wir vor dem Schlafengehen noch die Fotos schaffen wollen …« Ash verstummte resigniert. Es war ohnehin schon viel zu spät, und Bette und Tim waren der unleugbaren Verführungskraft der Clavicula erlegen.

Donnerstag, 21. Juli
Noch 86 Tage

Am Donnerstag matchte Bette während ihrer Mittagspause mit Ruth. Ruth war heiß, ihr Profil gab zwar nicht viele Informationen preis, aber ihre Fotos waren toll – Momentaufnahmen, keine Selfies, warme braune Augen, ein Glitzerkleid auf einem Foto, das Bette sich auf der Stelle selbst kaufen wollte. Aber noch wichtiger, Ruth schrieb ihr sofort, nachdem sie gematcht hatten.

Auf dem Bild trug Bette einen albernen riesigen Sonnenhut und ein weites Hemd mit Knöpfen. Ash hatte es aus ihrem Fotoordner gekramt und auf Bettes gebräunte Beine und das dünne Hemd hingewiesen und darauf, wie glücklich sie aussah. Bette war nicht so überzeugt gewesen, ihr Lächeln war doch bestimmt zu breit und blöd, außerdem hatte sie einen sichtbaren Fleck am Kinn und hinter der Sonnenbrille einen Silberblick. Das Gegenteil von sexy, ihrer Meinung nach würde es alle anderen Bilder zunichtemachen. Aber Ash hatte recht: So sah sie wirklich aus, und die Woche war großartig gelaufen.

Bette: War in Lissabon letztes Jahr

Bette: Mach das!

Bette: Es war total schön!

Bette: Die Cremetörtchen, richtig gutes Grillhähnchen, toller Fisch, schöne Strände

Bette: Die ganze Woche hat die Sonne geschienen, aber es war nicht unerträglich heiß, weißt du?

Bette: Die Stadt ist auch toll, richtig schön, man kann alles zu Fuß machen

Bette: Ich würde sofort wieder hinfahren

Sie sah die vielen Nachrichten an und schämte sich sofort. Ruth hatte nicht um eine TripAdvisor-Rezension gebeten. Das hier war eine Dating-App. Was hatte sie sich dabei gedacht?

Sie hatte es versaut, das war klar. Sie konnte unmöglich einschätzen, ob Ruth das sarkastisch meinte oder nicht, aber zwei Wörter als Antwort auf einen »10 Dinge, die man in Lissabon gesehen haben muss«-Artikel war auf jeden Fall eine Botschaft. Sie hatte nichts mehr zu verlieren.

Bette: Ich weiß, das kommt jetzt voll aus dem Nichts, aber jemanden so über Nachrichten kennenzulernen ist doch merkwürdig

Bette: Wollen wir uns mal treffen?

Bette: Stimmt.

Bette hätte sich am liebsten unter ihrem Schreibtisch verkrochen. Wie Ruth sie aufzog, war sanft, aber brutal: Obwohl sie sich vorgenommen hatte, in ihren Nachrichten cool zu wirken, hatte sie sofort offenbart, dass sie alles andere als cool und »chill« war.

Bette: Brunch vielleicht? Sonntag? Kennst du In Brunch We Trust?

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