×

Ihre Vorbestellung zum Buch »Endlich bei dir in Virgin River«

Wir benachrichtigen Sie, sobald »Endlich bei dir in Virgin River« erhältlich ist. Hinterlegen Sie einfach Ihre E-Mail-Adresse. Ihren Kauf können Sie mit Erhalt der E-Mail am Erscheinungstag des Buches abschließen.

Endlich bei dir in Virgin River

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

Die Bücher zur Netflix-Serie

Durch die Bars ziehen und Frauen kennenlernen – mehr hat Sean Riordan nicht im Sinn, als er seinen Bruder in Virgin River besucht. Doch dann steht der Pilot auf einmal seiner großen Liebe gegenüber. Beinahe vier Jahre hat er Franci nicht mehr gesehen. Jetzt fragt er sich, wieso er damals vor ihr und einer festen Bindung weggelaufen ist. Nur zu gerne würde er der Liebe eine zweite Chance geben. Vor allem auch wegen seiner kleinen Tochter Rosie, von der er bis zu der unerwarteten Begegnung mit Franci nichts wusste. Doch um Francis Vertrauen zurückzugewinnen, braucht es schon ein kleines Wunder …

»Die Virgin-River-Romane sind so mitreißend, dass ich mich auf Anhieb mit den Charakteren verbunden gefühlt habe.«
SPIEGEL-Bestsellerautorin Debbie Macomber


  • Erscheinungstag: 23.11.2021
  • Aus der Serie: Virgin River
  • Bandnummer: 9
  • Seitenanzahl: 448
  • ISBN/Artikelnummer: 9783745701920

Leseprobe

Für Beki Keene, die sich an jede Einzelheit erinnert.

Danke für deine wunderbare, engagierte und loyale Freundschaft.

Ich freue mich über jede E-Mail und jeden Besuch von dir.

1. KAPITEL

Nach Sonnenuntergang gab es kaum Unterhaltung für Sean Riordan in Virgin River – außer sich mit seinem Bruder Luke vor den Kamin zu setzen. Doch dazuhocken und zuzusehen, wie der frisch verheiratete Luke und seine Frau Shelby miteinander kuschelten und sich liebevoll unterhielten, kam einer Folter gleich, der er sich nicht aussetzen wollte. Manchmal taten sie so, als wären sie völlig geschafft, nur damit sie schon um acht Uhr im Bett verschwinden konnten. Meistens machte es Sean den beiden aber leicht. Dann fuhr er in eine größere Stadt an die Küste, machte einen Schaufensterbummel, schaute sich die Sehenswürdigkeiten an und traf sich auch ab und zu mit einer Frau.

Sean war U-2-Pilot und auf der Beale Air Force Base in Nordkalifornien stationiert, die sich nur wenige Autostunden südlich von Virgin River befand. Er hatte massenweise Urlaub angehäuft, konnte allerdings nur neunzig Urlaubstage mit ins neue Jahr nehmen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mehrere Wochen am Stück freizunehmen. Luke hatte gerade geheiratet, und er war sein Trauzeuge gewesen. Nach der Hochzeit hatte er beschlossen, noch einige Zeit in Virgin River zu bleiben, um seinen Urlaub abzubauen. Luke und Shelby waren seit einem Jahr zusammen und vermittelten nicht den Eindruck, dass es sie störte, wenn er während ihrer Flitterwochen bei ihnen war. Ihr permanentes Geturtel war demnach auch weniger ihrer Hochzeit geschuldet als der Tatsache, dass sie einfach immer noch so heiß aufeinander waren, als hätten sie sich gerade erst kennengelernt.

Und natürlich gab es ein großes Thema bei den beiden: Nachwuchs – womit Luke ihn ein wenig überrascht hatte. Was Sean weniger überraschte, war die Tatsache, dass Luke offensichtlich jede Nacht versuchte, den Kinderwunsch wahr werden zu lassen.

Tagsüber hatte Sean immer genug zu tun. Die Hütten, die er zusammen mit Luke als Zukunftsinvestition erworben hatte und die sein Bruder nun vermietete und verwaltete, mussten instand gehalten werden. Außerdem konnte man in der Gegend jagen und angeln gehen – die Rotwildsaison war noch nicht zu Ende, und die Lachse und Forellen hier waren riesig. Der Fluss lag praktisch gleich vor der Haustür. Luke und sein Helfer Art fingen so viele Fische, dass Luke sogar einen Schuppen samt Stromanschluss bauen musste, um dort eine Tiefkühltruhe für den Fisch aufzustellen.

Virgin River und seine Umgebung waren toll für jeden, der viel Zeit hatte. Sean war schon immer ein Outdoor-Fan gewesen, und so genoss er den Oktober in all seiner Farbenpracht hier in den Bergen besonders. Es würde nicht mehr lange dauern, bis der erste Schnee fiel, und schon bald würde er nach Beale zurückkehren müssen. Alles, was er bis dahin brauchte, war eine schöne Kneipe mit Kamin, wo er sich abends aufhalten konnte – ohne dass sein Bruder und seine Schwägerin ihm knutschend gegenübersaßen.

»Darf’s noch was sein?«, fragte der Barkeeper ihn.

»Nein danke. Ich bin ja eigentlich nicht wegen der Architektur dieses Ladens hier, aber die Schnitzereien sind wirklich beeindruckend«, antwortete Sean.

Der Barkeeper lachte. »Zwei Dinge fallen mir an Ihnen auf. Sie sind nicht von hier und Sie sind beim Militär. Hab ich recht?«

»Okay, ich gebe es zu. Der Haarschnitt verrät mich. Doch der Rest?«

»Hier gibt es viele Nutzholzwälder. Diese Bar besteht komplett aus massiver Eiche. Als sie gebaut wurde, war das Holz vermutlich billiger als die Nägel. Und die Schnitzereien sind typisch für diese Region. Also, was führt Sie hierher?«

Sean trank einen Schluck von seinem Bier. »Ich habe sechs Wochen Urlaub und besuche meinen Bruder. Früher bin ich mit ihm zusammen losgezogen, aber die Zeiten sind für ihn vorbei.«

»Kriegsverletzung?«, fragte der Mann.

»Nein, Kampf der Geschlechter. Er hat vor Kurzem geheiratet.«

Der Barkeeper stieß einen Pfiff aus. »Mein Beileid.«

An diesem Abend war Sean in einer etwas vornehmeren Bar in Arcata gelandet. Am Ende des Tresens hatte er einen Platz entdeckt, von dem aus er das ganze Lokal überblicken konnte. Bis jetzt sah es so aus, als wären alle Frauen mit ihren Ehemännern oder Dates da, was Seans Vergnügen jedoch nicht schmälerte. Er war nicht unbedingt auf neue Bekanntschaften aus. Manchmal reichte es ihm, auch nur den schönen Anblick zu genießen. Da er beabsichtigte, ein wenig länger in der Gegend zu bleiben, hätte er aber auch nichts dagegen, jemanden kennenzulernen, mit dem er ab und zu ausgehen konnte und vielleicht auch etwas mehr.

Seine Gedankenspiele wurden abrupt unterbrochen. Mir scheint, heute ist mein Glückstag! schoss es ihm auf einmal durch den Kopf.

Denn die Tür schwang auf, Lachen erklang und eine gut gelaunte Gruppe Frauen trat ein. Aus der Entfernung checkte er sofort ab, was sie zu bieten hatten. Die erste von ihnen war klein, dunkelhaarig, ein bisschen mollig, doch nicht zu dick. Ein Lächeln huschte über Seans Gesicht. Die zweite, groß und schlank, besaß eine athletische Statur und hatte glatte, glänzende blonde Haare. Offensichtlich eine Turnerin oder Läuferin – jedenfalls eine sehr hübsche Frau. Die dritte im Bunde war eine mittelgroße Rothaarige mit drallen Kurven, funkelnden Augen und einem strahlenden Lächeln. Ein Luxusbuffet an Frauen, dachte Sean erfreut. Er fand jeden Typ Frau anziehend. Besondere Vorlieben hatte er nicht. Jetzt kam die vierte Frau herein. Sie war …

Franci?

Nein, das konnte nicht sein. Wahrscheinlich träumte er wieder! So oft schon hatte er sich eingebildet, sie zu sehen, aber sie war es nie gewesen. Außerdem hatte Franci lange, glatte Haare, und diese Frau trug die dunkelbraunen Haare kurz geschnitten. Jede andere würde mit dieser Frisur wie ein Mann aussehen. Sie nicht. Bei ihr war es absolut sexy. Durch die kurzen Haare wirkten ihre dunklen Augen noch größer. Die Frau zog ihren Mantel, aus und er stellte fest, dass sie ein wenig dünner war als Franci. Doch sie hatte dieselben Augenbrauen – ein dünner, fast provokativer schön geschwungener Bogen über den großen Augen mit den langen Wimpern. Plötzlich vermisste er Franci wieder.

Unter dem Mantel kam ein dünnes Kleid zum Vorschein. Nein, es war ein edles Seidenkleid. Es war dunkelviolett und fiel lose herunter bis zur Taille, wo ein Gürtel es hielt, von dort floss es bis zu ihren Knien. Das Kleid betonte ihre perfekten Brüste, ihre schlanke Taille, ihre schmalen Hüften und langen Beine. Nur selten hatte Franci Kleider getragen, was Sean allerdings nie gestört hatte – ihre langen Beine und ihr knackiger Po hatten ihn auch in einer schicken Hose verrückt gemacht. Aber dieses Kleid war gut. Sehr gut sogar.

Die vier Frauen wählten einen Tisch am Fenster, im vorderen Bereich des Restaurants. Sie hatten Schachteln dabei, Einkaufstaschen und Geschenktüten – war das wohl eine Geburtstagsfeier? Die Frau, die ihn an seine Exfreundin erinnerte, schlug die Beine übereinander, und der Schlitz im Kleid eröffnete den Blick auf ihren wohlgeformten Oberschenkel. Wow. Sein Blick blieb an ihrem Bein hängen. In seinem Schritt begann es sich zu regen.

Dann lachte die Frau. Oh Gott. Es war Franci! Und wenn nicht, war es ihr Zwilling. Wie sie den Kopf nach hinten warf, wenn sie leidenschaftlich lachte! Franci hatte auch immer aus ihrem tiefsten Innern heraus gelacht. Und geweint.

Die unterschiedlichsten Gefühle überfielen Sean mit einem Mal. Er dachte an ihr gemeinsames Lachen im Bett, wenn sie wie immer großartigen Sex gehabt hatten, und er dachte auch daran, wie er sie zum Weinen gebracht hatte. Es tat ihm leid, dass er das getan hatte.

Nun gut, er hatte sie zum Weinen gebracht, doch sie hatte ihn wütend gemacht. Sie konnte einen in den Wahnsinn treiben. Was war das noch mal gewesen? Einen Moment lang musste er überlegen. Das Ganze hatte sich vor vier Jahren abgespielt – an einem anderen Ort. Was machte sie hier in Arcata? Nach ihrer Trennung – die sehr unschön abgelaufen war – hatte er nach ihr gesucht. Aber er hatte zu viel Zeit verstreichen lassen, und sie war nicht mehr da, wo er sie vermutet hatte. Sie hatten sich damals im Irak kennengelernt, wo er die F-16 geflogen hatte und sie als Krankenschwester bei der Air Force arbeitete. Sie begleitete die Verwundeten nach ihrer Operation auf dem Flug zurück nach Hause in die Vereinigten Staaten. Als Sean auf die Luke Air Force Base in Phoenix versetzt wurde, um andere Piloten auf der F-16 zu schulen, war Franci ebenfalls dort und hatte eine Stelle im Militärkrankenhaus. Sie waren zwei Jahre zusammen, da standen für sie beide berufliche Veränderungen an. Francis Dienstzeit war zu Ende und sie wollte die Air Force verlassen und ins zivile Leben zurückkehren. Und Sean wurde auf der U-2, dem Aufklärungsflugzeug, ausgebildet. Damals hatte er nicht verstanden, warum das etwas an ihrem gemeinsamen Leben ändern sollte. Er teilte ihr mit, er werde auf den Stützpunkt Beale in Nordkalifornien geschickt. Dort könne sie sicher jederzeit eine Anstellung finden, wenn sie es wollte.

Das war der Anfang vom Ende. Franci war zu dieser Zeit sechsundzwanzig und erhoffte sich mehr von ihrer Beziehung. Seit zwei Jahren waren sie ein Paar, sie wollte heiraten und Kinder haben – er aber nicht. Gut, das war nichts Neues. Das hatte sie von Anfang an klargestellt. Er dagegen weigerte sich sogar, darüber nachzudenken – er hatte keine Lust, in die Ehefalle zu tappen. Niemals. Obwohl sie ihn nie gedrängt hatte, beharrte sie auf ihrem Standpunkt. Sean war auch ohne Trauschein monogam. Er sagte Franci, dass er sie liebte – weil es wirklich so war. Gelegentlich drehte er sich zwar nach einem anderen Mädchen um, aber dabei blieb es auch. Sie behielten beide ihre eigene Wohnung, trotzdem verbrachten sie die Nächte immer zusammen – falls keiner von ihnen dienstlich unterwegs war. Doch sobald die Sprache auf Hochzeit und Kinder kam, war sie voller Enthusiasmus und er, damals achtundzwanzig, genervt.

Sie sagte so etwas wie: »Es ist Zeit, dass wir unsere Beziehung auf die nächste Ebene bringen. Sonst können wir sie gleich beenden.«

Man sollte einen jungen Kampfjetpiloten auf gar keinen Fall unter Druck setzen. Solche Jungs ließen sich von ihrer Freundin nichts befehlen. Kein Wunder also, dass es Streit gab. Sean brachte Franci zum Weinen mit hirnlosen Äußerungen wie: »Nicht in diesem Leben, Süße. Wenn ich Lust hätte zu heiraten, wären wir schon längst verheiratet.« Oder: »Pass auf, ich habe keinen Bock auf diese kleinen Hosenscheißer. Nicht mal mit dir, okay?« Ja, er brillierte mit solchen Sätzen.

Natürlich schmiss auch Franci ihm in ihrer Wut Dinge an den Kopf, die sie in Wahrheit vermutlich gar nicht so meinte. Obwohl, das stimmte auch nicht, wie er sich jetzt erinnerte, als er sie durch den Raum hinweg lachen hörte und beobachtete, wie sie sich mit ihren Freundinnen unterhielt. »Sean, wenn du mich jetzt gehen lässt, bin ich wirklich weg. Du wirst mich nie wiedersehen. Ich brauche einen Partner, auf den ich mich verlassen kann. Oder ich gehe.«

Und Sean, in seiner Arroganz, erwiderte: »Ach ja? Dann pass auf, dass dir die Tür nicht in den Rücken knallt.«

Also waren sie getrennte Wege gegangen. Er zog um nach Nordkalifornien, denn auf der U-2 war eine Beförderung wahrscheinlicher als auf der F-16. Er hatte die Academy erfolgreich beendet, und wenn er die richtigen Entscheidungen traf, konnte er es bis zum General bringen. Franci dagegen hatte ihren Abschied von der Air Force genommen.

Fälschlicherweise hatte er gedacht, nachdem er sich einige Monate später auf die Suche nach ihr gemacht hatte, er würde sie bei ihrer Mutter in Santa Rosa finden oder wenigstens in der Nähe. Seine Ausbildung auf der neuen Maschine war abgeschlossen und er nun bereit, mit Franci über ihre Situation zu sprechen, ruhig und sachlich. Doch da war sie schon lange weg. Genau wie ihre Mutter. Eine neue Adresse konnte er nicht ausfindig machen.

Schneller Vorlauf. Vier Jahre später. Arcata, Kalifornien. Obwohl es für ihn keinen Sinn ergab, war die Frau auf der anderen Seite des Raums eindeutig Franci. Das bescheinigten ihm sein schneller schlagendes Herz und der Umstand, dass eine Hitzewelle durch seinen Körper strömte. Und dass er gegen eine Erektion ankämpfen musste, wenn er sie nur anschaute.

Sie und ihre Freundinnen hatten Cocktails bestellt und scherzten mit der jungen Bedienung. Sie beugten sich einander zu, flüsterten, lachten, tratschten – hatten einfach Spaß. Eine Frau aus der Gruppe holte einen Seidenschal aus einer bunten Einkaufstasche und legte ihn sich um die Schultern. War sie das Geburtstagskind? Es war kein Mann in Sicht, und bis auf eine hatte keine der Frauen einen Ring am Finger – Franci auch nicht. Nicht, dass das etwas zu bedeuten hatte – viele Leute trugen ihren Ehering nicht immer.

»Noch etwas zu trinken?«, fragte ihn der Barkeeper vergebens.

Während Sean die Frauen beobachtete, fiel ihm auf, dass er Franci schmerzlich vermisste. Sie gehen zu lassen hatte sich als einer der größten Fehler seines Lebens herausgestellt. Er hätte sich mehr darum bemühen müssen, sie davon zu überzeugen, dass sie auch ohne Trauschein und Dreikäsehochs glücklich sein konnten. Doch als achtundzwanzigjähriger Kampfjetpilot war er viel zu arrogant gewesen. Und garantiert nicht bereit für eine Frau, die bestimmte, wo es langgeht. Jetzt, mit zweiunddreißig, war ihm klar, wie dumm er sich damals verhalten hatte. Natürlich war er in den vergangenen vier Jahren mit einigen Frauen zusammen gewesen, aber mit keiner hatte es sich so angefühlt wie mit Franci. Keine war ihm jemals wieder so nahe gekommen. Und er würde wetten, dass es ihr nicht viel anders ergangen war.

Jedenfalls hoffte er das. Allerdings sollte er besser nicht darauf bauen. Franci war einfach der Wahnsinn. Wahrscheinlich standen durchtrainierte, gut aussehende, interessierte Männer Schlange vor ihrer Tür – wo immer sie wohnen mochte.

»Erde an Gast!«, sagte der Barkeeper zu ihm.

»Was?«

»Mir scheint, etwas anderes als meine Drinks hat Ihre Aufmerksamkeit gefesselt.«

»Ja«, antwortete Sean und schaute wieder hinüber zu Franci. »Ich glaube nur, ich kenne eine dieser Frauen«, antwortete er und deutete mit dem Kopf in ihre Richtung.

»Was ist mit noch einem Drink?«

»Ich bin bestens versorgt, danke«, sagte Sean abwesend.

Die Frauen bestellten gerade eine zweite Runde. Sie lachten viel, unterhielten sich, widmeten sich den Geschenken und beachteten das Geschehen um sie herum überhaupt nicht. Auf keinen Fall waren sie darauf aus, Männer abzuschleppen. Sie schauten nicht einmal rüber zur Bar.

Falls es allerdings doch noch zu Blickkontakt zwischen ihnen kommen sollte, musste er einen cleveren Spruch parat haben. Dann würde er aufstehen und zu den Frauen am Tisch hinübergehen, sie zum Lachen bringen und versuchen, ihnen Francis Adresse zu entlocken. Er würde nicht abhauen, ohne zumindest das herauszufinden. Vielleicht war sie ja nur zu Besuch hier – und würde wieder verschwinden und für ihn unerreichbar sein. Doch er musste sie sehen, mit ihr sprechen. Sie berühren. Sie in den Arm nehmen.

»Gehen Sie doch rüber und begrüßen Sie sie«, schlug der Barkeeper vor.

Sean sah den Mann an. »Na ja … bei unserer letzten Begegnung war sie nicht gerade gut auf mich zu sprechen.«

Leise lachte der Barkeeper. »Das kann ich mir nicht vorstellen«, meinte er.

Wahrscheinlich hatte er bemerkt, dass Sean die Damenrunde schon die ganze Zeit anstarrte. Am Ende hielt er ihn noch für einen Perversen. Schnell machte Sean ein fröhliches Gesicht. »Ich gehe jetzt besser, auch wenn die Aussicht hier drin unschlagbar ist.« Er legte Geld auf die Bar, inklusive eines anständigen Trinkgelds, und verließ das Lokal, ohne auszutrinken. Den Kopf gesenkt ging er zur Tür, er wollte keine Aufmerksamkeit erregen.

In dieser Oktobernacht war es kälter als üblich um diese Jahreszeit an der Küste. Sean überquerte die Straße, um von dort die Eingangstür des Restaurants im Auge zu behalten. Hoffentlich machte der Laden zu, bevor er erfroren war. Der Gedanke, dass Franci ihm wieder entwischen könnte, machte ihn krank.

Angestrengt dachte er nach. Er musste die Sache mit Franci regeln und sich mit ihr aussprechen. Sie gehörten zusammen – hoffentlich sah sie das auch so.

Dann sprach er ein Gebet. Es musste doch einen Schutzpatron für ignorante, unreife Jungs geben, oder? Sankt Hugh? Der heilige Don Juan? Egal wer. Bitte sorg dafür, dass ich mich ändere. Ich schwöre, ich will nicht mehr so vermessen sein. Ich werde sensibel und kompromissbereit sein. Dann wird alles wie vorher.

In diesem Augenblick traten die vier Frauen auf die Straße, eine von ihnen mit Geschenken beladen. Sie blieben noch einen Moment stehen, lachten, umarmten sich zur Verabschiedung und gingen schließlich ihrer Wege. Zwei bogen nach links, zwei nach rechts. Am Ende des Blocks trennten sich auch Franci und ihre Freundin und spazierten in verschiedene Richtungen davon, und Sean, der diese Chance nicht ungenutzt verstreichen lassen wollte, sprintete ihr hinterher.

Er hatte sie fast eingeholt, als sie gerade dabei war, in einen silbernen Wagen einzusteigen. »Franci!«, rief er.

Sie erschrak und drehte sich zu ihm um, die Augen weit aufgerissen.

»Du bist es«, sagte er und machte ein paar Schritte auf sie zu. »Deine Haare – wow. Hat mich kurz aus der Bahn geworfen.«

Zuerst sah sie aus, als ob sie Angst vor ihm hätte. Dann hatte sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle, zog aber ihren Mantel enger um sich. »Sean?«

»Ja«, antwortete er lachend. »Ich kann es immer noch nicht glauben, dass wir uns ausgerechnet hier über den Weg laufen.«

»Was machst du hier?«, fragte sie wenig begeistert.

»Erinnerst du dich noch an meinen Bruder Luke? Wir haben doch vor ewigen Zeiten zusammen ein paar Hütten gekauft. Lange, bevor wir beide uns kennengelernt haben. Inzwischen hat er die Army verlassen und ist hierher gezogen. Er vermietet die Hütten an Urlauber.«

»Hier?«, stieß sie bestürzt aus und wickelte den Mantel noch fester um sich. »Diese Hütten stehen hier

»In den Bergen, in Virgin River«, erklärte Sean. »Ich musste meinen Resturlaub nehmen und besuche ihn gerade. Hier war ich nur zum Abendessen.«

Sie schaute sich um. »Wo ist Luke?«, fragte sie. »Ist er nicht da?«

»Nein.« Er lachte wieder. »Er hat vor Kurzem geheiratet. Ich versuche, den beiden abends nicht auf der Pelle zu sitzen, denn sie …« Er verstummte und grinste. Dann sah er sie direkt an. »Du siehst toll aus. Wie lange wohnst du schon in Arcata?«

»Ich … äh … Ich lebe nicht in Arcata. Ich habe mich hier nur mit ein paar Freundinnen zum Essen getroffen. Und? Und wie geht es dir? Deiner Familie?«

»Alles bestens«, sagte er und ging auf sie zu. »Ich lade dich auf einen Kaffee ein, ja? Dann können wir quatschen.«

»Äh … Nein, eher nicht, Sean«, erwiderte sie und schüttelte den Kopf. »Ich muss los.«

»Ich habe dich gesucht«, versuchte er zu erklären. »Ich wollte dir sagen, dass es falsch war, wie wir Schluss gemacht haben. Ich möchte mit dir reden. Vielleicht können wir noch mal von vorn anfangen, wenn wir uns eingestehen, dass wir beide zu stur …«

»Hör zu, Sean. Denk nicht einmal dran. Das ist vorbei. Vergessen und vorbei!«, entgegnete sie. »Alles Gute und viel …«

»Bist du verheiratet?«, unterbrach er sie.

Sie war baff. »Nein. Aber ich werde mich nicht wieder auf die Art von Diskussion einlassen, die zu unserer Trennung geführt hat. Möglich, dass es dir total leichtgefallen ist, unsere Beziehung in den Wind zu schießen, doch für mich …«

»Ich habe sie nicht in den Wind geschossen, Franci«, protestierte er. »Ich habe nach dir gesucht und konnte dich nirgends finden. Deshalb will ich ja jetzt mit dir reden.«

»Ich aber nicht mit dir«, sagte sie und öffnete die Tür ihres Autos. »Ich denke, du hast dich zu dem Thema ausreichend geäußert.«

»Franci, was ist denn los mit dir?«, fragte er verwirrt und gleichzeitig ein wenig verärgert angesichts ihrer schroffen Zurückweisung. »Können wir uns denn nicht einfach kurz unterhalten? Immerhin waren wir zwei Jahre zusammen. Wir beide, das hat gut funktioniert. Wir waren einander treu und …«

»Und du hast gesagt, mehr brauchen wir nicht.« Sie straffte die Schultern. »Und das war noch eines der netteren Dinge, die du gesagt hast. Es freut mich, dass es dir gut geht. Du siehst aus wie immer, glücklich und zufrieden. Grüß deine Mutter und deine Brüder von mir. Aber geh mir nicht auf die Nerven. Wir haben uns entschieden. Das mit uns ist Geschichte.«

»Jetzt komm schon! Ich kann nicht glauben, dass du das ernst meinst«, sagte er.

»Das kannst du aber«, schoss sie zurück. »Du hast deine Entscheidung getroffen – du wolltest keine Verpflichtungen. Und jetzt kommst du hier an und … Nein. Tschüss. Mach’s gut.«

Damit stieg sie ein und knallte die Wagentür zu. Er machte zwei Schritte auf sie zu und hörte, wie sie die Türen verriegelte. Rasch rangierte sie das Auto aus der Parklücke und fuhr davon. Er merkte sich ihr Nummernschild – es war ein kalifornisches Nummernschild. Das hieß, selbst wenn sie nicht in Arcata lebte, wohnte sie nahe genug, um sich hier öfter mit ihren Freundinnen zum Essen zu treffen.

Nach dieser Begegnung war ihm klar, was er die ganze Zeit befürchtet hatte: Er war alles andere als über sie hinweg.

Francis Hände zitterten so sehr, dass sie kaum fahren konnte. Sie hatte immer gewusst, dass sie ihm eines Tages wieder begegnen würde, und deshalb hatte sie umsichtig alle Orte gemieden, an denen die Chancen dafür am größten standen. Aber niemals, niemals hätte sie erwartet, dass er mit ihr über alles reden wollte.

Wie lange hatte sie sich das gewünscht! Plötzlich stiegen ihr die Tränen in die Augen – Tränen der Wut. Sie presste die Lippen zusammen. Nein. Ich habe seinetwegen genug geweint. Nicht eine Träne mehr war er wert.

Nachdem sie sich getrennt hatten, hatte Franci Phoenix verlassen und war nach Santa Rosa zurückgekehrt, wo sie als Krankenschwester arbeitete. Sie lebte bei ihrer Mutter. Knapp ein Jahr später wechselte sie den Job – sie hatte eine Stelle als Krankenschwester im Rettungshubschrauber bekommen. Das entsprach mehr ihrem Sinn für Abenteuer. Weitere Vorteile waren die besseren Arbeitszeiten, die guten Zulagen, mehr Möglichkeiten, aber sie musste für den Job umziehen. Ihr Bachelor-Abschluss in Pflegewissenschaften qualifizierte sie dafür, zu unterrichten, und sie nahm eine Dozentenstelle an der Humboldt University in Arcata an.

Wer weiß, vielleicht würde sie eines Tages im akademischen Bereich Karriere machen.

Ihre Mutter Vivian war Arzthelferin bei einem Allgemeinmediziner und hatte nichts gegen eine Veränderung einzuwenden. Sie fand eine hervorragende Vollzeitstelle in Eureka. Und so zogen sie beide nach Norden, in die Nähe von Vivians Arbeitsplatz. Zweimal in der Woche fuhr Franci nach Redding, um ihre Vierundzwanzigstundenschicht im Rettungshubschrauber anzutreten. Die meisten Flüge waren routinemäßige Patiententransporte, wie die Verlegung von Herz- oder Kaiserschnittpatienten in Spezialkliniken. Von Zeit zu Zeit flog sie aber auch Rettungseinsätze, um die Opfer von Waldbränden, Autounfällen und anderen Notfällen zu versorgen. Sie hatte das Fliegen vermisst. In ihrem neuen Job war sie glücklich. Sie konnte sich ein kleines Haus am Stadtrand von Eureka kaufen in einem ruhigen, angenehmen Wohnviertel, in dem sie sich wohlfühlte. Eigentlich war ihr Leben perfekt gewesen – bis zum heutigen Abend.

Sean hatte also nach ihr gesucht? Wohl nicht sehr intensiv. Sechs Monate hatte es gedauert, bis Franci endlich akzeptieren konnte, dass sie beide wohl nicht zusammenpassten und aus ihnen nichts mehr werden würde. Zu unterschiedlich waren ihre Auffassungen vom Leben. Er wollte Spaß haben und sich nicht festlegen, wahrscheinlich, bis er alt und grau war. Und sie wollte Wurzeln schlagen und eine Familie gründen.

Unfairerweise fand sie genau die Eigenschaften an ihm attraktiv, die ihn davon abhielten, sesshaft zu werden. Er sah gut aus und war ein Draufgänger, ein exzellenter Ski- und Wasserskiläufer, konnte aber genauso gut faul auf dem Sofa liegen und Filme gucken. Natürlich waren vier von fünf Filmen, die sie sich gemeinsam anschauten, Actionfilme und nur einer ein Liebesfilm, doch Franci stand ja selbst auf Action. Sie glaubte, dass sie eine glückliche Ehe führen könnten, so wie ihre Freunde, die auch verheiratet waren und Kinder hatten und mit denen sie viel in ihrer Freizeit machten. Sean hatte auch nichts gegen Kinder, im Gegenteil. Dennoch beharrte er eisern auf seinem Standpunkt: Er brauchte keine offizielle Bestätigung seiner Gefühle und hatte auch keine Lust, sich von Kindern in seiner Freiheit einschränken zu lassen.

Die Viertelstunde, die Franci von Arcata nach Eureka brauchte, reichte nicht aus, um ihre Nerven zu beruhigen. Also fuhr sie weitere fünfzehn Minuten ziellos durch die Gegend, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machte. Sie wollte ihre Emotionen wieder im Griff haben, wenn sie dort ankam. Natürlich war es ein Trugschluss gewesen zu glauben, sie hätte sich mit ihrer Trennung abgefunden – das war ihr in der Sekunde klar geworden, als sie Sean wiedergesehen hatte. Sie bekam immer noch Herzklopfen, wenn er vor ihr stand. Ein Blick in sein Gesicht, und das Blut schoss ihr in die Wangen. Sie konnte nicht einmal einen Kaffee mit ihm trinken gehen, ohne das Gefühl zu haben, ihm noch bei Starbucks die Kleider vom Leib reißen zu müssen. Sie musste jetzt stark sein. Hart. Doch sie war schwach. Sie mochte ihn hassen, aber sie liebte ihn immer noch. Und er erregte sie immer noch. Das alles bedeutete, er konnte sie immer noch verletzen.

Schließlich parkte sie den Wagen in ihrer kleinen Garage, schloss das Tor und ging durch die Küche ins Haus. Im Wohnzimmer lief der Fernseher. Ihre Mutter saß auf dem Sofa. Sie schlief, während Rosie, ihre kleine Tochter, sich an sie gekuschelt hatte. Der Einzige, der den Kopf hob, sobald Franci das Zimmer betrat, war Harry, ihr blonder Cockerspaniel.

»Hallo, Harry«, begrüßte sie ihn.

Er wedelte ein paarmal mit dem Schwanz und rollte sich auf den Rücken, für den Fall, dass jemand ihn kraulen wollte.

»Mom?«, fragte sie und stupste ihre Mutter leicht an. »Mom, ich bin zu Hause.«

Vivian erschrak kurz und setzte sich auf. »Hmm? Hallo. Ich muss wohl eingenickt sein.« Sie streckte sich. »Hattest du einen schönen Abend?«

»Oh ja. Mit den Mädels ist es immer lustig. Ich erzähle dir morgen die neuesten Tratschgeschichten. Aber jetzt gehst du wohl am besten schlafen.«

Vivian stand auf. »Ich muss noch Rosie …«

»Ich bringe sie ins Bett, Mom«, unterbrach Franci sie. »Das ist immer das Schönste vom Tag. Wie lange schläft sie schon?«

»Wahrscheinlich war sie länger wach als ich«, antwortete Vivian lachend. Sie streichelte liebevoll über Francis Wange und küsste sie. »Ich hab morgen frei. Ruf an, wenn du wach bist, dann trinken wir zusammen einen Kaffee.«

»Gerne. Danke, Mom.« Franci nahm Vivians Jacke vom Stuhl und half ihr hinein. »Ich warte noch an der Tür, bis du zu Hause angekommen bist«, sagte sie.

»Ich bin mir sicher, dass ich weder hinfalle noch ausgeraubt werde.«

»Ich warte trotzdem.«

Franci, Rosie und Vivian hatten mehrere Jahre zusammen in dem kleinen Haus mit zwei Schlafzimmern gelebt. Franci hatte sich das Bett mit Rosie geteilt. Doch vor einem Jahr hatte Vivian ein ähnliches Haus gekauft, das sich am Ende des Häuserblocks befand. Sie wollten beide immer ihre eigenen vier Wände haben, da sie beide Wert auf ihre Unabhängigkeit legten, doch Rosies Geburt hatte sie dazu bewogen, wenigstens in der Nähe voneinander zu wohnen – das erleichterte die Kinderbetreuung. Wenn Franci ihre Vierundzwanzigstundenschicht hatte oder mal spät heimkam, was nicht oft passierte, übernachtete Rosie bei ihrer Großmutter. Und falls Franci nicht über Nacht wegblieb, kam Vivian rüber zu ihr und passte dort auf Rosie auf. Inzwischen hatte die Kleine einen Ganztagsplatz im Kindergarten, so konnten Mutter und Großmutter ihre Jobs und die Kleine einfacher unter einen Hut bringen.

Franci sah zu, wie ihre Mutter die Straße hinunterlief und dem blumengesäumten Weg folgte, der zu ihrer Haustür führte. Nachdem sie im Haus verschwunden war, knipste sie ihr Verandalicht ein paarmal an und aus, als Zeichen für Franci, dass alles in Ordnung war. Jetzt konnte auch sie reingehen und hinter sich abschließen.

Franci hängte ihre Jacke auf, hob ihre rothaarige Tochter von der Couch und trug sie in ihr Zimmer. Ihre Arme hingen schlaff herunter und sie war ganz ausgekühlt. Die Bettdecke war schon zurückgeschlagen und die Nachttischlampe brannte. Offensichtlich hatte ihre Mutter optimistischerweise damit gerechnet, dass Rosie einfach zu Bett gehen würde, wenn es Zeit war. Doch wie immer war sie lieber auf dem Sofa eingeschlafen. Nun deckte Franci ihre Tochter zu und küsste sie auf die Stirn. Rosie gab ein schläfriges Schnauben von sich.

»Ich habe heute deinen Daddy gesehen«, flüsterte Franci. »Der der Grund dafür ist, dass du so schön bist.«

2. KAPITEL

Sean hatte nicht besonders gut geschlafen nach dem Wiedersehen mit seiner Ex, daher war er der Erste im Bad. Aus dem Schlafzimmer des frisch vermählten Paares war noch kein Geräusch zu hören. Er hatte bereits die Hälfte seiner Cornflakes gegessen, als Shelby in Jeans und Sweatshirt die Küche betrat. Gleich musste sie nach Arcata – sie wollte Krankenschwester werden und hatte an der Humboldt University Kurse belegt.

»Ach nee. Dich sieht man aber selten um diese Uhrzeit. Sonst treffen wir uns immer erst am Nachmittag, wenn ich zurückkomme«, stellte sie fest und nahm sich einen Kaffee. »Wenn du bis in die frühen Morgenstunden um die Häuser gezogen bist, brauchst du doch normalerweise deinen Schönheitsschlaf.«

Sean grunzte nur.

»Ich schätze, das soll ›Guten Morgen‹ heißen«, sagte sie. »Wünsche ich dir auch.«

Da tauchte auch schon Luke auf. »Hallo, mein Sonnenschein«, begrüßte er seinen Bruder. Sean schaute ihn an. Luke lachte über seine grimmige Miene. »Bist du mit dem falschen Fuß aufgestanden? Haben wir das kratzige Klopapier hingehängt? Oder ist deine Matratze zu hart?«

»Mit dem Bett ist alles super.«

»Wollen wir uns zwei Pferde des Generals schnappen und einen kleinen Ritt über …«

»Keine Zeit. Ich habe ein paar Dinge zu erledigen«, fiel ihm Sean ins Wort.

Shelby griff nach einem Stapel Danksagungskarten, der auf dem Tisch lag, und warf ihrem Mann einen eindringlichen Blick zu. Mittlerweile war ihre Hochzeit ein paar Wochen her, und er hätte längst auf den Karten unterschreiben sollen. »Luke …«, begann sie. »Bevor du ans Reiten oder Angelngehen denkst …«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte er und betrachtete die Umschläge. »Ich mach das schon.«

»Du glaubst doch nicht wirklich, dass er sich mit diesem Mädchenkram abgibt, Shelby?«, schaltete Sean sich ein.

Shelby setzte sich an den Küchentisch. Sie sah leicht verwirrt aus. Sie kannte Sean jetzt seit einem Jahr, er war der lustige Bruder ihres Mannes. Stets für einen Flirt und einen Scherz zu haben. Sie witzelten immer, dass Sean vermutlich sogar einem Zugunglück noch etwas Lustiges abgewinnen konnte – er war einfach ständig gut gelaunt. Luke dagegen war immer eher ein Brummbär gewesen, auch wenn sich das durch Shelby wesentlich geändert hatte. Daher wunderte sie sich nun über Seans Schroffheit. »Alles in Ordnung?«, erkundigte sie sich.

»Bestens«, gab er einsilbig zurück.

Luke goss sich einen Kaffee ein und gesellte sich zu ihnen. »Unfall mit Blechschaden? Oder bist du geblitzt worden? Hat eine schöne Frau dich abgewiesen? Lebensmittelvergiftung?«

Sean lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Ich bin gestern Abend zufällig Franci begegnet«, verkündete er.

Kaum merklich runzelte Luke die Stirn. Er konnte sich nicht an sie erinnern. Sean hatte ziemlich viele Freundinnen gehabt.

»Franci Duncan«, stieß Sean der Verzweiflung nahe aus. »Mit der ich vor ein paar Jahren quasi zusammengelebt habe. Weißt du nicht mehr? Wir haben uns getrennt, als sie die Air Force verließ und ich auf der U-2 ausgebildet worden bin.«

»Ach ja, jetzt erinnere ich mich«, sagte Luke. »Hast du sie denn seitdem nicht mehr gesehen?«

»Nein«, antwortete Sean ungeduldig und schob sich einen Löffel Cornflakes in den Mund. »Ich habe versucht, sie zu finden, aber sie war weg. Ich habe probiert, über ihre Mutter herauszubekommen, wo sie steckt, doch ihre Mutter war umgezogen. Was mir seltsam erschien, denn sie wohnte mindestens zehn Jahre in diesem Haus in Santa Rosa. Vielleicht sogar zwanzig, was weiß ich.«

»Du hast nach ihr gesucht?«, fragte Luke erstaunt. »Das höre ich aber zum ersten Mal.«

»Weil ich es nie erzählt habe. Und weil ich sie nicht gefunden habe«, sagte Sean. »Wie man sieht.«

»Und was war mit ihren Freundinnen?«, wollte Shelby wissen. »Hast du es da auch probiert?«

Sean schwieg. Er zog eine Grimasse und antwortete schließlich: »Ich habe ein paar von ihnen mal gefragt, allerdings wussten die auch nichts.«

»Merkwürdig«, kommentierte Shelby. »Frauen geben ihre Freundinnen nicht einfach so auf. Erst recht nicht, wenn sie sich gerade von ihrem Freund getrennt haben – ich meine, das ist doch für jeden hart. Wie hieß denn ihre beste Freundin? Und ihre andere beste Freundin? Okay, es gibt auch Ausnahmen. Mich zum Beispiel. Ich habe mich um meine Mutter gekümmert und hatte nur sehr wenig Zeit für meine Freundinnen. Trotzdem blieb ich immer mit ihnen in Kontakt, wenn ich …«

Luke legte ihr eine Hand auf den Arm, denn Sean sah elend aus.

»Oh«, sagte sie leise. »Wen hättest du noch fragen können?«

Sean zuckte unbehaglich mit den Schultern. »Wir waren damals oft mit befreundeten Paaren unterwegs, Jungs aus meiner Einheit und ihre Freundinnen oder Ehefrauen. Zum Skifahren, zum Camping, Wandern, Segeln … Zwei Paare waren verheiratet, die anderen lebten so zusammen. Ich habe mich bei den Frauen nach Franci erkundigt. Keine von ihnen hatte etwas von ihr gehört. Ich habe sogar ihren ehemaligen Chef im Militärkrankenhaus gefragt, den Colonel aus ihrer Einheit. Und ihre Nachbarn.«

»Oh«, meinte Shelby wieder.

»Okay, sie hatte ein paar Freundinnen, die ich auch mal kurz kennengelernt habe, aber wir waren nie zusammen aus. Ich kannte nicht mal ihre Nachnamen. Außerdem war da alles ja schon eine Weile her.«

»Wie, eine Weile her?«, bohrte Shelby nach.

»Okay. Es war so: Franci und ich hatten einen Streit. Ich wurde versetzt, und sie wollte zur selben Zeit die Air Force verlassen. Und dann wollte sie von mir wissen … Ich wurde abkommandiert auf den Stützpunkt Beale. Also sagte ich ihr, sie könnte doch mit mir an meinen neuen Einsatzort gehen, und da rastete sie aus. Gut, ich hatte sie nicht direkt eingeladen, mit mir zu kommen. Ich machte keine Pläne mit ihr, bezog sie in meine Lebensplanung nicht mit ein. Wahrscheinlich habe ich mich aber dafür sogar entschuldigt. Davon gehe ich jedenfalls aus.«

»Und deswegen habt ihr euch getrennt?«, hakte Shelby nach.

»Ja und nein. Nicht wirklich«, meinte Sean.

Luke stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte die Hände an das Kinn. Amüsiert schaute er seinen Bruder an. Und war froh, dass diesmal ein anderer Riordan von Shelby in die Zange genommen wurde.

Sean holte tief Luft. »Sie wollte heiraten«, erklärte er. »Sie sagte zu mir: ›Entweder, wir verloben uns und heiraten irgendwann – oder ich gehe.‹ Das waren ihre Worte.« Er fuchtelte mit den Händen herum. »Alles oder nichts. Sie stellte mir ein Ultimatum.«

»Wirklich«, sagte Shelby ironisch. »Nach nur zwei Jahren, in denen ihr praktisch zusammengelebt habt, schlägt sie so etwas vor?«

»Jetzt machst du dich über mich lustig«, entgegnete Sean schmollend. »Ich gebe es ja zu, ich hätte sie nicht gehen lassen sollen. Aber ich war damals eben ein eingebildeter Grünschnabel.«

»Ist nicht wahr!«, sagte Luke.

Sean warf ihm einen finsteren Blick zu.

»Sie wollte also heiraten und du nicht, und deshalb habt ihr euch getrennt. Habe ich das richtig zusammengefasst?«, wollte Shelby wissen.

»Das kommt hin.« Sean verzog das Gesicht. »Es könnte auch sein, dass wir uns im Streit ein paar Dinge an den Kopf geworfen haben, die unnötig waren. Ihr wisst schon – was man vor Wut halt so sagt.«

»Das glaube ich gerne«, meinte Luke.

»Und dann hast du irgendwann später versucht, sie ausfindig zu machen?«, fragte Shelby noch einmal nach.

»Nachdem ich in die neue Fliegerstaffel versetzt worden war und meine Ausbildung auf der neuen Maschine beendet hatte. Nachdem ich dachte, wir hätten uns beide inzwischen beruhigt. Ihr wisst schon.«

Shelby sah Luke an und schüttelte missbilligend den Kopf. »Diese Heiratsphobie scheint in der Familie zu liegen«, stellte sie fest. Denn Luke und sie hatten eine ganz ähnliche Diskussion geführt, nur hatte sie ihn nicht davonkommen lassen und ihn sanft unter Druck gesetzt. Luke war allerdings auch bereit gewesen, sich von ihr zähmen zu lassen. Von Sean wusste sie nur, dass er als der Playboy unter den Brüdern galt. Sie hatte im Zusammenhang mit ihm noch nie von einer festen Beziehung gehört.

»Könnte sein«, sagte Luke und zuckte die Achseln. »Obwohl, unser Bruder Aiden ist die große Ausnahme. Er möchte heiraten und eine Familie gründen, doch er hat einfach kein Glück mit den Frauen. Er war sogar schon mal verheiratet. Mit einer Verrückten.«

»Meine Güte«, stieß Shelby aus. »Kein Wunder, dass ihr eure Mutter fertigmacht. Und wie war es, Sean, als du Franci gestern begegnet bist?«

»Sie meinte, ich würde gut aussehen, aber sie wollte keinen Kaffee mit mir trinken gehen. Sie will auch nicht mit mir sprechen. Dabei habe ich ihr sogar gesagt, dass ich damals einen Fehler gemacht habe.«

»Hm«, machte Shelby nur. »Vielleicht hat sie es hinter sich gelassen.«

»Nun, dann sollte sie mir das sagen, es mir erklären. Denn ich …« Er unterbrach sich. Franci ist mir eine Erklärung schuldig.

»Was?«, fragte Luke.

»Ich muss sie finden.«

»Wieso? Du hast ihr gesagt, es ist vorbei, und sie hat es akzeptiert. Jetzt sind ein paar Jahre vergangen, und es ist immer noch vorbei. Ich verstehe dein Problem nicht.«

»Nein, das tust du offensichtlich nicht«, erwiderte Sean ungeduldig. »Weil du Franci eben nicht kennst.«

»Natürlich kenne ich sie. Wir alle kennen Franci. Ein heißer Feger, diese Franci.« Luke grinste. »Wir haben damals alle damit gerechnet, dass ihr heiratet. Doch als du stattdessen allein nach Nordkalifornien gegangen bist, hieß es nur: ›Da geht wieder ein Riordan dahin.‹«

»Es ist einfach so – ich hätte nicht mit ihr Schluss machen sollen. Ich hätte ihr erklären sollen, dass wir auch zusammenbleiben können ohne diesen altmodischen Quatsch. Wir waren noch so jung, sechsundzwanzig und achtundzwanzig. Wir hatten noch genug Zeit, uns mit wichtigen Entscheidungen wie zum Beispiel Heiraten auseinanderzusetzen. Sogar jetzt haben wir noch alle Zeit der Welt!« Luke, der achtunddreißig war und gerade erst eine ähnliche Krise hinter sich hatte, schaute seine fünfundzwanzigjährige Ehefrau fragend an. »Wir hätten zusammen nach Beale gehen sollen, dann hätten wir eine Lösung gefunden. Aber das wollte ich dann auch nicht mehr, weil sie mich so auf die Palme brachte.«

Einen Augenblick lang war es still. »Tja«, meinte Luke schließlich mit gespielter Fröhlichkeit, »ich würde ja gern noch länger mit dir über dein verkorkstes Liebesleben plaudern, aber ich muss mit Art noch rüber in die Eisenwarenhandlung, bevor sie …«

Wieder schüttelte Shelby missbilligend den Kopf. »Ihr habt euch also einmal kurz gestritten, und schon hast du ihr gesagt: ›Geh doch‹? Frei nach dem Motto ›Entweder wir machen es so, wie ich es sage, oder wir machen es überhaupt nicht‹?«

»Jetzt komm schon, Shelby«, flehte Sean sie an. »Du weißt, dass ich kein aufbrausender Typ bin. Ich bin ein Softie. Ich suche keinen Streit. Und ich habe auch kein Problem damit, mich mit nur einer Frau durchs Leben gehen zu sehen. Aber diese ganze Ehe-Geschichte ist einfach nichts für mich. Heiraten! Allein der Gedanke daran war die Hölle für mich. Einige meiner Brüder haben es versucht und sind damit kläglich gescheitert. Und Kinder?« Nun schüttelte er den Kopf. »Ich ändere meine Meinung vielleicht, wenn ich alt und müde bin, so wie Luke, doch im Moment will ich mich einfach nicht so festlegen lassen.«

»Aha«, sagte sie. »Ich verstehe. Und das würdest du Franci gerne im Rahmen einer zwanglosen Unterhaltung mitteilen?«

»So in der Art«, erwiderte er und fand seine Argumentation ganz logisch. »Es ist nicht verboten, sich zu streiten. Aber wir hätten unsere Beziehung niemals einfach so aufgeben dürfen. Wir waren ein gutes Team.«

Shelby erhob sich. »Offensichtlich nicht gut genug. Zu schade, dass ich jetzt zur Arbeit muss. Denn du steckst in einem ziemlich tiefen Loch fest, und ich würde dir gerne dabei helfen, da wieder rauszukommen, indem wir uns weiter unterhalten. Du weißt, dass ich dich seit unserer ersten Begegnung ins Herz geschlossen habe, darum würde ich dir gern helfen. Aber die Arbeit ruft!«

Auch Sean stand jetzt auf. »Was meinst du damit, ich muss aus einem tiefen Loch rauskommen?«

»Okay, hier die Kurzfassung: Du hast sie gehen lassen, weil du keine Verantwortung übernehmen wolltest. Dann hast du viel zu viel Zeit verstreichen lassen, um nach ihr zu suchen – mit dem Ergebnis, dass du sie nicht finden konntest. Vielleicht hat sie auf dich gewartet, doch als nichts kam, musste sie annehmen, sie wäre dir egal. Ich meine, du wusstest ja, wie ihre Freundinnen mit vollem Namen heißen! Du kanntest auch die Freundinnen ihrer Mutter, die du möglicherweise hättest fragen können. Du hast der Frau insgesamt nur dann Aufmerksamkeit geschenkt, wenn es dir gepasst hat. Ihr wart mit deinen Kumpels von deiner Einheit befreundet und du wunderst dich, dass die nichts von ihr gehört haben. Und jetzt bist du gekränkt, weil sie all das nicht vergessen hat und nicht bereit ist, dir eine zweite Chance zu geben. Aber sie will eben nicht länger als Lückenbüßer fungieren. Denn sie war vor ein paar Jahren die Frau, die sich gewünscht hat, du könntest ohne sie nicht leben.«

»Du verstehst gar nichts«, stieß Sean aus.

»In Wirklichkeit ist dein Problem, dass ich es sehr wohl verstehe«, meinte Shelby. »Du hast erst erkannt, wie viel sie dir bedeutet, als sie weg war.«

Luke trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse ab. »Wenn du Zeit hast, solltest du Nachhilfe bei Shelby nehmen, Sean. Sie kennt jeden Liebesfilm, der jemals gedreht wurde. Sie weiß über Dinge Bescheid, über die du und ich noch nicht einmal im Traum nachgedacht haben.«

Sean schluckte. Er sah zu Boden und sagte: »Und was soll ich, nach Meinung einer Frau, jetzt tun?«

»Nicht das, was du denkst«, erwiderte Shelby. »Auf jeden Fall nicht das, was du schon mal gemacht hast – und weswegen du arroganterweise glaubtest, sie würde dich niemals verlassen. Du solltest dich lieber auf die Dinge konzentrieren, die sie an dir mochte und die sie dazu veranlassten, zu glauben, dass sie ihr Leben gerne mit dir verbringen würde. Falls du dich daran erinnerst! Denn offen gestanden, mein Lieber, bin ich davon überzeugt, dass es zu spät ist. Und wenn das so ist, musst du das akzeptieren und die Frau in Ruhe lassen. Solltest du austicken und verrücktspielen, bin ich nicht mehr auf deiner Seite.«

Nachdem Sean wieder alleine war, überlegte er, was Franci an ihm gefallen hatte. Als sie ein Paar wurden, hatte er jede Menge Asse im Ärmel gehabt. Sie hatten in vielerlei Hinsicht gut zusammengepasst. Er konnte sich kaum noch ins Gedächtnis rufen, worin sie unterschiedlicher Meinung gewesen waren. Na ja, bis auf …

Aber es war eine echte Herausforderung gewesen, sie überhaupt dazu zu bringen, sich auf ein Date mit ihm einzulassen. Sie war schon eine Weile bei der Air Force und kannte sich mit den Fliegerjungs aus. Ihr striktes Motto war: »Finger weg von Kampfjetpiloten.« Sie galten als arrogante, ichbezogene Idioten, deren Interesse an einer Frau meist nur von kurzer Dauer war. Sean und Franci hatten zwar nie darüber gesprochen, doch Sean vermutete, dass sie mit einigen seiner Kollegen ausgegangen sein musste, um zu dieser Einschätzung zu gelangen. Leider lag sie damit nicht völlig daneben, wie er grummelnd zugeben musste.

Aber sie hatten gemeinsam auch viel Schönes erlebt. Wehmütig erinnerte er sich daran, wie er sie wahnsinnig gemacht hatte vor Lust, wie er sie bis aufs Äußerste erregt und dann befriedigt hatte. Diesbezüglich hatte die Chemie auf jeden Fall gestimmt. Und wenn sie mal nicht in der Stimmung gewesen war, wusste er genau, was er sagen musste, um das zu ändern. Er wusste, was er tun musste, damit sie es sich noch einmal überlegte, und wie sie auf der Stelle scharf wurde. Umgekehrt beherrschte sie diese Kunst auch. Sie brachte ihn zum Stöhnen und Keuchen und um den Verstand. Keine andere Frau konnte ihn so anmachen wie Franci. Nur sie schaffte es, dass er sich vollkommen in Ekstase verlieren konnte. Keiner anderen war es je gelungen, ihn so zu befriedigen wie sie. Und er war mit vielen Frauen im Bett gewesen.

Wie hatte er sie nur gehen lassen können?

Sean versuchte sich zu entsinnen, wie er es geschafft hatte, sie zu erobern. Doch es fiel ihm nicht ein. Wahrscheinlich war er einfach nur hartnäckig gewesen. Er wusste nur, was er bei ihrer ersten Begegnung gedacht hatte – »Donnerwetter!« Sie berührte etwas in ihm. Das war nicht nur bloße Lust, das war animalische Lust. Wild und ungezähmt. Er hatte sie sofort gewollt – und wollte sie immer noch.

Zum ersten Mal hatte er sie im Irak gesehen, als sie schwer verletzte Soldaten auf dem Rückflug in die Heimat begleitet hatte. Er hatte probiert, ihr ihre Telefonnummer zu entlocken, um sich bei ihr zu melden, wenn er wieder in den Staaten war. Sie waren sich ein paarmal begegnet – immer wenn sie Krankentransporte betreute und auf seinem Stützpunkt wartete, bis sie mit den Verletzten zurückflogen. Sie hatte ihm nicht einmal ihren vollen Namen genannt. Natürlich war es kein Problem gewesen, ihn in Erfahrung zu bringen – allerdings war das auch schon alles.

Das nächste Mal traf er sie wieder auf der Luke Air Force Base im Offiziersclub. Kismet, dachte er – das muss Schicksal sein. Sie waren einfach füreinander bestimmt. Doch auch damals wollte sie nicht mit ihm ausgehen. Er erinnerte sich daran, dass er damals gehofft hatte, sie sei genauso wunderbar, wie sie sexy war. Alles andere hätte ihm das Herz gebrochen.

Und das war sie. Sie war intelligent, stark, unabhängig, voller Selbstvertrauen, sinnlich und liebevoll.

Sie war der Typ Frau, dem Männer hinterherschauten. Ihre Attraktivität trug sie aber nicht billig zur Schau, sondern mit einem feinen Understatement. Sie kleidete sich nicht grell oder plump auffällig, sondern bewies Klasse und Coolness. Sie hatte lange Beine und dunkle Haare, große dunkle Augen und schön geschwungene, feine Augenbrauen. Außerdem hatte sie einen kleinen Schmollmund und volle, weiche Lippen. An ihren Körper konnte er sich in allen Details erinnern. Allerdings wusste er partout nicht mehr, wie er sie erobert hatte. Normalerweise war es seine Methode, eine Frau zum Lachen zu bringen, sie mit schmachtenden Blicken anzusehen und ihr auf indirekte, doch unmissverständliche Weise zu verstehen zu geben, dass sie mit ihm viel Spaß haben konnte. Mit Unbescheidenheit kam man nicht weit im Leben. Er hatte immer ein großes Selbstvertrauen ausgestrahlt.

Davon war nun nichts mehr übrig. Jetzt war er frustriert und hatte keine Ahnung, wie er das ändern sollte. Zum ersten Mal hatte er keinen Plan.

Er ging nach oben in das Zimmer, in dem Lukes Computer stand. Der Schreibtisch war noch immer mit Hochzeitsgeschenken übersät. Er schob ein paar Geschenke zur Seite und schaltete den Rechner ein. Als er ihren Namen in eine Internetsuchmaschine eingab, stellte sich heraus, dass Franci sich nicht ins Telefonbuch eingetragen hatte – was nichts Ungewöhnliches war. Aber nach einer Weile ausführlicher Recherche fand er heraus, dass eine gewisse Franci Duncan ein Haus erworben hatte. Immobilienkäufe waren nun mal öffentlich einsehbar. Nur war es sicher keine gute Idee, uneingeladen vor ihrer Haustür aufzutauchen. Doch welche Alternative blieb ihm?

Als Luke und Art aus dem Eisenwarenladen zurückkamen, saß Sean in der Küche und aß ein Sandwich. Art war eine wahre Freude. Immer, wenn er Sean sah, begrüßte er ihn so überschwänglich, als hätte er ihn jahrelang nicht gesehen. Er litt am Downsyndrom, war dreißig Jahre alt und ein gutherziger Mensch, der Luke bei der Renovierung des Anwesens kräftig unterstützte. Luke wiederum, der sicher auch einen tollen Vater abgeben würde, wie Sean es durch den Kopf schoss, ging einfach fantastisch mit Art um und gab ihm stets zu verstehen, wie sehr er seine Hilfe schätzte.

»Sean!«, rief Art strahlend.

»Hallo, Art! Warst du heute Morgen schon angeln?«, erkundigte sich Sean.

»Nein. Wir mussten Zeug zur Müllkippe fahren. Dann waren wir im Eisenwarenladen. Vielleicht gehe ich nachher noch. Warst du schon?«

»Sozusagen. Ich habe im Computer nach Informationen gefischt.«

Luke holte das Brot und andere Zutaten für Sandwiches heraus. »Hattest du Glück? Hast du etwas über Franci herausgefunden?«, fragte er.

»Ich habe ihre Adresse gefunden, aber keine Telefonnummer«, sagte er. »Über eine Immobilienseite. Praktischerweise hat sie ein Haus gekauft.«

»Hast du eine neue Freundin, Sean?«, wollte Art wissen.

Aus irgendeinem Grund war Sean die Frage peinlich. Die Tatsache, dass Art ihn eigentlich gar nicht kannte, und dass er mit den Augen eines Zehnjährigen durch die Welt lief, davon ausging, dass Sean immer eine Freundin hatte, war ihm unangenehm. Vielleicht hatte Franci tatsächlich recht. Ständig hatte sie gesagt, dass er sich nicht zu einer Frau bekennen würde, da es ihm mehr um die Jagd als um die Verantwortung ging. Aber das stimmte auch nicht so ganz, wie Sean gerade bewusst wurde. Zu Franci hätte er sich ja bekannt – nur nicht als Ehemann. »Nicht wirklich«, antwortete er also. »Ich hatte vor ein paar Jahren mal eine, doch wir haben uns aus den Augen verloren. Jetzt würde ich sie gern wiedersehen und mit ihr sprechen und sie fragen, ob wir es nicht noch mal miteinander versuchen wollen.«

»Oh«, meinte Art. »Cool.«

»Und wo ist das Problem?«, fragte Luke.

»Als sie mich sah, wurde sie sofort wütend. Ich glaube fast, sie hasst mich. Zumindest ist sie immer noch sauer auf mich. Was andererseits bedeutet, dass ich ihr nicht völlig egal bin«, fügte er optimistisch hinzu. »Wenn ich wüsste, dass ich ihr noch mal über den Weg laufe, könnte ich versuchen, meinen Charme spielen zu lassen – so wie früher – ohne sie zu bedrängen. Damals war ich zum Beispiel jeden Abend im Offiziersclub in der Hoffnung, sie dort zu treffen. Irgendwann war sie es leid, da sie mir eh nicht aus dem Weg gehen konnte, und gab nach.«

Luke grinste. »Überstürz nichts.«

»Du meinst, ich soll mich ihrer Gnade ausliefern? Nein«, erwiderte Sean. »Sie scheint nicht mehr viel Gnade für mich übrig zu haben. Außerdem stehe ich nicht unbedingt auf Demut und Ergebenheit.«

Luke lachte ihn aus. »Und außerdem geben wir Riordan-Männer die Trümpfe ungern aus der Hand.«

»Du weißt, was ich meine. Welche Frau mag schon einen unterwürfigen Mann? Warst du unterwürfig? Als du und Shelby …«

»Ich zerstöre ja nur ungern deine Seifenblase, Bruderherz, doch ich habe zu ihr gesagt: ›Ich werde alles tun, damit du glücklich bist.‹ Ich weiß, es ist schwer für dich, dir deinen coolen großen Bruder vorzustellen, wie ihm solche Worte über die Lippen kommen, aber ich musste es tun. Ohne Shelby wäre ich verloren. Sie ist die Luft, die ich atme.« Er grinste jetzt übers ganze Gesicht. »Doch nun muss ich nicht mehr unterwürfig sein. Sie lässt mich glauben, ich wäre der Größte.«

»Fantastisch«, entgegnete Sean, ohne die Regeln in diesem Spiel wirklich zu verstehen. Was er fast verstehen konnte, war jedoch der Satz: Sie ist die Luft, die ich atme. »Aber da siehst du’s – ich bin wohl einfach besser für Kurzzeitbeziehungen geeignet.«

»Wenn es dir nur darum geht, wünsche ich dir viel Spaß.«

Genau das war ja das Problem. Kurzzeitbeziehungen reichten ihm nicht mehr. Schon lange nicht mehr, wenn er ehrlich war. Er hatte sich schon häufig gefragt, woher seine Unzufriedenheit kam, wieso er eigentlich immer so durch den Wind und gar nicht glücklich war. In dem Moment, als er Franci wiedergesehen hatte, lag die Antwort klar und deutlich vor ihm.

»Darf ich dich etwas fragen?«, sagte Luke, während er mit Brot, Käse und Wurst hantierte. »Du warst doch ein paar Jahre mit ihr zusammen. Es klingt so, als hättet ihr eine gute Zeit gehabt. Dann habt ihr euch getrennt und vier Jahre lang war alles in bester Ordnung. Du hast dich offensichtlich damit arrangiert. Wieso ist das jetzt plötzlich alles anders?«

Schwer zu erklären, dachte Sean. »Kennst du das Gefühl, genau zu wissen, wie alles sein soll, aber du machst einfach weiter mit dem, was du tust, auch wenn es sich nicht richtig anfühlt?«

»Ich?« Luke lachte spöttisch. »Dachtest du, ich habe den Volltrottel nur gespielt, der fast seine Beziehung aufs Spiel gesetzt hat?«

»Ich war noch nicht bereit zu heiraten«, erklärte Sean. »Ich wollte mich nicht zu etwas drängen lassen – also trennten wir uns im Streit. Sechs Monate später wurde mir klar, auch wenn ich noch nicht bereit war, sie zu heiraten, so war ich doch bereit für eine ernsthafte Beziehung. Ich dachte, wir könnten uns auf einen Kompromiss einigen. Ich rief sie auf dem Handy an, hinterließ mehrfach Nachrichten, allerdings meldete sie sich nie bei mir. Es vergingen noch ein paar Monate, und ich dachte: Alles klar, wenn sie eine Hochzeit glücklich macht, werde ich es versuchen – aber in meinem Tempo, damit ich mich an den Gedanken gewöhnen kann. Vielleicht lieber erst mal eine etwas längere Verlobungszeit, um zu sehen, ob das auch wirklich alles passt. Also rief ich sie wieder an, aber ihre Handynummer existierte nicht mehr. Die E-Mails an sie kamen zurück – unzustellbar. Auch ihre Mutter, zu der sie ein sehr enges Verhältnis hat, war weggezogen. Und die Vorstellung, dass sie mich einfach ignorierte, während ich mich verdammte Scheiße noch einmal um sie bemühte, kotzte mich total an.« Und brach mir das Herz heraus. So, wie ich ihr das Herz gebrochen habe, als ich Nein zu einer Hochzeit sagte. Wir sind schon zwei Idioten.

»Das ist ein schlimmes Wort«, warf Art ein. Er war niemand, der über andere urteilte oder sie zurechtwies, dennoch entging ihm nichts.

»Tut mir leid, Art. Ich gelobe Besserung«, entschuldigte sich Sean.

Luke wandte ein: »Ich hatte den Eindruck, du wärst vollkommen zufrieden mit der Entscheidung.«

»Die meiste Zeit über war ich es auch«, gab Sean schulterzuckend zu. »Ich stieg in meinen Jet, und gut war’s. Ich erfüllte meine Missionen. Ich war viel weg. Ich kam klar. Aber immer, wenn ich eine Frau kennenlernte, verglich ich sie mit Franci.« Und ich sah überall Franci – ich dachte schon, ich würde den Verstand verlieren.

»Hast du dann weiter nach ihr gesucht?«, fragte Luke.

»Nein. Ich war sicher, ich würde irgendwann darüber wegkommen. Doch als ich sie jetzt wiedergetroffen habe, wusste ich, es geht nie vorbei. Irgendwie denke ich inzwischen auch, dass es meine Schuld war – nachdem ich jahrelang ihr den Schwarzen Peter zugeschoben habe. Sie war herrisch und ungeduldig, und ich wollte mir von einer Frau nicht sagen lassen, was ich zu tun und zu lassen habe. Aber mittlerweile glaube ich, dass ich ein ganz schöner Idiot war.«

»Ach ja?«, fragte Luke. Als Sean ihm einen finsteren Blick zuwarf, lachte er und sagte: »Hör zu, ich will dich nicht ärgern – doch da musste ich auch durch, Bruder. Und ich bin froh, dass Shelby schlauer war als ich.« Er sah ihn ernst an. »Die Frauen haben das Sagen. Das mag uns nicht schmecken, doch so ist es nun mal. Und ich kann mich immer auf Shelby verlassen, sie lässt mich nie im Stich.«

»Ich muss trotzdem aufpassen«, wandte Sean ein. »Franci hat sehr deutlich gemacht, dass sie mich weder sehen noch mit mir sprechen will. Ich kann nicht wie ein Stalker plötzlich vor ihrer Haustür stehen. Am Ende holt sie die Polizei! Ich würde sie ja anrufen, aber ich habe keine Nummer von ihr.«

»Kannst du denn nicht herausbekommen, wo sie arbeitet? Sie ist doch Krankenschwester, oder? Ruf einfach überall an, wo sie angestellt sein könnte. Krankenhäuser, Arztpraxen, Rehakliniken und so weiter. Frag nach ihr und sag, dass du sie sprechen willst. Entweder heißt es dann ›Hier arbeitet niemand mit diesem Namen‹, oder ›Sie hat heute frei‹ oder ›Einen Moment, ich verbinde‹.«

Überrascht schaute Sean ihn an. »Wow«, brachte er hervor. »Das ist genial.«

»Ich bin selbst ganz erstaunt, denn ich habe so etwas noch nie gemacht«, stellte Luke fest. »Okay. Was machen Frauen gern? Frauen wie Franci? Shoppen?«

»Wir haben immer alles zusammen gemacht – Campen, Tauchen, Quad oder Ski fahren … Wann immer es möglich war, sind wir verreist. Aber Franci allein? Vielleicht ins Fitnessstudio?«, mutmaßte Sean. »Sie hält sich fit. Und sie liest gern – sie verbrachte immer viel Zeit in Buchhandlungen. Sie geht gern ins Kino, allerdings nicht allein – wir haben uns fast immer Filme geliehen. Ich kann mich nicht erinnern, was es damals sonst noch gab – außer mir, ihrer Arbeit, dem Fitnessstudio und ab und zu einer Shoppingtour.« Da haben wir es wieder, dachte Sean. Ich habe ihr keine Aufmerksamkeit geschenkt, wenn es nicht um mich ging. Fast wunderte er sich, wie sie ihn so lange ertragen hatte, schob den Gedanken aber rasch beiseite.

»Einkaufen gehen muss man immer«, meinte Luke und deutete mit dem Kopf auf die Einkaufsliste, die auf dem Küchentresen lag. »Shelby ruft meistens auf dem Rückweg vom Unterricht an und fragt, was wir brauchen, und besorgt die Sachen dann. Aber du könntest ja mal in einem Supermarkt in der Nähe ihres Hauses einkaufen gehen.«

»Ja genau! Das mache ich!« Und fahre all die Orte ab, wo ich ihr noch begegnen könnte, dachte Sean. Nur für den Fall der Fälle.

Autor