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Eine feine Linie

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Maryam ist 13 Jahre alt. Die Teenagerjahre durchlebt sie in Wut, Wut auf die Langeweile im Pariser Vorort Drancy, wo sich ihre aus dem Iran stammenden Eltern mit ihr niedergelassen haben. Wut auf die Angriffe gegen ihren widerspenstigen Körper, den sie gern eintauschen würde. In inneren Auseinandersetzungen spielt sie Möglichkeiten durch, auszureißen. Sich einer der großen Schulen anzuschließen, die eine Zukunft ermöglichen, und somit den »Königsweg« der Bildung einzuschlagen, wie ihr Onkel Massoud es ihr rät. Das Pariser Edelgymnasium Lycée Fénelon ist die Eintrittskarte zu einer Ecole Normale Supérieure. Wird das Gras dort wirklich grüner sein?

Maryam steht als Figur stellvertretend für eine Grenzgängerin. Für ihr Bemühen, sich zu verändern und sich dabei gleichzeitig die Treue zu halten, hat die Autorin eine bezaubernde Sprache gefunden, die Witz und Ironie nicht entbehrt, aber dabei keine Krise auf die leichte Schulter nimmt.


  • Erscheinungstag: 22.10.2024
  • Seitenanzahl: 224
  • ISBN/Artikelnummer: 9783312013425
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Dies ist ein Werk der Fiktion. Jede Ähnlichkeit mit realen Situationen, lebenden oder toten Personen ist daher weder zufällig noch unbeabsichtigt.

Das Charakteristische an dem lächerlichen Alter, in dem ich mich befand – ein keineswegs undankbares, ein sehr fruchtbares Alter –, ist eben, dass man den Verstand nicht befragt und dass einem die beiläufigsten Eigenheiten der Menschen unverbrüchlich zu ihrem Wesen zu gehören scheinen. Ganz von Ungeheuern und Göttern umringt, kennt man fast keine Ruhe.
Man führt in diesen Jahren beinahe keine Geste aus, die man nicht nachher gern zurücknehmen möchte. Man sollte aber stattdessen gerade bedauern, dass man die Spontaneität nicht mehr besitzt, die sie uns ausführen ließ. Später sieht man die Dinge auf eine praktischere Art in vollkommener Übereinstimmung mit der übrigen Gesellschaft, die Jugend aber ist die einzige Zeit, in der man etwas lernt.

Marcel Proust, Im Schatten junger Mädchenblüte

Wir werden heute nicht weiterkommen, sagt der Kapitän.

Zu viele Hindernisse, um den Horizont zu erreichen.

Dominique A, L’Horizon

Für Samir Malou
Nirgends auf dieser Welt zu sehen
Überall auf diesen Seiten anwesend.

Hier passiert nichts.

Fünfzehn Jahre habe ich hier gelebt, und nie ist irgendetwas passiert.

Ich bin zurückgekommen, um hier zu leben. Und immer noch passiert nichts.

Du bist eine Stadt, die von Geistern bevölkert ist.

Eine Stadt, die sich für ihre Existenz entschuldigt.

Wenn ihr nachts auf die Brücke geht und den Zügen hinterherschaut, dann hört ihr die Geister schreien.

I
Die Widersacherin

Weil ich es mir wert bin

Als Jugendliche war ich ausgesprochen hässlich. Ein schauderhafter Anblick. Meine dicken, krausen Locken bildeten eine kompakte Kugel um meinen Kopf, die so dicht war, dass kein Wind wie in der Shampoowerbung hineinfahren und sie anheben konnte.

Wenn eine dieser Fernsehreklamen lief, betrachtete ich gebannt und voller Neid das wehende, seidig durch Finger gleitende Haar.

Meines war zäh, unerschütterlich und unbezwingbar wie ein Römerhelm. Um mir ein Haar auszureißen, musste man schon sehr fest ziehen.

Meine Klassenkameraden nannten mich »Washing Machine«. Und fügten hinzu: »Für die Frisur steckt sie morgens ihren Kopf in die Waschmaschine.«

Ich dankte ihnen für die Erläuterung; wenigstens war es das einzige englische Wort, das sie nie vergessen würden.

Der Spitzname war eines Frühlingsmorgens einem Schüler entfahren, als ich vor den Augen der ganzen Klasse mit meinem neuen Haarschnitt ankam.

An Nouruz, dem persischen Neujahr, ist es Brauch, dass man zum Friseur geht, sich neue Kleider kauft, zu Hause Großputz macht. Also war ich in der Avenue Henri-Barbusse – unseren Champs-Élysées – in einen Coiffeursalon gegangen.

Die Friseurin, die mir die Haare schnitt, eine Frau um die dreißig mit geglätteter platinblonder Mähne und einem von Lipgloss glänzenden Mund, hatte einen von tausend enttäuschten Träumen und Hoffnungen abgestumpften Blick. Strähne für Strähne, Schnitt für Schnitt kristallisierte sich im Spiegel langsam und unerbittlich das scheußliche Trumm einer amerikanischen Hausfrau der Fünfzigerjahre heraus, mit viel Lack und einem dichten Pony, der wie ein Mützenschirm über meinen Augenbrauen lag.

Ich sagte nichts, biss mir nur auf die Lippen, um nicht vor Wut oder Verzweiflung loszuheulen. Beim Zahlen an der Kasse lächelte ich schwach wie ein Verurteilter kurz vor der Hinrichtung, und auf dem Heimweg schwor ich mir, dass ich mit diesem Wust auf dem Kopf nicht in die Schule gehen würde. Lieber wollte ich sterben, als die sarkastischen Kommentare meiner Mitschüler hören zu müssen. Ich würde einfach so lange abwarten, bis meine Haare wieder nachgewachsen waren, ehe ich auch nur einen Fuß auf das Gelände meines Collège setzte. Mein Schuljahr war damit wahrscheinlich gelaufen und ich würde die Klasse wiederholen müssen – aber das war nichts, rein gar nichts im Vergleich zu dem, was mich erwartete, wenn die anderen mich so sahen.

Als ich zu Hause in mein Zimmer hochstieg, begleitete mich das Gekicher meines Bruders, der fand, ich sähe aus wie Bernadette Chirac, nur in Dunkel. Im Blick meines Vaters erkannte ich Mitgefühl, in dem meiner Mutter Bestürzung. Sie fanden nicht mal den Mut, mich anzusprechen. Mein Leben war im Eimer.

Am nächsten Morgen stand ich auf, machte mich für die Schule fertig und tat, als wäre alles ganz normal. Ich verließ das Haus und ging bis zum Ende unserer Straße, nur bog ich dann statt nach links nach rechts ab und wanderte eine halbe Stunde lang ziellos durchs Viertel. Ich kam bis zum Umsteigebahnhof der Autobusse und der Metrolinie 5, wo ich mich auf eine Bank setzte und dem Kommen und Gehen der Busse zusah. Ich sah den 148er und den 146er, den 234er und den 134er vorbeifahren, saß einfach nur da und wartete. Ich hatte ein bisschen Geld dabei und kaufte mir ein Thunfisch-Salat-Sandwich bei dem Imbiss, der hinter der Haltestelle des 148ers lag und von Chinesen geführt wurde.

Ich aß es, während ich einen Bus nach dem anderen passieren sah. Beobachtete den Straßenhändler mit seinen karamellisierten Erdnüssen, der gerade angekommen war und sorgfältig ein Dutzend Erdnusstüten auf einem Pappkarton platzierte. Ich hatte noch ein paar Münzen übrig und kaufte ihm eine Tüte ab.

Es gefiel mir, das leise Klingeln der Straßenbahnen zu hören, die an der Haltestelle Pablo-Picasso ankamen oder abfuhren. Ich fühlte mich wohl auf dieser Bank. Hier hatte ich meinen Frieden, und keiner machte sich über meinen Haarschnitt lustig.

Ah, nun war der Maisverkäufer aufgetaucht und bezog seinen Platz. Er hatte einen Einkaufswagen bei sich, in dem sich Zeitungspapier, Kohle, Pappe, rohe Maiskolben, ein kleines Metallfass und ein Grillrost befanden. Nachdem er in dem Fass ein Feuer entzündet hatte, befestigte er beidseits des Wagens den Rost und legte die Maiskolben darauf. Er schnitt ein Stück aus der Pappe aus, um es als Fächer zum Anfachen der Glut zu benutzen. Dann rief oder vielmehr sang er in regelmäßigen Abständen, wobei er das zweite Wort in die Länge zog: »Heißer Maiiiiis, heißer Maiiiiiis.«

Es war 15 Uhr. Zu dieser Zeit kam ich normalerweise aus der Schule. Ich konnte also nach Hause gehen.

Und so würde es nun weitergehen – bis meine Haare nachgewachsen und die 50er-Jahre-Hausfrau endgültig verschwunden war.

Drei Tage später rief die Schule bei meinen Eltern an, und ich musste alles gestehen.

Ich führte einen Krieg mit meinen Haaren. In Die Arbeiter des Meeres von Victor Hugo kämpfte Gilliat gegen den Wind, die Wellen und den Tintenfisch – ich kämpfte gegen das Gewusel, Gebausche und Gekräusel. Ich war eine Gilliat des Kopfhaars.

Ich bewaffnete mich mit dem Föhn und zog fest mit der Bürste, um jede einzelne Strähne glatt zu kriegen, doch die Krussellocken hielten der Hitze stand, wollten sich nicht fügen, entwanden sich den Krallen der Bürste, und am Ende war ich meist völlig verschwitzt und erledigt. Ich betrachtete mich im Spiegel: Unter der scheinbar geglätteten, geplätteten und gezähmten Haarpracht erahnte man den Friséesalat, der sich kringelig lachte.

An den Tagen nach meinem Föhnstyling fürchtete ich nichts so sehr wie Feuchtigkeit; es genügte ein kleiner Nieselregen, und alles war dahin. Darum trug ich, wenn ich unterwegs war, immer eine Kopfbedeckung, einen Hut, eine Baskenmütze, irgendetwas zum Schutz vor drohendem Gekräusel.

Nachts befestigte ich Haarspangen, -nadeln, -klammern, -gummis an strategischen Stellen meines Kopfs, damit die widerspenstigsten Locken morgens gebändigt waren. Es war ein Ritual vor dem Schlafengehen, das ich heimlich absolvierte, um nicht zum allgemeinen Gespött zu werden. Es erforderte Konzentration und Aufmerksamkeit: Wo stecke ich diese Spange hin? Und wohin diese Nadel? Wie stelle ich es am besten an, dass die vorderen Fransen morgen früh platt sind? Manchmal wachte ich mitten in der Nacht auf, weil sich eine der Klammern schmerzhaft in meinen Schädel gebohrt hatte.

Am Morgen stürzte ich als Allererstes ins Bad, um mich zu begutachten: Stück für Stück entfernte ich die ganze Gerätschaft von meinem Kopf, voller Ungeduld, die Belohnung für so viel nächtliches Leid zu ernten, und wenn ich die letzte Klammer abgenommen hatte, erblickte ich im Badezimmerspiegel eine Playmobilfigur.

Es war eine Qual, der ich mich freiwillig unterzog. Warum? Weil ich 13 war und aussehen wollte wie Brenda in Beverly Hills. Weil ich diese Kanakenwolle verabscheute, die meine ferne Herkunft verriet.

Alle Rauheiten, Unebenheiten, jede Art von Rumpeligkeit der Ausländerin, für die dieses Haar der Inbegriff war, wollte ich abschleifen, glätten, polieren.

Als ich 14 wurde, schenkte mir ein Freund meiner Eltern zum Geburtstag eine Haarglättung bei einem renommierten Pariser Coiffeur.

Bei dem Glättungsverfahren werden die Haare mit äußerst ätzenden Produkten eingerieben, um jene verflixten chemischen Verbindungen aufzubrechen, die für die krause Struktur verantwortlich sind, und diese für gut drei Monate lahmzulegen.

Ich war sehr glücklich über dieses Geschenk. Vorbei mit dem endlosen, aufreibenden Föhngezerre, vorbei mit den nächtlichen Haarnadeln und Spängchen! Endlich würde ich das seidige Haar aus der Werbung bekommen. Man würde mich für eine Spanierin oder Italienerin halten statt für eine Araberin – für mich ein klarer Gewinn.

Die Friseurin bestrich meine Haare mit dem Produkt und ließ es eine halbe Stunde einwirken. Es roch sehr streng, der Geruch brannte mir ein bisschen in Augen und Nase. Die Friseurin erklärte mir, darin seien Ammoniak, Schwefel und noch lauter andere Substanzen mit kompliziertem Namen enthalten. Dann spülte sie es aus. Föhnte und glättete mein Haar, das unter ihrer dicken Bürste wie ein feiner Schleier auf meine Schultern sank. Als ich den Salon verließ, suchte ich in jedweder glatten Oberfläche nach meinem Spiegelbild. Ich kam mir wahnsinnig europäisch, wenn nicht sogar kalifornisch vor. Endlich näherte ich mich meinem Vorbild Brenda an.

Dessen ungeachtet juckte es mich ein wenig auf dem Kopf. Offenbar reizten diese chemischen Produkte immer noch etwas die Haut, aber ich achtete nicht groß darauf. Ich schritt stolz dahin, fuhr mit meinen Fingern durch die weiche, wogende Seide, drehte meinen Kopf nach links und nach rechts, um mein Haar wie in der Werbung schwingen zu lassen: Ja, ich war es mir wert.

Es juckte immer stärker, allmählich tat es auch weh. Einige Stunden später hatte ich das unerträgliche Gefühl, dass meine Kopfhaut in Flammen stand. Alles brannte, ich hatte schreckliche Kopfschmerzen, mein Schädel schien mehrere Tonnen zu wiegen, und ich konnte ihn kaum noch aufrecht halten.

Ich ging in die Notaufnahme. Meine Kopfhaut hatte Verbrennungen zweiten Grades, und in den darauffolgenden Tagen fielen mir die Haare büschelweise aus.

Der Kanon der persischen Schönheit

Es gab etwas, das meine Herkunft noch deutlicher verriet. Etwas, das ich bisher nur an Iranerinnen bemerkt hatte: Ich besaß nicht zwei, sondern eine Augenbraue. Eine lange Braue, die sich quer über die Stirn zog und über den Augen ein mächtiges Bollwerk bildete. Meine Monobraue.

Die Monobraue gehört zum Schönheitskanon der persischen Frau. Man findet sie bei den weiblichen Figuren in der Miniaturmalerei oder auch auf anderen Bildern. Die langhaarigen Schönen mit ihren Mondgesichtern tragen mitten im Antlitz jenen feinen schwarzen Strich, der geschwungen ist wie die Flügel eines Vogels im Flug. Noch bis Anfang des 20. Jahrhunderts war die Monobraue bei den Iranerinnen in Mode.

Frida Kahlo hatte ihr ganz neuen Ruhm verschafft, aber ich war nicht Frida Kahlo.

Ich war ein junges Mädchen mit dem heftigen Wunsch, dem westlichen Schönheitsideal zu entsprechen, ein Opfer amerikanischer TV-Serien. Und die Monobraue machte alle Bemühungen, mein Wunschbild zu verkörpern, gnadenlos zunichte.

Zusätzlich zu »Washing Machine« hatte ich noch den Beinamen »Barre de Shit« erhalten, eine Anspielung darauf, dass meine dicke Augenbraue einem auf die Stirn geklebten Haschriegel ähnelte. Jedes Mal, wenn ich in den Schulbus stieg, hörte ich: »He, da kommt Barre de Shit!«

Die Monobraue war jedoch noch nichts gegen ein anderes typisches Kennzeichen der Iranerinnen: der Damenbart.

Bei mir war der Damenbart, jener unschöne dunkle Flaum zwischen Nase und Mund, im Alter von acht Jahren aufgetaucht. Als wir von Paris wegzogen und ich neu in die vierte Klasse der Roger-Salengro-Grundschule kam, war ich fast zehn Jahre alt und der Flaum dunkler und dichter geworden, ja im Begriff, sich zu einem Jünglingsschnurrbart zu mausern.

In einem Alter, in dem ich mich eigentlich zur Frau entwickeln sollte, sah ich immer deutlicher dieses Symbol von Männlichkeit in meinem Gesicht zutage treten.

Auf dem Hof der Grundschule nannten die Kinder mich »Schnurrbartfrau« oder auch einfach nur »Schnurrbart«. Letzteres war noch schlimmer, hatte man mich doch meines Geschlechts beraubt – ich war nurmehr ein Schnurrbart.

Manchmal weinte ich deswegen. Einmal, in der fünften Grundschulklasse, murmelte ein Schüler, der in der Reihe hinter mir saß, ununterbrochen: »Schnurrbart, Schnurrbart, Schnurrbart, Schnurrbart.«

Ich heulte absichtlich laut, damit man mich hörte. Die Lehrerin fragte mich, weshalb ich weinte, und ich sagte ihr die Wahrheit. Der macht sich über mich lustig, er sagt, ich hätte einen Schnurrbart, obwohl das gar nicht stimmt, ich habe keinen Schnurrbart. Und der gemeine Kerl murmelte hinter mir einfach weiter: Klar stimmt das, du hast ’nen Schnurrbart, lüg doch nicht, natürlich hast du einen Schnurrbart. Und die ultimative Demütigung kam mit der Antwort der Lehrerin, einer Antwort, mit der ich bei dieser Garantin für Ordnung und Gerechtigkeit niemals gerechnet hatte: »Gut, machen wir weiter mit unserer Konjugation, die Erde wird sich nicht aufhören zu drehen, nur weil du drei Härchen über der Lippe hast.«

Die ganze Klasse lachte. Ich versank vor Scham im Boden.

Ich wünschte mir, man würde mir den ganzen Kopf abschrauben und einen anderen aufsetzen.

Einen hübschen Französinnenkopf mit zwei klar getrennten Augenbrauen, die meiner Nase den Platz ließen, anmutig in die Stirn überzugehen. Zwischen Nase und Stirn liegend, war meine Monobraue eine Grenze, die trennte, abschloss und ausschloss. Sie machte meinen Blick düster, wie eine dräuende Gewitterwolke, die sich vor den Himmel schiebt.

Ich träumte von einem schönen Mund mit makelloser Oberlippe. Ein einziger kleiner Schönheitsfleck auf der glatten, härchenlosen Haut zwischen Nase und Lippe wäre perfekt, so wie bei Cindy Crawford, dem Supermodel, von dem ich in meinem Zimmer mehrere Poster hängen hatte.

Auf einen Mund wie meinem Lippenstift aufzutragen, war völlig undenkbar. Wie würde das aussehen? Wie ein Mann, der sich als Frau ausgibt? Wie eine Frau, die sich als Mann ausgibt? Beides zugleich? Wie eine missratene orientalische Androgyne? Dieser Damenbart konterkarierte meine entstehende, noch scheue Weiblichkeit, war ein Hemmschuh für meine sexuelle Entfaltung. Er musste weg. Ich war inzwischen fast 14 und wollte eine Frau sein.

An wen sich in Frauendingen wenden? Natürlich an meine Mutter.

Sie hörte mich aufmerksam an, ohne etwas zu sagen. Dann drückte sie ihre Zigarette aus und ging hinüber ins Schlafzimmer. Sie kam mit einem weißen Faden und Talkpuder zurück.

Sie erklärte mir, das sei eine sehr effiziente iranische Methode der Haarentfernung. Dazu musste man einen festen weißen Faden von guter Qualität nehmen, ihn zwischen beide Daumen und Zeigefinger spannen, mit der einen Hand den Faden auf das Härchen drücken und mit der anderen daran ziehen.

So hatte man ihr im Iran den Oberlippenflaum, die Brauen und sonstige Härchen an Kinn und Stirn epiliert.

Damit reihte ich mich in eine lange Tradition ein, folgte einer uralten Kulturtechnik, bei der Millionen iranischer Frauen die immer gleichen Bewegungen in ihrem Gesicht ausführten. Es erfüllte mich mit Stolz, und ich konnte es kaum erwarten.

Es tat irre weh. Der Faden hatte soeben das erste Härchen samt Wurzel ausgerissen, und bei jedem neuen Einklemmen schrie ich auf. Ich ruckte ständig mit dem Kopf, was meine Mutter wahnsinnig machte, weil sie dann mit dem Faden abrutschte. Sie fuhr mich an: Hör auf mit dem Gehibbel, du musst den Schmerz aushalten, wenn du diese Härchen loswerden willst, beim ersten Mal tut es immer am meisten weh, du wirst dich dran gewöhnen. Aber ich konnte nicht anders, es war ein Reflex, ich wich jedes Mal mit dem Kopf zurück. Irgendwann schnauzte sie mich richtig an und schlug mir auf den Kopf. Ich protestierte laut, verlor das Gleichgewicht und fiel von meinem Hocker, das Gesicht voller Talk. Mit den Fäden zwischen ihren Fingern seufzte meine Mutter über mir: Entweder du hältst still und wir ziehen das hier durch, oder ich lass es sein, und du bittest mich nie wieder darum, dir auch nur das kleinste Härchen auszureißen.

Die Prozedur dauerte endlose zwei Stunden. Anschließend reichte sie mir einen Spiegel. Unter dem weißen Talk leuchtete meine strapazierte Haut rosarot und war aufgedunsen. Ich sah aus wie ein Schweinchen. Bestenfalls wie eine in Mehl gewendete Rote Bete, schlimmstenfalls wie ein Schwein.

Das ganze Gesicht war geschwollen und tat weh. Meine Mutter meinte ungerührt, über Nacht würde es besser werden, bis zum Morgen habe sich die Haut beruhigt.

Am nächsten Morgen erblickte ich im Spiegel ein Monster.

Die Monobraue und der Damenbart waren verschwunden. Bei der Gelegenheit hatte meine Mutter auch gleich mein Kinn, die unteren Wangen und den oberen Haarrand der Stirn epiliert.

Ich war jetzt völlig unbehaart, das war nicht zu leugnen. Doch anstelle der Härchen sprossen auf meiner Haut lauter schreckliche rote und weiße Pickel. Ich war vollkommen entstellt. Vor Schreck begann ich nicht einmal zu weinen oder zu schreien.

Ich ging zu meiner Mutter und stellte mich vor sie hin. Sie schien kein bisschen überrascht. Mach dir keine Sorgen, das ist eine normale Reaktion deiner Haut. In ein paar Tagen hat sich das gebessert. Fass diese Pickel vor allem nicht an und geh mit einem Eiswürfel drüber, die verschwinden dann schon.

Es war zu Beginn des Sommers und sehr heiß draußen. Hitze und Schweiß bewirkten, dass sich die Pickel entzündeten und zu doppelt so großen Hubbeln und eitrigen Pusteln heranwuchsen. Ich drückte, knetete, sezierte und rupfte an ihnen herum. Und auch diese Aktion endete schließlich beim Arzt.

Mein Gesicht war entstellt, doch meine beiden größten Feinde hatte ich besiegt: die Monobraue und den Damenbart. Es war ein Pyrrhussieg, aber immerhin ein Sieg.

Das Tier

Härchen gab es bei mir viele, ja, viel zu viele, am ganzen Körper. Im Nacken, auf dem Rücken, an den Armen, am Bauch, an den Beinen, sogar auf den Fingern, den Zehen, in der Nase, in den Ohren. Ich rede nicht von jenem feinen Flaum, der diskreten und zivilisierten Version menschlicher Körperbehaarung, sondern von langen, schwarzen, gemeinen, hässlichen Härchen. Ich war kein Mensch, ich war ein Affe, eine Vogelspinne, ein Mischwesen mit zu großem tierischen Anteil.

Meine Haarigkeit, das war das Tier in mir. Das Tier, das jenes elegante, zarte Wesen verriet, das ich so gerne sein wollte.

Man sagte mir, Iranerinnen seien nun mal so, all meine Cousinen seien so, die Frauen des Südens seien eben stärker behaart. Mich tröstete das kein bisschen. Ich wollte keine »Frau des Südens« sein. Ich war in Frankreich groß geworden und wollte aussehen wie die Französinnen. Diese Körperbehaarung torpedierte all meine Träume, mit denen ich zunehmend mein Zimmer austapezierte: Claudia Schiffer, Cindy Crawford, Kylie Minogue.

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