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Ein Sommer unter den Olivenbäumen

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Ist die Liebe das größte Abenteuer von allen?

Das Leben der Filmemacherin Lily ist alles andere als langweilig. Ihre Arbeit führt sie um die ganze Welt. Ständig ist sie auf der Suche nach neuen Abenteuern. Doch als sie auf einer ihrer Reisen überfallen wird, sieht sie sich gezwungen, die Dreharbeiten ihres neuen Films zu unterbrechen und sich in dem französischen Dorf am Meer zu erholen, in dem sie ihre Kindheit verbracht hat. Sie kann es kaum erwarten, den Ort wieder zu verlassen. Nicht zuletzt, weil ihr ehemaliger Schwarm Olivier, dem sie die letzten dreizehn Jahre aus dem Weg gegangen ist, nebenan wohnt. Und auch Oliviers Pläne werden durch Lilys Rückkehr gehörig auf den Kopf gestellt …


  • Erscheinungstag: 23.05.2023
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365003015

Leseprobe

Kapitel eins

Die Sonne war fast vollständig hinter dem bewaldeten Hügel zu ihrer Rechten versunken, aber das bläuliche schwindende Tageslicht war nicht der einzige Grund, warum Lily die Männer nicht kommen sah. Sie konzentrierte sich darauf, Yolanda zu filmen, während sie von der Kaffeefarm nach Hause gingen, und hielt mit ihrer kleinen Handkamera die Worte fest, die aus dem Mund der Frau sprudelten. In Yolandas dunklen Augen standen Tränen, während sie langsam erzählte und Maria, der jungen Dolmetscherin, Zeit gab, ihre Worte auf Englisch zu wiederholen. Lily tat ihr Bestes, um die Kamera ruhig zu halten, und hörte gebannt zu.

»Ich hatte nichts, als ich hierherkam«, übersetzte Maria. »Keine Erfahrung, keine richtige Ausbildung, keine Werkzeuge oder Geräte. Nichts außer meinen Kindern und den Kleidern, die ich am Leib trug …«

Lily stockte der Atem, und Aufregung stieg in ihr hoch. Sie kannte dieses Gefühl: Sie stand an der Schwelle zu einer Offenbarung. Der Wendepunkt, an dem ihre Arbeit zum Leben erwachte, an dem ein möglicherweise langweiliger Dokumentarfilm über eine Frauenkooperative, die in Kolumbien Kaffee produzierte, zu einer persönlichen Geschichte wurde, einem heroischen Bericht über die Überwindung von Widrigkeiten. Ihr Herz klopfte vor Erwartung, und sie hoffte, das Licht würde hell genug sein, damit ihre Kamera den gequälten Blick in Yolandas Augen festhalten konnte.

Doch dieselben Augen blickten nach vorne, einmal und dann noch einmal, und weiteten sich schließlich vor Angst.

Yolanda blieb wie angewurzelt stehen. Maria neben ihr keuchte. Lily hielt immer noch die Kamera hoch, runzelte die Stirn und blickte in die Richtung, in die die beiden anderen Frauen so erschrocken starrten.

Drei Männer standen mitten auf der Straße und versperrten ihnen den Weg. Sie sah die Silhouette eines Messers, den Lauf einer Schrotflinte und staubige, abgewetzte Stiefel, und obwohl sie nicht alle spanischen Wörter verstand, die der Mann, der der Anführer zu sein schien, wie eine Gewehrsalve ausspuckte, bekam sie das Wesentliche mit. Der Mann war der älteste der drei, seine Haut sah wie abgenutztes Leder aus, und etwas in seinen Augen ließ Lily erschaudern. Sie ließ die Kamera sinken.

»D-die wollen unser Geld«, flüsterte Maria.

Lily nickte, wandte aber den Blick nicht von den Männern ab. Die sahen Lily mit zusammengekniffenen Augen an, ihre Blicke flackerten, als sie ihre Narben registrierten, und verhärteten sich dann. Der Anführer grinste.

»Wir haben kein Geld«, sagte Maria langsam und deutlich auf Spanisch. »Wir kommen von der Arbeit. Alles, was wir dabeihaben, ist unser Werkzeug, siehst du?« Sie stupste Yolanda an, die ihre Tasche aufhielt.

Ihre Worte schienen ihn zu verärgern. Seine Lippen kräuselten sich, als er wieder anfing zu reden, diesmal sogar noch schneller. Lily bemühte sich, zu verstehen, was er sagte, und suchte gleichzeitig mit den Blicken ihre Umgebung nach irgendwelchen Leuten ab, die ihnen helfen konnten. Der Bus, der sie abgesetzt hatte, war längst weg, und sie waren noch etwa eine halbe Meile vom Dorf entfernt; auf dieser einsamen Straße war niemand zu sehen. Hier in Kolumbien waren Raubüberfälle am Straßenrand ein häufiges Vorkommnis. Und sie verliefen häufig brutal.

Sie spannte sich an, schreckliche Erinnerungen wurden wach. Es war nicht das erste Mal, dass sie um ihr Leben fürchtete. Sie schob die Erinnerungen beiseite und sah die Frauen neben sich an. Maria war kaum achtzehn Jahre alt, und Yolanda hatte vier wunderbare Kinder, die zu Hause auf sie warteten und von ihr abhängig waren. Lily hingegen hatte niemanden.

Nein, das stimmte nicht. Mamies Gesicht tauchte vor ihren Augen auf, und Lilys Herz klopfte, als sie an ihre Großmutter dachte. Aber sie konnte sich nicht einfach heraushalten und nichts tun. Wenn Yolanda etwas zustieß, würde Lily sich das nie verzeihen. Also holte sie tief Luft, trat ein paar Schritte vor und stellte sich vor die Frauen. Sie achtete darauf, den Rücken gerade zu halten, als sie dem Blick des wütenden Mannes begegnete und in seiner Sprache zu ihm sagte:

»Diese Frauen haben nichts. Hier, nehmt das.«

Sie hielt ihm ihre kleine Kamera hin, und er riss sie ihr sofort aus der Hand. Über ihrer Schulter trug sie die Tasche mit ihrer großen Kamera und dem Stativ. Sie betete, dass sie die nicht auch noch haben wollten. Andere Leute hüteten ihren Ehering, eine Lieblingsuhr oder ein Schmuckstück wie ihren Augapfel – Lilys wertvollster Besitz jedoch war ihre Kamera.

»Ich habe auch Bargeld«, sagte sie und öffnete ihre Tasche in der Hoffnung, dass sie dann zufrieden wären und verschwinden würden.

Der ältere Mann blickte zu ihr auf. Er war einen Kopf kleiner als sie, aber das verschaffte ihr keinen großen Vorteil, wenn man bedachte, dass er mit einer Schrotflinte bewaffnet war.

Er nahm das Geld und wies mit dem Kinn auf ihre Schulter. »Die Tasche«, befahl er.

Sie warf einen Blick auf den Gurt. »Das ist nur eine Kamera. Sie ist alt und nicht viel wert.« Sie würde vielleicht ein wenig Geld einbringen, aber für Lily war sie unbezahlbar. Natürlich war sie versichert, aber es waren Stunden über Stunden großartigen Filmmaterials darauf, entscheidende Szenen, die sie noch nicht auf ihren Laptop hochgeladen hatte und die für immer verloren wären.

»Gib sie mir«, sagte er.

In seinen Augen lag ein kaltes Glitzern, das ihr einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte, aber sie hielt seinem Blick stand. »Hier, nehmen Sie meine Uhr«, bot sie stattdessen an.

Er zog sie ihr aus der Hand. »Und die Tasche«, beharrte er.

Die Männer, die ihn flankierten, sahen teilnahmslos zu.

»Gib sie ihm«, flüsterte Yolanda von hinten.

Lily schloss die Finger fester um den Riemen der Tasche. Ihre Kamera bedeutete ihr sehr viel, aber sie war es nicht wert, dafür ihr Leben und das der Frauen zu gefährden. Nur ein Idiot würde so etwas tun. Und sie konnte nicht riskieren, dass Yolanda oder Maria verletzt wurden. Endlich entschloss sie sich, den Gurt von der Schulter zu nehmen, aber sie hatte einen Moment zu lange gezögert, und der Mann verlor die Geduld.

Er hob eine Hand und die beiden anderen traten vor. Ein Gewehrkolben traf Lily an der Schulter, der Schlag war hart und schnell. Überrascht taumelte sie nach hinten.

Sie fasste sich an die Schulter, doch da schlugen sie erneut zu, und sie landete mit dem Gesicht im Staub. Sie sah das Messer funkeln. Yolanda schrie auf. Arme verkeilten sich ineinander, Gesichter verschwammen, während Lily versuchte, ihren Kopf zu schützen. Sie spürte weitere Schläge und hörte die Schreie der Frauen. Der Schmerz ließ Lily nach Luft schnappen und ihre Augen schlossen sich wie von selbst, während sie sich mühte, ihn niederzuringen.

Dann hörte sie die stampfenden Schritte der Männer, die sich zu entfernen schienen. Mühsam öffnete sie die Augen.

Yolandas Gesicht erschien über ihr. »Lily! Lily, ist alles okay?«

»Ja«, brachte sie zähneknirschend hervor. Das war gelogen.

Ihre Schulter und ihr Arm glühten vor Schmerz. »Haben sie dir wehgetan? Wo ist Maria?«

Yolanda schüttelte den Kopf. »Sie haben mich nicht angefasst. Maria ist weg, um Hilfe zu holen.«

Lily sah sich um. »Meine Kamera?«

Yolanda zögerte, bevor sie antwortete. »Sie haben sie mitgenommen.« Sie hob etwas vom Boden auf. Lily erkannte den Riemen ihrer Tasche. Er war mit einem Messer durchgeschnitten worden.

»Sie haben auch deine Handtasche mitgenommen. Es tut mir leid.«

»Die Handtasche ist nicht wichtig«, sagte Lily. Im Gegensatz zu meiner Kamera, dachte sie niedergeschlagen. Aber wenigstens war sie noch am Leben, und die Frauen waren – soweit sie es beurteilen konnte – unversehrt.

Yolanda beugte sich wieder über sie und sagte etwas. Es wurde immer anstrengender, ihre Worte zu verstehen oder auch nur zu denken. Lily verstand nur: »Doktor … Beweg dich nicht.« Yolandas Gesicht, ihre Worte – alles wurde pixelig und zerfiel in winzige Teilchen.

Sie ließ den Kopf nach hinten fallen. Der kohlefarbene Himmel und die schwachen Umrisse des Mondes flimmerten über ihr wie Spiegelbilder auf einer Wasseroberfläche, dann wurden sie von der Dunkelheit verschluckt.

Kapitel zwei

Leute drängten sich an Lily vorbei, als sie sich bückte, um ihren kleinen Koffer zu nehmen und die Straße zum Taxistand zu überqueren. Mit einem Arm, der eingegipst war und in einer Schlinge steckte, war es schwierig, mit zwei Koffern klarzukommen, und ihre Laptoptasche rutschte ihr ständig von der Schulter. Sie wollte sie gerade aufheben, als eine große Hand sie ihr wegschnappte.

»Hey!« Sie griff nach dem Gurt, der Überfall war ihr noch allzu frisch in Erinnerung.

»Lassen Sie mich Ihnen mit Ihrem Koffer helfen«, sagte eine tiefe Stimme.

Als sie aufsah, weiteten sich ihre Augen. »Olivier!«

Sie starrte ihn an und sah sowohl den Jungen, der er einmal gewesen war, als auch den Mann, zu dem er geworden war: ein großer und gut gebauter Kerl, dessen muskulöser Körper sein weißes T-Shirt und die schwarzen Jeans gut ausfüllte.

Erinnerungen blitzten in ihrem Kopf auf wie Filmausschnitte. Sie beide, wie sie als Kinder durch den Olivenhain jagten, auf den Ästen saßen und die Füße baumeln ließen, sich Mutproben ausdachten – und dann dieser verhängnisvolle Kuss in der Mittagssonne.

Selbst jetzt, dreizehn Jahre später, kroch ihr bei dem Gedanken noch die Hitze unter die Haut.

»Wen hattest du denn erwartet?« Er grinste und sah auf ihre Hand, die noch immer den Gurt festhielt.

Peinlich berührt ließ sie ihn los. »Ich dachte – ich weiß nicht …«

»Hallo, Bohnenstange«, sagte er und beugte sich vor, um sie auf beide Wangen zu küssen.

Er duftete gut, und Lily versuchte, Gleichgültigkeit vorzutäuschen, als er sich von ihr löste, aber ihre innere Hitze schaffte es, sich auf ihren Wangen bemerkbar zu machen.

Bis sein Blick den Bruchteil einer Sekunde zu lange auf der linken Seite ihres Gesichts verweilte. Schnell senkte sie den Kopf und ließ sich ihr langes braunes Haar nach vorne über die Wange fallen.

»Wir sollten uns beeilen«, sagte sie und nickte in Richtung der belebten Straße, die sie gerade hatte überqueren wollen. Autos und Taxis ratterten vorbei, hupten ungeduldig, manövrierten sich in Haltezonen hinein und wieder heraus. »Wir sind hier allen im Weg.«

»Mein Auto steht gleich dort«, sagte er und zeigte in Richtung Parkplatz. Er hatte sich ihre Laptoptasche über die Schulter geworfen und zog ihren Rollkoffer hinter sich her. Sie musste schnell gehen, um mit ihm Schritt zu halten.

»Ich habe nicht damit gerechnet, dass ich abgeholt werde«, sagte sie.

»Mamie hat mich hergeschickt.« Etwas regte sich in ihrer Brust, als er ihre Großmutter bei demselben Namen nannte, den sie selbst benutzte. Er hatte das immer schon getan, behauptet, sie sei wie eine Großmutter für ihn, auch wenn sie nicht verwandt waren. »Sie hat sich Sorgen gemacht, dass du mit einem gebrochenen Arm dein Gepäck nicht tragen kannst, aber du hast ja nicht viel. Wo ist deine Kamera?«

Olivier blieb neben einem schwarzen Auto stehen und schloss es auf. Es war ein Geländewagen, wie sie feststellte; so solide und Sicherheit ausstrahlend wie sein Besitzer.

»Sie wurde bei dem – äh, Unfall beschädigt.«

»Du reist mit leichtem Gepäck«, stellte er fest und lud ihre Sachen in den Kofferraum seines Wagens.

Sie dachte an den riesigen Rucksack, den sie in Kolumbien hatte zurücklassen müssen, weil sie ihn mit nur einem Arm nicht heben konnte. »Ich habe einige Sachen zurückgelassen. Ich hole sie, wenn ich zurückfliege.«

»Wie geht’s deinem Arm?«

Sie stieg ins Auto. »Okay«, sagte sie und zog mit ihrer gesunden Hand am Sicherheitsgurt. Jedes Mal wurde er zurückgezogen, bevor sie ihn ins Gurtschloss stecken konnte.

»Lass mich«, sagte er und griff hinüber.

Sie presste sich in den Sitz, aber Olivier berührte ihre Hüfte mit einer Hand, als er sie anschnallte, und sie erstarrte, überrascht von der elektrischen Ladung, die durch sie hindurchzuschießen schien und dazu führte, dass sie das Gefühl hatte, ihre Haut würde Funken sprühen.

»Habe ich deinen Arm erwischt?«, fragte er, als er sah, wie erstarrt sie dasaß.

»Nein«, sagte sie schnell, »Ich … Alles gut.«

Sie wandte den Blick ab, beschämt über ihre Empfindungen. Es hatte sich also nichts geändert. Sie reagierte immer noch wie ein hormongesteuerter Teenager auf ihn, und er war immer noch völlig gleichgültig.

Er startete den Motor, legte den Gang ein und fuhr vom Parkplatz.

»Du scheinst den Flughafen gut zu kennen«, sagte sie und war erstaunt, wie souverän er das Auto durch das komplizierte Labyrinth aus Fahrspuren und Schildern steuerte. Der Kreisverkehr vor ihnen war mit Palmen bepflanzt, die in der Hitze flirrten, und sie war froh, dass sich die Klimaanlage des Wagens bereits eingeschaltet hatte.

»Hmm, das stimmt wohl. Ich fliege oft hier runter, um meine Eltern zu besuchen.«

Sie nickte und versuchte, sich ihn in Paris vorzustellen, als Bäckermeister mit einer eigenen Bäckereikette und einer Bäckerschule, aber das war nicht einfach. In ihrer Vorstellung würde er immer ein kleiner Junge sein, der ihr mit einem Glitzern in den Augen immer neue Mutproben vorschlug.

»Ich hoffe, du bist nicht zu müde von der Reise«, sagte er. »Ich muss dich warnen, Mamie hat ein Festmahl für dich vorbereitet. Alle werden heute Abend da sein.«

Sie fuhren auf die Autobahn, und Olivier beschleunigte den Wagen.

»Wirklich?« Sie legte die Stirn in Falten. »Ich wollte nicht, dass sie sich irgendwelche Umstände macht …« Aber sie musste zugeben, dass ihr das Herz aufging bei dem Gedanken, seine Eltern und Brüder zu sehen. Als Mädchen hatte sie sehr gerne Zeit mit seiner Familie verbracht. Vielleicht lag es daran, dass ihre eigenen Eltern geschieden waren, sodass sie meistens mit ihrem Vater allein gewesen war … deshalb hatte sie den Lärm und das Chaos im Haus der Lacostes vielleicht immer so gern gemocht.

»Du weißt, wie sie ist. Außerdem freut sie sich, dass du ausnahmsweise so lange bleibst. Ist das ein neuer Rekord?«

»Ist was ein neuer Rekord?«

»Dass du länger als fünf Tage hierbleibst.« Bildete sie sich das nur ein, oder war da ein Hauch von Kritik in seiner Stimme?

»Ich versuche, so oft wie möglich hierherzukommen, aber zwischen den Dreharbeiten und dem Schnitt bleibt nicht viel Zeit für Urlaub.« Sie hätte in ihre Wohnung in London fahren können, um sich zu erholen, aber so ungern sie es auch zugab, sogar vor sich selbst – ihre Verletzung bedeutete, dass sie Hilfe brauchte.

»Nicht einmal, um deine Großmutter zu sehen?«

Lily warf ihm einen Blick zu. Verurteilte er sie etwa? Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie ihn gut genug gekannt hatte, um seine Worte deuten zu können, aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher. In den letzten Jahren waren sie sich kaum begegnet.

»Und wie oft kommst du nach Hause?«, konterte sie, obwohl sie die Antwort bereits wusste, weil Mamie ihr immer von seinen Besuchen erzählte. Sie und seine Mutter, Béatrice, standen sich nahe. Sie waren Nachbarn und sahen sich praktisch jeden Tag.

»Jeden Monat«, erwiderte er schulterzuckend. »Und natürlich an allen Feiertagen.«

»Und jetzt? Verbringst du den Sommer hier?«

Er nickte, und sie hatte plötzlich ein flaues Gefühl im Magen. Es würde unmöglich sein, ihm aus dem Weg zu gehen, wenn sie beide den ganzen Sommer über hier wären. Sie las die Schilder am Straßenrand und rechnete aus, dass sie noch über eine Stunde von dem Küstenort St. Pierre entfernt waren. Vielleicht lag es daran, dass sie im Flugzeug nicht viel geschlafen hatte, sie war angespannt, der Mann, der neben ihr saß, stellte irgendetwas mit ihr an. Warum hatte Mamie ihn geschickt und nicht seinen Vater, Raymond, oder einen seiner Brüder? Hauptsache jemand anderen als Olivier.

Verstohlen betrachtete sie seine langen Finger, die das Lenkrad zart aussehen ließen, und das Spiel seiner Muskeln in seinen Unterarmen, die gebräunte Haut, die mit drahtigen Haaren bedeckt war. Was zog sie so zu ihm hin? War es dieser Kuss? Sicherlich nicht.

Und doch war er ihr noch in frischer Erinnerung, der mitleidige Blick in Oliviers Augen, als er ihr einen Korb gegeben und ihr mit seinen sanften, ablehnenden Worten das Herz gebrochen hatte. Ihre Wangen hatten gebrannt, weil sie sich so gedemütigt gefühlt hatte.

Sie versuchte, es zu verdrängen und sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

»Tatsächlich«, sagte er, »wird es vielleicht auch eine längerfristige Sache, wenn alles nach Plan läuft. Ich möchte wieder zurück nach Hause ziehen.«

»Wirklich? Du würdest aus Paris weggehen? Das ist ein großer Schritt.«

Er nickte. »Ich bin im Moment auf Haussuche.«

»Hast du schon etwas gesehen, das dir gefallen könnte?«

»Nein. Ich habe mir ein paar Häuser angesehen, aber bisher war noch nicht das Richtige dabei.« Er zog die dunklen Brauen zusammen und runzelte die Stirn, und sie fragte sich, warum er auf einmal so besorgt wirkte.

»Ist es für dich beruflich nicht schwierig, wenn du dann so weit von deinem Unternehmen entfernt wohnst?«

Er zuckte wieder mit den Schultern. »Das dürfte nicht so schlimm sein. Die meiste Zeit über manage ich den Laden oder sitze in Meetings, anstatt in den Bäckereien zu arbeiten. Das kann ich genauso von hier aus, und wenn nötig, fahre ich dann nach Paris.«

Sie nahm an, dass er es sich leisten konnte, sich ein wenig aus dem Geschäft zurückzuziehen, wenn er wollte – immerhin stand er auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sich einfach zurücklehnte und gar nichts tat.

»Wie hast du dir denn eigentlich den Arm gebrochen?«, fragte er. »Mamie meinte, die Verbindung war sehr schlecht, als du angerufen hast. Sie hat nicht verstanden, was du gesagt hast.«

Bei der Erinnerung an den Überfall verspannte sich Lily. Sie hatte sich am Telefon gegenüber ihrer Großmutter absichtlich vage ausgedrückt. Wenn Mamie von dem Überfall wüsste, und dass Lily zurückkehren würde, um den Film abzuschließen, würde sie sich große Sorgen machen. »Es war ein dummer Unfall. Ich war zur falschen Zeit am falschen Ort …«

»Sag bloß, du bist von einem Baum gefallen?« Er zwinkerte ihr zu, und der Schalk in seinen Augen bewirkte, dass sich ihr der Magen zusammenzog.

»Das war immer deine Lieblingsbeschäftigung, nicht meine!« Warum erfüllte die Erinnerung an ihre Kindheitstage sie mit einer solchen Wärme?

»Also, was ist passiert?«

Sie wollte nicht lügen, aber sie musste Mamie vor der Wahrheit schützen. »Ich habe gerade gedreht und – äh – das Nächste, an das ich mich erinnern kann, war, dass ich plötzlich auf dem Boden lag.«

»Also bist du doch von einem Baum gefallen. Das sieht dir gar nicht ähnlich, Bohnenstange. Du musst total in der Arbeit versunken gewesen sein.«

»War ich auch.« Wären sie und Yolanda nicht so in ihr Gespräch vertieft gewesen, hätten sie die Männer vielleicht kommen sehen.

»Hast du den Film fertiggekriegt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich hatte gerade erst damit angefangen. Es ist so ärgerlich, dass ich die Dreharbeiten unterbrechen musste, aber mit dem Ding hier kann ich einfach nichts machen«, sie wies mit dem Kinn auf den Gips, »und ich habe bei einer fünfköpfigen Familie gewohnt, die nicht viel Platz hat. Ich wollte sie nicht die ganze Zeit behelligen, während das hier heilt. Es wird Wochen dauern, bis ich den Arm wieder benutzen kann.«

Sie dachte an Yolandas Haus, in dem sie gewohnt hatte: eine rustikale Hütte aus Holz und Wellblech, das Dach mit Ziegeln beschwert, vier Kinder in ein Bett gequetscht, damit Lily das andere haben konnte.

Obwohl es ihr widerstrebt hatte abzureisen, hatte sie keine andere Wahl gehabt. Mit ihrem rechten Arm, der in einer Schlinge steckte, konnte sie nicht einmal eine Kamera in die Hand nehmen, geschweige denn benutzen. Sie hatte die Hilfe der Krankenschwestern gebraucht, um sich anzuziehen und das Krankenhaus zu verlassen.

Aber so frustrierend es auch war, sie musste sich darauf konzentrieren, gesund zu werden. Danach würde sie zurückkehren, um den Dokumentarfilm zu beenden.

»Du denkst jetzt schon darüber nach, wann du wieder zurückkannst?«, fragte er lachend. »Sieh es doch mal von der positiven Seite. Es ist Juli – der Sommer ist ideal, um sich eine Auszeit zu nehmen und etwas Zeit mit der Familie zu verbringen.«

»Eigentlich ist das Timing furchtbar. Ich kann es kaum erwarten, zurückzufliegen. Der Film muss im Oktober fertig sein, es ist wirklich wichtig. Mein erster richtiger Auftrag – wenn ich meine Auftraggeber enttäusche, kann ich mich genauso gut gleich von meiner Karriere verabschieden.« Dann würde ein großer schwarzer Fleck auf ihrem Ruf prangen. Und dann war da natürlich noch der prestigeträchtige Filmpreis, für den sie sich bewerben wollte. Ihr Film würde die Kriterien perfekt erfüllen.

»Kannst du nicht mit den Leuten reden und um eine Verlängerung der Frist bitten?«

»Nein. Sie haben von Anfang an gesagt, dass die Frist unverrückbar ist, und ich habe eingewilligt. Das würde absolut unprofessionell aussehen, wenn ich nicht rechtzeitig abliefern würde.«

Er sah sie mit hochgezogener Augenbraue an. »Obwohl du dir den Arm gebrochen hast?«

»Ja.« Er verstand das nicht. Das war ihre erste echte Chance, und Gelegenheiten wie diese gab es nicht oft. Sie konnte es sich einfach nicht leisten, zu versagen, weil es ein nächstes Mal vielleicht nicht geben würde.

»Und worum geht es in deinem Film?«, fragte er.

»Um eine landwirtschaftliche Kooperative von Frauen«, sagte sie, und ihr Gesicht hellte sich sofort auf. »Sie bauen Kaffee an. Frauen, die ihr eigenes Unternehmen führen, gelten in dieser Macho-Kultur als ziemlich revolutionär. Sie inspirieren die Leute. Sie sind entschlossen, Erfolg zu haben und finanziell unabhängig und selbstständig zu sein. Sie haben faszinierende Geschichten zu erzählen.«

Umso bedauerlicher war es, ausgerechnet jetzt die Dreharbeiten unterbrechen zu müssen, da sie gerade begonnen hatte, das Vertrauen der Frauen zu gewinnen und sie dazu zu bringen, sich ihr zu öffnen.

»Aber ich habe nachgerechnet. Wenn mein Arm schnell heilt, sollte ich Anfang September zurück sein, dann habe ich gerade genug Zeit, um den Film zu beenden.« Es würde knapp werden. Sehr knapp. Aber sie würde rund um die Uhr arbeiten, notfalls auch in der Nacht das Material schneiden, um den Film fertigzustellen.

»Da hört man viel Leidenschaft raus«, sagte er und warf ihr einen taxierenden Blick zu. Warum klang er so missbilligend?

»Natürlich. Außerdem muss ich auf meinen Ruf achten, darf nicht als unzuverlässig gelten.«

»Dein Ruf«, sagte er tonlos.

»Warum der finstere Blick? Oder bist du schon so weit aufgestiegen, dass du vergessen hast, wie es ist, ganz unten auf der Leiter zu stehen und sich nach oben arbeiten zu müssen?«

»Das habe ich nicht vergessen. Aber ich habe gelernt, dass Ansehen und Status nicht das A und O sind.«

Sie blickte ihn an und fragte sich, warum er so verbittert klang.

»Das lässt sich leicht sagen, wenn man eine Berühmtheit ist und zehn Bäckereien besitzt.«

»Ich bin keine Berühmtheit«, murmelte er und blinkte rechts, um die Autobahn zu verlassen. »Ich bin niemand, der nach Aufmerksamkeit heischt.«

»Aber eine Berühmtheit bist du trotzdem.« Die Zeitungen und Klatschmagazine liebten ihn. Mit seinem guten Aussehen und seinem Erfolg in einem solch jungen Alter zog er unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich, ob er es wollte oder nicht.

Er verlangsamte das Tempo, als sie sich der Ausfahrt und den mit »Péage« gekennzeichneten Mautstellen näherten.

Olivier steckte seine Karte in den Automaten und wartete ungeduldig darauf, dass der sie wieder ausspuckte. Er war Mamies Bitte, Lily abzuholen, gerne nachgekommen, da er darin eine Chance sah, Zeit mit ihr zu verbringen – was sie seit Jahren nicht mehr getan hatten. Aber als er sie so über ihre Arbeit reden hörte, verspannte er sich.

Sie klang genau wie seine Ex, Nathalie. Ehrgeizig. Egozentrisch. Geldgierig.

Und doch hatte er Lily nicht so in Erinnerung. Als Kind war sie unglaublich neugierig gewesen, abenteuerlustig, immer besorgt um andere. Aber in den Jahren dazwischen hatte sich viel verändert. Er verzog seine Lippen zu einer schmalen Linie. Bedeutete ihre Großmutter ihr so wenig, dass sie keine Zeit für sie erübrigen konnte? War sie ihr nicht wichtig genug?

Er zog seine Kreditkarte aus dem Automaten und wollte sie in seiner Brieftasche verstauen, schaffte es aber nicht mit einer Hand.

»Ich mach das schon«, sagte Lily und streckte die Hand aus. Ihre umwerfenden Audrey-Hepburn-Augen trafen auf seine.

»Danke«, sagte er und sein Blick wanderte kurz zu ihrer vernarbten Wange, als er ihr die Brieftasche und die Karte überreichte. Er fuhr weiter und versuchte, sich auf die Straße zu konzentrieren, auf den Kreisverkehr, auf alles andere als auf Lily und ihr verletztes Gesicht.

Ihre Narben hatten ihn immer verstört. Jetzt waren sie zwar verblasst, aber als er sie damals im Krankenhaus besucht hatte, waren ihre Verletzungen sehr schlimm gewesen und hatten unglaublich schmerzhaft ausgesehen. Lily hatte sich allerdings nie beklagt. Wobei ihre verbrannte und mit Blasen übersäte Haut wohl nichts im Vergleich gewesen war zum Verlust ihres Vaters. Sie waren sich so nahe gewesen, Vater und Tochter.

Olivier krampfte sich die Brust vor Mitgefühl zusammen, wenn er an die Trauer dachte, die sie empfunden haben musste. Und er fragte sich, wie er es schon so oft getan hatte, ob das Feuer der Grund dafür war, dass sie nicht mehr so oft hierherkam? Sicherlich hatte sie das verändert, aber warum versteckte sie sich vor denjenigen, die ihr am nächsten standen? Das ergab keinen Sinn.

Tatsache war jedoch, dass sie die anderen mied, seine Familie nur zu gelegentlichen Mahlzeiten traf und jedes Mal, wenn er nach Hause an die Küste kam, einen Grund fand, plötzlich zu verschwinden. Wenn man ehrlich war, kam sie meistens dann zu Besuch, wenn er nicht da war.

Wie oft hatte er schon enttäuscht feststellen müssen, dass sie eine Woche vor seiner Ankunft abgereist war? Das konnte kein Zufall sein: Sie war so schwer zu fassen wie ein Vogel. Das letzte Mal, dass sie richtig miteinander gesprochen hatten, war vor dem Brand gewesen, als er siebzehn gewesen war und sie versucht hatte, ihn zu küssen – und er sie so unbeholfen zurückgewiesen hatte.

Er umklammerte das Lenkrad fester. Er hatte die Situation nicht gut gehändelt und sich danach lange Zeit schuldig gefühlt. Aber das war jetzt Jahre her, und Lily war ein zäher Brocken. Wahrscheinlich hatte sie das alles schon vergessen.

»Du hast immer noch einen englischen Akzent, weißt du«, sagte er. Obwohl sie in London aufgewachsen war, war ihr Französisch fast perfekt, aber als sie beide Kinder gewesen waren, hatte er sie gnadenlos für jeden Vokal gehänselt, den sie auch nur ein bisschen falsch ausgesprochen hatte.

»Ach ja? Und wie ist dein Englisch so?«, erwiderte sie lächelnd.

»Ich bin nur ein Bäcker. Ich brauche kein Englisch.«

Lässig streckte sie ihre langen Beine aus. Obwohl sie als Kind dünn gewesen war, passte der Spitzname »Bohnenstange« nicht mehr so recht. Sie war von einem unbeholfenen, schlaksigen Teenager zu einer großen, schlanken Frau mit einer athletischen Figur herangewachsen, um die andere Frauen sie beneiden mussten.

»Das ist auch gut so. Es würde dich ohnehin keiner verstehen, feiges Huhn.«

Er musste lächeln, als er seinen alten Spitznamen hörte. Er hatte seit Jahren nicht mehr daran gedacht. »Dieser Name war nie gerechtfertigt. Ich habe mich nie vor einer Mutprobe gedrückt. Vor keiner einzigen.«

»Aber du wolltest es immer.« Sie warf sich das Haar über die Schulter zurück. Es war glatt und glänzte wie Karamell.

»Ja, das wollte ich, ich geb’s zu. Es ist völlig normal, dass man sich nicht von einer Klippe stürzen oder von einem Baum fallen und den Arm brechen will. Ich habe keine Todessehnsucht.«

»Du wolltest immer genauso gern gewinnen wie ich. Wir waren beide gleich verrückt, Lacoste.«

Womit sie vollkommen recht hatte. Er nickte nachdenklich.

»Hast du deine Mutter in letzter Zeit gesehen?«, fragte er, als sie von der Hauptstraße abbogen und sich dem Fischerdorf St. Pierre näherten.

Er spürte sofort, wie sie mauerte. »Nein.«

Er schaute sie von der Seite an und sah, dass sie sich abgewandt hatte und die Platanen am Straßenrand betrachtete, wobei ihr Gesicht keinerlei Emotionen verriet.

»Ist sie auf Tournee?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Ihr redet nicht miteinander?«

»Sie schickt ab und zu E-Mails. Ich antworte nicht.«

Er nahm es ihr nicht übel, aber er verstand nicht, wie sie mit einer solchen Ruhe darüber sprechen konnte. Es hatte ihn wütend gemacht, als Darcy Green, die berühmte englische Pianistin, ihre Welttournee nicht unterbrochen hatte, als Lilys Vater gestorben war und Lily im Krankenhaus gelegen hatte. Die meisten Mütter wären sofort hingeflogen, um bei ihrem Kind zu sein. Sie nicht. Es war Mamie gewesen, die nach London geflogen war und während der vielen Monate, die Lily gebraucht hatte, um sich zu erholen, neben ihrem Bett gewacht hatte. Darcy war erst aufgetaucht, als ihre Tochter aus dem Krankenhaus entlassen werden konnte. Es hatte Mamie das Herz gebrochen, dass Lily mit ihr gegangen war, aber sie hatten alle gehofft, dass die Frau, die im Leben ihrer Tochter so abwesend gewesen war, sich nun ändern und sich der Aufgabe stellen würde, sich um ihr Kind zu kümmern.

Sie wurden enttäuscht. Innerhalb eines Jahres war Lily im Internat gelandet und Darcy wieder auf Tour.

»Du hast den Kontakt zu ihr abgebrochen?«, fragte er und warf ihr einen prüfenden Blick zu.

Sie saß aufrecht in ihrem Sitz, blickte nun mit zusammengekniffenen Augen starr nach vorn. »Ich will nichts mit ihr zu tun haben.«

»Sie ist deine Mutter«, sagte er leise.

Lily stieß ein freudloses Lachen aus. »Nur auf dem Papier. Sie hat nicht viel getan, um diesem Namen gerecht zu werden.«

»Ich hätte nicht damit anfangen sollen. Es tut mir leid.«

»Das muss es nicht.« Sie drehte sich zu ihm und hielt seinen Blick fest, ihre Augen leuchteten salbeigrün. »Mir tut es auch nicht leid.«

Er wurde langsamer, als sie sich Mamies Haus näherten, und bog vor dem steilen Hügel hinunter zum Dorf links von der Straße ab. Vor dem grünen Metalltor löste er seinen Sicherheitsgurt.

»Du kannst mich hier rauslassen«, sagte Lily, als er seine Tür öffnen wollte.

»Ich helfe dir mit deinen Taschen.«

Das rostige Tor quietschte, als sie es aufstieß, und sie duckten sich unter dem Wasserfall aus magentafarbenen Bougainvillea-Blüten hindurch. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie sich dem alten Bauernhaus näherten. Es war ganz anders als das Haus seiner Eltern nebenan. Während ihres modern war und im Laufe der Jahre immer wieder erweitert oder renoviert worden war, war Mamies Haus genau so, wie es schon immer gewesen war: aus unebenen, sandfarbenen und stellenweise rosafarbenen Steinen gebaut, mit gewellten Terrakotta-Dachziegeln und einem quadratischen Türmchen. Olivier blickte zu den Weinstöcken hinauf, die von der Pergola hingen und bereits schwer mit Früchten beladen waren. Die Küchentür stand offen, und er trat ein. Der Ofen war an, also musste Mamie irgendwo in der Nähe sein.

»Soll ich die für dich hochtragen?«, fragte er und hielt Lilys kleine Koffer hoch.

Sie verdrehte die Augen. »Ich schaffe das schon«, sagte sie, und ihr aufblitzendes Lächeln versetzte ihn in die Zeit zurück, als sie acht Jahre alt gewesen waren und sie sich über seine Mutproben lustig gemacht und sie sich gegenseitig herausgefordert hatten.

»Ich habe mir nur den Arm gebrochen. Ich bin nicht völlig hilflos.«

»Das habe ich nie behauptet«, sagte er lächelnd. »Dann sehen wir uns heute Abend.«

»Ja. Bis später.« Sie schaute sich um, und ihr Gesicht hellte sich sichtlich auf, als sie den rustikalen Holztisch und die alte Kommode an der Wand betrachtete.

Er zögerte einen Moment, bevor er sagte: »Es ist gut, dass du wieder da bist, Bohnenstange.«

Und er meinte es ernst. So egoistisch es auch klingen mochte, er war froh, dass sie sich den Arm gebrochen hatte, denn Mamie brauchte sie hier. Hier gehörte sie hin, es war ihr Zuhause, und er hatte gesehen, wie ihre Augen geleuchtet hatten, als sie vor Mamies rostigem Tor vorgefahren waren. Lilys Anwesenheit hier war wie Septemberregen nach einem langen, trockenen Sommer. Sie würde dem Ort neues Leben einhauchen. Er vermisste ihre Kabbeleien, ihre Sticheleien, er vermisste sogar ihre Streitereien. Er mochte ein verantwortungsvoller Erwachsener mit Verpflichtungen sein, aber Lily erinnerte ihn an das Kind, das er einmal gewesen war. Sie würde immer einen besonderen Platz in seinem Leben haben.

Sie sah überrascht aus, und ihre Wangen wurden rot.

Er ging davon, und als er durch die Tür trat, hörte er, wie sie ihm nachrief: »Danke fürs Mitnehmen, feiges Huhn!« Er schüttelte den Kopf und grinste, während er sich auf den Weg zurück zu seinem Auto machte.

Lily hielt inne, als sie die vertrauten Gerüche des alten Bauernhauses wahrnahm: die Süße von gekochtem Knoblauch, der schwache Hauch von Mamies Parfüm und der holzige Geruch, der einfach zu diesem Haus gehörte. Alles war genau so, wie sie es in Erinnerung hatte, vom jahrhundertealten Kamin über die bunt zusammengewürfelten Stühle um den Tisch bis hin zu den grob gearbeiteten blauen und grünen Moustier-Tellern auf der Kommode.

Ihr Puls beschleunigte sich, als ihre Großmutter in der Tür erschien. Sie wirkte noch kleiner als bei Lilys leztem Besuch, aber sie trug ihren üblichen pfauenfarbenen Kaftan, und ihr Anblick ließ Lilys Herz höherschlagen.

»Lily«, sagte Mamie und streckte die Arme nach ihr aus. Lily flitzte durch den Raum und umarmte sie so fest, wie das mit einem Arm in der Schlinge möglich war. Sie atmete den vertrauten Duft ihrer Großmutter ein, der sie in ihre Kindheit zurückversetzte. Kuscheln, Küsse, Liebe. Sie hatte ihre Großmutter immer vergöttert und wusste, dass sie im Gegenzug bedingungslos geliebt wurde. »Hat Olivier dich gleich gefunden? Wie geht es dir, meine Kleine? Lass mich dich ansehen. Wie geht’s deinem Arm?«

»Es geht ihm gut«, sagte Lily und blickte zu Boden.

»Ich war so besorgt, als du mich aus dem Krankenhaus angerufen hast!«

»Es ist nur ein Knochenbruch.« Lily tat ihr Bestes, um den Schreck zu verbergen, der ihr in die Glieder gefahren war, als sie ihre Großmutter umarmte. Warum sah sie nur so müde und gebrechlich aus? Sie war doch immer ein Kraft- und Energiebündel gewesen.

»Nun, ich werde mich um dich kümmern, bis es dir besser geht«, sagte Mamie genüsslich, worauf Lily einen Anflug von Schuldgefühlen verspürte. Eigentlich sollte sie doch diejenige sein, die sich um ihre Großmutter kümmerte, und nicht andersherum.

»Olivier meinte, dass du heute Abend alle zum Essen eingeladen hast.«

»Ja, ein Willkommensessen. Ich dachte, du würdest sie gern alle wiedersehen.«

»Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr verausgabt.«

Mamie tat die Frage mit einer Handbewegung ab. »Kochen ist ein Vergnügen für mich, keine lästige Pflicht«, erklärte sie, aber sie wirkte erschöpft. Sie nickte in Richtung des Ofens. »Ich habe dein Lieblingsessen gemacht: Daube de Boeuf.«

In Lilys Kopf blitzte eine Erinnerung auf, wie sie als kleines Mädchen an diesem Küchentisch saß und den Rindereintopf mit Kartoffelpüree aus einer orangefarbenen Plastikschüssel aß.

»Danke, Mamie.« Sie drückte sie noch einmal. »Ich habe dich so sehr vermisst, weißt du.«

»Und ich habe dich auch vermisst, aber jetzt bist du hier. Das ist das Wichtigste.« Sie schaute auf Lilys winzige Koffer. »Komm, bringen wir dich auf dein Zimmer.«

Ein paar Stunden später war Lily geduscht und hatte sich Shorts, ein braunes Leinentop und Sandalen angezogen, ein Outfit, das an diesem warmen Abend leicht und angenehmen zu tragen war. Sie war froh, dass sie hier einen Kleiderschrank voller Kleidung hatte, denn aus Kolumbien hatte sie nur ein paar Klamotten mitgebracht, und die langen Hosen, die sie gern bei Dreharbeiten trug, waren zu warm für diese trockene Hitze.

Oliviers Familie traf unter viel Trubel und mit Küsschen und Weinflaschen ein. Danach nahmen sie alle an dem runden Tisch unter der Pergola Platz.

»Lily, komm her und setz dich zu mir«, sagte Mamie.

Der Duft nach gekochtem Essen vermischte sich mit dem Duft von Lavendel und Rosmarin, die in Töpfen am Rande der Terrasse wuchsen. Lily nahm Platz und versuchte, ihr Unbehagen darüber zu verbergen, dass sie schon wieder neben Olivier sitzen musste.

»Bedient euch«, sagte Mamie und deutete auf die Speisen auf dem Tisch.

Béatrice, Oliviers Mutter, hob den Deckel des Terrakottatopfes an und begann, den Rindereintopf mit der reichhaltigen Soße in einen Teller zu schöpfen. Sie reichte die Teller zuerst an ihren Sohn Mathieu, der sie dann weiterreichte, und alle bedienten sich von dem frischen Brot.

»Es ist sehr dunkel hier draußen«, sagte Claude, der jüngste der drei Brüder, und zündete die bereits stark heruntergebrannten Kerzen an, die in Windgläsern auf dem Tisch standen.

Lilys Augen weiteten sich. Sie rutschte auf ihrem Stuhl zurück und erstarrte. Die Flammen sprangen und tanzten wild vor ihr, und sie hatte das Gefühl, dass sie im Bruchteil einer Sekunde das Tischtuch oder die hölzerne Pergola erreichen würden. Schnell blies sie die Kerzen aus.

»Was zum …?«, sagte Claude.

»Ich mach das Licht an«, sagte Mamie und warf Lily einen Blick zu, während sie aufstand.

»Entschuldigung«, sagte Lily zu Claude. Ihr Herz klopfte immer noch schnell, wie ein Vogel, der sich aus ihrem Brustkorb befreien wollte. »Ich kann einfach nicht«, fügte sie mit belegter Stimme hinzu, »ich kann nicht …«

»Ist schon gut, Lily«, meldete Béa sich zu Wort. Sie schimpfte mit ihrem Sohn. »Claude, was hast du dir dabei gedacht?«

Bei Claude fiel der Groschen. »Ich hab’s vergessen. Tut mir leid, Lil.«

Ihre Wangen glühten, weil sie so einen Wirbel verursacht hatte. Obwohl der Brand schon dreizehn Jahre her war, war ihre Angst vor offenen Flammen nicht weniger geworden. Kerzen, ein offenes Feuer, all das machte sie nervös.

Das elektrische Licht ging an und tauchte den Tisch in einen goldenen Schein, der sich in den Weingläsern spiegelte.

»Wie läuft’s mit der Bäckerei?«, fragte Lily Oliviers Vater.

»Viel zu tun«, antwortete Raymond grimmig. »Jetzt kommen die Touristen, und die müssen alle durchgefüttert werden.«

»Was er sagen will, der alte Brummkopf«, meinte Béa lächelnd und schüttelte den Kopf, »ist, dass das Geschäft sehr gut läuft.«

Er zuckte mit den Schultern. »Aber wir finden kein Personal. Keiner will mehr Bäcker werden. Alle stopfen fröhlich den Fabrikmüll in sich hinein, den die da als Brot verkaufen!«

»Du warst zwar eine Weile weg, Bohnenstange«, sagte Olivier und wandte sich Lily mit einem Augenzwinkern zu, »aber du merkst, dass sich nichts geändert hat. Mein Vater ist noch immer derselbe Miesepeter. Grüne Bohnen?«, fragte er sie und hielt ihr die Schüssel hin, damit sie sich selbst bedienen konnte.

»Ich bin kein Miesepeter«, korrigierte Raymond, »ich bin abgestumpft. Das hat das Leben aus mir gemacht.«

»Du solltest etwas dankbarer sein, Raymond«, sagte Mamie, die sich wieder gesetzt hatte. »Du hast ein florierendes Geschäft und eine wunderbare Familie. Du und ich haben großes Glück.« Strahlend wandte sie sich Lily zu und tätschelte ihr die Hand.

Lily spürte einen Kloß im Hals. Mamie schätzte sich glücklich, dabei war Lily das einzige Familienmitglied, das ihr geblieben war, und sie kam nur selten zu Besuch. Es fiel ihr so schwer, hierherzukommen. Sie liebte Mamie, sie schätzte die Zeit, die sie mit ihr verbringen durfte, aber dieser Ort … Hier war sie von so vielen Erinnerungen umgeben, an all die Dinge, die sie verloren hatte. Ihre Kindheit. Ihr Gesicht. Ihren Vater. Sie warf einen Blick auf Olivier neben ihr.

Und ihn. Vergiss ihn nicht.

Raymond brach ein Stück Brot ab und musterte es, bevor er es sich in den Mund steckte und kaute. »Und wie hast du dir den Arm gebrochen?«, fragte er Lily.

»Sie ist beim Filmen von einem Baum gefallen«, antwortete Olivier für sie. Seine Lippen kräuselten sich zu einem spöttischen Lächeln.

Lilys Wangen erhitzten sich. Doch sie wusste, dass sie das Richtige getan hatte, indem sie die Wahrheit verschwiegen hatte – Mamie sah so zerbrechlich aus.

»Filmst du oft von den Baumwipfeln aus?«, fragte Raymond todernst.

»Ja, tatsächlich ist das oft der Fall«, antwortete Lily lachend, erleichtert darüber, dass zumindest das der Wahrheit entsprach. »Wenn ich so den besten Blickwinkel habe, mache ich das. Ich habe schon von Hügeln, Dächern und Leitern aus gefilmt – wo auch immer es am günstigsten ist.«

»Du hast dich nicht verändert«, sagte Mamie. »Seit du laufen kannst, bist du immer geklettert.«

Béa sah Lily und Olivier an und schüttelte den Kopf. »Wie oft musste ich euch beide ins Krankenhaus fahren, weil ihr euch bei einem eurer dummen Streiche verletzt hattet. Ihr habt immer nur Unsinn getrieben.«

»Das waren keine Streiche, das waren Mutproben«, korrigierte Olivier.

Lilys Mundwinkel zuckten, als sie ihn in so ernstem Ton reden hörte. Herausfordernd begegnete er ihrem Blick. Die alte Rivalität zwischen ihnen flammte wieder auf. Sie erinnerte sich an früher, als das Normalität gewesen war. Seine kleinen Brüder waren mitgekommen und hatten mitgespielt, aber der eigentliche Wettbewerb – der, der wirklich zählte – hatte immer zwischen ihr und Olivier stattgefunden.

»Weißt du noch, als wir gewettet haben, wer die meisten rohen Chilis essen kann?«, fragte Mathieu. Er sah Olivier an. »Du hast sechs geschafft und ich war echt beeindruckt!«

Claude lachte. »Und du bist knallrot im Gesicht geworden, hast dich aber geweigert, Wasser zu trinken.«

Olivier lächelte. »Wasser war nicht erlaubt – das war die Regel. Und ich musste Lilys Rekord brechen. Sie hatte fünf gegessen.«

»Du hast gar nichts gemusst«, sagte Béa. »Das waren blöde Spiele. Ich weiß nicht, warum ihr immer so miteinander konkurrieren musstet.«

»Am besten«, sagte Claude zu Olivier, »war, als du die Unterhosen des Pfarrers von der Wäscheleine gestohlen hast. Weißt du noch?«

Sein Bruder Mathieu lachte. »Ja, das war kaum zu übertreffen.«

Mamie bekreuzigte sich und murmelte ein kurzes Gebet.

»Nein«, sagte Olivier und sah Lily an, »das Beste war, als du den Brunnen verstopft und rote Lebensmittelfarbe ins Wasser geschüttet hast, damit es wie Blut aussieht. Weißt du noch, wie wir uns hinter einem Baum versteckt und den Schreien zugehört haben?«

Die Bewunderung in seiner Stimme ließ Lily erröten. »Das war das Lustigste«, sagte sie zustimmend und neigte den Kopf, um ihr Lächeln zu verbergen. Sie hatte vergessen, wie viel Spaß sie zusammen gehabt hatten. Wärme durchströmte sie. Seither war sie nie mehr so eng mit jemandem befreundet gewesen.

Raymond schaute finster drein. »Das war nichts, worauf man stolz sein kann, Lily Martin! Das hat mir einen Besuch von den Gendarmen eingebrockt.« Dennoch zuckten seine Mundwinkel.

»Von der Polizei?« Mamie schnappte nach Luft und sah wirklich schockiert aus. »Das hast du mir nie erzählt, Raymond.«

»Olivier hat die Schuld dafür auf sich genommen«, sagte Raymond. »Er hat alles gestanden.«

»Um Lily zu schützen?« Mamie strahlte Olivier an.

»Sieh ihn nicht so an, Simone. Er hat sie überhaupt erst dazu angestiftet. Da war es nur recht und billig, dass er die Schuld auf sich genommen hat. Außerdem haben sie ihn mit einer Verwarnung davonkommen lassen. Meiner Meinung nach hätte er viel Schlimmeres verdient gehabt.« Raymond nickte bekräftigend.

»Wie sehr ich mir früher um euch Sorgen gemacht habe. Ich dachte immer, ihr würdet eines Tages richtig in Schwierigkeiten geraten«, tadelte Mamie ihre Enkeltochter scherzhaft.

Olivier und Lily tauschten einen kurzen Blick und ein Lächeln.

»Was für ein schlechtes Vorbild ihr beide abgebt«, meinte Mathieu grinsend.

»Zum Glück ist was ganz Anständiges aus ihnen geworden«, sagte seine Mutter.

Verlegen griff Lily nach ihrem Wasserglas.

Claude fuhr fort: »Wenn man bedenkt, dass Oli bald verheiratet sein und eigene Kinder haben wird, hmm? Ich frage mich, ob sie so frech sein werden wie du, großer Bruder.«

Lily erstarrte, das Glas an den Lippen. Sie blinzelte und starrte Olivier an. Er stichelte spielerisch zurück, aber sie hörte gar nicht, was er sagte.

»Du wirst heiraten?«, fragte sie.

Ihr perplexer Ton sorgte schnell für Schweigen am Tisch.

Olivier drehte sich zu ihr, ein Hauch von Röte zeichnete sich auf seinen Wangenknochen ab. »Ja«, sagte er. »Wusstest du das nicht?«

»Nein.«

Sie hatte keine Ahnung gehabt. Sie sah zuerst Mamie an, dann Béa. Warum hatte ihr niemand etwas gesagt? Warum hatte er es nicht schon auf der Fahrt vom Flughafen erwähnt?

»Na ja, wegen deines Unfalls und allem anderen hatte deine Großmutter vielleicht keine Gelegenheit, es dir zu erzählen«, meinte Béa diplomatisch. »Oli hat es erst vor ein paar Wochen verkündet. Die Hochzeit wird Anfang nächsten Jahres stattfinden.« Ihre Augen leuchteten vor Aufregung.

Anfang nächsten Jahres, bis dahin war es nur noch ein halbes Jahr. Lily versuchte, es zu begreifen: Olivier wollte heiraten. Und wen? Irgendwie brachte sie es nicht über sich, ihn zu fragen. Es kostete sie all ihre Energie, ihn anzusehen und sich ein Lächeln auf die Lippen zu zwingen. »Glückwunsch«, sagte sie. »Das ist … wundervoll.«

Das Gespräch ging weiter. Lily ließ ihr langes Haar nach vorne fallen, während sie so tat, als würde sie sich auf ihr Essen konzentrieren. Sie ärgerte sich über sich selbst, dass sie von der Nachricht so aufgewühlt war. Es hätte sie nicht schockieren dürfen. Natürlich würde Olivier heiraten. Er war ein guter Mann, intelligent, erfolgreich und gut aussehend obendrein – es war ohnehin ein Wunder, dass er so lange nicht vergeben gewesen war. Sie nahm einen Schluck von ihrem Wein und versuchte, das beklommene Gefühl in ihrer Brust zu verstehen.

Wahrscheinlich war sie einfach nur müde. Sie hatte im Flugzeug nicht viel geschlafen, weil die Wirkung der Schmerztabletten nachgelassen hatte, und außerdem war sie wegen ihres Films frustriert und machte sich Sorgen um die Einhaltung der Deadline. Ich bin einfach erschöpft, dachte sie, während um sie herum alle miteinander fröhlich plauderten. Überhaupt nicht aufgewühlt.

Kapitel drei

Mamie klopfte an ihre Zimmertür. »Lily? Ich habe ein Glas Wasser für dich.«

»Ich bin nur …« Lilys Stimme klang gedämpft, da sie gerade im Begriff war, sich aus ihrem Oberteil herauszuwinden. Als sie sich bettfertig gemacht hatte, hatte sie es geschafft, sich ihr Oberteil irgendwie um den Kopf zu wickeln. Jetzt kam sie nicht mehr heraus, ohne dass sie dazu ihren verletzten Arm benutzen musste. »Ich stecke ein wenig fest!«

Sie hörte, wie sich Schritte näherten. »Warte, ich helfe dir«, sagte Mamie und befreite sie aus dem Leinenstoff, sodass sie sich wieder wie ein Kind fühlte.

»Danke«, sagte Lily und atmete tief die kühle Nachtluft ein, die durch das offene Fenster hereinwehte. Ihr Zimmer war in Creme und Hellblau gehalten, Farben, die sie als Kind vor allem deshalb gewählt hatte, weil sie Rosa hasste. Jetzt empfand sie die dezenten Töne als erholsam und beruhigend.

»Weißt du, du solltest um Hilfe bitten, wenn du welche brauchst«, sagte Mamie. »Unabhängig zu sein ist eine Sache, aber wir alle brauchen von Zeit zu Zeit Hilfe.«

»Ich weiß.« Mamie nahm das Nachthemd von Lilys Bett und half ihr, es anzuziehen. »Du warst heute Abend sehr still. Bist du vielleicht ein wenig durcheinander?«

»Nein, natürlich nicht. Warum sollte ich das sein?«

Mamie musterte sie forschend. »Weil Olivier verlobt ist?«

»Ach das. Ich war nur – nur überrascht.« Sie versuchte, Gleichgültigkeit vorzutäuschen. Was Olivier tat, wen er heiratete, war für sie nicht von Bedeutung. Und doch fühlte sie bei dem Gedanken an seine bevorstehende Hochzeit einen harten Knoten in ihrer Brust. Sie wandte sich an ihre Großmutter und fragte: »Warum hast du es mir nicht erzählt?«

Mamie seufzte. »Ich hatte wohl gehofft, er würde es sich noch mal anders überlegen.«

Lily runzelte die Stirn. »Warum? Magst du seine Verlobte nicht?«

Sie nahm das Glas Wasser, das Mamie neben ihr Bett gestellt hatte, und trank einen Schluck.

»Ich habe sie nur ein- oder zweimal getroffen. Er kennt sie noch nicht so lang, und …« Mamie hielt inne und gestand dann: »Also ich habe immer gehofft, dass ihr beide irgendwann zusammenkommt.«

»O…Olivier und ich?«, stotterte Lily und verschluckte sich ein wenig. Sie wischte sich Wasser vom Kinn und sah ihre Großmutter mit großen Augen an.

Mamie nickte. »Ihr habt euch so nahegestanden, als ihr jung wart. Unzertrennlich wart ihr.«

»Oh Mamie«, sagte Lily und stellte das Glas neben ihren mit Eselsohren versehenen Reisepass, der voller Aufkleber und Stempel aus der ganzen Welt war. »Das wird nie passieren. Doch nicht Olivier und ich!«

Noch während sie diese Worte aussprach, erhitzten sich ihre Wangen, und sie erinnerte sich an die Aufregung, die ihr plötzlich in alle Glieder gefahren war, als sie ihn am Flughafen gesehen hatte, wie ihr ganzer Körper während der Autofahrt hierher unter Strom gestanden hatte. Aber da hatte sie noch nicht gewusst, dass er verlobt war und heiraten wollte.

»Das weißt du doch nicht«, sagte Mamie. »Gib’s zu – ihr habt euch beide noch sehr gern.«

»Also ja … aber …«

»Na also, da hast du es.«

»Mamie, er ist verlobt!«

»Pff!« Ihre Großmutter winkte ab.

»Und – und wir sind nicht … So war es nie zwischen uns. Wir waren immer nur gute Freunde.« Das stimmte vielleicht nicht ganz. Sie hatte sich immer mehr erhofft, aber als sie versucht hatte, ihn zu küssen, und er sie weggestoßen hatte, hatte er diese Hoffnungen zerstört.

Mamie sagte nichts und hob stattdessen eine Braue.

Lily lachte. »Das ist die Wahrheit!«, beharrte sie. »Aus unserer Freundschaft wird nie mehr werden.«

»Wir werden sehen«, meinte Mamie. »Die Zeit wird es zeigen.«

Mamie küsste sie auf die Wange und ging Richtung Tür. Sie machte kleine und langsame Schritte, und vor Angst schnürte sich Lily der Hals zu. »Mamie?«

Ihre Großmutter blieb stehen und blickte sie über die Schulter hinweg mit durchdringenden grünen Augen an. »Ja?«

Sie schluckte, weil sie sich nicht traute, die Frage zu stellen. »Geht’s dir gut?«

»Ja. Warum?«

»Du siehst müde aus.«

»Pff!« Mamie wies die Bemerkung mit einem Schulterzucken von sich. »Ich werde langsamer, das ist alles. Das ist ganz normal in meinem Alter.«

Lilys Augen füllten sich plötzlich mit Tränen, und sie blinzelte heftig. »Ich fühle mich schlecht, weil ich nicht mehr mithelfen kann.« Zum hundertsten Mal verfluchte sie den Gips.

»Ich habe jede Menge Hilfe von Béa und ihren Jungs.« Mamies Augen leuchteten auf, und ihr Lächeln ließ die Falten in ihrem Gesicht verschwinden. »Und du weißt, dass es nichts Schöneres gibt, als dich hier bei mir zu haben.«

Lily nickte, doch sie war nicht beruhigt. Mamie wollte gerade zur Tür hinausgehen, hielt dann aber noch einmal inne.

»Tatsächlich gibt es da schon etwas, bei dem ich dich um Hilfe bitten möchte.«

»Ach ja? Was ist es denn?« Sie strahlte bei dem Gedanken, etwas für ihre Großmutter tun zu können.

»Ach, das kann bis morgen warten. Lass uns morgen darüber reden. Du musst dich gut ausruhen nach der Arbeitsreise. Gute Nacht, Kleines.«

Als Lily aufwachte, hörte sie auf dem Türmchen über ihrem Zimmer Tauben gurren. Wunderschöne, melodische Laute, die sie stets mit diesem Ort verband. Für den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie richtig wach wurde, kam es ihr vor, als hätte man sie in ihre Kindheit zurückversetzt: Sie war acht Jahre alt, und ihr Vater schlief im Nebenzimmer.

Dann blinzelte sie, und die Realität holte sie mit einem Schlag wieder ein. Sie war nicht acht, sondern achtundzwanzig, hatte einen gebrochenen Arm und musste noch einige Wochen hier zubringen, bevor sie nach Kolumbien zurückkehren und ihren Film fertigstellen konnte. Sie war dankbar dafür, Zeit mit Mamie verbringen zu können, denn ihre Sorge darüber, wie müde und gebrechlich ihre Großmutter geworden war, konnte sie nicht abschütteln.

Lily stand auf und öffnete die Fensterläden einen Spalt, um Licht hereinzulassen. Ihr Zimmer lag auf der Rückseite des Hauses und bot einen Blick auf das Haus der Lacostes. Aus alter Gewohnheit blieb sie kurz stehen, um zu schauen, ob die Läden vor Oliviers Fenstern geöffnet waren. Sie standen offen. Eine dunkelhaarige Gestalt pflügte durch das Schwimmbecken und zog mit schnellen, sicheren Zügen ihre Bahnen. An einem Ende hielt die Person inne, um Luft zu holen, die Schultern hoben und senkten sich schnell, und Lily wusste sofort, dass es Olivier war. Während seine beiden Brüder braunes Haar hatten, war Oliviers Haar schwarz, und sie erkannte die Art, wie er sich ungeduldig das nasse Haar aus dem Gesicht strich und den Blick geradeaus richtete, bevor er sich wieder ins Wasser stürzte. Keiner seiner Brüder strahlte die gleiche Energie oder Entschlossenheit aus.

Sie duschte schnell, wobei sie vorsichtig mit ihrem Arm umging und den Luxus von warmem, fließendem Wasser genoss, nachdem sie sich bei Yolandas Familie mit Wasser aus Eimern gewaschen hatte. Dann zog sie sich, so gut es ging, ihre Lieblingsjeansshorts und ein T-Shirt an. Die Knöpfe konnte sie jedoch unmöglich mit nur einer Hand schließen, also zog sie nur den Reißverschluss ihrer Shorts zu und ließ den Knopf offen, versteckte ihn aber unter ihrem Oberteil.

Unten im Haus war es still, und der große Strohkorb ihrer Großmutter stand nicht an seinem üblichen Platz neben der Balkontür. Mamie musste ins Dorf gegangen sein, wie sie es jeden Morgen tat, um frische Lebensmittel einzukaufen, und Lily verfluchte sich dafür, so lange geschlafen zu haben. Sie hätte sie begleiten und ihr beim Tragen der Einkäufe helfen können, wenn auch nur mit einer Hand, und sie hätte auf Mamie aufgepasst, wenn sie in den Bus ein- und ausstieg.

Stirnrunzelnd öffnete sie die Hintertür und begann, das Frühstück vorzubereiten. Sie brauchte etwas Koffein, damit sich der Nebel in ihrem Kopf lichtete. Aber die Kaffeepackung war neu und noch nicht angebrochen. Es würde ihr nicht gelingen, sie nur mit einer Hand zu öffnen. Sie zerrte und zog und versuchte, sie mit den Zähnen festzuhalten und mit der freien Hand irgendwie aufzubekommen, aber die Packung blieb hartnäckig verschlossen, ohne auch nur ein wenig einzureißen. Lily knallte sie verstimmt auf die Arbeitsfläche.

Sie konnte nicht arbeiten, sie konnte sich nicht richtig anziehen, sie konnte sich nicht einmal eine Tasse Kaffee machen! Die Frustration über ihre verfluchte Verletzung kochte jetzt so richtig in ihr hoch. Sie war an Unabhängigkeit, Action und Abenteuer gewöhnt – nicht an diese erdrückende Hilflosigkeit. Ihr Blick fiel auf den Garten, die Stockrosen und den Morgentau, die im frühen Morgenlicht glitzerten und schimmerten. Wie sollte sie es nur aushalten, sechs Wochen lang an einem Ort festzusitzen, ohne etwas tun zu können?

Sie gab den Versuch mit dem Kaffee auf und flüchtete an die frische Luft. Wenigstens konnte ihr gebrochener Arm sie nicht vom Spazierengehen abhalten, und vielleicht würde ihr ein wenig Bewegung helfen, etwas von ihrem Frust abzubauen. Sie marschierte durch Mamies Garten, vorbei an dem zarten Mimosenbaum und den Oleandersträuchern mit ihren üppigen rosa und roten Blüten, durch das Tor und zu ihrem Lieblingsort: dem Olivenhain.

Sie hatte ihn schon lange nicht mehr besucht, und das Gespräch über die Streiche in ihrer Kindheit gestern Abend hatte sie neugierig gemacht, ob er sich verändert hatte. Natürlich hatte er sich nicht verändert. Die Zeit war hier seit Jahrhunderten stehen geblieben, und sie fragte sich, welche Geschichten die Bäume zum Besten geben würden, wenn sie all das, was sie erlebt hatten, erzählen könnten. Warmes Sonnenlicht streichelte ihre Schultern. Sie atmete die vertrauten Gerüche ein, darunter den schwachen Hauch von Meeresluft, den die sanfte Brise mit sich trug. Trockenes Gras knisterte unter ihren flachen Sandalen, als sie durch den Hain lief, in der Gewissheit, dass Olivier im Pool war.

Olivier, der bald heiraten wird, dachte sie und war überrascht, dass sie auch heute noch heftige Emotionen verspürte.

Gewöhn dich an den Gedanken, Lil. Sie musste sich auf ihr Leben und ihre eigenen Pläne konzentrieren. Sie begann, Listen in ihrem Kopf zu erstellen: Sie würde mit den Frauen in Kolumbien in Kontakt bleiben und ihnen mitteilen, wann sie zurückkehren würde; sie würde der Redakteurin des Fernsehsenders eine E-Mail schreiben, um sie über ihren Unfall zu informieren – aber auch, um ihr zu versichern, dass sie den Film trotzdem rechtzeitig abliefern würde.

Sie bog nach rechts ab, ging zwischen den ältesten und größten Bäumen mit ihren knorrigen und krummen Stämmen hindurch und merkte, dass sich ihr Tempo ein wenig verlangsamt hatte und ihre Gedanken nicht mehr so wild durcheinanderwirbelten. Da wusste sie, dass der Olivenhain seine besondere Magie wirkte. Es war so still und friedlich hier. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich als Kind gefühlt hatte: sorglos, glücklich, im Augenblick lebend. Sie reckte den Hals und suchte zwischen den Ästen und silbrigen Blättern nach der Seilschaukel, auf der sie immer gesessen waren.

»Wonach suchst du denn da?«

Ihre Haut begann zu kribbeln, als sie seine tiefe, raue Stimme hörte. Sie drehte sich um. Olivier stand da, die Hände in den Taschen, sein nasses Haar schimmerte wie ein dunkler Heiligenschein im Sonnenlicht. »Olivier!« Ihr Herz raste. »Ich dachte, du wärst im Pool.«

»Ah. Du spionierst mich also immer noch aus«, sagte er und hob vielsagend eine Augenbraue.

Ihr schoss das Blut in die Wagen, als sie merkte, dass sie zu viel verraten hatte. »Natürlich nicht! Ich habe es nur gesehen, als ich die Fensterläden geöffnet habe, das ist alles. Warum sollte ich dir nachspionieren? Wir sind doch keine Kinder mehr.«

Sie drehte sich um, um weiterzugehen, und er holte zu ihr auf. Er trug lange, sandfarbene Shorts, die im Vergleich zu seinen dunklen, bronzefarbenen Beinen blass wirkten.

»Tja, alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ablegen. Ich gebe zu, dass ich dich eben von meinem Fenster aus gesehen habe.«

Als sie seinen verschwörerischen Blick bemerkte, wand sie sich innerlich. Es war, als wären sie wieder beste Kumpel.

Was jedoch nicht mehr zutraf. Denn damals hatten sie sich immer alles erzählt.

Er wies mit dem Kinn auf die Äste über ihren Köpfen. »Du hast die Seilschaukel gesucht, stimmt’s? Die wurde schon vor Jahren entfernt.«

»Das ist schade.« Sie bückte sich, um einen Lavendelzweig abzubrechen, und hielt ihn sich an die Nase. Der süße, trockene Duft versetzte sie zurück in die Vergangenheit. Schnell ließ sie die Hand sinken und rieb den Lavendel zwischen Zeigefinger und Daumen. »Dieser Ort ist so besonders.«

»Papa hat so viele Angebote für dieses Grundstück bekommen, aber er will nicht verkaufen. Er ist da sehr abergläubisch. Er und Maman haben schon immer geglaubt, dass Olivenhaine heilige Orte sind, aber dieser hier, davon sind sie überzeugt, ist etwas ganz Besonderes.«

Das Sonnenlicht sickerte durch die Blätter, die Wärme prickelte auf ihren nackten Armen. Sie erinnerte sich daran, dass Raymond ihr erzählt hatte, dass einige dieser Bäume über tausend Jahre alt waren. »Das weiß ich nicht, aber ich habe viele gute Erinnerungen an diesen Ort.«

In ihrer Kindheit waren rundherum Felder gewesen, die jetzt durch Häuser ersetzt worden waren, aber der Olivenhain hatte sich nicht verändert. Er war immer ihr Lieblingstreffpunkt gewesen; auf halbem Weg zwischen den beiden Häusern, voller Verstecke und Bäume zum Klettern.

Sie warf ihm einen Seitenblick zu und fragte: »Weißt du noch, wie du, als du Hausarrest hattest, mithilfe eines Seils aus deinem Zimmerfenster geklettert bist?«

Er grinste, und sie schmolz innerlich dahin, als sie sah, wie seine Augen vor Lachen funkelten. »Ich erinnere mich. Es ist nicht gut ausgegangen, und ich gebe dir immer noch die Schuld dafür, weil du mich dazu angestiftet hast.«

»Ich? Du hättest das Seil an etwas Festes binden sollen – nicht an einen Stuhl!« Sie lachte und erinnerte sich an seinen entsetzten Blick, als der Stuhl hinter ihm im Fenster aufgetaucht war, gefolgt von dem Knacken des Holzes, bevor er und das Seil zu Boden gestürzt waren.

Wie leicht es war, die Jahre dazwischen einfach auszuradieren und sich vorzustellen, sie und Olivier wären wieder beste Freu...

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