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Dunkle Seite

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Zwei vermeintliche Verkehrsunfälle mit tödlichem Ausgang bringen Andrea Mangfall auf die Spur einer rechten Vereinigung, die beste Kontakte zu einer Münchner Sicherheitsfirma unterhält. Eigentlich interessiert sich Andrea nicht für Politik, doch in diesem Fall schreitet sie ein. Ihr Bruder Paul scheint plötzlich in die Sache verwickelt zu sein, sodass er einmal mehr mit dem Gesetz in Konflikt kommt. Doch am Ende ist nichts, wie es scheint.


  • Erscheinungstag: 27.12.2024
  • Aus der Serie: Mangfall Ermittelt
  • Bandnummer: 3
  • Seitenanzahl: 256
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365006375

Leseprobe

Andrea Mangfall ist Oberkommissarin bei der Münchner Mordkommission. Andrea ist Anfang 30. Sie ist nach kurzem verwirrten Studium zur Polizei gegangen und spielt sporadisch noch Bass in der Band ihres Bruders. Im ersten Band Filmriss, in dem Andrea insgesamt vier Mordfälle aufzuklären hatte, konnte sie ihre unkonventionellen Ermittlermethoden bereits unter Beweis stellen. Allerdings auch, dass Berufliches und Privates bei ihr häufig durcheinandergeraten. Das gilt ebenfalls für Band II (Absturz), in dem sie es unter anderem mit einem U-Bahn-Attentäter zu tun hatte, der Menschen scheinbar wahllos vor einfahrende Züge stürzte.

Paul Mangfall ist Mitte 20, mittelloser Musiker und wohnt bei seiner Schwester Andrea im Westend. »Nur vorübergehend« – seit fast einem Jahr. Paul sieht gut aus und weiß das auch. Seine aktuelle Liebe, die reizende Französin Madelaine, ist überstürzt nach Frankreich zurückgekehrt, nachdem sie Pauls öligen Musikmanager Chris in einer Auseinandersetzung krankenhausreif geprügelt hat. Gut, dass Andrea ein Auge auf Paul hat, denn er zieht Unheil an wie »Scheiße die Fliegen« (Zitat Andrea).

Josef Hirmer, Kriminalrat, ist Mitte 40 und Andreas Chef. Entspannter Typ, klassischer Beamter. Trotz beruflicher Coolness sorgen Andreas Alleingänge bei ihm immer wieder für Schweißausbrüche.

Karl Meier, Hauptkommissar, Mitte 30, ist ein ziemlicher Macho und gelegentlich unangenehm klugscheißerisch. Manchmal könnte Andrea ihn zum Mond schießen.

Christine Pulver, Hauptkommissarin, ist Ende 30 und stichelt aktuell nicht mehr gegen ihren Ex (Josef Hirmer), sondern hält aktiv die Augen nach anderen Männern offen. Ihre Hoffnung auf Liebesglück ist nach zahlreichen Enttäuschungen in den Kontakthöfen des Internets eher gering.

Harry Kramer, Oberkommissar, ist das »Schmuddelkind« der Abteilung. Anfang 30, immer ein wenig ungepflegt. Lieblingskleidungsstück: ein alter Bundeswehrparka mit großem Peace-Aufnäher. Harry ist eine Seele von Mensch. Liebäugelt mit linksalternativen Positionen und mag Kakteen. Selbige bevölkern flächendeckend die Fensterbretter des gemeinsamen Großraumbüros. Was Karl nicht so super findet.

Dr. Thomas Lechner ist Abteilungsleiter der Kriminaltechnischen Untersuchung und dem Morddezernat zugeordnet. Tom ist schwer verliebt in Andrea, die ihn allerdings oft am langen Arm verhungern lässt. Aber Tom ist geduldig. Momentan liegt er im Krankenhaus nach seinem »Unfall« in der U-Bahn und hat viel Zeit zum Nachdenken.

Dr. Aschenberger (»Asche«) ist der gut geölte Dezernatsleiter, der seine Leute stets zu Spitzenleistungen antreibt. Sein Job ist es, den Laden nach außen und oben zu vertreten. Das harmoniert nicht immer mit Andreas Sonderwegen.

Was bisher geschah

Andrea hat in der ersten Folge Filmriss vier Mordfälle mustergültig aufgeklärt, und das, obwohl ihr die Eskapaden ihres Bruders immer wieder einen Strich durch die Rechnung machten. Im zweiten Band Absturz hatte sie es mit einem U-Bahn-Attentäter zu tun und einem komplexen Fall mit Anknüpfungspunkten in ihrer eigenen Vergangenheit: Auf der Burg der Adelsfamilie ihres Ex-Freundes kam es zu einem Todesfall, bei dem sich schnell zeigte, dass der Hausherr nicht einfach so die Stufen des großen Treppenhauses im Burgturm hinuntergestürzt war. Und dann gab es da noch den hinterhältigen U-Bahn-Schubser, dem Andreas Freund Tom zum Opfer fiel.

Als Andrea in die Hände des psychopathischen Mörders fällt und in einem Abbruchhaus festsitzt, kommt der Killer durch einen Unfall mit Fahrerflucht ums Leben. Die Abbruchbagger sind bereits dabei, das Haus, in dem sie gefangen gehalten wird, dem Erdboden gleichzumachen. Paul und Tom finden sie in letzter Sekunde. Ende gut, alles gut. Oder?

James Bond

Paul liegt auf seinem Bett, starrt die Zimmerdecke an. Verkehrte Welt. Er ist doch eigentlich derjenige in der Familie, der immer in unangenehme und gefährliche Situationen reinrutscht, nicht Andrea. Ist das so? Wenn er sich das jetzt genau überlegt, dann stimmt das nicht. Andrea hat einen lebensgefährlichen Job. Weiß er doch. Verdrängt er aber in der Regel. Zum ersten Mal hat er heute echte Verlustängste gehabt. Wirklich große Angst. Diese Geschichte letztens mit der Lawine in den Bergen, als Andrea in der Hütte verschüttet war, das war eher wie bei James Bond. Da ist ihm gar nicht der Gedanke gekommen, dass ihr wirklich etwas passieren könnte, obwohl er die Gefahr doch am eigenen Leib gespürt hat. Er war sich sicher, dass Andrea unverwundbar ist. Unsinn, ist sie nicht. Die Hütte hätte unter der Schneelast einfach zusammenklappen können wie ein Kartenhaus. Und das wäre es gewesen. Kam ihm gar nicht in den Sinn. Aber als er sie vorhin in dem Abbruchhaus gesehen hat, bedeckt mit Staub und Dreck, mit der vollgepinkelten Hose – sie sah fürchterlich aus. Ein Häufchen Elend. Nein, anders – als hätte jemand einen ganzen Berg Elend auf seiner wunderbaren, schönen Schwester abgeladen. Sie ist doch die Starke, die ihn, ihren kleinen Bruder, immer wieder aus der Scheiße raushaut. Ach, Andrea!

Paul gähnt. Er ist erschöpft, hat zu viele Gefühle verbraucht, sich zu viele Sorgen gemacht. Er muss schlafen. Dringend. Und dann wird er am Nachmittag ins Krankenhaus fahren, um Andrea zu besuchen. Der Arzt hat gemeint, dass sie ein paar Tage zur Beobachtung dableiben soll. Nichts Schlimmes. Aber was weiß der denn? Es geht doch nicht nur um einen messbaren Gesundheitszustand. Wenn diese Erfahrung nicht schlimm war, was ist dann schlimm? So einfach steckt man das nicht weg. Auch Andrea nicht. Hoffentlich hat sie keinen Psychoknacks.

War’s das?

Karl ist frustriert. Die Analyse der Laptop-Festplatte des U-Bahn-Schubsers ergibt rein gar nichts. Viele Musikdateien – House- und Elektrotracks –, ein paar belanglose Mails, keine zwielichtigen Seiten mit Pornos oder Gewalt. Auch nichts, was auf weitere Verbrechen hindeutet, auf Mittäter, auf Motive. Er fährt den Laptop runter, startet Word auf seinem Computer, um einen kurzen Abschlussbericht zu schreiben. War’s das wirklich mit ihrem Serientäter? Ein Problem, das sich von selbst erledigt hat? Nein, nicht wirklich. Es hat sich ja gerade nicht selbst erledigt. Jemand anders hat das getan. Wer hat Vinzenz Krämer umgefahren? Und warum? Vielleicht kann Andrea noch was zu dem Typen erzählen, wenn sie aus dem Krankenhaus raus ist. Manchmal kommen diese Psychopathen ja plötzlich ins Reden, wenn sie glauben, am Ziel zu sein, die Lage zu beherrschen. Ja, vielleicht kann ihnen Andrea weiterhelfen, um diesen Typen und seine Welt zu verstehen.

Wie lange wird Andrea in der Klinik sein? Komisch, wenn sie da ist, nervt sie ihn meistens. Jetzt, wenn sie nicht da ist, fehlt sie ihm. Er sieht zu Harry, der sich gerade mal wieder um seine Kakteen kümmert. Spinner! Aber die Aktion in der Siedlung am Innsbrucker Ring war super von ihm und Paul. Guter Instinkt. Gerade noch rechtzeitig. Das hätte böse ausgehen können. Und er selbst hatte sich noch über Andrea lustig gemacht, als sie gemutmaßt hatte, dass sich der Typ da rumtreibt. Sie hatte recht. Er sieht zu Christine. Sie ist in irgendeine Recherche vertieft. Josef ist bei Dr. Sommer in der Rechtsmedizin. Wegen der Obduktionsergebnisse. Das wird vermutlich nicht viel bringen. Was soll es schon groß für Spuren geben an der Leiche des U-Bahn-Attentäters nach so einem Crash? Ein paar Lackpartikel, eventuell Hinweise auf die Automarke, den Autotyp. Wenn es ein Allerweltsmodell ist, haben sie wenig Chancen. Ein konkreter Hinweis auf das Auto wäre gut. Augenzeugen gibt es bis jetzt leider nicht. Karl wundert sich. Da leben in so einem Hochhausviertel so viele Leute auf engstem Raum zusammen, aber sehen tut dann keiner was. Na ja, es war tief in der Nacht. Karl schaut nach draußen. Es ist schon dunkel. Er tippt die letzten Zeilen seines Berichts, speichert und fährt den Computer runter. Das war’s für heute.

Der Deal

Fuck! Der Deal ist durch, und jetzt soll ich noch mal hin? Reden. Mit wem? Was gibt es da noch zu reden? Ich bin abgezogen, Auftrag zu Ende. Das hier gefällt mir nicht. Allein, dass ich wieder in Neuperlach bin. Die ganze Aufregung in letzter Zeit wegen der U-Bahn-Sache auf der anderen Seite des Parks. Ich hasse die U-Bahn. Aber heute hab ich sie genommen. Auto wäre zu auffällig. Irgendwer sieht immer was. Und dann dieser Unfall mit Fahrerflucht. Zu viel Aufmerksamkeit für diese Gegend. Gut, dass ich jetzt raus bin aus der Geschichte. Zu gefährlich. Ich muss weg aus München. Der nächste Job dann bitte irgendwo oben im Norden. Weit weg. Lange muss ich eh nicht mehr arbeiten. Wenn die Kohle kommt, bin ich weg. Und die Kohle kommt. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. – Kein Verkehr. Viertel nach elf. Bin ein bisschen früh dran. Egal. Kann ich wenigstens nachsehen, ob wirklich alles aufgeräumt ist, ob die Wohnung leer ist. Die Wohnblocks – wenn ich in so einem gesichtslosen Mietsilo leben müsste! Die ganze Gegend – nichts los, alles tot. Nur noch über die Straße.

BSSSOSCHHHTAANGG!

Ein Blitz! Ein Knall! Ich flieg hoch in die Luft, ich schlag Saltos, seh das ganze Universum, all die Sterne, Spiralnebel, spür die kalte, schneidende Nachtluft. Seh alles wie im Traum. Ganz weit, ganz hoch hinauf, all die Lichtstraßen der großen Stadt, das Flirren der Autoscheinwerfer, die roten Schlangen der Rücklichter, das Farbenspiel der Ampeln, die Blaulichter der Polizeiautos, die Neonwerbetafeln, die alles versprechen. Ich versprech auch etwas: dass es vorbei ist mit dem Katz-und-Maus-Spiel, mit der ganzen verrückten Scheiße. Die tausend Dinge, die ich noch vorhab, die ich verpasst hab, alles kondensiert in einem Augenaufschlag, einem Knall. Alles explodiert, implodiert, erlischt.

PLOCK!

Aufprall. So hart! Ah, diese Schmerzen. Alles ein einziger Schmerz. Mein Kopf? Funktioniert noch. Was war das? Ein Auto? Da war doch keins? Oder? Ich hab nichts gehört. Doch – jetzt Autotüren, Schritte, Stimmen.

»Boh, voll auf die 12

»Respekt, hast ihn sauber erwischt.«

»Ja. Geiler Stunt, der Gute.«

»Und wir wieder: Bssst – out of the black! Wir haben’s echt drauf.«

»Und diesmal ist es der Richtige.«

»Ja, das ist er. Hier schau, das Foto.«

»Ich brauch kein Foto.«

»Klar, wie letztes Mal.«

»Hey, komm, Fehler passieren. Den Typen kenn ich von den Veranstaltungen.«

»Na dann. Auftrag erledigt. Los, ab die Post!«

»Und wir lassen den hier einfach liegen?«

»Ja, wo denn sonst?«

»Ich mein, weil da gestern schon der andere rumgelegen ist. Das schaut doch komisch aus?«

»Ist halt eine gefährliche Gegend. Unfallschwerpunkt, haha.«

Wer seid ihr? Kennen wir uns? Ich würde gern mitlachen. Kann nicht. Alles zerfließt in Schmerz. Und Schwarz. Ich, ich, ich …

»Ich schau mal, was er dabeihat. Seinen Geldbeutel braucht der doch jetzt nicht mehr?«

»Hey, Alter, sind wir Leichenfledderer? Nein, sind wir nicht. Wir sind Ehrenmänner.«

»So, und was war mit der Tasche von dem Typen gestern?«

»Da war eine Knarre drin. Die kannst du doch nicht einfach auf der Straße liegen lassen. Stell dir mal vor, Kinder finden die und ballern dann rum?«

»Ja, an dir ist ein Pädophiler verloren gegangen.«

»Du sagst es. Jetzt lass uns abhauen, bevor hier in Schlafcity doch noch jemand aufwacht und auf die Straße schaut.«

Sie gehen zurück zu ihrem Wagen. Mit leisem Sirren gleitet der Toyota davon.

»Der Prius macht einen super Job!«

»Ja, diese Elektromotoren sind voll der Fortschritt. Krasser Überraschungseffekt. Sind echte Waffen, diese E-Autos.«

»Aber die Frontscheibe hätte er uns nicht einhauen brauchen.«

»Ist doch egal. Die Mühle kommt ja eh in die Presse.«

»Wie, du willst die Kiste wegschmeißen?«

»Ja, logisch. Keine Spuren. Wir machen das wie besprochen. Wir nehmen den Wagen auseinander, schrotten die Karosserie und verscherbeln den Rest als Ersatzteile. Und vorher noch alles dampfstrahlen.«

»Wenn du meinst. Weißt du noch, wie wir damals den Buick hergenommen haben?«

»Anfängerfehler. Zu laut. Musst du den richtigen Moment ganz genau abpassen. Bei hohem Tempo. Damals hat der Heini es ja auch noch geschnallt und dreht sich um. Hat uns gesehen. Zu spät allerdings. Was mich am meisten gewundert hat: dass an der Kiste so viel kaputtgeht. Ist doch ein Riesenauto, voll massiv. Das war echt blöd. Du darfst für so was keine Mühle nehmen, an der dein Herz hängt. Schon weil du so schwer Ersatzteile kriegst. Hätten wir die Lichter nicht mehr bekommen, wären wir den Buick vielleicht gar nicht mehr losgeworden.«

»Ach, der Buick. Schöne Zeit. Wobei unser Mustang auch ein geiler Schlitten ist.«

»Also, die roten Ledersitze sind nicht wirklich meins.«

»Mann, Junge, das ist Vintage. So was wird heute gar nicht mehr hergestellt.«

»Meinst du, das war ein Fehler, dass wir damals den Buick verkauft haben? Also, wenn da jemand doch mal das Nachforschen anfängt. Können da noch Spuren dran sein?«

»Nach zwei Jahren! Nie im Leben! Und ich hab für den Tag ein Alibi. Du auch. Du glaubst doch nicht im Ernst, dass nach zwei Jahren da noch irgendwas kommt? Unfall mit Fahrerflucht – so was passiert doch andauernd. Sogar die Aktion gestern hat keine große Welle gemacht. Ich hab zumindest nichts gehört.«

»Da machst du es dir ein bisschen einfach. Die Polizei ermittelt garantiert wegen Fahrerflucht.«

»Ja klar. Aber die werden doch nicht ausgerechnet uns auf dem Schirm haben. Wie denn?«

»Zeugen?«

»Und wenn – die Kennzeichen sind geklaut. Das führt zu nichts.«

»Na hoffentlich. Und jetzt brauch ich was zum Essen. Ich hab voll Kohldampf.«

»Später. Zuerst bringen wir die Karre heim, waschen sie und nehmen sie auseinander. Oder wir nehmen uns unterwegs noch was mit. Beim Burger King in Riem.«

»Also, ich mag lieber zum Macky. Vom Burger King hört man ja immer so Sachen. Von wegen: Hygiene und so.«

»Du und Hygiene …«

»Das sagt genau der Richtige! Das mit dem Klo gestern war schon grob.«

»Ich war in Eile.«

»Du bist immer in Eile. So schwer ist das mit der Bürste nicht. Also, was essen wir?«

»Scheiß auf Hamburger! Ich mag eh lieber ein Schinkenbrot. Mit Gurke. Haben wir noch Gurken zu Hause?«

»Immer doch. Denn: Ein Leben ohne Gurken …«

»… ist kein Leben.«

Ohne Seele

Der Schrottplatz Reitberger am Kiesgrund in Aschheim hat schon bessere Tage gesehen. Eine postapokalyptische Idylle, ein chaotischer Traum in Rost. Die Brüder Augustin und Franz Reitberger betreiben den Laden, ein altes Familienunternehmen, das ihnen die Eltern hinterlassen haben, die bei einem Autounfall – wie sonst? – ums Leben kamen. Mama hatte im Betrieb immer für Ordnung gesorgt. Jetzt nicht mehr. Vor vielen Jahren gehörte die Kiesgrube auch noch zum Geschäft. Bis ein plötzlicher Wassereinbruch das Business mit dem Kies unattraktiv machte. Jetzt befindet sich neben dem Schrottplatz ein zwei Quadratkilometer großer Baggersee, der mit seinen alten Förderanlagen die Dorfjugendlichen anlockt, die von den hohen Auslegern der Bagger in die Tiefe springen. Die Schilder am Zaun mit Zutritt streng verboten werden geflissentlich ignoriert, was Franz und Augustin aber ebenfalls ignorieren. Da sind sie tolerant. Gesetze sind schließlich da, um gebrochen zu werden. Was auch daher rührt, dass sie sich nicht nur auf das legale Gewerbe mit dem Schrotthandel konzentrieren. »Breit aufstellen« ist ihre Devise. Die beiden sind buchbar für jegliche Art von Job. Bis hin zum Auftragsmord. Was sie jedoch niemals so nennen würden. »Unfall mit Fahrerflucht« ist ihre Spezialität. Doch das machen sie eher selten. Bevorzugt übernehmen sie seriöse Jobs im Sicherheitsbereich. »Fahren & Schützen« lautet der Slogan für ihre Fahrdienstleistungen plus. Der Schrottplatz ist ihre bürgerliche Fassade und manchmal durchaus ein einträgliches Nebeneinkommen, vor allem, wenn sie für Leute mit zu viel Geld Amischlitten instand setzen und durch den TÜV bringen.

Augustin gähnt, als er zusieht, wie Franz im Schein der Autolichter das große Vorhängeschloss am Torgitter des Schrottplatzes löst. Die Torflügel machen furchterregende Geräusche beim Öffnen. Das tun sie jedes Mal. Wie das Gähnen eines Dinosauriers. Müsste man mal ölen, denkt Augustin – wie jedes Mal. Fast lautlos rollt das E-Auto auf das Gelände. Mit ungutem Quietschen schließt Franz die Torflügel hinter ihm. Augustin fährt den Wagen in die Halle.

»Muss das wirklich noch heute sein?«, fragt Franz.

»Logisch. Stell dir vor, es gibt doch irgendwelche Zeugen und die Polizei steht morgen früh bei uns auf der Matte, dann schaut das voll blöd aus, wenn die Karre noch da ist.«

»Aber die Nummernschilder sind doch geklaut. Wie sollen die uns denn finden?«

»Franz, bau einfach den Motor raus und hau den Rest in die Presse. Dann ist das erledigt, und wir müssen uns keinen Kopf machen.«

»Findest du nicht, du übertreibst? Die Scheibe ist kaputt. Sonst ist der Wagen doch astrein. Einmal sorgfältig dampfstrahlen, und das war’s.«

»Nein, das Zeug ist hartnäckig. Am Ende sind da noch Knochensplitter oder Hirnmatsche in den Kühlrippen. Siehst du ja nicht gleich. Außerdem riecht das ungut, wenn es heiß wird. Jetzt mach schon!«

Franz sieht zu dem silbernen Mustang hinüber und ist froh, dass sie ab morgen wieder in ihrem angetrauten Wagen unterwegs sind. Er öffnet die Motorhaube des Prius und holt den Pressluftschrauber. Augustin will ihm helfen, doch Franz winkt ab. »Mach lieber Kaffee. Und Schinkenbrote. Mit Gurke! Ich erledige das hier.«

Als Augustin eine halbe Stunde später wieder in die Halle kommt, ist der Wagen bereits weg. Auf einer Europalette liegt der ausgebaute Motor. Franz bedient gerade die Schrottpresse.

»Hey!«, ruft Augustin über die mahlenden Geräusche der Presse und reicht Franz ein Kaffeehaferl. Der nickt, nimmt einen tiefen Schluck. Prustet den Kaffee wieder raus. »Scheiße, ist das heiß!«

Augustin lacht. »Sollte Kaffee sein, du Warmduscher.«

»Selber Warmduscher.« Vorsichtig nippt Franz noch mal und nimmt dann einen großen Bissen von seinem Schinkenbrot. »Wow, geil!«, schmatzt er zufrieden.

Sie warten, bis die Presse ihren Job erledigt hat und vom Toyota nur noch ein Kubikmeter Stahl, Blech und Kunststoff übrig ist. Mit dem Hebekran befördert Franz den Block in einen der vielen Schrottcontainer.

»Schade eigentlich«, sagt Augustin, »das sind nicht die schlechtesten Kisten, diese Toyotas.«

»Na ja, es bleiben Joghurtbecher.«

»Ich versteh dich nicht, Franz. Du magst die Kisten nicht, hast aber Probleme damit, das Ding plattzumachen?«

»Für die Kiste hätten wir lässig noch zwei bis drei Mille bekommen. Und wenn ich die Mühlen dreimal nicht mag. Die haben keine Seele.«

»Woher willst du das wissen?«

»Das spürt man doch sofort, wenn man drinnen sitzt. Die ganze Plastikscheiße hat keine Seele. Merkst du das nicht?«

»Nein. Außerdem kommt es auf den Inhalt an, nicht die Verpackung. Der Fahrer macht den Unterschied. Boah, ich brauch jetzt unbedingt ein Bier. Für meine Seele.«

20 Meter

Josef ist unterwegs. Er war noch nicht mal im Büro, als um halb acht morgens der Anruf kam. Ein Kollege von der Verkehrspolizei hat ihn informiert, dass schon wieder jemand überfahren wurde – am selben Ort wie gestern! Das kann kein Zufall sein!, denkt Josef auf dem Weg nach Neuperlach. Erst mal allein. Die Kollegen kann er später dazuholen, wenn er sich die Sache angesehen hat.

Schon bald erreicht er die Wohntürme. Die Quiddestraße ist abgesperrt. Er sieht hinüber zur Nummer 4. Viel näher geht nicht. Was bedeutet das? Hat das was mit ihrem Fall zu tun? Das Unfallopfer liegt gerade mal 20 Meter von der Rampe des Parkdecks entfernt auf der Straße vor Hausnummer 6. Josef schlüpft unter den Absperrbändern durch und zeigt seinen Polizeiausweis.

Der Kollege Herbert Müller von der Verkehrspolizei, der ihn informiert hat, winkt ihn zu sich. »Servus, Josef, ich dachte, das hier interessiert dich.«

»Hubert, danke. Wir hatten gestern einen Toten bei dem Parkdeck da drüben.«

»Deswegen hab ich dich angerufen. Mal so generell – wegen dem Fall gestern: Seit wann interessiert ihr euch für Unfall mit Fahrerflucht?«

»Du, das ist noch nicht an die Presse raus, aber es handelt sich bei dem Opfer gestern um den Mann, der mehrere Menschen vor einfahrende U-Bahnen geschubst hat. Und das gestern sah nicht wirklich nach einem Unfall aus, eher nach Vorsatz. Da ist jemand die Parkrampe runtergerast, um ihn umzufahren. Und jetzt passiert das Gleiche ein paar Meter weiter noch einmal.«

»Wir haben hier keine Bremsspuren.«

»Wie gestern. Wer ist das Opfer?«

»Carsten Wiesinger. Laut Ausweis in seiner Tasche.«

»Wohnt der hier?«

»Wir haben den Namen gecheckt. Laut Melderegister wohnt er in der Nummer 6

»Schlüssel?«

»Müssen wir schauen.«

Sie gehen zu dem abgedeckten Leichnam. Müller schlägt die weiße Plane zur Seite. Josef hält die Luft an. Nicht schön. Und ein bisschen Déjà-vu. Weit aufgerissene Augen, große Platzwunde an der Stirn. Erstaunen im Gesicht. Sonst ein Dutzendgesicht, ebenmäßig, leichter Bartschatten, kurze dunkelbraune Haare. Müller greift in die Taschen der schwarzen Lederjacke. Er findet einen Schlüsselbund und reicht ihn Josef. »Probier dein Glück.«

»Mach ich. Vielen Dank.«

Josef geht zu Haus Nummer 6. Der Wohnblock sieht haargenau so aus wie der, in dem ihr U-Bahn-Attentäter gewohnt hat. Ein komischer Gedanke geht ihm durch den Kopf. Liegt hier eine Verwechslung vor? Na ja, die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist nicht allzu groß. Aber in tiefer Nacht? War das der zweite Anlauf nach einem ersten missglückten Versuch? Josef studiert das umfangreiche Klingelboard und sucht Wiesinger. Findet den Namen nicht. Mehrere Klingeln haben kein Namensschild. Na super.

Gerade kommt eine ältere Dame mit ihrem Pinscher aus dem Haus.

»Entschuldigung, darf ich Sie etwas fragen?«, wendet sich Josef an die Frau.

»Ich bitte um unsittliche Angebote.«

»Wie bitte?«

»Junger Mann, wie kann ich Ihnen helfen?«

»Es geht um einen Ihrer Nachbarn. Carsten Wiesinger. Kennen Sie den?«

»Mei, der Herr Wiesinger, so ein netter Mann. Ein wunderbarer Nachbar, so ruhig und hilfsbereit. Der hat mir mal geholfen, als der Abfluss in der Küche verstopft war. Mir ist der Beutel mit dem Grieß aufgeplatzt, und ich dachte, ich kann das einfach runterspülen. Aber das Zeug quillt ja so stark auf. Ich dachte schon, dass das Rohr platzt, aber der Herr Wiesinger hat das super hingekriegt. Also, wie der den Siphon ausgebaut hat, was da alles in dem kleinen Stück Rohr drin war! Das glauben Sie ja nicht! War mir schon ein bisschen peinlich.«

»Aha«, sagt Josef und räuspert sich. Doch die Dame lässt sich nicht beirren: »So geschickt, der Herr Wiesinger. Sind die jungen Leute ja heute oft nicht mehr. Der Herr Wiesinger hat so einen Drahtbügel von der Reinigung aufgebogen und ist damit in das Rohr rein. Also, wie gesagt, was da alles drin war! Das Zeug wird ja so richtig fest, wenn es jahrelang in dem Rohr ist. Vor allem Fett. Und die Farbe! Gruselig! Also, jedenfalls war da nicht nur der Grieß drin …« – »Äh ja, sehr interessant, wo wohnt denn der Herr Wiesinger?«

»Ganz oben, ich wohn genau unter ihm. Was wollen Sie denn von dem Herrn Wiesinger?«

»Ich hab Probleme mit dem Siphon.«

»Junger Mann!«

»Entschuldigung. Ich war, äh … ich bin mit Herrn Wiesinger verabredet, aber er macht nicht auf. Ich häng ihm einen Zettel an die Tür.«

»Hängen?«

»Na ja, kleben. Äh, mit Tesafilm.«

»Mit Tesafilm ist nicht erlaubt.«

»Äh …?«

»Das steht in der Hausordnung. Also, dass keine Plakate oder Notizen an Wände oder Türen geklebt werden dürfen.«

»Sehr schön. Ich hab auch keinen Tesafilm dabei. Ich leg den Zettel auf die Matte.«

»Haben Sie denn kein Handy?«

»Nein, ich mag die Dinger nicht.«

»Sollten Sie aber. Die Dinger sind so praktisch. Aber fühlen Sie sich frei, junger Mann. Und sagen Sie, ist da vorn etwas passiert?«

»Ich glaube, ein Unfall.«

»Hoffentlich nichts Schlimmes.«

»Bestimmt nur Blechschaden.«

»Na hoffentlich.«

Josef atmet tief durch, als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt. Er ist leicht verwirrt. Warum diskutiert er eigentlich lang und breit mit der Frau, wenn er doch selbst einen Haustürschlüssel hat? Ganz einfach – weil er sonst alle Wohnungen ohne Klingelschild abklappern müsste. Er fährt mit dem Lift nach oben. Die Wohnung ist nicht schwer zu finden. Es ist die einzige ohne Namen an der Tür auf diesem Stockwerk. Josef probiert die Schlüssel. Einer passt. Er hält inne. Klingelt doch lieber vorher. Wartet. Nichts passiert. Er sperrt auf, öffnet die Tür.

»Hallo?«, hallt seine Stimme von den kahlen Wänden zurück. Die Wohnung riecht nach frischer Farbe. Er macht Licht. Alles weiß. An dem Lichtschalter klebt ein vergessener Streifen Tesa-Krepp. Zwei Zimmer, Küche, Bad. Alles leer, keine persönlichen Gegenstände. Auf dem Klospülkasten steht eine halbe Rolle Klopapier als einziges Lebenszeichen. In den Küchenschränken keine Gläser, kein Geschirr, kein Besteck, keine Lebensmittel, nichts. Spülbecken blitzsauber, unter der Spüle kein Schwamm, keine Putzmittel. Alles clean, übergabefertig. Josef denkt an einen Tatortreiniger. Der hätte jedenfalls einen guten Job gemacht. Aber der Tatort ist da unten auf der Straße.

Er tritt auf den Balkon raus, sieht auf die Quiddestraße. Dort wird gerade der Leichnam in einen Bestattungswagen geschoben. Unter den Schaulustigen ist auch die Dame mit ihrem Hund. Hoffentlich ist die Leiche ordentlich abgedeckt, denkt Josef, sonst wundert die sich, was ich hier will. Ihm fällt ein dunkler Mercedes auf dem Parkdeck auf. Das Fenster auf der Beifahrerseite ist offen. Er sieht das Teleobjektiv. Presse? Nein, die hätten keine Hemmungen, den Polizisten auf die Pelle zu rücken. Lichtreflex. Das Objektiv zeigt nach oben, in seine Richtung. Er zuckt zurück. Sehen die zu ihm hoch? Warum? Was ist da los? Er späht aus dem Küchenfenster nach unten, greift zum Handy.

»Hubert, da steht ein schwarzer Mercedes auf dem Parkdeck. Die machen Fotos. Kannst du das überprüfen? Ob das Leute von der Presse sind?«

»Okay, ich geh rüber. Bist du in seiner Wohnung?«

»Ja.«

»Alles in Ordnung da?«

»Wie man’s nimmt. Alles leer geräumt. Erzähl ich dir später. Schaust du nach dem Wagen? Ich bleib am Handy, ich hab euch im Blick.«

Josef sieht, wie sein Kollege zum Parkplatz rübergeht. Das Teleobjektiv verschwindet im Wageninneren, die dunkle Scheibe geht hoch.

»Der schwarze Mercedes vorne rechts«, sagt Josef ins Handy. Kaum hat er es ausgesprochen, parkt der Mercedes aus.

»Was soll ich machen, ihn aufhalten?«, fragt Müller.

Josef zögert. »Nein, merk dir die Nummer.«

Josef sieht, wie Müller zur Seite tritt und der Mercedes die Rampe hinabgleitet, nach rechts in die Straße einbiegt und verschwindet.

»Ich komm runter«, sagt Josef ins Handy und verlässt die Wohnung.

Müller erwartet ihn am Hauseingang.

»Hast du wen erkannt?«, fragt Josef.

»Nein. Stark getönte Scheiben. Presse?«

»Keine Ahnung. Aber offenbar Leute, die das Unfallopfer kannten. Die haben mit dem Tele zu mir hochgeschaut. Also wissen sie, wo das Opfer gewohnt hat.«

»Bist du dir sicher?«

»Ja.«

»Was ist da oben in der Wohnung?«

»Nichts. Frisch gestrichen. Komplett leer. Der einzige persönliche Gegenstand ist eine angerissene Rolle Klopapier.«

»Das ist nicht viel. Fast gar nichts.« Müller lacht.

Josef zuckt mit den Achseln.

»Was hast du jetzt vor?«, fragt Müller.

»Ich klär das mit den Zuständigkeiten. Aber ich glaub nicht, dass das eine Sache für euch von der Verkehrspolizei ist. Zwei Unfälle mit Fahrerflucht an fast derselben Stelle. Zweimal ohne Bremsspuren. Und dann die Typen mit dem Tele in dem Mercedes. Hast du die Autonummer?«

»Oh, scheiße!«

»Jetzt nicht dein Ernst?!«

Müller nickt traurig.

»Oh Mann!«

Müller grinst. »M BB 1218

»Danke, du Spaßvogel.«

»Gibst du mir Bescheid, wenn ihr was rauskriegt über das Opfer?«

»Logisch, Hubert.«

Josef notiert sich die Autonummer und fährt ins Präsidium.

Dort hat er keine Gelegenheit, das Kennzeichen zu überprüfen, denn in seinem Büro wartet bereits Dr. Aschenberger.

»Ich hab’s mir schon mal gemütlich gemacht«, begrüßt er Josef.

»Kaffeechen?«

»Danke, nein. Wo kommen Sie jetzt her?«

»Aus der Quiddestraße.«

»Seit wann sind wir für Unfall mit Fahrerflucht zuständig?«

»Seit gestern. Das war kein Unfall, das war Vorsatz. Der Typ wurde vorsätzlich umgefahren.«

»Ich rede von heute.«

»Ein ganz ähnlicher Fall. Zwanzig Meter vom gestrigen Tatort weg. Wieder keine Bremsspuren. Das ist kein Zufall.«

»Hirmer, die Wohnungsschlüssel bitte.«

»Bitte?«

»Die Wohnungsschlüssel von diesem Wiesinger.«

»Die hab ich wieder …« – er greift in die Jackentasche –, »oh, die hab ich doch tatsächlich mitgenommen.«

»Hirmer, ich hab bereits mit Müller telefoniert. Ich hab auch versucht, Sie zu erreichen. Warum gehen Sie nicht ans Handy?«

»Lautlos gestellt.«

»Lautlos. Gutes Stichwort. Wir ziehen uns lautlos aus der Nummer raus.«

»Warum?«

»Da spielen die großen Jungs.«

»Was soll das heißen?«

»Dass der Staatsschutz übernimmt.«

»Was will denn der Staatsschutz bei der Sache? Haben wir es hier mit politisch motivierter Kriminalität zu tun?«

»Die werden ihre Gründe haben und sie uns nicht unbedingt erläutern wollen. Hirmer, Sie kümmern sich bitte ausschließlich um den U-Bahn-Schubser.«

»Aber es gibt doch Parallelen zwischen den zwei Fällen!«

»Ach, kommen Sie! Zufällig derselbe Ort, dieselbe Todesart. Ich sag’s Ihnen, dieser U-Bahn-Typ war ein Einzeltäter.«

»Und dieser Wiesinger?«

»Hirmer, noch mal: Finger weg! Müller hat von seinem Chef die gleiche Ansage bekommen. Wir sind weisungsgebunden. Kümmern Sie sich um den U-Bahn-Killer, den anderen übernehmen die Kollegen vom Staatsschutz. Und falls die unsere Unterstützung brauchen, werden sie auf uns zukommen.«

»Ich freu mich schon.«

Als Aschenberger sein Büro verlassen hat, sinkt Josef in seinen Bürostuhl. So ein Mist! Werden einfach aufs Abstellgleis geschoben, vom Ermitteln abgehalten. Lässt er sich das gefallen? Er denkt nach. Staatsschutz? Was ist dieser Wiesinger für ein Typ, was hat er gemacht? Und warum interessiert sich jemand außer ihnen noch für einen ›Unfall mit Fahrerflucht‹? Das stinkt doch zum Himmel!

Das Wort ›lautlos‹ arbeitet in seinem Kopf. Nein, er wird sich nicht aus dem Fall zurückziehen, sondern geräuschlos daran weiterarbeiten. Mit den Kollegen. Es kann doch nicht sein, dass Asche es ernst meint damit, dass die Übereinstimmungen bei den beiden Fällen nicht zu beachten sind. Das ist eins der Kernprinzipien ihrer täglichen Arbeit: auf Strukturen achten, Parallelen, Widersprüche. Es liegt doch auf der Hand: Die beiden Personen sind nach demselben Muster, wahrscheinlich von demselben Auto mit demselben Fahrer überfahren worden. Aus welchen Gründen auch immer. Vielleicht war es im ersten Fall ein Irrtum, eine Verwechslung. Aber warum? Über den U-Bahn-Attentäter wissen sie schon ein paar Details. Über das neue Opfer noch gar nichts. Er tippt die Autonummer des schwarzen Mercedes in die Suchmaske auf dem Desktop. Kein Treffer. Alles klar. Oder eben nicht. Presse war das jedenfalls nicht. Staatsschutz? Wer ist dieser Carsten Wiesinger, dass die hier anrücken? Ob das sein echter Name ist? Er gibt den Namen in seinen Computer ein. Im Melderegister findet er ihn unter der Adresse in der Quiddestraße. In der Polizeidatenbank haben sie nichts zu ihm. Josef geht nach nebenan, um sich mit den Kollegen zu besprechen.

BMB

Josef hat sich in seinem Büro vergraben. Hat weiter recherchiert zu Carsten Wiesinger. Google hat viele Treffer. Zu viele. In München und im ganzen Land. Der Name ist nicht gerade selten. Bilder? Alles Mögliche, nichts Passendes. Schließlich entdeckt Josef den Gesuchten aber doch noch: auf Fotos der Homepage einer politischen Vereinigung in München – der BMB. Die Besorgten Münchner Bürger sind eine rechte Protestpartei. Josef kennt die Partei bislang nur vom Hörensagen. Jetzt hat er zumindest einen Anhaltspunkt, warum sich der Staatsschutz in den Fall einmischt. Klar, die sind an der rechten Szene dran. Welche Rolle spielte Carsten Wiesinger bei dieser Partei? War er ein strammer Rechter, der beobachtet wurde? War er ein Informant? Oder gar ein V-Mann? Alles pure Spekulation. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass Wiesinger Opfer eines simplen Unfalls mit Fahrerflucht ist, geht für Josef gegen null. Er grübelt weiter. Könnte es ein Attentat gewesen sein? Von radikalen Linken? Oder ist Wiesinger als V-Mann aufgeflogen und ein Opfer von Rechten, denen nicht geschmeckt hat, dass er sie ausspioniert? Josef informiert sich genauer über die BMB und stellt fest, dass diese inzwischen eine feste lokalpolitische Größe sind. Mit guten Chancen, bei der nächsten Kommunalwahl ein zweistelliges Ergebnis einzufahren. Er staunt. Diese politische Entwicklung hat er verpennt. »Nicht gut, wenn man in der eigenen Stadt nicht Bescheid weiß«, murmelt er. 

Er recherchiert weiter, liest über die großen Erfolge der Partei mit ihrem radikal konservativen Programm. »Wenn das eine heimatliche Politik sein soll, na danke! Eklig«, findet Josef nach der Lektüre des Parteiprogramms. Neben einigen verständlichen Kritikpunkten an der zum Teil verfehlten Sozialpolitik der Stadt beinhaltet das Programm an vielen Stellen offene Stimmungsmache gegen Ausländer und Flüchtlinge. Und natürlich die Forderung nach einer Asylobergrenze. Damit sind sie zumindest nicht alleine, denkt Josef. Was es aber nicht besser macht.

Als er den Computer runterfährt, fühlt er sich irgendwie beschmutzt, klebrig, ungut. So, als wäre er auf Pornoseiten unterwegs gewesen. War er noch nie. Vielleicht sollte er das einfach mal machen, um zu wissen, was los ist in der Welt da draußen. Nein, das macht er nicht, er sieht schon genug Dreck im echten Leben.

Genug für heute. Er beschließt, zu Fuß heimzugehen, um seinen verwirrten Kopf ein bisschen auszulüften. Vielleicht findet er unterwegs noch einen offenen Blumenladen? Könnte er seiner Frau eine Freude machen. Er sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach acht. Keine Chance. Am Hauptbahnhof? Aber da lungern jede Menge unguter Typen rum, verticken Drogen, warten auf Gelegenheitsjobs aller Art. Hat er jetzt keine Lust drauf. Kein Wunder, wenn die Leute nach mehr Sicherheit schreien und sich einreden lassen, dass das etwas mit der Flüchtlingssituation zu tun hat. Ist das die Logik? Am Hauptbahnhof waren schon immer unangenehme Leute aus aller Herren Länder. Ach, er weiß es doch auch nicht. Nein, heute keine Blumen mehr für seine Frau. Einfach möglichst schnell nach Hause.

Feindbild

Am nächsten Morgen unterrichtet Josef seine Kollegen über seine Nachforschungen zu Carsten Wiesinger. Und über die BMB. Der Einzige im Team, der die Gruppierung näher kennt, ist Harry. Kein Wunder, denkt Josef, denn er kennt Harrys politische Haltung – links, ökologisch, antifaschistisch. Die Partei stellt ein klares Feindbild für ihn dar.

»Das ist eine der vielen kleinen nationalkonservativen Protestparteien, die diese elende Neiddebatte schüren«, erklärt Harry gerade. »Dass uns die Flüchtlinge alles wegnehmen und wir kriegen nix. Dass der Islam eine Gefahr für Deutschland ist. Dass mit den Flüchtlingen der Terror kommt. Diese ganzen Sprüche.«

»Ja, klar, wir schaffen das«, murmelt Karl und sieht ihn genervt an.

Harry reagiert darauf nicht, sondern fährt fort: »Die BMB haben als Partei großen Zulauf, weil viele Leute denken, dass mit den Flüchtlingen die Kriminalität in der Stadt stark gestiegen ist, dass der eh schon überteuerte Wohnraum in München noch knapper wird und so weiter und so fort.«

»Na ja, ein bisschen was ist da auch dran«, sagt Karl. »Warst du in letzter Zeit mal am Hauptbahnhof? Hordenweise junge Männer, viele Afrikaner.«

»Ach, komm, am Bahnhof war schon immer kriminelles Gesocks.«

»Ja, red dir das mal alles schön.«

»Ruhe, Jungs!«, geht Josef dazwischen. »Was meinst du, Christine?«

»Ich weiß es nicht. Du glaubst also, dass Wiesingers Tod irgendwas mit den BMB zu tun hat?«

»Ja, irgendwie schon. Wir haben ja sonst keinerlei Hinweise. Und dann ist da seine komplett ausgeräumte Wohnung. Also, er war ja schon ausgezogen. Wir haben keine neue Meldeadresse von ihm. Ich hab starke Zweifel, ob der Tote im echten Leben wirklich Carsten Wiesinger hieß. Ich hab recherchiert. Es gibt eine ganze Reihe von Leuten, die so heißen. Sollen wir jetzt alle überprüfen, um rauszufinden, ob da irgendwo eine Leerstelle entstanden ist? Der Aufwand ist zu groß. Das einzig Konkrete sind die Fotos von ihm bei Veranstaltungen der BMB. Dort war er offenbar Mitglied. Ansonsten hab ich nichts Näheres über ihn gefunden.«

Christine nickt nachdenklich. »Wenn Asche uns zurückpfeift, weil der Staatsschutz da seine Finger drin hat, dann ist das vielleicht ein V-Mann.«

Harry schüttelt den Kopf. »Wenn der vorsätzlich überfahren wurde, von wem denn und vor allem: warum? Die Linken machen so was nicht. Und die Rechten von den BMB? – Weil er ein Maulwurf war? Nein, so weit gehen selbst diese Leute nicht. Die geben sich doch als die netten Nazis von nebenan.«

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