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Dünentraumsommer

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Eine Backstube im Reetdachhaus und eine neue Familie

Marieke zieht mit ihrem Sohn von der Großstadt ans friesische Meer. Für beide ist es eine Wohltat, einmal tief durchzuatmen, und die gemütliche Einliegerwohnung im Reetdachhaus von Berta Tetens wird ihnen ein neues Zuhause. Als Marieke die kleine Friesenküche betritt, kommt ihr eine Idee: Um die Senioren in St. Peter-Ording zusammenzubringen, gründet Marieke einen Kuchen-Club. Bald werden die »Oma-Kuchen« zum Kassenschlager, aber Marc Velthuisen, dem die hiesige Cafébar gehört, stört sich daran …

»Herrliche Lektüre für den Strandkorb!« Neue Woche über Strandrosensommer


  • Erscheinungstag: 24.03.2020
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783959674140

Leseprobe

Für meine Oma Friedel, die den besten Käsekuchen der Welt gebacken hat!

Prolog

St. Peter-Dorf an der Olsdorfer Straße gegen Mittag. Die milden Temperaturen des Spätfrühlingstags ließen schon den bevorstehenden Sommer erahnen.

Die Kirche St. Peter lag im ältesten Teil des Nordseebades St. Peter-Ording und war in Sichtweite eines der schönsten Strände Deutschlands. Manche sagten sogar, es wäre nicht nur der schönste Strand des Landes, sondern der schönste von der ganzen Welt. Einigkeit herrschte unter den Leuten zumindest darüber, dass es die größte Sandkiste der Republik und, mit einer Länge von zwölf und einer Breite von bis zu zwei Kilometern, einzigartig war.

Neben der aus Backstein gebauten Kirche stand ein hölzerner Glockenturm, der vor über zwanzig Jahren von freiwilligen St. Peteranern errichtet worden war. Das Gotteshaus war von einem kleinen idyllischen Friedhof umgeben, der auf den ersten Blick durch seine Wiesenfläche an einen Park erinnerte. Auf Bänken konnten Besucher Platz nehmen, um in der Nähe ihrer verstorbenen Angehörigen zu verweilen oder um nach dem Gottesdienst die besinnliche Stimmung noch etwas auf sich wirken zu lassen. Vogelgezwitscher und das leise Plätschern von Wasser aus einer Gießkanne, das waren die einzigen Geräusche, die Berta Tetens hörte.

»So, Hanni. Nun haben die Vergissmeinnicht wieder genug Wasser. Oder meinst du, ich sollte vorsichtshalber noch mal nachgießen?« Prüfend legte sie den Kopf schräg und blickte vom Grab zum blauen Himmel hoch, wo sie bloß ein paar Schleierwolken ausmachen konnte. »Es scheint heute nicht mehr zu regnen. Besser, ich hole noch etwas Nachschub«, entschied sie und ging mit ihrer Gießkanne zu der Wasserstelle, um sie erneut zu befüllen.

Jeden Tag kam sie hierher. Nach dem Tod ihres Vaters hatte sich ihre Mutter um die Grabpflege gekümmert. Als sie ein paar Jahre später ebenfalls gestorben war, hatten Bertas Schwester Hanni und sie die Pflege übernommen. Meistens hatten sie sich abgewechselt, manchmal waren sie auch zusammen zum Friedhof gegangen. Es hatte nie Streit darüber gegeben, wer sich wann um das Grab der Eltern zu kümmern hatte. In stiller Übereinkunft war es für sie beide eine Ehrensache gewesen, der Verantwortung gleichermaßen nachzukommen.

Doch dann war Hanni in jenem strengen Winter 2005 plötzlich von einem auf den anderen Tag schwer krank geworden. Eine hartnäckige Lungenentzündung hatte sie schachmatt gesetzt und sie zu absoluter Bettruhe verurteilt. Berta war froh gewesen, dass sie mit ihrer Schwester gemeinsam in dem großen Friesenhaus ihrer Eltern im Ortsteil Ording lebte, so hatte sie sich, so gut es ging, um Hanni kümmern können. Sie hatte sie an die Einnahme des verordneten Antibiotikums erinnert und ihr Tee und heiße Suppe mit viel Knoblauch gekocht, nach dem alten Familienrezept, von dem niemand mehr wusste, wer es geschrieben hatte, aber das Schmerzen und Fieber sehr gut linderte. Aber Hanni war es trotz ihrer Fürsorge immer schlechter gegangen, bis sie schließlich ins Krankenhaus hatte gebracht werden müssen. Dort war sie gleich in der ersten Nacht gestorben. Mit gerade mal sechsundfünfzig Jahren. Das war nun fast fünfzehn Jahre her. Seitdem lag sie in dem Familiengrab, gleich neben ihren Eltern.

Berta fragte sich, wie viele Jahre ihr wohl noch blieben und ob es jemanden geben würde, der sich nach ihrem Tod um das Grab kümmern würde. Sie war weder verheiratet, noch hatte sie einen Lebensgefährten. Richtige Freunde hatte sie auch nicht. Doch das war ja ihre eigene Schuld. Seit Hannis Tod hatte sie sich sehr zurückgezogen. Manchmal wurde sie von Ditte zum Kaffeekränzchen auf ihren Pferdehof eingeladen. Aber viel mehr passierte in ihrem Leben nicht.

Gedankenverloren drehte Berta den Wasserhahn zu und zuckte zusammen, als plötzlich die Glocke im Turm erklang. Dann schwangen die schweren Kirchtüren auf. Der Pastor trat heraus, gefolgt von sechs Männern, die einen Sarg trugen. Dahinter ging eine Frau, die ein schwarzes Kostüm und eine überdimensional große Sonnenbrille trug. Ihr rotes Haar und der ebenfalls rote Lippenstift leuchteten grell im Sonnenlicht. In ihrer Hand hielt sie eine einzelne hellrote Rose. Neben ihr her ging ein Mann im eleganten dunklen Anzug, mit würdevollem und ernstem Gesichtsausdruck. Jetzt erkannte Berta sie. Es waren Petter Grube, der hiesige Bestatter von St. Peter-Ording, und Gertrud, seine eigenwillige Lebensgefährtin und Dittes Freundin. Berta reckte den Hals, um zu sehen, ob noch jemand dem Sarg folgte. Doch da war niemand.

Die kleine Trauergesellschaft kam in ihre Richtung. Berta grüßte sie mit einem ernsten Nicken, dann blieben sie mehrere Meter von ihr entfernt vor einer frisch ausgehobenen Grabstätte stehen. Die Rede des Pastors verstand Berta nicht richtig, aber sie konnte den Blick nicht abwenden, als der Sarg ins Erdreich hinabgelassen wurde. Sie beobachtete, wie Gertrud die Rose ins Grab warf, ohne eine Miene zu verziehen, bevor sie auf den hohen Absätzen ihrer Pumps kehrtmachte.

Überrascht zuckte Berta zusammen, als ihr klar wurde, dass Gertrud zielstrebig auf sie zu kam. Berta ließ das restliche Wasser auf den schwarzen Erdboden laufen.

»Moin, Berta!« Neben ihr blieb Gertrud stehen und nahm die Sonnenbrille ab.

»Moin, Gertrud.« Berta stellte die Gießkanne hinter den Grabstein. »Keine große Trauergesellschaft heute, was?«

Gertrud zuckte die Schultern. »Der Leichenschmaus fällt jedenfalls aus. Außer der Mitarbeiterin von der Sterbeversicherung hat sich keiner bei Petter gemeldet.«

»Wen hat es denn getroffen?«

»Den alten Erich Knoll – Gott hab ihn selig.« Gertrud bekreuzigte sich und warf einen dramatischen Blick zum Himmel. »Hatte keine Familie mehr, der alte Mann. Wahrscheinlich hat er alle überlebt, und die anderen haben schon vor ihm ins Gras gebissen. Hundertunddrei war er. Stell dir das mal vor.« Sie holte einen Klappspiegel aus ihrer Jackentasche und warf einen prüfenden Blick hinein.

»Ein trauriges Ende. Wenn nach so einem langen Leben niemand zur Beerdigung kommt, um Abschied zu nehmen«, sagte Berta betroffen.

»Tja.« Gertrud klappte geräuschvoll den Spiegel zusammen und verstaute ihn wieder in ihrer Jackentasche. »Er hat sein Ende ja nicht mitbekommen. Das ist der Vorteil, wenn man tot ist«, stellte sie ungerührt fest und setzte die Sonnenbrille wieder auf. »Ich muss zurück zu Petter. Sehen wir uns demnächst bei Ditte?«

»Bestimmt.« Berta rang sich ein Lächeln ab und schaute Gertrud nach, die mit wippenden Hüften zurück zu ihrem Lebensgefährten marschierte, der sich mit den Sargträgern und dem Pastor unterhielt. Beerdigungen waren Gertruds große Leidenschaft, das wusste jeder im Ort. Keiner war so gut über Erbschaftsstreitigkeiten informiert wie sie.

Seufzend zupfte Berta einige Blätter aus der Muschelzypresse, die der Wind hierher getragen haben musste. Dabei stellte sie sich ihre eigene Beerdigung vor. Wer würde hinter ihrem Sarg hergehen? Als ihr niemand einfiel, machte sich ein beklemmendes Gefühl in ihrem Magen breit. Nein, sie wollte nicht so enden wie Erich Knoll. Wenn sie sich ausmalte, dass Gertrud und Petter Grube aus reinem Pflichtgefühl hinter ihrem Sarg hergingen … Nein. Das wäre entsetzlich.

Wenn Hanni doch noch da wäre. Sie waren glücklich gewesen und hatten oft zusammen gebacken. Unzählige Torten hatte sie mit Hanni für Kirchenfeste gebacken, im Chor hatte sie damals gesungen, war sogar zu Tanz-Tees gegangen und hatte den Ruf einer guten Tänzerin gehabt. Doch das war ihr nach Hannis Tod irgendwie alles abhandengekommen. Stattdessen hatte Berta sich in dem Friesenhaus verkrochen, und das Leben war an ihr vorbeigezogen. Sie hatte nichts hören oder sehen wollen. Jetzt konnte sie sich gar nicht erinnern, wann sie das letzte Mal einen Kuchen in der großen Backstube gebacken hatte. Dabei hatte das Backen eine lange Tradition in ihrer Familie.

Früher hatte jeden Tag ein frischer Kuchen zur Kaffeezeit auf dem Küchentisch gestanden. Im Frühling hatten sie meistens Rhabarber- oder Brombeerkuchen gegessen. Im Sommer hatten Berta und Hanni oft mit ihrer Mutter zusammen fruchtigen Erdbeer-, Kirsch- oder Pflaumenkuchen gebacken und draußen im Garten genossen. Im Herbst, wenn die Tage langsam kürzer wurden, war die beste Zeit für Holunderbeerentorte, das hatte ihre Mutter oft gesagt. Und im Winter hatten neben Apfel-Ingwer- auch Kastanien-Schoko-Torten auf dem Tisch gestanden. Doch besonders hatte Berta Oma Irmgards köstlich saftigen Karottenkuchen geliebt, den es das ganze Jahr über gegeben hatte und von dem sie als Kind nie genug hatte bekommen können. Doch das war schon sehr lange her.

Seit dem Tod von Oma Irmgard hatte es nie wieder in der Backstube vom Reetdachhaus nach Karottenkuchen geduftet. Es war, als hätte ihre Oma den Duft und den Geschmack des Kuchens für immer mit ins Grab genommen. Zwar hatte das Rezept einmal in einem alten Backbuch existiert, das Oma Irmgard wie ihren Augapfel gehütet hatte, doch das war seit Jahrzehnten verschollen. Ihre Mutter hatte zwar weiter gebacken, sie hatte sich jedoch vehement geweigert, diesen speziellen Kuchen zu machen, obwohl sie das Rezept dazu auswendig gewusst hatte.

Berta seufzte. Warum erinnerte sie sich nach all den Jahren jetzt plötzlich daran? Und was hätte sie darum gegeben, noch einmal mit ihrer ganzen Familie am Kaffeetisch sitzen zu können. Wehmütig wischte Berta sich übers Gesicht.

Mit einem Mal fuhr eine tüchtige Brise durch die Krone der knorrigen schiefen Buche am Friedhofsweg. Berta kniff die Augen zusammen und beobachtete das Spiel der Blätter. Ihr lautes Rascheln nahm sie als Zeichen.

Auf dem Heimweg stand ihr Entschluss fest: Mit der Zurückgezogenheit musste endlich Schluss sein. Sie wollte wieder Freude am Leben haben, es genießen und vor allem wieder Kuchen backen und ihn mit anderen Menschen teilen.

Während Berta forsch in die Pedalen trat, wusste sie mit absoluter Gewissheit, was ihre Schwester dazu sagen würde: Das wurde aber auch Zeit!

1. Kapitel

Ein paar Tage später im »Blumenmeer für alle« um die Mittagszeit, in der Claudiusstraße in Herne.

»Es soll auf keinen Fall trist aussehen«, wiederholte Marieke nachdrücklich und zog dabei die Stirn in Falten.

»Sie meinen, auf keinen Fall nach Friedhof?« Die Blumenverkäuferin guckte sie ruhig und freundlich über den Rand ihrer Brille an. Ihre Augen waren von unzähligen Lachfältchen umgeben, die nicht nur auf ein sonniges Gemüt, sondern auch darauf schließen ließen, dass sie nicht mehr die Jüngste war.

Marieke schätzte sie auf Ende sechzig. »Sie sagen es. Auf keinen Fall nach Friedhof.«

»Das weiß ich doch, Frau Schepat. Haben wir Ihrem Mann in den vergangenen Jahren jemals tristes Gewächs auf sein Grab gepflanzt?«

»Nein, natürlich nicht.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Aber ich sehe jedes Mal das Grab neben dem meines Mannes, und da schüttelt es mich innerlich, wenn Sie wissen, was ich meine.«

Die Verkäuferin nahm ihre Brille ab und lächelte sie an. »Frau Schepat, Sie machen sich eindeutig zu viele Gedanken. Eine junge Frau wie Sie sollte das Leben in vollen Zügen genießen und sich nicht den ganzen Tag sorgen. Vertrauen Sie mir, die Bepflanzung wird nicht nach Friedhof aussehen. Versprochen.«

»Danke, da bin ich froh.« Marieke nickte und warf einen Blick auf die große Uhr, die an der Wand hinter dem Verkaufstresen hing. »Oh, schon so spät! Mein Sohn hat gleich Schulschluss. Ich muss mich beeilen.«

»Gehen Sie nur. Wir haben ja auch so weit alles besprochen.«

»Danke und bis bald.«

Nachdem Marieke die Ladentür hinter sich geschlossen hatte, ging sie mit strammen Schritten die Claudiusstraße entlang. Praktischerweise lag die Grundschule ihres Sohns in derselben Straße, sie würde in wenigen Minuten da sein. Während sie lief, hallten die Worte der Verkäuferin in ihrem Kopf nach. Natürlich hatte sie recht. Mit gerade mal vierzig Jahren sollte sie ihr Leben wirklich genießen. Keine Frage.

Doch das war einfacher gesagt als getan, denn sie war nicht nur seit neun Jahren alleinerziehend, sondern eben auch noch Witwe. Witwe. Früher hatte Marieke bei der Bezeichnung an alte Frauen gedacht, deren Partner nach einem langen erfüllten Leben vor ihnen gegangen waren. Inzwischen wusste sie, dass man nicht alt sein musste, um den Glauben an einen neuen Lebenspartner aufzugeben. Daniel war Statiker gewesen und bei einem Arbeitsunfall auf einer Baustelle umgekommen, die er eigentlich nie betreten hätte, wäre sein Arbeitskollege nicht krank geworden. Damals war Marieke mit Emil im vierten Monat schwanger gewesen. Sie erinnerte sich daran, wie glücklich Daniel und sie über die Schwangerschaft gewesen waren und welche Zukunftspläne sie geschmiedet hatten. Emil war ein absolutes Wunschkind gewesen. Nach der Geburt hatten sie geplant, die Stadt hinter sich zu lassen und raus aufs Land zu ziehen. Am liebsten in ein Haus mit einem kleinen Garten, wo auch genug Platz für einen Hund gewesen wäre.

Aber all ihre Träume und Pläne waren in dem Moment zerplatzt, als die Polizisten vor ihrer Wohnungstür gestanden hatten, um ihr die Nachricht vom Tod ihres Mannes zu überbringen. Nach Daniels Beerdigung war sie in ein tiefes Loch gefallen und hatte nicht geglaubt, dass sie es jemals ohne ihn schaffen könnte. Sie hatte mit ihrem Schicksal gehadert und keine wirkliche Freude mehr empfunden.

Jeden Tag hatte sie sich gefragt, wie sie das bloß alles überstehen sollte. Doch glücklicherweise hatte es Emil gegeben. Das größte Geschenk, das ihr das Leben hätte machen können. Für ihn war Marieke stark und wollte alles schaffen.

Emil sollte keinen Nachteil dadurch haben, dass er ohne Vater aufwuchs. Meist gelang es ihr auch ganz gut. Obwohl sie bloß eine kleine Witwenrente bekam und in der Bäckerei nicht viel verdiente, ermöglichte sie Emil so viel, wie sie konnte. Marieke wünschte sich, dass er aufwachsen konnte, ohne viel Verzicht zu üben. Er hatte ja schon seinen Vater verloren. Wenn Emil in der Schule war, arbeitete sie immer in der Bäckerei. Doch es blieb am Ende nie genug übrig, um mit Emil zusammen einen kleinen Urlaub zu machen oder Geld für ein neues Auto zu sparen.

Missmutig dachte Marieke an ihren alten Opel, der schon seit drei Monaten am Straßenrand vor ihrer Wohnung stand, weil er mal wieder den Geist aufgegeben hatte. Das letzte Geräusch, das der Wagen von sich gegeben hatte, war so scheußlich gewesen, dass ihr der Gedanke daran noch eine Gänsehaut verursachte. Seitdem fuhren Emil und sie Bus und Bahn. Das klappte auch. Irgendwie. Aber sie müsste dringend Zeit finden, um sich um das Auto zu kümmern. Später.

Als sie an dem Schulgebäude ankam, warteten schon andere Eltern an dem Tor zum Schulhof. Es waren hauptsächlich Mütter oder Omas. Die meisten Väter übernahmen das Abholen nur, wenn sie Urlaub hatten oder aus anderen Gründen nicht arbeiteten. Manche ließen sich gar nicht blicken. Für Marieke bedeutete das jedoch, dass ihr keine Fragen nach Emils Vater gestellt wurden.

»Hallo, Frau Schepat!« Als Marieke sich umwandte, sah sie die Mutter eines Klassenkameraden von Emil. An der Hand hielt sie ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen, das ein Stofftier im Arm hielt und auf und ab hüpfte.

»Hallo, Frau Lischke.« Sie beugte sich runter zu dem Mädchen. »Na, Amelie. Du hast aber ein hübsches Einhorn.«

»Das kann zaubern! Fass mal an!« Das Mädchen blieb ruhig stehen und streckte ihr das Plüschtier entgegen, damit sie das rosafarbene Horn berühren konnte.

Marieke streichelte lächelnd darüber. »Wunderschön.«

»Und jetzt was wünschen«, forderte Amelie bestimmt. »Aber nicht verraten! Sonst wird der Wunsch nicht wahr.«

»Okay.« Marieke schloss kurz die Augen.

Ach, hätte Amelies Einhorn doch wirklich magische Kräfte und könnte ihren sehnlichsten Wunsch erfüllen! Dann hätte sie sich Daniel zurückgewünscht. Doch das Wunder konnte kein Plüscheinhorn der Welt vollbringen.

Sie öffnete die Augen wieder, richtete sich auf und strich dem Mädchen lächelnd übers Haar. »Danke.«

Frau Lischke schmunzelte. »Amelie ist gerade total auf dem Einhorn-Trip. Sie hat jetzt sogar Einhorn-Bettwäsche und eine Einhorn-Lampe.«

»Bei Emil sind gerade LKW schwer angesagt.«

»Ach, da fällt mir ein: Hat Emil schon einen Zettel für die Klassenfahrt Anfang des nächsten Schuljahrs mitbekommen? Lenny meinte, es wurde noch nichts ausgeteilt.«

»Klar. Schon letzte Woche.« Marieke hob ihre Stimme gegen das Klingeln der Schulglocke.

Kopfschüttelnd stemmte Frau Lischke eine Hand in die Hüfte. »Das ist mal wieder so typisch mein Sohn! Ein Chaot, wie er im Buche steht. Irgendwann vergisst er noch mal seinen Kopf.«

»Ach, das sind Kinder.« Marieke lachte und zuckte die Schultern. »Ich kopiere Ihnen das Infoschreiben.«

»Das ist wirklich sehr nett.«

»Kein Problem.« Marieke schaute zur Eingangstür und sah, wie sie geöffnet wurde. Schon stürmten die ersten Schüler aus dem Gebäude und rannten johlend über den Schulhof zu ihren Müttern oder Omas. Wenig später entdeckte sie Emil. Er war etwas schlanker als die anderen Neunjährigen, trug blaue Shorts und dazu ein weißes T-Shirt mit einem LKW darauf. Auf seinem Kopf saß eine gelbe Kappe mit einem aufgedruckten Dinosaurier. Zwischen den anderen Kindern wirkte er zerbrechlicher, fand Marieke, was seine blasse Hautfarbe zusätzlich unterstrich.

»Ich bringe Ihnen morgen die Kopie mit«, versprach sie, nachdem sie Emil in Empfang genommen hatte, und verabschiedete sich bei Frau Lischke.

Sie fasste ihren Sohn an der Hand. »So, mein Schatz. Wir müssen uns beeilen, damit wir noch den Bus bekommen. Du hast gleich einen Termin bei Doktor Kaufmann.«

»Ich habe aber keine Lust, zu Doktor Kaufmann zu gehen.« Prompt ließ er sich zurückfallen und zog schwer an ihrer Hand.

Marieke blieb stehen. »Aber Schatz, du weißt doch, dass es wichtig ist.«

Schon entzog er ihr seine Hand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich will keine Klammer auf die Nase bekommen und dann wieder ersticken.«

»Du wirst nicht ersticken. Das verspreche ich dir«, beruhigte sie Emil. Ihr Sohn hasste die Lungenfunktionstests, die er in regelmäßigen Abständen wegen seines Asthmas machen musste. Es führte kein Weg daran vorbei, aber Emil weigerte sich immer heftiger, je älter er wurde. »Und gerade weil du nicht ersticken möchtest, wird die Untersuchung gemacht.«

»Ich will das trotzdem nicht machen«, beharrte er.

»Danach gehen wir Spaghetti-Eis essen, ja?«, bestach sie ihn. Emil liebte Spaghetti-Eis über alles.

Nachdenklich presste er die Lippen zusammen. »Na gut«, gab er schließlich zögerlich nach.

Marieke gab ihm einen Kuss auf die Stirn und ging mit Emil weiter. »Wie war es heute in der Schule?«

»Gut. Null Fehler im Mathetest.«

Eine Dreiviertelstunde später hatte Emil die Untersuchung bereits hinter sich.

»Na, siehste! Hast du doch gut geschafft«, sagte Marieke, als er aus dem Behandlungsraum kam und sich auf den Platz neben ihr im Wartebereich setzte.

»Immer diese blöde Klammer. Ich musste voll husten«, erwiderte er genervt.

Sie wuschelte durch seine Haare und setzte ihm die Dino-Kappe wieder auf, die er vor der Untersuchung hatte abnehmen müssen. »Denk an deine Belohnung, und vergiss den blöden Husten.«

Wenig später wurden sie in das Sprechzimmer gerufen.

»Hallo, Emil. Hallo, Frau Schepat«, begrüßte Doktor Kaufmann sie und deutete auf zwei Stühle, die vor seinem Schreibtisch standen.

»Guten Tag.« Marieke und Emil setzten sich.

»Dann wollen wir mal sehen, was die Tests sagen.« Konzentriert las er etwas auf dem Bildschirm seines Computers und zog dabei die Augenbrauen zusammen.

Sein Gesichtsausdruck beunruhigte Marieke, sie versuchte sich aber nichts anmerken zu lassen. Stattdessen betrachtete sie Emil neben sich, der sich gelangweilt das aktuelle Bild eines Wandkalenders anschaute, auf dem ein Eichhörnchen abgebildet war.

»Also, die Ergebnisse sind nicht so, wie ich es mir gewünscht habe«, begann der Arzt. »Emils Lungenfunktion hat sich leider weiter verschlechtert.«

»Oh, nein«, sagte Marieke bestürzt und schaute wieder auf Emil, der nach wie vor auf das Eichhörnchen starrte, als hätte er mit der Diagnose nichts zu tun. »Was kann man denn da machen, um eine Verbesserung zu erzielen? Eine Kur?«

Der Arzt lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wiegte leicht den Kopf hin und her. »Eine Kur wäre auf jeden Fall zu befürworten, aber nicht die Lösung des Problems.«

Marieke zog die Stirn in Falten. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.«

»Lassen Sie es mich so sagen: Was Emil bräuchte, um eine gesundheitliche Verbesserung zu erzielen, ist eine dauerhafte Luftveränderung. Die Luftbelastung im Ruhrgebiet ist für ihn langfristig Gift.«

»Sie meinen, wir sollten umziehen?«, fragte sie perplex.

Jetzt erst wirkte Emil interessiert.

»Genau. Suchen Sie sich einen Wohnort mit einem ordentlichen Reizklima, etwas direkt an der Nordsee. Emil ist noch jung, da ist der Zeitpunkt günstig, um solch eine Veränderung vorzunehmen.«

»Damit habe ich nicht gerechnet.«

»Umziehen ist doch voll cool, Mama! Der Paul-David ist auch umgezogen, und jetzt hat er ein großes Zimmer und einen Hund«, sagte Emil begeistert.

»Da hören Sie es. Emil ist schon mal einverstanden.« Doktor Kaufmann warf ihm ein Lächeln zu.

»Ja, es kommt nur … sehr überraschend.« Marieke wusste nicht, was sie sagen sollte.

Schließlich stand der Arzt von seinem Stuhl auf und hielt ihr die Hand entgegen. »Denken Sie in Ruhe darüber nach. Und falls Sie noch Fragen haben sollten, dann melden Sie sich gerne bei mir.« Er lächelte sie aufmunternd an und drückte ihre Hand.

Statt eines Eisbechers hatte Marieke sich in dem Eis-Café einen Espresso bestellt – einen doppelten. Nach dem Gespräch mit dem Lungenfacharzt brauchte sie jetzt was Starkes.

Ein Umzug an die Nordsee. Wie sollte sie das denn hinbekommen?

In Gedanken versunken schaute sie Emil dabei zu, wie er das Spaghetti-Eis in sich hinein schaufelte. Dabei fiel ihr wieder auf, wie ähnlich er seinem Vater war. Je älter Emil wurde, desto mehr Übereinstimmungen konnte sie feststellen. Angefangen bei den braunen Wuschelhaaren und den langen Wimpern, bis zu dem Grübchen, das auf seiner Wange erschien, wenn er etwas im Schilde führte. Sie liebte Emil einfach über alles.

Was hätte Daniel jetzt wohl gesagt? Im Grunde wusste sie es ganz genau. Er wäre natürlich an die Nordsee gezogen, damit es Emil besser ging. Daniel war nie ein großer Grübler gewesen, sondern hatte Entscheidungen, egal, ob große oder kleine, immer sofort getroffen. Für ihn hatte es keine Probleme gegeben, nur Wege. »Geht nicht, gibt’s nicht«, hatte er immer gesagt und dann auch danach gehandelt.

Aber konnte sie das auch? Konnte sie so mutig sein wie ihr verstorbener Mann? Was sie alles für einen Umzug organisieren müsste … Natürlich müsste sie zu allererst eine bezahlbare Wohnung finden. Ob es an der Nordsee überhaupt eine Wohnung gab, die sie sich mit ihren bescheidenen Mitteln leisten konnte? Drei Zimmer wären ein Traum. Notfalls würde sie sogar im Wohnzimmer schlafen.

Dann müsste sie einen Transporter mieten, um ihre Möbel an Ort und Stelle zu bekommen. Ein paar helfende Hände müssten auch organisiert werden. Und natürlich bräuchte sie auch einen Job. Stellen in der Gastronomie oder in Hotels waren vermutlich in Küstenorten immer zu bekommen, doch die Arbeitszeiten waren bestimmt nicht familienfreundlich. Darüber hinaus gab es bestimmt tausend andere Dinge, die eingestielt werden müssten …

»Mami?«, fragte Emil. Ihm tropfte etwas rote Soße vom Kinn.

»Ja?«

»Ziehen wir denn um?«

»Du scheinst darauf ja richtig Lust zu haben.«

»Umziehen ist wie ein Abenteuer. Ich wollte immer schon ein Abenteuer erleben«, antwortete er mit kindlicher Leichtigkeit.

Sie stützte ihr Kinn auf einer Hand ab. »Ein Umzug würde bedeuten, dass wir ziemlich weit wegziehen. Du könntest nicht mehr hier zur Schule gehen und würdest deine Freunde auch nicht mehr sehen.«

»Das ist egal. Da, wo wir hinziehen, gibt es bestimmt auch eine Schule und neue Freunde für mich«, eröffnete er ihr mit einem strahlenden Lächeln.

Marieke musste lächeln. Ja, er kam ganz nach ihrem verstorbenen Mann. Und für ihn würde sie alles tun.

2. Kapitel

Früher Nachmittag im Garten eines alten Reetdachhauses am Gräftendiek im Ortsteil Ording. Vom Himmel strahlte die Sonne, eine leichte Brise wehte über den Deich und sorgte für erträgliche Temperaturen.

Berta hatte den Rasen gemäht, die blühenden Rosen geschnitten, sämtliche Fenster geputzt und einen Sonnenschirm auf der Terrasse aufgespannt. Sogar einen Kuchen hatte sie gebacken, mit frischen Kirschen aus dem Garten, die sie am Morgen gepflückt hatte. Nachdem sie den Kuchen mitten auf den Terrassentisch gestellt und einen Tortenheber danebengelegt hatte, trat sie einen Schritt zurück und begutachtete das Ergebnis prüfend. Obwohl sie lange keinen Kuchen mehr gebacken hatte, war ihr gleich wieder das Rezept für den Boden eingefallen. Das war vermutlich wie Fahrradfahren: Konnte man es einmal, verlernte man es nicht mehr.

Berta drehte den Kuchen und rückte ihn noch weiter in die Tischmitte. Dann nahm sie Servietten und legte sie neben die zwei Kuchenteller, die schon auf dem Tisch bereitstanden. Kuchengabeln folgten, ihre Porzellandose mit Kluntjes und einer kleinen Zange ebenfalls. Den Tee wollte Berta erst aufbrühen, wenn Ditte da war. Und die Teesahne beließ sie besser auch noch im Kühlschrank, bevor sie bei dem warmen Wetter einen Stich bekam. Obwohl es so heiß war, wollte sie auf ihren Tee nicht verzichten. Selbst die Beduinen tranken heißen Tee, weil er von innen kühlte. Und gegen die Wüstenhitze waren die sommerlichen Temperaturen in St. Peter allenfalls eine erfrischende Brise.

Berta war aufgeregt. Schön wollte sie es machen, alles sollte perfekt sein. Sie hatte so lange keinen Besuch mehr gehabt und fühlte sich gänzlich aus der Übung. Als sie das letzte Mal Gäste in dem alten Reetdachhaus empfangen hatte, hatte ihre Schwester noch gelebt. Vielleicht sollte sie noch ein paar Rosen schneiden und sie in einer Glasvase auf den Tisch stellen?

Sie schaute auf die Armbanduhr. Viertel vor drei. Der Bus kam um fünf vor drei an der Haltestelle Utholm an – aber meistens hatte er Verspätung. Das schaffte sie noch. Sie ging ins Haus, um eine Gartenschere zu holen.

Es wird schon werden, sagte sie sich. Ditte und sie waren ja auch gewissermaßen Schwestern im Geiste. Auch sie war, nachdem ihr Mann Matthias auf See verschollen war, in ein tiefes Loch gefallen und hatte erst lange Zeit später seinen Tod akzeptiert. Deshalb hatte Ditte Verständnis für ihre Situation. Und hoffentlich konnte sie ihr bei ihrem Anliegen helfen.

Um zehn nach drei klingelte es an der Tür.

Berta strich sich das Kleid glatt, bevor sie öffnete. »Moin, Ditte!«

»Moin, Berta!«

»Komm rein.«

Ditte betrat die Diele, in ihrer Hand hielt sie einen bunten Blumenstrauß. Sie hatte ihr graues Haar zu einem Dutt festgesteckt und trug einen knielangen blauen Hosenrock mit passender Bluse und braunen Sandalen. Wie immer wirkte sie um einiges jünger, als sie in Wirklichkeit war. »Die sind für dich.« Sie hielt Berta die Blumen hin.

»Sind die schön! Das wäre aber nicht nötig gewesen.« Berta roch an den Blüten. »Wie gut sie duften! Geh ruhig schon mal vor auf die Terrasse. Ich stelle den Strauß noch schnell in eine Vase und mache uns Tee.«

Während sich Berta in der Küche um die Blumen kümmerte und Tee kochte, überlegte sie noch einmal, wie sie am besten ihr Anliegen formulieren konnte. Normalerweise war sie nicht auf den Mund gefallen, aber sie mochte andere Leute nicht gern um Hilfe bitten. Doch in diesem Fall war sie auf Unterstützung angewiesen, wenn sie vorwärtskommen wollte.

Sie goss heißes Wasser durch das Teesieb in die Kanne und verschloss sie mit einem Deckel. Dann stellte sie die Blumen, das Sahnekännchen und die Teekanne auf ein Tablett und ging zur Terrasse.

Ditte hatte unter dem Sonnenschirm Platz genommen, stand aber auf, als sie Berta mit dem Tablett kommen sah. »Komm, ich helfe dir.« Sie nahm die Teekanne und stellte sie auf den Tisch.

»Danke.« Berta fand Platz für die Sahne und die Blumen. »Dann dürfte nun alles da sein.« Sie griff nach dem Tortenheber. »Welches Stück möchtest du?«

»Ruhig ein großes. Bei mir ist nämlich das Mittagessen ausgefallen, weil der Hufschmied da war.« Ditte hatte einen Gutshof, auf dem sie Friesen züchtete. Neben der Zucht gab es dort aber auch einen regulären Reitbetrieb, und sie bot Reiterferien an. Sie führte den Gutshof mit Unterstützung ihres langjährigen Mitarbeiters Hauke, der für die Stallungen und Pferde zuständig war. Und ihre Nichte Inga kümmerte sich neben ihrem eigenen Café um die Vermarktung.

»Iss so viel, wie es dir schmeckt.« Berta hob ein großes Stück Kirschkuchen auf ihren Teller und schenkte anschließend Tee ein.

Während sie sich ebenfalls Kuchen und Tee nahm, probierte Ditte den Kuchen. »Schmeckt wunderbar!«

»Danke! Das freut mich! Dabei habe ich so lange keinen Kuchen mehr gemacht.«

»Hast nichts verlernt.« Ditte trank einen Schluck Tee. »Danke übrigens für deine Einladung. Ich habe gar nicht damit gerechnet, mich aber sehr gefreut.« Sie schaute Berta fragend an.

Verlegen ließ Berta die Kuchengabel sinken und räusperte sich. »Ja, ich wollte etwas mit dir besprechen.«

Ditte nickte. »Dachte ich mir, dass es nicht nur ums Kuchenessen geht.«

»Natürlich wollte ich dich auch zum Kuchenessen einladen. Ich dachte mir nur, dass es sich so besser besprechen lässt.«

Erwartungsvoll schaute Ditte sie an. »Dann spann mich nicht länger auf die Folter. Um was geht es?«

»Na ja, es ist jetzt schon lange her, dass Hanni gestorben ist. Seitdem lebe ich hier ganz alleine.« Berta griff nach ihrer Serviette und faltete sie umständlich. »Ich habe das Alleinsein satt.«

»Na, bravo! Das wurde auch langsam mal Zeit«, sagte Ditte vergnügt und aß noch ein Stück vom Kuchen.

»Und ich wollte dich um deine Hilfe bitten«, brachte Berta schließlich hervor.

Ditte lächelte zufrieden. »Ich bin ganz Ohr. Was hast du vor?«

»Du kennst doch die Einliegerwohnung in der ersten Etage?«

Ditte überlegte kurz. »In der haben doch ganz früher deine Großeltern gelebt, richtig?«

»Stimmt genau. Und jetzt möchte ich die Wohnung gerne vermieten«, kam Berta zur Sache.

»Das ist doch eine sehr gute Idee!«, fand Ditte und aß den Rest ihres Kuchens. »Inga kennt die Leute, die das Gastgeberverzeichnis erstellen, ziemlich gut. Es dürfte kein Problem sein, deine Wohnung in den Prospekt zu bekommen.«

Berta seufzte. »An Feriengäste habe ich nicht unbedingt gedacht.«

»Das wäre aber sehr lukrativ für dich. Gerade, wo St. Peter-Ording doch regelmäßig ausgebucht ist«, gab Ditte zu bedenken. »Bekomme ich noch ein Stück?«

Berta schob ein zweites Stück Kirschkuchen auf Dittes Teller. »Ich weiß, aber es geht mir nicht in erster Linie ums Geld. Natürlich kann ich Einkünfte gut gebrauchen. Aber eigentlich möchte ich die Wohnung lieber dauerhaft vermieten.« Sie trank einen Schluck Tee. »Weißt du, Feriengäste kommen und gehen. Ich hätte gerne für die Wohnung Mieter, die dort über einen längeren Zeitraum bleiben. Vielleicht eine junge Familie.«

»Klingt gut!«

»Allerdings gibt es dabei für mich ein Problem. Früher hätte ich die Wohnung ja einfach in einer Zeitung inseriert, mittlerweile geht doch allerdings alles über das Internet. Soviel weiß ich. Und ich kann E-Mails lesen und schreiben und über die Suchmaschine Seiten finden. Da hört es nur leider dann schon auf mit meinen Internet-Fähigkeiten.«

Ditte lächelte ihr aufmunternd zu. »Das kriegen wir hin! Wir müssen nur zuerst schöne Fotos von der Wohnung machen.«

Daran hatte Berta noch gar nicht gedacht. »Ich habe bloß eine ganz alte Kamera, die bestimmt schon über dreißig Jahre auf dem Buckel hat«, erwiderte sie ausweichend.

»Daran soll es nicht scheitern. Inga hat eine tolle Kamera, ist aber im Café unabkömmlich. Was hältst du davon, wenn wir eben rüber zu Lilo in die Strandperle gehen. Soweit ich weiß, haben ihre Nichten Insa und Stephanie auch eine gute Kamera, mit der sie die Fotos vom Campingplatz machen. Die leihen wir uns einfach aus.« Vorfreudig klatschte Ditte in die Hände.

»Einverstanden!«, sagte Berta erfreut. »Ich wusste ja, dass du mir helfen würdest.«

Ditte stand gleich auf. »Dann lass uns sofort vorbeigehen.«

Der Campingplatz Strandperle lag direkt am Ordinger Deich, bloß wenige Gehminuten von Bertas Haus entfernt. Zu dem Campingplatz gehörte auch ein Imbiss, die Miesmuschel, die von Insa betrieben wurde.

Kaum angekommen, lugte Ditte durch die Glasfront in das Restaurant. »Insa arbeitet. Lass uns reingehen und fragen, ob Lilo da ist.«

Ditte und Berta betraten die Miesmuschel, in der reger Betrieb herrschte. Sie mussten einen Moment warten, bis Insa Zeit für sie hatte.

»Moin, Insa. Wir suchen Lilo«, kam Ditte direkt zur Sache, da sich hinter ihnen schon wieder eine Schlange von Gästen gebildet hatte.

»Sie müsste bei Joris am Wohnwagen sein.«

»Danke! Können wir uns eventuell eure Kamera ausleihen?«

»Klar, von mir aus! Aber das muss Lilo entscheiden.«

Ditte und Berta überquerten den Campingplatz, auf dem es kein freies Plätzchen gab, bis zur Parzelle, auf der Joris’ Wohnwagen stand. Vor dem Wagen saßen Lilo und ihr Lebensgefährte an einem Tisch und spielten Karten. Wie so oft trug Lilo einen breitkrempigen Strohhut mit roter Schleife. Neben ihr lag ein mit Blumen gemusterter Fächer auf der Tischplatte.

»Moin!«

»Moin!«, rief Lilo und legte die Karten verdeckt ab. »Was macht ihr denn hier? Falls ihr für jemanden einen freien Platz sucht: Wir sind restlos ausgebucht. Keine Chance.« Sie griff nach dem Fächer und wedelte sich Luft zu.

Joris grüßte, indem er mit dem Zeigefinger an seine Mütze tippte. In seinem Mundwinkel hing eine qualmende Pfeife, die einen angenehm würzigen Geruch verströmte.

»Nein, wir suchen keinen freien Platz. Wir wollten zu dir und fragen, ob du uns eure Kamera ausleihen kannst«, übernahm Ditte die Gesprächsführung. Sie war lange mit Lilo befreundet und kannte sie besser als Berta.

»Spricht nichts dagegen. Was habt ihr vor?«

Berta hatte gewusst, dass sie mehr Menschen einweihen musste als ihre Freundin Ditte. Und am Ende würden es ohnehin alle wissen. Trotzdem fühlte sie sich nicht ganz wohl, während sie Lilo und Joris von ihren Plänen erzählte.

Lilo reagierte begeistert und klappte den Fächer zusammen. »Das finde ich gut! Gerade Mietwohnungen sind in St. Peter doch Mangelware. Und dann die tolle Lage in Strandnähe, die Wohnung ist bestimmt in kürzester Zeit weg. Wie groß ist sie denn?«

»Ungefähr siebzig Quadratmeter, drei Zimmer mit Balkon«, erzählte Berta.

Lilo zog die Augenbrauen hoch. »Jetzt hast du mich richtig neugierig gemacht.«

»Ihr könnt gerne zum Fotografieren mitkommen, wenn ihr wollt«, schlug Berta vor und freute sich, noch mehr Unterstützung gefunden zu haben.

»Was meinst du? Gucken wir uns die Wohnung an?«, fragte Lilo Joris.

»Natürlich. Ich verliere eh gerade gegen dich.« Er zwinkerte ihr zu.

»Dann hole ich mal den Fotoapparat.«

Ditte, Lilo und Joris standen hinter Berta, während sie die zweite Eingangstür vom Haus aufschloss. »Die Wohnung ist in der ersten Etage.«

Berta ging voran und führte ihre Besucher über die Treppe bis zu einer weißen Tür. Es kam ihr immer noch seltsam vor, andere Menschen hier zu haben. Aber es fühlte sich gut an, der Raum voller Stimmen – und nicht nur ihre einsamen Schritte auf den Stufen zu hören.

Dann schauten sie sich neugierig in der hellen Wohnung um.

»Etwas stickig hier«, merkte Ditte an.

»Oh, Entschuldigung.« Berta öffnete ein weißes Sprossenfenster. »Ich habe schon länger nicht mehr gelüftet.«

»Aber sonst sieht es ganz passabel aus. Der Schiffsboden sieht ja noch fast wie neu aus.« Lilo schaute in die Küche. »Was für eine schöne gemütliche alte Friesenküche!«, rief sie kurz darauf überwältigt. »So eine hatte meine Oma auch. Und dann die hübschen Delfter Fliesen! Der Ofen ist auch ganz bezaubernd! Falls die neuen Mieter die nicht haben wollen, ich nehme sie sofort!« Lilo machte sofort ein paar Fotos von der Küche.

Berta lächelte. »Gut zu wissen!«

»Ich fürchte, die alten Möbel müssen aber erst einmal raus, bevor wir Fotos machen können«, merkte Ditte an. »Und dann solltest du die Wohnung einmal komplett weiß streichen lassen oder machst einen Nachlass auf die Kaution, wenn die neuen Mieter das Streichen in Eigenregie übernehmen wollen.«

Lilo öffnete die Balkontür und trat hinaus. »Ist das herrlich! Allein für diese Aussicht solltest du mit dem Mietpreis hochgehen!« Sie machte wieder Fotos.

Joris trat neben seine Lebensgefährtin. »Das Bad ist ganz okay, mach da auch gleich ein paar Bilder.«

»Das ist das Einzige, was vor ungefähr achtzehn Jahren komplett neu gemacht wurde, weil wir damals einen Rohrbruch hatten. Seitdem wurde es aber nicht genutzt, weil die Wohnung die ganze Zeit unbewohnt war«, erklärte Berta und runzelte dann die Stirn. »Aber was machen wir mit den alten Möbeln? Alleine kann ich sie nicht aus der Wohnung schleppen. Teilweise sind sie massiv.«

»Der Sohn eines Bekannten von mir hat einen Entrümplungsdienst. Ich kann da bestimmt einen fairen Preis für dich aushandeln«, bot Joris seine Hilfe an.

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