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Du stirbst nicht nur zur Sommerzeit

Als Buch hier erhältlich:

hier erhältlich:

O Tannenbaum, O Tannenbaum,

Ich bring euch was zum Lesen:

Denn gerade jetzt zur Weihnachtszeit

Der nächste Mörder ist nicht weit

Ob unter des Baumes grünem Kleid,

beim Weihnachtsessen großes Leid,

Ob auf der Flucht vorm frohen Fest,

der Weihnachtsmann dir gibt den Rest,

In diesem Buch geht’s spannend zu

Drum rat ich dir – bestell´s im Nu.

In dieser winterlichen Anthologie werden alle Krimi-Fans auf ihre Kosten kommen. Mit verkleideten Weihnachtsmännern, gefährlichen Geschenken und streitlustigen Familien wird es in vierundzwanzig Krimis diese Adventszeit nicht langweilig.

Mit Geschichten von: Sina Beerwald, Ella Danz, Elsa Dix, Adrian Geiges, Kathrin Hanke, Franziska Henze, Hartmut Höhne, Svea Jensen, Markus Kleinknecht, Regine Kölpin, Christian Kraus, Anke Küpper, Felix Leibrock, Michelle Marly, Nicole Neubauer, Markus Rahaus, Michael Römling, Jobst Schlennstedt, Anette Schwohl, Hendrik Siebold, Carolyn Srugies, Michael Thode, Sabine Weiß und Ben Westphal.


  • Erscheinungstag: 24.09.2024
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749907472
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Liebe Leserinnen und Leser,

es gibt zwei Sorten von Menschen: die, die Weihnachten lieben, und die, die Weihnachten hassen. In unseren 24 Weihnachtskurzkrimis – allesamt Erstveröffentlichungen – kommen beide auf ihre Kosten, das versprechen wir Ihnen. Ob mittendrin bei der Familienweihnachtsfeier, fernab auf einer Nordseeinsel oder gar in Bethlehems Stall, überall geht es mörderisch spannend zur Sache. Denn Weihnachten ist nicht nur das Fest der Liebe, sondern auch, Sie wissen es vielleicht, die gefährlichste Zeit des Jahres.

In diesem Sinne wünschen wir spannende Unterhaltung – und passen Sie auf sich auf.

Ihre Kathrin Hanke, Franziska Henze und Svea Jensen

Eiswellen

Elsa Dix

Der Wind zerrt an ihrem Schal, droht ihr die Mütze vom Kopf zu wehen. Gesa wickelt ihren Wollmantel fester um ihren Körper. Schnee treibt eisige Spitzen in die Haut ihres Gesichts. Sie wischt ihn mit dem Handschuh weg, schaut aufs Wattenmeer. Gefrorene Krusten überziehen das Wasser. Eiswellen. Gefährlich und unberechenbar.

Sie hat das Dorf vor einer Stunde verlassen. Am Hafen vorbei, die Polder entlang bis zum Vogelschutzgebiet. Weit entfernt hört sie die Glocken, die zur Christmette läuten. Die Kirche wird bis zum letzten Platz besetzt sein. Hier hingegen ist es menschenleer. Zumindest fast. Die Härchen in Gesas Nacken richten sich auf. Sie weiß, dass er ihr gefolgt ist.

Sechs Monate zuvor – Sommer 1968

Wolfgang steht auf der Fähre, der Wind bläst ihm salzige Luft in das Gesicht. Er sieht, wie die Insel näher kommt. Weiße Häuser am Strand, spielende Kinder im Sand. Missmutig verzieht er das Gesicht. Seine Mutter hat darauf bestanden, dass er einige Wochen nach Norderney fährt. Zur Erholung von der Studiererei, sagte sie. Dabei befürchtet sie nur, dass er in Berlin in die Unruhen hineingerät. Wie wenig sie ihn kennt. Was interessiert ihn Rudi Dutschke? Er hat ohnehin kaum Kontakt zu seinen Kommilitonen. Schwätzer, die glauben, eine Revolution herbeireden zu können.

Die Insel gefällt ihm nicht, schon nach einem Tag ist er genervt: wegen des Klingelns der Bimmelbahn vor der Milchbar, weil alle Sitzplätze im Strandcafé Cornelius besetzt sind und weil er sich das Conversationshaus nicht ansehen kann, ohne dass ihm ein Kurkonzert mit Seemannsliedern entgegenschallt. Aber dann entdeckt er Gesa.

Mit festen Schritten geht sie durch die Friedrichstraße, in der Hand ein Einkaufsnetz. Über die toupierten Haare hat sie ein buntes Tuch gebunden. Ein Mädchen wie so viele. Und doch bleibt sein Blick an ihr hängen. Es ist die Art, wie sie sich bewegt. Sie weiß, wohin sie gehört: Auf diese Insel. In dieses Land. In diese Welt. Er folgt ihr. Sie kauft Obst bei Bakker, Brot bei Bethke in der Poststraße, Blumen bei Namuth. Alltäglichkeiten. Vielleicht ist es genau das, was seine Aufmerksamkeit erregt. Inmitten dieser Scheinwelt aus Urlaubern, in der man jede Minute genießen muss, bevor es zurück in den Arbeitstrott geht, ist Gesa ein Stück Normalität. Alltag im Ausnahmezustand. Aufstehen, Frühstück für die Gäste bereiten, Betten machen, durchwischen, Einkäufe tätigen, Wattwanderungen mit den Urlaubern, Essen vorbereiten. Feste Abläufe, immer gleich. Nach drei Tagen weiß er, wo sie für die Familie und die Gäste einkauft. Nach sechs, bei welchem Bekannten sie stehen bleibt, um zu plaudern, und an wem sie mit einem schnellen Gruß vorbeigeht. Nach elf Tagen, über welche Träume sie sich mit ihrer Freundin Bärbel unterhält, wenn die beiden abends in den Dünen spazieren gehen und sich allein wähnen. Kurz vor seiner Abreise fasst er sich ein Herz, bietet Gesa an, ihr Einkaufsnetz zu tragen. Sie lächelt und sagt, das könne sie gut allein. Sie ist freundlich. Distanziert. Sie will zu Urlaubern keinen näheren Kontakt. Erstarrt bleibt Wolfgang stehen, während sie ihren üblichen Weg fortsetzt. Er hat gedacht, bei ihm ist es anders. Er kennt sie doch, wie kann sie das nicht bemerken? Wolfgang dreht sich um, packt seinen Koffer und verlässt die Insel mit der nächsten Fähre.

Herbst

Gesa bleibt in Wolfgangs Gedanken. Ständig und immer. Am ersten Samstag im Oktober hält er es nicht mehr aus und fährt zurück. Auch das nächste Wochenende kommt er. Vernachlässigt das Studium. Muss sich bei einem Bekannten Geld leihen, um Reise und Unterkunft bezahlen zu können. Schließlich bleibt er ganz. Gesa wird ein Teil seiner Routine. Aufstehen, beim Herrenpfad warten, bis sie aus dem Haus tritt, sie beim Einkauf begleiten. Am Nachmittag führt sie Urlauber durch das Watt. Untiefen, Schlicklöcher und Treibsand, sie kennt sich aus. Abends trifft sie sich mit Bärbel. Er ist immer dabei, unsichtbar, ein Schatten – und doch so nah.

Gesa ist froh, als im November die letzten Gäste abreisen. Gemeinsam mit ihren Eltern schiebt sie den großen Tisch aus dem Wohnzimmer zurück in die Küche. Sie kann ihr Zimmer wieder allein nutzen, auch wenn Karin noch manchmal nachts zu ihr kommt. Es macht Gesa nichts aus, es ist schön, beim Einschlafen den leisen Atem ihrer kleinen Schwester zu hören. Jetzt ist die Familie wieder unter sich. Da ist niemand mehr, der noch schnell ein Brot gemacht haben will. Der am Küchentisch sitzt und bis in die Nacht mit dem Vater diskutiert: ob man sich eine Wohnung in dem neuen Apartmenthaus an der Kaiserstraße kaufen sollte, ob eine Landverbindung wie auf Sylt gebaut werden müsste, wann der letzte Fischer der Insel aufgeben wird.

Gesa zieht die Spitzentischdecke auf dem Wohnzimmertisch gerade. Die Mutter hat Karin ins Bett gebracht, setzt sich jetzt auf das Sofa und greift nach dem Strickzeug. Auch Gesas Vater kommt, er hat heute Nachmittag den Anlasser am Boot repariert, nun stellt er den Fernseher an. Gesas Blick geht zur Uhr, kurz vor acht, gleich fängt die Tagesschau an. Ihr bleibt nicht viel Zeit. Sie atmet tief durch. »Ich wollte mit euch reden.« Sie zögert, aber es hilft nichts. Sie muss es sagen. »Mir folgt ein junger Mann, ein Urlauber. Seit Wochen ist er mir ständig auf den Fersen, ich kann hingehen, wo ich will. Immer ist er da.« Sie presst die Lippen aufeinander. Lange hat sie überlegt, wie sie es sagen soll, ohne dass es sich verrückt anhört. Es hört sich trotzdem verrückt an.

Die Mutter blickt nicht von ihrem Strickzeug auf. »Der verschwindet schon wieder. Um diese Jahreszeit fahren die Urlauber ab, dann bist du ihn los.«

Ihr Vater lässt sich ächzend in den Sessel fallen. Er wendet sich zu ihr um. »Hast du ihn ermuntert?« In seinem Blick liegt etwas Abschätziges.

Ihr Herz schlägt schneller. »Bestimmt nicht.«

Die Augen des Vaters werden klein. »Aber von selbst kommt so ein Junge doch nicht auf Ideen.«

Ihre Mutter sieht nun doch auf. »Geh ihm einfach aus dem Weg.«

Als ob das so einfach wäre. Gesa würde am liebsten heulen. Sie will noch etwas sagen, aber die Melodie der Tagesschau ertönt, und die Weltkarte erscheint auf dem Fernseher. Der Vater greift nach einem Bier, die Mutter lehnt sich im Sofa zurück, lässt das Strickzeug sinken. Gesas Zeitfenster ist vorbei.

Am nächsten Tag nieselt es, der Wind fegt über die roten Ziegelsteine am Boden. Bevor sie aus dem Haus tritt, schaut Gesa die Straße entlang. Die Nachbarin geht mit ihren beiden Kleinen Richtung Grundschule. Sonst ist es leer. Gesa zieht die Kapuze ihres roten Wollmantels über. Sie ist es leid, sich von diesem Mann hetzen zu lassen. Sie wird ihn zur Rede stellen. An der Friedrichstraße huscht sie hinter das Kaiser-Wilhelm-Denkmal. Sie hört Schritte, jemand kommt aus dem Herrenpfad. Sie atmet durch, stellt sich dem Mann entgegen. Aber es ist nur Hinrich Uphoff, der Gepäckträger. Er schüttelt den Kopf. »Wat is mit di, Wicht?« Sie läuft rot an, dreht sich um und läuft davon.

Der Wind wirbelt Papier in den grauen Himmel und pfeift durch Wolfgangs Hose. Er tritt von einem Bein aufs andere. Gesa ist seit Tagen nicht vor die Tür gegangen. Aber es ist ihm recht, sehr recht sogar. Denn er hat etwas entdeckt, was seine Beobachtungen viel leichter machen wird. Es war ein Zettel, ausgehängt im Feinkostladen im Herrenpfad. Jetzt klopft er an die Holztür, eine Frau im schwarzen Witwenkleid öffnet ihm, sie hat ihn erwartet. Ächzend schiebt sie ihren schweren Körper Stufe um Stufe hinauf bis zum Dachboden. »Hier ist aber keine Heizung. Ich sage es nur. Nicht, dass mir im Winter Beschwerden kommen.« Sie macht die Zimmertür auf. Wolfgang drängt sich an ihr vorbei, stößt mit dem Kopf fast gegen die Dachschräge. In einer Nische steht ein schmales Bett, an der Wand ein abgenutzter Schrank. Aber das interessiert ihn nicht, sondern allein der Blick nach draußen. Er kann in das Zimmer des gegenüberliegenden Hauses sehen. Dort sitzen zwei Mädchen auf einem Bett mit einem aus bunter Wolle gestrickten Überwurf. Gesa und ihre Freundin Bärbel. »Ich nehme es«, flüstert Wolfgang. »Es ist perfekt.«

Die nächsten Tage verbringt er am Fenster, verborgen von der Gardine und in eine dicke Wolldecke eingemummelt. Er hat sich ein altes Opernglas besorgt, so kann er alles bis ins Detail sehen. Morgens um halb sieben zieht Gesa ihre Vorhänge beiseite. Dann geht sie hinunter zum Frühstücken. Er folgt ihr, denn wenn er in der Küche bei seiner Zimmerwirtin sitzt, dann ist es, als säße er mit Gesa an einem Tisch. Er sieht, wie sie mit ihrer Mutter plaudert, während sie ihre kleine Schwester füttert. Manchmal liegt sie auf ihrem Bett und liest. Sie knabbert dabei mit den Zähnen an ihrer Lippe. Das Lesen gefällt ihm nicht. Sie vergisst ihn, dabei soll sie jeden Moment an ihn denken.

Gesa schließt die Haustür schnell hinter sich. Sie atmet auf, als sie in die Sicherheit der Wohnung tritt. Sie hängt ihren Mantel an die Holzgarderobe. Ihre Mutter tritt aus der Küche, trocknet gerade einen Teller ab. »Da lag ein Paket für dich vor der Tür. Ich hab es auf dein Bett gelegt.« Ihre Mutter dreht sich zu Karin um, die am Tisch sitzt und ein Brot isst. Marmelade klebt an ihrem Mund.

Gesa geht die Treppe hinauf. Das Paket ist schmal, in Packpapier eingewickelt und mit einer roten Schleife versehen. Kein Absender. Ihre Hand zittert, als sie das Band aufzieht. Es ist ein Buch, der zweite Teil von »Morgens um sieben ist die Welt noch in Ordnung«. Den Vorgänger hat sie gerade beendet. Hinter ihrer Stirn fängt es an zu pochen. Sie hat mit niemandem darüber geredet, nicht einmal mit Bärbel. Wer weiß, dass sie es gelesen hat? Im Einband steht etwas. »Ich bin immer bei dir.«

Sie lässt das Buch fallen.

Wolfgang steht am Fenster und sieht, wie Gesa sich mit aufgerissenen Augen umwendet und ans Fenster tritt. Sie schaut zuerst hinunter zur Straße, dann direkt zu ihm herüber. Aber er ist hinter der Gardine verborgen. Er sieht, wie sie anfängt, zu zittern. Wie sie eilig die Vorhänge zuzieht. Trotzdem kann er ihre Konturen sehen, sie kann ihm nicht entwischen. Zwischen seinen Beinen wird es heiß.

Winter

Das Haus riecht nach Plätzchen, Gesas Mutter zieht das Backblech aus dem Ofen. Gesa sitzt am Küchentisch und streicht die Zitronenglasur über die Plätzchen. Die Mutter nimmt ihr den Pinsel ab. »Ich kann den Rest machen. Geh du mit Bärbel zum Schlittschuhlaufen. Du bist viel zu oft zu Hause.« Ihr Blick ist aufmerksam.

Gesa schüttelt den Kopf, knibbelt an einem der Plätzchen. Der Zitronenzucker klebt an ihren Fingern. »Keine Lust.«

Ihre Mutter scheint sie nicht zu hören. »Karin nimmst du auch mit, ihr könnt sie mit dem Schlitten über das Eis ziehen. Dann ist sie vor meinen Füßen weg, und ich kann ihre Geschenke für Weihnachten einpacken.« Sie entscheidet einfach, ohne zu fragen.

Gesa steht ruckartig auf. »Ich gehe nicht raus!« Sie rennt nach oben, will sich auf das Bett werfen. Aber an der Tür bleibt sie abrupt stehen. Ihre Mutter hat heute Morgen die Vorhänge zur Seite gezogen, der Blick von draußen in ihr Zimmer ist frei. Gesa kann nicht weitergehen. Nicht am Fenster vorbei. Dort, wo er sie sieht. Sie steht einfach da und zittert.

Die Sonne glitzert auf dem gefrorenen Wasser, und Raureif liegt auf dem Schilf. Bärbel ist schon auf dem Schwanensee, sie dreht eine Runde, weit entfernt von der Abbruchkante, wo das Eis für die Hotels geschnitten wird. Gesa sitzt auf der Bank und zieht ihre Schlittschuhe an. Trotz des dicken Schals und der Jacke fühlt sie die Kälte in ihrem Nacken. Er ist irgendwo hinter ihr und beobachtet sie.

Sie gleitet aufs Eis. Erst bis zum Schilf, dann Richtung Mühle und zurück. Die Kälte brennt auf ihren Wangen. Bärbel kommt und nimmt ihre Hand, sie laufen gemeinsam. Gesa setzt einen Fuß vor den nächsten, alles ist nur noch Bewegung. Karin winkt. Gesa nimmt ihre kleine Schwester auf den Arm und fährt mit ihr über den See. Karin lacht und drückt sich an sie. Sie drehen noch eine Runde. Gesa vergisst die Kälte in ihrem Rücken.

Wolfgangs Füße sind wie Eiszapfen. Er steht im Wald, verdeckt von einer Eibe. Seit Stunden ist Gesa auf dem Eis. Sie und Bärbel wechseln sich mit Karin ab, mal zieht die eine sie mit dem Schlitten hinter sich her, dann die andere. Die drei lachen laut, viel zu laut. Nasser Schnee tropft von einem Ast in seinen Nacken. Gesa strahlt, so wie sie früher gestrahlt hat. Weißer Dampf vor ihrem Mund, rote Wangen. Sie hat ihn vergessen. Er presst die Lippen zusammen, fühlt, wie sich jeder Muskel seines Körpers verkrampft. Er muss sie für ihre Unbekümmertheit bestrafen. Karin sitzt allein auf dem Schlitten am Rand, schaut den beiden Mädchen zu. Es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, sie zu packen und zur Abbruchkante zu zerren. Niemand bemerkt ihn.

Am Abend liegt Gesa im Bett, die Vorhänge vor dem Fenster sind zugezogen. Sie wischt sich über die nassen Augen. Sie ist müde, unendlich müde. Sie hat Karins Mantel nur zufällig bemerkt, aus den Augenwinkeln. Dort, wo das Eis für die Hotels aus dem See geschlagen wird. Karin lag mit dem Kopf unter Wasser, Gesa konnte sie gerade noch am Ärmel erwischen und rausziehen.

Karin bewegt sich unruhig im Schlaf. Gesa nimmt sie in den Arm, spürt den warmen Körper. Niemals wäre Karin allein zu der Bruchkante gegangen. Jemand musste sie dorthin gebracht haben. Es ist Gesas Schuld. Sie hatte sich vergessen, ihn vergessen. Sie hat Karin in Gefahr gebracht. Das darf nie wieder geschehen.

Wolfgang lächelt, als er aus dem Fenster sieht. Gesa verhält sich seit Tagen vorbildlich. Sie lässt die Vorhänge auf. Auf der Straße bleibt sie hin und wieder stehen, so als ob sie auf ihn wartet. Sie hat gelernt. Seine Zimmerwirtin fragt, ob er über Weihnachten bleibt. Seine Mutter rechnet mit ihm, aber wie soll er jetzt zu ihr fahren? So wie Gesa gelernt hat, hat auch er gelernt. Er darf die Zügel nicht locker lassen. Sie muss spüren, dass er da ist. Aber da ist noch etwas. Etwas, was ihn in seine Träume begleitet, seitdem er die Angst in Gesas Augen gesehen hat bei der Sache mit Karin. Wie viel größer würde diese Angst sein, wenn es um ihr eigenes Leben ginge? Er fühlt ein Kribbeln in sich aufsteigen, wie immer, wenn er daran denkt. Er wird den Gedanken nicht mehr los. Er wird es tun müssen. Sie spüren lassen, dass er allein sie beherrscht. Das ultimative Zeichen, dass sie ihm gehört. Ein Glücksgefühl durchfährt ihn. Bald. Er muss es bald tun.

Vor dem Conversationshaus steht ein Weihnachtsbaum, seine Lichter scheinen trüb durch den eisigen Schneeregen. Die Touristen und Einheimischen sind auf dem Weg zur Christmette. Vor der Kirche sagt Gesa, sie habe vergessen, den Herd auszustellen. Die Mutter schimpft. Gesa verspricht, nachzukommen. Karin presst sich an sie, als würde sie die Lüge spüren. Gesa muss alle Willenskraft aufbringen, um die Tränen zurückzudrängen. Aber es geht nicht anders. Jeden Tag die Beklemmung in ihrer Brust. Das Gefühl, dass er hinter ihr ist. Es wird niemals enden. Sie kann nicht mehr. So will sie nicht weiterleben. So kann sie nicht leben. Sie muss es beenden. Auch um Karin zu schützen.

Der Wind fegt über die Salzwiesen. An einigen Stellen hat sich Schnee gesammelt. Trotz der dicken Wollsocken sind Gesas Füße eiskalt. Aber das ist egal. Alles ist jetzt egal. Sie setzt die Gummistiefel auf den schlickigen Untergrund. An einigen Stellen ist das Wasser zu Eis gefroren, türmt sich zu bizarren Gebilden auf. Vom Festland zieht Seenebel herauf, bedrohlich und kalt. Gesa schiebt mit dem Handschuh den Ärmel ihres Wollmantels hoch und schaut auf ihre Armbanduhr. In einer halben Stunde kommt die Flut.

Wolfgang sieht Gesa ins Watt gehen. Er folgt ihr, so wie immer. Ein letztes Mal hat er sie ausgekostet, die Pirsch. Aber jetzt kann er sich nicht mehr beherrschen. Es ist so weit. Er fühlt nach dem Messer in seiner Jackentasche, dem harten Holz des Griffs, der scharfen Spitze.

Gesa atmet schnell, feuchte Luft setzt sich auf ihrem Mantel ab, bildet winzige kleine Wassertropfen. Der Nebel wird dichter, schluckt alle Geräusche. Nur das Pochen ihres Herzens klingt in ihren Ohren. Sie hört ein Geräusch hinter sich. Gesa beschleunigt ihre Schritte. Es ist schwer, sich zu orientieren. Rechts von ihr steigt das Wasser an, die Flut fließt durch den Priel hinein, bedeckt das brüchige Eis. Sie weiß, wo sie ihre Füße hinsetzen muss, um der Strömung zu entgehen. Auf der anderen Seite des Priels bleibt sie stehen. Es ist so weit. Der Augenblick, vor dem sie sich fürchtet.

Für einen Moment glaubt Wolfgang, Gesa im Nebel verloren zu haben, vom unendlichen Weiß verschluckt. Aber dann sieht er ihren roten Mantel. Sie schaut zu ihm, ihre Augen sind weit aufgerissen. Sie hat Angst. Er lächelt. Er spürt das vertraute warme Gefühl. Jetzt! Nur noch ein Schritt.

Sie sieht, wie er in das Wasser tritt. Er hat den Priel nicht bemerkt, so sehr hat er sich auf sie konzentriert. Sein Fuß durchbricht das Eis, versinkt im darunter liegenden Schlick. Der Mann stürzt nach vorne. Mit hektischen Bewegungen versucht er, sein Bein aus dem Treibsand des Priels zu ziehen. Sie könnte ihm sagen, dass er es damit nur schlimmer macht. Dass er immer tiefer sinken wird bei seinen Versuchen, sich zu befreien. Aber sie bleibt stumm. Schaut zu, wie die Flut unbarmherzig über den Priel einläuft, zu einem Strom ansteigt. Er ruft nach ihr, fleht um Hilfe. Das Wasser steht jetzt schon bis zu seinem Bauch. Als sie sich abwendet, verschluckt der Nebel seine Schreie. Er wird das Festland nicht wiedersehen.

Sie geht zum Ort, hört die Kirchenglocken. Mit jedem Schritt fühlt sie sich leichter. Es ist, als käme sie das erste Mal seit langem nach Hause. Das ist ihre Insel. Ihr Land, ihre Welt. Nun gehört sie wieder ihr allein.

Still und starr ruht der See

Franziska Henze

»Hat Ebba endlich einen Freund? Noch immer nicht? Malin hatte in ihrem Alter schon drei Kinder! Es ist nicht gut, allein zu sein! Vielleicht hätte sie lieber eine Freundin? Das ist doch heutzutage kein Problem mehr.« Ebbas Großmutter gibt sich keine Mühe, zu flüstern. Sie sitzt am Küchentisch, rollt rote Stoffservietten auf und schiebt sie in die Serviettenringe, während die Mutter den Rotkohl im Topf umrührt und ihre Schwester Malin für die Kinder die Flaschen mit Julmust bereitstellt.

Jahrelang hatte Ebba – als einziger Single der Familie – beim Weihnachtsessen im Haus der Großmutter zwischen ihren Nichten und Neffen am Kindertisch sitzen müssen. Letztes Weihnachten war sie lieber in Malmö geblieben, um den neugierigen Fragen der Verwandtschaft nach ihrem Liebesleben zu entgehen. Ganz allein hatte Ebba in ihrer kleinen Wohnung gehockt und, wie alle Schweden, nachmittags Donald Duck geschaut. Alles war gut gewesen, bis Malin ihr die Fotos vom Weihnachtsfest auf Lilla Näs geschickt hatte.

Dieses Jahr ist alles anders. »Du lernst meinen Freund heute kennen, Mormor, er muss jeden Augenblick kommen!«

»Er wird dir gefallen«, ergänzt Malin.

Ebba wirft ihrer Schwester einen dankbaren Blick zu. Es ist eine Sache, der Familie den neuen Freund vorzustellen, aber eine ganz andere, wenn das an Heiligabend geschieht.

Aus dem Wohnzimmer ertönt wütendes Stimmengewirr. »Mama, Göran hat die Vase, die ich für dich gekauft habe, kaputt gemacht«, ruft Lucy, Malins älteste Tochter. Die schießt an Ebba vorbei, packt ihren Jüngsten. Auch wenn er erst dreizehn ist, ist Göran mit seinen über eins achtzig bereits größer als seine Mutter.

»Ab aufs Zimmer mit dir. Hat dir das Eishockeyspielen vorhin nicht gereicht, musst du jetzt hier mit dem Schläger alles zerlegen?«, schimpft sie.

»Es war bestimmt ein Versehen, nicht wahr, Göran?«, kommt Ebba ihrem Neffen zu Hilfe.

Der Junge murmelt etwas Unverständliches und verschwindet.

»Die Pubertät.« Ebba reicht ihrer Schwester ein Glas Rotwein.

»Das ist es nicht. Nicht nur«, sagt Malin und trinkt einen Schluck. »Göran gibt mir die Schuld daran, dass sein Vater uns verlassen hat. Er vergöttert ihn. Alles, was ich sage oder mache, ist falsch.« Sie seufzt. »Mit Lucy und Svea hatte ich solche Probleme nie.«

»Du solltest Göran die Wahrheit sagen.«

»Mache ich. Wenn wir Weihnachten hinter uns gebracht haben.«

Kommissar Nils Hult zieht die Mütze tief in die Stirn. Nach frostigen Tagen mit unter minus fünfzehn Grad ist pünktlich zu Weihnachten eine feuchtkalte Nässe übers Land gezogen, in der letzten Nacht hat es sogar mehrere Zentimeter geschneit. Er tritt ins Freie. Das Knirschen des Schnees unter seinen Stiefeln ist das einzige Geräusch, nicht einmal der Wind rauscht. Die Sonne ist bereits untergegangen, allein das spärliche Licht des Halbmonds taucht sein in Falunrot gestrichenes Schwedenhaus in fahles Licht. Nils hatte sich auf einen ruhigen Heiligabend vor dem Fernseher eingestellt, dann war der Anruf gekommen. »Ein schwerer Autounfall am See Bellen«, hatte sein Kollege Magnus am Telefon gesagt, »du musst sofort kommen! Der Fahrer hat die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und ist in den See gerast.«

Behutsam lenkt Nils seinen alten Volvo den Höglandsleden entlang. Mehrmals drehen die Reifen auf dem vereisten Weg durch. Vielleicht hätte er für sein Auto doch welche mit Spikes kaufen sollen. Er ist einfach nicht auf dieses Wetter vorbereitet gewesen, auf so vieles andere auch nicht. Es ist sein erster Winter im Südschwedischen Hochland im ehemaligen Sommerhaus seiner Großeltern direkt am Wald. Das einzige Nachbarhaus, Lilla Näs, liegt einen knappen Kilometer weiter die Straße entlang, fast direkt am Ostufer des Sees. Es gehört der Familie Eriksson, doch seitdem ihr Mann gestorben ist, lebt nur noch die alte Frau Eriksson dort. Früher, als Nils und seine Schwester ihre Ferien bei ihren Großeltern verbracht haben, waren sie jeden Tag nach Lilla Näs gekommen, um mit Malin und Ebba, den Enkeltöchtern der Erikssons, zu spielen. Verstecken im Sommer, Eishockey im Winter. Mit dreizehn hat er an Midsommar von Malin seinen ersten Kuss bekommen, hinter der Scheune. Ein Leben wie in Bullerbü.

Die Elchscheinwerfer seines Wagens leuchten die Straße aus. Nach einer gefühlten Ewigkeit passiert er ein paar Häuser, sie stehen kreuz und quer zwischen ein paar Felsbrocken, wie von großer Hand in die raue Natur geworfen. In den Gärten hell erleuchtete Weihnachtsbäume, in den Fenstern die Julbögen. Vermutlich sitzen die Familien gerade beim Essen. Auch er hätte Weihnachten bei seiner Schwester feiern können, doch seit das mit seiner Frau passiert ist, fühlt sich für ihn jede Freude falsch an.

Magnus wartet bereits auf ihn. Nils parkt sein Auto neben dem Rettungswagen. Zwei schmale Tannen direkt an der Straße stehen schief, mehrere Äste sind abgeknickt.

»Hier entlang.« Magnus leuchtet ihm mit einer Stabtaschenlampe den Weg, die Böschung hinab, bis hin zum zugefrorenen See. »Das Auto muss hier durchgeschossen sein, den Abhang hinunter, über die Uferkante gerutscht und dann ins Eis eingebrochen sein, direkt neben dem Ufer.«

Im hüfttiefen Wasser stehen in dicken Anglerhosen zwei Männer von der Straßenwacht. Im taghellen Licht der Suchscheinwerfer befestigen sie Stahlseile am Unfallauto, um es mit der Seilwinde des Abschleppwagens an Land zu ziehen. Als Nils durch die beleuchtete Heckscheibe in den Wagen blickt, zieht sich sein Magen zusammen: Der Fahrer sitzt noch immer im Fahrzeug.

»Was wissen wir bislang?«, fragt Nils.

»Der Wagen scheint auf dem Glatteis weggerutscht zu sein.«

»Gibt es Hinweise auf Beteiligung eines weiteren Fahrzeugs?«

»Nein. Es gibt zwar am Straßenrand ein paar seltsame Rillen im Boden und auch weitere Reifenabdrücke, aber bei dem Wetter ist unmöglich zu sagen, von wann die stammen. Es scheint ein tragischer Unfall zu sein.«

Magnus tritt an die Uferkante, leuchtet mit seiner Lampe ins Fahrzeug. Die Seitenscheibe auf der Fahrerseite ist zur Hälfte heruntergelassen. Magnus deutet auf das Fenster. »Ich vermute, er hat noch versucht, rauszukommen.«

Die Seilwinde zieht mit einem Ruck und unter dem widerwilligen Knacken des Eises das Auto ans Ufer. In Schwallen fließt Wasser aus dem Fahrzeug. Nils tritt einen Schritt zurück, betrachtet den Toten, dessen Kopf nach der Bergung nun an der halb offenen Scheibe lehnt. Die Gesichtshaut ist rot aufgedunsen, sein Bart blutverkrustet. »Wissen wir schon, wer er ist?«

»Das Fahrzeug ist auf einen Ove Bergström zugelassen, ledig, keine Angehörigen, allerdings haben wir ihn in der Datenbank. Er wurde vor zwei Jahren verdächtigt, einen Juwelier in Västervik ausgeraubt zu haben, gemeinsam mit dem Wachmann des Ladens, einem Per Wallin. Aber anders als Wallin konnte man ihm nichts nachweisen. Die Sore ist nie gefunden worden«, liest Magnus von seinem Handy ab.

Nils versucht, die Fahrertür zu öffnen, doch die Karosserie ist zu stark verzogen. Auf der Beifahrerseite hat er mehr Glück. Er beugt sich ins Fahrzeuginnere und schiebt den ausgelösten Airbag zu Seite. Der Fahrer ist nicht angeschnallt, aber seine Beine sind vom Blech eingekeilt. Keine Chance, hier allein rauszukommen. Die Kollegen werden ihn rausschneiden müssen. Nils blickt sich um. Aus der Mittelkonsole lugt ein Handykabel, doch es steckt kein Gerät daran. Vermutlich ist es in den Fußraum gefallen. Außerdem stehen im Getränkehalter zwei Pappbecher mit Aufdruck vom Espresso House. Gehörten beide dem Opfer? Oder war er gar nicht allein im Fahrzeug gewesen?

»Ich habe was gefunden«, ruft Magnus, der am geöffneten Kofferraum steht.

»Ich komme.«

»Hier!« Magnus hält Nils eine lederüberzogene Schatulle entgegen, klappt den Deckel auf. Mehrere kleine Diamanten funkeln auf dem goldenen Ring.

»Ist da noch mehr?«, fragt Nils.

Magnus wühlt in der Tasche. »Eine Schachtel mit Ohrringen, eine mit einer Kette. Ansonsten nur Klamotten, ein paar verpackte Geschenke – vermutlich Bücher – und eine Flasche Rotwein mit Schleife drum.«

Das Klingeln eines Handys unterbricht seine Gedanken. Nils lauscht, aber das Geräusch kommt nicht aus dem Wagen, sondern von mehreren Metern weiter oben, fast direkt an der Straße. Sie klettern die Böschung wieder hinauf. »Leuchte mal«, bittet er Magnus. Sie entdecken das Gerät unter einem Busch. Das Display ist zersplittert, doch das Telefon selbst scheint noch zu funktionieren. Nils hebt es auf und drückt auf Annehmen. Bevor er etwas sagen kann, legt eine aufgeregte Frauenstimme los. »Wo steckst du? Weißt du, wie peinlich das ist, erst meinen neuen Freund anzukündigen, und dann erscheint der nicht? Wenn du kalte Füße bekommen hast, dir das mit dem Kennenlernen meiner Familie zu schnell geht, ist das okay – wobei ich dich daran erinnere, dass das Ganze deine Idee war –, aber du kannst mir doch zumindest Bescheid geben!«

»Hallo«, unterbricht Nils den Redeschwall, »wer ist da bitte?«

»Oh.« Die Stimme am anderen Ende wirkt verwirrt. »Hier ist Ebba, Ebba Eriksson. Wo ist Ove, und woher haben Sie sein Handy?«

Menschen Todesnachrichten zu überbringen, ist das Schlimmste an seinem Job. Er hasst es, ihnen in die Augen zu sehen und sagen zu müssen, dass ihr Leben von nun an anders ist. Er hätte Magnus schicken können – sie haben beide Bereitschaftsdienst, und Nils ist der Ranghöhere, doch es ist Heiligabend, und sein junger Kollege hat eine Frau zu Hause. Noch vor nicht allzu langer Zeit hatte er das auch. Nils wischt den schmerzhaften Gedanken beiseite.

Jetzt steht er in der weihnachtlich geschmückten Stube der Erikssons. Die Großmutter, die Eltern und Malin sitzen am Esstisch. Oft hatte Nils sich das Wiedersehen mit ihnen ausgemalt, seit er vor drei Monaten hergezogen ist, doch nie so. Ebba, die ihn hereingebeten hat, steht dicht neben ihm. »Nun sag schon, was ist mit Ove? In welches Krankenhaus haben sie ihn gebracht?«

»Es tut mir leid, Ebba. Ove Bergström ist infolge des Unfalls leider verstorben.«

Ihr Schrei ist schrill und spitz. Dann sackt sie zwischen Weihnachtsbaum und unausgepackten Geschenken in sich zusammen.

Sofort kniet Malin sich neben ihre Schwester, schlingt die Arme fest um deren Oberkörper. »Was ist denn passiert?«, fragt sie an Nils gewandt.

»Nach bisherigem Erkenntnisstand hat er die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und ist in den See gestürzt, drüben auf der anderen Seite.«

»Oh mein Gott.« Sacht streicht Malin über Ebbas Rücken. »Ich habe ihn heute Vormittag noch in der Stadt getroffen. Er wollte mir unbedingt dein Weihnachtsgeschenk zeigen.«

»Ging es schnell? Ich meine, er musste doch nicht leiden, oder?« Ebbas Stimme zittert, und ihr Gesicht hat jede Farbe verloren.

Nils zögert. Früher hätte er die Wahrheit beschönigt, aber aus eigener Erfahrung weiß er, wie wichtig sie für die Hinterbliebenen ist. »Vermutlich war er noch einige Zeit am Leben, aber ihr wisst es ja selbst – in dieser Gegend sind nur wenige Menschen unterwegs.«

»Ich habe ein Auto gehört. Ist Papa gekommen?« Ein Junge, vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt, betritt polternd den Raum, gefolgt von zwei älteren Mädchen.

Malin erhebt sich aus der Hocke. »Nein, Göran, dein Vater wird nicht kommen, das weißt du.«

Die Augen des Jungen verengen sich zu schmalen Schlitzen, er verschränkt die Arme vor der Brust. »Alles deinetwegen.«

»Es reicht, Göran!« Malin erhebt sich, steht ihrem Sohn nun direkt gegenüber.

»Dann packen wir jetzt Geschenke aus!« Göran beugt sich zu seiner Mutter, ihre Köpfe berühren einander fast.

»Die Bescherung verschieben wir auf morgen.« Malin wischt sich die Tränen aus dem Augenwinkel. »Tante Ebbas Freund ist mit dem Auto in den See gestürzt.«

»Tante Ebbas Freund ist mit dem Auto in den See gestürzt?«, echot Göran.

Ebbas Schrei hallt noch in seinen Ohren, als Nils in sein Auto steigt und den Motor anlässt. Seine Schwester hat ihm mit ihren Kindern Leise rieselt der Schnee auf die Mailbox gesungen, doch er mag sie jetzt nicht anrufen.

»Darf ich Ove sehen?«, hat Ebba gefragt, als sie ihn zur Tür brachte, und Nils hatte gespürt, dass in ihrer Frage die Hoffnung mitschwang, der Polizei sei ein Irrtum unterlaufen. Er wird sie morgen in die Rechtsmedizin begleiten, bevor der Bestatter die Leiche abholt.

Vor Nils kommt die Kurve in Sicht, aus der es Ove getrieben hat. Die Straßenwacht ist längst abgezogen, ebenso der Notarzt. Einer inneren Eingebung folgend, stellt Nils seinen Wagen am Straßenrand ab und steigt aus. Mit dem Handy leuchtet er erneut den Unfallort ab, steigt die Böschung hinab bis zum See. Das Loch, das der Wagen direkt neben dem Ufer in die Eisdecke des Sees gebrochen hat, ist ein schwarzer, böser Schlund.

Ove war ein umsichtiger Fahrer, hat Ebba gesagt. Ein Störgefühl macht sich in Nils breit, aber er kann es nicht greifen. Er wählt Magnus’ Nummer, doch nichts passiert. Er wirft einen Blick auf das Display. Kein Netz. Seufzend stapft er hinauf zu den Büschen, wo er Oves Handy gefunden hat. Und plötzlich hat er einen Verdacht.

Magnus meldet sich nach dem ersten Klingeln.

Nils stellt sein Handy auf Lautsprecher. »Gibt es schon einen Bericht vom Notarzt?«, fragt er ohne Umschweife.

»Ja, ich schicke ihn dir gleich.«

Bilder schießen Nils durch den Kopf. Von dem Mann, wie er um Hilfe schreit, die Beine verkeilt im Wagen, im eiskalten Wasser. »Weißt du, was der Wachmann jetzt macht? Ich meine den von dem Einbruch beim Juwelier. Der hatte mit Ove vielleicht noch eine Rechnung offen.«

»Wallin? Der hat in Västervik Norra gesessen, ist aber vor ein paar Wochen rausgekommen. Er wohnt hier in der Gegend.« Nils hört, wie sein Kollege mit jemandem im Hintergrund spricht, dann ist Magnus wieder am Apparat. »Ich finde heraus, wo der gestern Abend war. Aber«, er überlegt einen Moment, »weshalb meinst du, dass es kein Unfall war? Ist es wegen des Schmuckes im Kofferraum?«

»Nein.« Nils geht neben den Büschen in die Hocke, leuchtet auf den Boden. »Wegen des Telefons.«

Es ist halb zehn am ersten Weihnachtsfeiertag, als Nils die Stufen zum Eingang der Erikssons hinaufsteigt. Ebba öffnet die Tür. Die tiefen Augenringe zeugen von einer schlaflosen Nacht.

Malin tritt ebenfalls an die Tür. »Hej, Nils. Willst du einen Kaffee?«

»Gern.« Er spürt, dass Ebba am liebsten direkt losgefahren wäre, doch für das, was er jetzt zu sagen hat, wären weder sein Auto noch die Leichenhalle der richtige Ort. Aus dem alten Ofen schlägt ihm Hitze entgegen, als er in die Küche kommt. Die Familie hat gerade das Frühstück beendet. Großmutter Eriksson, sie muss an die neunzig sein, sitzt inmitten ihrer Enkel. »Hopp, fertig mit Ausruhen, macht euch nützlich, und erledigt den Abwasch. Danach könnt ihr eine Runde Schlittschuh laufen gehen«, ruft sie und macht mit der Hand eine wegwischende Geste. Die beiden Mädchen erheben sich murrend, der Junge folgt ihnen langsam.

Nils nimmt zwischen Ebba und Malin Platz, es ist beinahe wie früher. Malin schiebt ihm einen Becher zu. Nachdenklich rührt er in seinem Kaffee. »Oves Tod. Da war jemand bei ihm.«

»Du meinst, es gibt einen weiteren Unfallbeteiligten?« Ebba sieht ihn mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ob ein zweites Fahrzeug da war, lässt sich nicht mehr feststellen, aber wir wissen, dass jemand bei ihm war. Nach dem Unfall. Jemand, der Ove hätte retten können.«

»Wer sollte … ich verstehe nicht.« Ebba reibt sich über die Augen.

»Ove starb an einem Herzstillstand, durch die Kälte. Man könnte sagen, er ist erfroren. Nach Bericht des Notarztes hat er noch etwa eine Stunde im Auto gesessen.« Behutsam legt Nils ihr seine Hand auf den Arm. »Sein Handy lag oben an der Straße, mehrere Meter vom See entfernt. Da das Fenster auf der Fahrerseite geöffnet war, gingen wir zunächst davon aus, dass es bei dem Unfall rausgefallen ist, aber …«

»Aber?«, fragt Ebba und zieht ihren Arm weg.

»Die zuletzt eingegebene Nummer ist der Notruf. Ove muss noch versucht haben, Hilfe zu holen, doch am See hatte er kein Netz. Da das Handy so weit weg lag, muss er es jemandem außerhalb des Wagens gegeben haben.« Aufmerksam betrachtet er Ebba. »Kennst du einen Per Wallin?«

»Per und Ove sind zusammen zur Schule gegangen. Er arbeitete bei einer Security-Firma, aber dann hat er einen Juwelier ausgeraubt, den er eigentlich bewachen sollte.«

Der Junge tritt an den Tisch, sammelt die leeren Kaffeebecher ein, um sie zur Spüle zu tragen. »Danke, Göran.« Ebba lächelt schwach, als sie ihm auch die Kaffeekanne reicht. Dann wendet sie sich wieder Nils zu. »Ich weiß, dass man Ove ebenfalls verdächtigt hat, aber er hatte damit nichts zu tun.« Sie schiebt das Kinn vor, eine Geste, die sie schon als Kind machte, um ihren Worten Nachdruck zu verleihen.

Nils’ Telefon klingelt. »Entschuldigt bitte.« Er dreht sich auf dem Stuhl zur Seite. »Ja, Magnus?« Er hört eine Weile zu, bedankt sich und schiebt das Handy in die Tasche. »Wallin hat nichts damit zu tun, den haben die Kollegen in Vimmerby gestern Nachmittag nach einer Kneipenschlägerei mitgenommen, der hat den Abend und die halbe Nacht in der Ausnüchterungszelle verbracht. Aber vielleicht hilft uns die DNA auf den Pappbechern weiter. Da standen zwei in der Mittelkonsole.«

»Vom Espresso House?«, schaltet sich Malin in das Gespräch ein. »Der eine Becher ist von mir. Ove hat mir einen Kaffee ausgegeben, als wir uns in der Stadt getroffen haben. Und da er mir noch den Ring für dich zeigen wollte, haben wir uns in sein Auto gesetzt. Es war ja saukalt.«

Als er Ebbas verzweifeltes Gesicht sieht, sagt er: »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir das Schwein haben, das verspreche ich dir. Oves Handy wird gerade im Labor auf Fingerabdrücke untersucht, denn wer immer es hatte, hat es nur weggeworfen, statt den Notruf zu wählen. Außerdem hat die Spurensicherung heute früh am Unfallort Spuren von Schlittschuhen gefunden, und zwar sowohl an der Abbruchkante des Eises als auch beim Gebüsch, wo das Handy lag.«

Das Geräusch zersplitternden Porzellans erfüllt den Raum, gefolgt von lautem Schluchzen. Nils steht auf, beugt sich zu dem Jungen, der inmitten der Scherben sitzt. Blut rinnt aus einer Wunde an seiner Hand.

»Tante Ebba, ich …«, schluchzt Göran, »ich dachte …« Er stockt, spricht sekundenlang nicht weiter.

Mit einer ruckartigen Bewegung steht Ebba auf. Ihr Stuhl fällt krachend zu Boden. »Was, Göran, was?«, bohrt sie, ihre Stimme ist laut und tonlos gleichermaßen, und sie ist weiß wie die Wand. Sie hockt sich neben den Jungen, rüttelt ihn an der Schulter.

Nils sieht die Verzweiflung im Gesicht des Jungen, der jetzt trotz seiner Größe aussieht wie ein Kind.

»Ich habe Mama gestern Vormittag mit dem Mann in seinem Auto gesehen, auf dem Parkplatz vorm Espresso House. Er hat ihr einen Ring gegeben, und sie hat ihn umarmt. Ich dachte … Lucy und Svea haben gesagt, Papa wird nie zurückkommen und dass Mama schnell einen anderen finden wird.« Tränen rinnen seine Wangen hinab. »Am Nachmittag dann, ich war allein auf dem Eis, die anderen hatten keine Lust zum Schneeschippen, und ich habe ja meine Stirnlampe … dann habe ich die Scheinwerfer gesehen und das Krachen gehört. Ich bin sofort hin. Das Auto war ins Wasser gestürzt. Der Mann hat das Fenster runtergelassen und mir sein Handy gegeben, damit ich Hilfe hole. Aber ich habe ihn doch wiedererkannt! Also habe ich das Handy weggeworfen und bin nach Hause gelaufen.« Er wischt sich mit der verletzten Hand übers Gesicht, das Blut hinterlässt rote Schlieren.

Draußen vor dem Präsidium jagen dröhnend Fahrzeuge entlang, Räumfahrzeuge, die Müllabfuhr, Menschen auf dem Weg zur Arbeit. Sie sitzen zu dritt im Besprechungsraum bei der Befragung, bei der es nur Verlierer gibt. Nils, Malin und Göran, der das Gesicht in den Händen vergraben hat.

»Strafunmündigkeit«, beginnt Nils an Malin gewandt.

Ein forsches Klopfen an der Tür unterbricht ihn. Unvermittelt streckt ein Mann den Kopf in sein Büro, tritt ein.

Göran hebt den Kopf. »Papa!« Der Junge springt auf, umarmt den Vater stürmisch. »Du bist zurück! Jetzt wird alles gut.«

»Mein Junge!« Der Mann macht sich aus der Umklammerung los und streicht dem Kind über den Kopf. »Wir sind sofort gekommen, als deine Mutter mich angerufen hat.« Im selben Moment wird die Tür weiter aufgeschoben, und eine blonde Frau betritt den Raum, stellt sich neben den Vater, ergreift dessen Hand. Unter ihrer dicken Winterjacke wölbt sich der Bauch.

Verwirrt blickt der Junge vom Vater zur Mutter, zur Fremden. Die Erkenntnis legt sich langsam auf sein Gesicht. Wie zum Schrei reißt Göran den Mund auf, doch es kommt kein Laut heraus. Dann rennt er los, an seinem Vater und dessen Freundin vorbei, den Flur entlang, seine Schritte hallen laut, bis das Hupen auf der Straße sie ablöst, dann ein dumpfes Krachen. Danach ist es still.

Dorota

Jobst Schlennstedt

Als Eva blinzelte, war es schon hell im Schlafzimmer. Ihr nächster Blick fiel auf den Wecker auf dem Nachttisch.

Halb elf. Am Heiligabend.

Sie lächelte. So lange hatte sie an diesem Tag noch nie geschlafen.

Etwas mühevoll raffte sie sich hoch und blieb eine Weile auf der Bettkante sitzen. Ihr Rücken tat weh, und ihre Arme fühlten sich an, als hätte sie die Nacht auf einer Streckbank verbracht. Aber das machte ihr nichts aus, die Schmerzen waren es ihr wert gewesen.

Etwas Unbehagen verspürte sie dagegen bei dem Gedanken daran, heute Abend die ganze Familie bei sich zu empfangen. Ihren Sohn Lars mit seiner Frau Madlen und den drei Vorzeigekindern. Eine Bilderbuchfamilie durch und durch. Lars, der Rechtsanwalt und Notar, und Madlen, die als Cellistin im Theater arbeitete und dazu noch unverschämt gut aussah, wie Eva zugeben musste.

Dass Lars ihr Sohn war, war der einzige Grund, weshalb sie ihm und seiner Familie für so viel Glück nicht die Pest an den Hals wünschte. Sie hasste Menschen, denen alles gelang und die immer nur auf der Sonnenseite des Lebens standen.

Dann war da Evas Tochter Vanessa mit ihrem aktuellen Partner Fabian und dem fünfjährigen Paul aus einer früheren Beziehung. Vanessa war das komplette Gegenteil von Lars, bei ihr ging einfach immer alles schief, woran sie durch ihre Schusseligkeit und Naivität meist auch selbst schuld war.

Schließlich gab es auch noch Bjarne, ihren Jüngsten. Er würde wohl wie üblich allein kommen. Ob er auf Frauen oder Männer stand, wusste Eva nicht. Wahrscheinlicher war, dass er seinen Computer, vor dem er den ganzen Tag hockte, mit ins Bett nahm. Es war wohl besser, wenn er niemals jemanden fand, die oder der dann feststellen musste, was für ein Sonderling er war. Wobei Sonderling noch die mit Abstand harmloseste Umschreibung war, die ihr einfiel, wenn sie daran dachte, was Bjarne so trieb.

Herr Feuerstein schnurrte plötzlich um ihre Beine. Sie genoss diese Momente, wenn sein warmes Fell ihre Haut berührte. Er war der Einzige, dem Eva vertraute. Weil er sie so nahm, wie sie war. Mit all ihren Ecken und Kanten. Uneingeschränkte Zuneigung beiderseits. Ihre Beziehung würde noch enger werden, jetzt wo sie allein waren.

Langsam stand sie auf, trat ans Fenster und zog das hölzerne Lamellenrollo hoch, das mehr schlecht als recht verhinderte, dass Tageslicht ins Zimmer fiel.

Es schneite immer noch. Dicke weiße Flocken tanzten durch die Straße, die von einer mehrere Zentimeter dicken Schneeschicht bedeckt war. Die Eiszapfen an der Regenrinne waren ein untrügliches Zeichen, dass die Temperaturen in Lübeck in der Nacht deutlich unter den Gefrierpunkt gefallen waren.

Wieder lächelte Eva. Endlich hatten die Meteorologen einmal recht behalten. So würde sie den Abend sorgenfrei überstehen können.

Sie schlüpfte in ihre Pantoffeln und ging mit einem Pfeifen auf den Lippen über den Flur ins Esszimmer. Ein paar Dinge musste sie noch erledigen und wegräumen, bevor die anderen kamen. Sie musste vor allem dafür sorgen, dass alles wie immer aussah. Umso besser, dass sie das meiste bereits gestern Abend noch erledigt hatte.

Um das Essen würde sie sich später kümmern. Die Maronencremesuppe, die den Kindern bestimmt nicht schmeckte. Die gefüllte Pute, über die Vanessa als Veganerin angewidert das Gesicht verziehen würde, und das Tiramisu, das sie immer mit so viel Alkohol tränkte, dass die meisten mit Sicherheit dankend ablehnen würden.

Zuerst würde sie aber noch eine kleine Tour durch den Schnee machen. Den Kopf frei kriegen und gleichzeitig einen Plan für die nächsten Tage schmieden. Es gab schließlich einiges zu tun.

Ganz ruhig trat sie an die Glastür am Ende des Raums und blickte auf die schneebedeckte Dachterrasse, die – wie sie scherzhaft immer sagte – ausreichend Fläche für einen Hubschrauberlandeplatz bot. Der Schnee lag mittlerweile so hoch, dass sie kaum noch einen der vielen Blumentöpfe erkennen konnte. Die Sitzbank auf der linken Seite ragte wie die Buddha-Skulptur ganz am Ende der Terrasse noch ein Stück heraus.

Ansonsten war alles weiß und zugeschneit. Von dem, was niemand sehen durfte, war nichts mehr zu erkennen.

Eva lächelte.

Die Runde einmal um die Wakenitz absolvierte sie seit dem Ende des Sommers beinahe täglich. An den Yachtclubs vorbei über die Moltkebrücke, durch den Drägerpark und wieder zurück über die Roeckstraße, danach parallel zum Ufer bis zum Schwimmbad Falkenwiese, wo sie in die Travelmannstraße abbog, um zu ihrer Wohnung zurückzukehren. Ziemlich genau fünf Kilometer.

Auf einer dieser Touren war ihr die Idee gekommen, die Kinder dieses Jahr zu sich einzuladen. Ein kurzer Moment der Melancholie musste sie ergriffen haben. Ein Gefühl der Schuld, zu selten etwas für sie getan zu haben. Schon am Abend, nachdem sie alle telefonisch eingeladen hatte, hatte sie ihre Entscheidung zutiefst bereut. Sie war alles andere als eine gute Gastgeberin, und das zeigte sie gerne auch mal ihren Gästen. Hätte sie zu diesem Zeitpunkt geahnt, dass alles noch viel komplizierter werden sollte, wäre sie wohl niemals auf diese Schnapsidee gekommen.

Der Schnee wirbelte inzwischen waagerecht durch die eiskalte Luft. An manchen Stellen am Ufer türmte er sich mittlerweile bestimmt auf einen halben Meter. Wieder huschte ein Lächeln über ihre Lippen.

Ein Stück hinter dem Bootshaus blieb sie nahe am Wasser stehen. Sie erinnerte sich daran, dass die Wakenitz vor einigen Jahren komplett zugefroren war. Wie lange mochte das her sein? Zwölf Jahre? Oder sogar schon vierzehn? Damals hatte sie Johannes, den Ältesten von Lars, im Kinderwagen von der einen auf die andere Uferseite geschoben, so dick war das Wasser damals gefroren gewesen. Damals, als die Welt noch einigermaßen in Ordnung gewesen war. Also zumindest ihre.

Evas Blick verlor sich über der Wakenitz und glitt über Lübecks sieben Türme, die von hier aus eindrucksvoll zu sehen waren. Sie würde versuchen, eine Wohnung auf der Altstadtinsel zu finden, fuhr es ihr durch den Kopf. Das hatte sie schon immer gewollt, aber in all den Jahren war es ihr unmöglich gewesen, sich durchzusetzen. Doch jetzt war alles anders.

Eva verharrte eine Weile in dieser Position und dachte daran, wie der Heilige Abend wohl verlaufen würde. Welche Fragen sie ihr stellen würden. Was sie ihnen antworten würde und vor allem, ob sie sich damit zufriedengaben.

Sie hatte in Erwägung gezogen, das Ganze doch noch kurzfristig abzusagen. Weil sie sich nicht gut fühle, hätte sie sich herausreden können. Sie hätten es mit Sicherheit verstanden, und wahrscheinlich wäre es ihnen sogar ganz recht gewesen. Aber nach gründlicher Abwägung aller Vor- und Nachteile hatte sie sich schließlich dagegen entschieden. Es schien ihr sicherer zu sein, so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Zumindest mit ihr.

Schön waren diese Treffen an Weihnachten oder an Geburtstagen ohnehin nie gewesen. Irgendwann waren die Gespräche in kleine Streitigkeiten und später dann in lautstarke Diskussionen umgeschlagen. Natürlich war sie daran nicht unschuldig. Sie provozierte, wann immer sich die Chance auftat, und bei ihren unsäglichen Kindern tat sie das besonders gerne. In ihrer Verfassung hatte der heutige Abend jedenfalls zweifellos das Potenzial für die ultimative Eskalation.

Das Schneegestöber war jetzt so dicht geworden, dass die Kirchturmspitzen nicht mehr zu erkennen waren. Auf ihrer Jacke hatte sich bereits eine ordentliche Schicht gebildet. Sie musste wieder an ihre Terrasse denken. Niemandem würde etwas auffallen, war sie sich sicher.

Lake Effect.

So hatten es die Meteorologen in den Nachrichten genannt. Eva hatte nicht genau verstanden, was genau bei diesem Wetterphänomen geschah, aber die schneegetränkten Wolken zogen offenbar von der Ostsee in die Lübecker Bucht und saugten sich währenddessen immer wieder neu mit Feuchtigkeit voll. So konnte es sein, dass innerhalb weniger Stunden Unmengen an Schnee fielen. Ein Hoch auf diese Wetterfrösche, jubilierte Eva innerlich.

Sie entschied sich, nach Hause zu gehen. In der leisen Hoffnung, dass der Schneefall vielleicht dafür sorgen würde, dass ihre Kinder den Besuch noch von sich aus absagten.

Um kurz vor achtzehn Uhr hatte noch niemand angerufen, um ihr zu sagen, wie leid es ihm oder ihr tue, nicht kommen zu können. Sie hätte das falsche Spiel sogar mitgespielt und großes Bedauern zum Ausdruck gebracht. Vielleicht hätte sie mit tränenunterdrückter Stimme auch für ein schlechtes Gewissen sorgen können. Das hätte ihr gefallen.

Aber keiner hatte sich gemeldet, und so würden sie wohl in ein paar Minuten hier sein, und das übliche Theater würde seinen Lauf nehmen. Wenn sie sich vorstellte, was …

Eva gelang es nicht mehr, ihren Gedanken zu Ende zu führen, weil das Klingeln an der Haustür durch die Wohnung hallte. Außer den Paketdiensten kam es äußerst selten vor, dass jemand vor der Tür stand und sie besuchte. Sie waren also bereits da. Eine Viertelstunde früher als erwartet.

Ohne die Freisprechanlage zu betätigen, öffnete sie die Tür, und im nächsten Moment hörte sie schon die genervten Stimmen von Lars und Madlen. Vor allem Madlens, die abwechselnd vorwurfsvoll auf ihre Kinder einredete oder aber Lars Anweisungen gab, doch gefälligst den Schnee von den Schuhen abzuklopfen. Bei ihr musste immer alles akkurat sein. Äußerst penibel. Oder auch schon krankhaft, wie Eva fand.

Die beiden jüngeren Kinder, zwei Mädchen, kamen die Treppe hinaufgelaufen, offenbar in Erwartung, dass Eva sie in die Arme schloss. Aber sie blieb einfach reglos stehen und scheiterte daran, ihre Lippen zu einem Lächeln zu verziehen.

Sie waren zurechtgemacht wie Kinder in einem kitschigen amerikanischen Weihnachtsfilm von vor fünfzig Jahren. Sie trugen dunkelgrüne Kleider und helle Strumpfhosen. Ihre Haare waren geflochten und mit mehreren roten Schleifen verziert. Die Ältere musste inzwischen neun sein und hieß Annabelle, den Namen der zwei Jahre jüngeren Schwester hatte sich Eva noch nie merken können.

»Kommt rein«, sagte sie nüchtern zur Begrüßung und verschwand sofort wieder in ihrer Wohnung. Auf Umarmungen und verlogene Weihnachtswünsche hatte sie keine Lust.

»Wo ist denn Opa?«, drang Annabelles Stimme im nächsten Moment in ihre Ohren, als würde sie jemand mit einem spitzen Gegenstand malträtieren.

»Der ist noch mal los«, antwortete sie zögerlich. »Kurz etwas besorgen.«

»Etwa das Weihnachtsmannkostüm?« Diesmal war es Johannes, der das Wort ergriff. Er war schon vierzehn, meinte Eva sich zu erinnern. Im Laufe des letzten Jahres hatte er sich ziemlich verändert. Aus dem schmächtigen Kind war ein pubertierender Junge mit Akne und in die Stirn gekämmten, leicht lockigen Haaren geworden. Sein Kapuzenpulli und die schlabberige Hose bildeten ein gelungenes Kontrastprogramm zu den adretten Mädchen.

Er stach optisch stark aus der Familie heraus. Für seine Eltern mit Sicherheit auf negative Weise, aber Eva gefiel es, dass er sich offenbar vom Rest abgrenzen wollte.

»Ja, wahrscheinlich«, antwortete Eva etwas verschwörerisch und zwinkerte ihm zu.

»Meine Schwestern wissen inzwischen Bescheid«, sagte Johannes grinsend. »Ich habe ihnen verraten, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt.«

»Was ist mit deinem Cousin?«

»Paul?«

»Hast du noch einen anderen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Siehst du. Ihm können wir noch etwas vormachen.«

Gewissermaßen zur Untermalung ihrer Worte klingelte es erneut. Eva ließ Johannes stehen und drängte sich durch den Flur, vorbei an ihrem Sohn und dessen Frau. Dem zaghaften Versuch einer Umarmung durch Lars entging sie mit einer schwungvollen Bewegung um ihn herum, nicht ohne ihm zuzunicken. Ihre Schwiegertochter ignorierte sie allerdings geflissentlich.

Vanessa und ihre aktuelle Freundschaft-plus-Begleitung – wie sie ihn selbst bezeichnet hatte – standen bereits vor der Wohnungstür. Offenbar hatte jemand unten die Tür nicht geschlossen. Ihre Tochter sah abgehetzt aus, aber anders kannte sie sie auch nicht. Meist war sie zu spät dran, irgendetwas war gerade gehörig schiefgegangen, oder – was am allerschlimmsten war – sie brauchte dringend Hilfe.

Dieser Fabian an ihrer Seite machte jedenfalls nicht den Eindruck, als könne er ihr in irgendeiner Weise helfen. Im Gegenteil, er wirkte selbst, als müsse man ihn an die Hand nehmen, um ihn über einen Zebrastreifen zu geleiten.

Vanessa hätte eine hübsche Frau sein können. Aber sie machte nichts aus sich. Ihr dünnes dunkelblondes Haar hing strähnig und schulterlang an ihrem zierlichen Kopf herunter. Sie umrahmten ein ungeschminktes, ausgezehrtes Gesicht, das älter wirkte als ihre einundvierzig Jahre.

Und Paul? Er war im Grunde wie seine Mutter. Ein wenig trottelig und nicht die hellste Kerze auf der Torte. Niemand, auf den man stolz sein konnte, aber zumindest auch keiner, über den sie sich ärgern musste. Auch er sah älter aus als seine fünf Jahre. Bei ihm äußerte sich das allerdings in Form einer eher stämmigen Figur, einem großen Kopf und einem pummeligen Gesicht, das ihn an ein Riesenbaby erinnern ließ.

»Frohe Weihnachten«, sagte Vanessa und lächelte etwas gequält.

»Das sagt man erst morgen«, erwiderte Eva genervt. »Aber warum erkläre ich dir das überhaupt, nächstes Jahr sagst du es ja ohnehin wieder falsch. Kommt rein. Dein großer Bruder und seine schrecklich korrekte Familie sind auch schon da.«

»Wo ist denn Vater?«

Eva fuhr herum. Hinter ihr stand Lars und sah sie fragend an.

Sie legte den Finger auf den Mund und sah auch ihren Sohn verschwörerisch an. Er nickte langsam, das Runzeln auf seiner Stirn verriet jedoch, dass er nicht den blassesten Schimmer hatte, worauf sie anspielte.

»Machen wir Bescherung!«, rief Paul im nächsten Augenblick und rannte an ihnen vorbei Richtung Wohnzimmer.

»Gute Idee«, sagte Eva. »Zeit für enttäuschte Gesichter.«

»Wollen wir nicht noch auf Papa und Bjarne warten?«, hörte sie Vanessa noch fragen, aber sie winkte bloß ab und folgte ihren Enkeln.

Genüsslich betrachtete sie die konsternierten Blicke, als sie sich vor dem Plastiktannenbaum versammelt hatten. Ein besonders hässliches Exemplar, darauf hatte sie Wert gelegt. Mit Lametta und einer Deko, die an Kitsch nicht mehr zu überbieten war.

»War der Weihnachtsmann etwa schon da?«, fragte Paul enttäuscht, als sein Blick auf einige Geschenke fiel, die im Originalkarton unter dem Baum standen.

»Keine Sorge, Paul«, sagte Lars. »Der Weihnachtsmann kommt schon noch, das hier sind bloß die Geschenke von Oma und Opa.«

»Bringt die nicht der Weihnachtsmann?«

»Nein, ganz allein schafft er das nicht.«

»Ja, genau«, rief Johannes in die Runde. »Vielleicht fragen wir nächstes Jahr den Osterhasen, ob er helfen kann.«

Eva schmunzelte. Sie mochte den Jungen. Er war nicht so korrekt und angepasst wie seine Eltern und Schwestern. Vielleicht kamen bei ihm ihre Gene durch.

»Ich schlage vor, ihr packt die Geschenke eurer Großeltern schon mal aus, vielleicht steht der Weihnachtsmann mit seinem Schlitten noch im Stau«, versuchte Vanessa, die Situation aufzulockern.

»Das würde mich in dieser Stadt nicht wundern«, warf Eva ein. »Aber bitte, legt los, und wenn euch die Geschenke nicht gefallen, behaltet es bitte für euch. Umtausch ist ausgeschlossen.«

Während die Kinder sich zögerlich hinknieten, um die Kartons auszupacken, trat Lars erneut auf sie zu.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte er. In seiner Stimme klang Unsicherheit mit. Ahnte er etwas? Es war nicht auszuschließen, immerhin hatte er in der Vergangenheit das eine oder andere Mal mitbekommen, wie sie seinen Vater geheißen hatte.

»Was meinst du?« Sie wählte die Variante, sich komplett unwissend zu stellen.

»Du weißt genau, was ich meine. Wo steckt Vater?«

»Was denkst du denn, was los ist?«, fragte Eva provokant.

»Dass er nicht hier ist und heute Abend auch nicht mehr kommen wird.«

»Das wäre mein schönstes Weihnachtsgeschenk.«

»Du willst also nicht verraten, was passiert ist?«

Sie zuckte die Achseln.

»Wo verbringt er den Abend?«

»Vielleicht draußen im Schnee.« Sie lächelte ihren Sohn vielsagend an. Wenn er nur wüsste, dachte sie. Aber besser war natürlich, wenn niemand jemals erfahren würde, was passiert war.

»Ich werde ihn suchen gehen«, sagte Lars nun deutlich bestimmter. »Es ist Weihnachten. Wir können ihn doch nicht allein da draußen herumlaufen lassen.«

»Mach, was du willst. Nimm am besten Madlen und die Mädchen mit, Johannes kann gern hierbleiben.«

»Was ist das?«, rief der kleine Paul plötzlich so laut, dass es von einer auf die andere Sekunde still im Raum wurde. Er hielt einen CD-Spieler in die Luft.

»Das ist das Geschenk für Johannes«, erklärte Eva. »Ein richtig gutes Gerät.«

»Du weißt aber schon, dass Kinder keine CDs mehr hören?«, fragte Lars leise.

»Das war ja klar«, antwortete sie gespielt eingeschnappt. »Wie kann man nur so undankbar sein? Ihr seid es wirklich nicht wert, dass man sich Gedanken macht, was man euch schenkt.«

»Als hättest du das je getan«, ging Madlen plötzlich rüde dazwischen. »Wenn, dann war es doch Hannes, der sich gekümmert hat. Wo steckt er eigentlich?«

»Das wollen wohl alle wissen«, antwortete Eva trotzig.

»Allerdings!«, schallte es fast unisono aus den Mündern aller übrigen Erwachsenen.

»Er …« Sie stockte, als suche sie nach den richtigen Worten, dabei hatte sie ihr Verhalten selbstverständlich einstudiert. Sie spielte ihnen jetzt die verlassene, gedemütigte, aber immer noch starke Frau vor. »Er hat mich verlassen«, fuhr sie fort. »Wegen einer anderen.«

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