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Don't Let Her Stay

Als Buch hier erhältlich:

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Lass sie niemals aus den Augen …

Anfangs war ich noch aufgeregt, als Richard seine Tochter Chloe aus erster Ehe abholte und zu uns brachte. Ich stellte mir vor, wie sie mit ihrer kleinen Schwester Evie spielte, wir zusammen Kuchen backten und uns über ihre Freunde und die Uni austauschten. Endlich hätte ich meine perfekte Bilderbuchfamilie. Endlich wären wir komplett.

Nun, sagen wir, es kommt nicht immer so, wie man es sich wünscht.

Wann immer wir allein sind, macht Chloe deutlich, dass sie mich hasst. Aber vor ihrem Vater mimt sie den perfekten kleinen Engel. Richard sagt, ich gäbe ihr keine Chance, aber er sieht nicht, was ich sehe. Ich traue Chloe nicht, und ich werde sie bestimmt nicht mit Evie allein lassen.

Denn ich weiß, dass mit Chloe etwas nicht stimmt, und ich werde alles tun, um meine Familie zu schützen.

Bevor es zu spät ist...


  • Erscheinungstag: 25.02.2025
  • Seitenanzahl: 320
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009857

Leseprobe

Nicola Sanders

DON’T LET HER STAY

Thriller

Aus dem Englischen von
Wolfgang Thon

HarperCollins

Prolog

»Wach nicht auf. Bitte, wach nicht auf!«

Mein vier Monate altes Baby anzuflehen, einzuschlafen – oder weiterzuschlafen –, hat noch nie funktioniert. Und ich habe es Gott weiß wie oft versucht. Deshalb habe ich auch keine Ahnung, wie ich auf die Idee komme, dass es diesmal anders sein könnte.

Mir bleibt nur nichts anderes übrig, als darum zu betteln.

Ich drücke sie so fest an meine Brust, dass ich immer wieder kontrolliere, ob ich ihr vielleicht wehtue. Aber ich spüre, wie sie sich bewegt – ein sicheres Zeichen dafür, dass sie gleich aufwachen wird. Wenn sie aufwacht, wird sie weinen, denn das tut sie immer.

Und wenn sie weint, werden wir sterben.

Ich tue alles, was ich kann, um uns hier lebendig rauszubringen. Ich bin so kurz davor. Ich stehe an der Haustür. Ich öffne sie und schlüpfe so schnell und leise wie möglich hinaus.

Draußen ist es dunkel und so still, dass mich sogar das Knirschen des Kieses unter meinen Füßen verrät. Aber ich darf jetzt nicht zögern. Wir haben nur Sekunden. Ich laufe zum Range Rover, hocke mich neben das Hinterrad und taste mit den Fingern nach dem Ersatzschlüssel, den ich dort aufbewahre. Als ich den Knopf drücke, blinkt das Auto und gibt einen Piepton von sich, der mir so laut wie eine Fanfare vorkommt. Ich verharre mit heftig klopfendem Herzen und lausche. Nichts. Die Innenraumbeleuchtung flammt auf, als ich die Beifahrertür öffne, und ich reiße meine Hand hoch und schalte sie hastig aus. Ich bugsiere Evie mühsam in die Babyschale. Ihre Augenlider klappen auf wie bei einer Puppe.

Dann öffnet sich ihr Mund. Weit.

»Bitte weine nicht, Evie! Bitte, Baby, bitte weine nicht!« Ich halte den Atem an.

Evie gähnt.

Ich schließe vorsichtig die Tür, aber ich zittere so sehr, dass mir der Schlüssel aus der Hand rutscht. Ich falle auf die Knie und taste in der Dunkelheit danach.

Bitte weine nicht. Bitte weine nicht. Meine Fingerspitzen berühren den viereckigen Plastikschlüssel.

Gott sei Dank. Ich hab’s geschafft. Ich richte mich gerade auf, als Licht aus einem Fenster im Obergeschoss auf das Auto fällt.

Ich kann nichts dagegen tun. Ich drehe mich um und schaue zum Haus hinauf, auch wenn es mich Zeit kostet, die ich nicht habe. Das Licht kommt aus dem Kinderzimmer. Es ist das einzige Licht im Haus.

Ich schlage die Hand vor den Mund, als sie am Fenster erscheint und beide Handflächen gegen die Scheibe schlägt. Hinter ihr steigt dunkler Rauch auf.

Unsere Blicke begegnen sich.

Ich wende mich ab, steige ins Auto und fahre los.

Kapitel 1

Drei Wochen zuvor.

Oscar bellt einmal träge, und ich höre im selben Moment, wie ein Lieferwagen auf den Kiesplatz fährt. Das Bellen ist nur Getue. Wir wissen beide, dass er einen Eindringling einfach hereinspazieren ließe. Er würde mit dem Schwanz wedeln und ihm seine Pfoten auf die Brust legen. Oscar ist ein alter karamellfarbener Labrador, der alles und jeden liebt, sogar die Nachbarskatze.

Ich trete vom Kinderbett zum Fenster. Es ist der Postbote. Er steigt die Stufen zur Haustür hinauf, und Sekunden später klappert der Briefschlitz. Am Tor ist auch ein Briefkasten. Aber wenn ich allein zu Hause bin – was an den meisten Tagen der Fall ist –, lasse ich das Tor gerne weit offen stehen. Dann fühle ich mich nicht mehr so einsam, weil ich weiß, dass jeder bis zum Haus fahren kann, ohne an der Gegensprechanlage klingeln zu müssen. Richard sieht das nicht gern. Er findet, das sei nicht sicher, und ich verdrehe dann immer die Augen. Es ist ein charmantes, eher verschlafenes Dorf, und dieses wunderschöne Landhaus gleicht einer Festung. Als wir eingezogen sind, war Richard so besorgt darüber gewesen, dass Evie und ich so isoliert waren, dass er an allen Fenstern Schlösser hat anbringen lassen.

Ich schaue auf Evie hinunter, die schlafend in ihrem Bettchen liegt, alle viere ausgestreckt wie ein Seestern. Ich decke sie zu und küsse ihre weiche, rosafarbene Wange. Sie rührt sich nicht einmal. Wenn mir jemand vor einem Jahr gesagt hätte, dass die Ankunft des Postboten das Aufregendste sein würde, was mir den ganzen Tag passiert, hätte ich nur gelacht. Aber als ich jetzt die Treppe hinuntereile, bin ich ein kleines bisschen aufgeregt, weil neben all den Briefen und Rechnungen, die an Richard adressiert sind, auch etwas für mich dabei sein könnte. Eine Zeitschrift vielleicht? Die neueste Ausgabe von Homes & Gardens? Auch darüber hätte ich vor einem Jahr noch gelacht. Jetzt lache ich nicht mehr. Ich könnte eine oder vielleicht sogar zwei Stunden im Schaukelstuhl im Kinderzimmer verbringen und die neuesten Badezimmer und Wintergärten im Landhausstil durchblättern. Vielleicht sollten wir das nach der Küchenrenovierung als Nächstes angehen. Nur dass ich in Sachen Küchenrenovierung untätig geblieben bin. Die Bilder, die ich ausgeschnitten hatte, sind noch da, aber sie rollen sich schon an der Magnettafel zusammen. Ich habe sie in dem Nebenraum aufgestellt, der mir als Büro dient. Richard hat unten sein eigenes Arbeitszimmer, einen großen Raum mit einem überdimensionierten Eichenschreibtisch, Regalen über die gesamte Rückwand und Flügeltüren, die auf die Terrasse hinausführen. Er benutzt sein Arbeitszimmer aber nur selten. Er nimmt nicht gerne Arbeit mit nach Hause.

Mein Büro ist weniger pompös. Es stehen nur ein Schreibtisch und ein Aktenschrank drin, in dem ich meine persönlichen Dokumente aufbewahre. Ich habe es hübsch tapeziert und Simon, unseren Gärtner, gebeten, die große Magnettafel an die Wand zu hängen, da Richard nicht gewusst hätte, mit welchem Ende des Hammers man einen Nagel einschlägt.

Damals hatte ich große Pläne für dieses Haus. Ich war schwanger, hatte die Phase der Übelkeit hinter mir und war wegen der Hormone, die mich gerade durchströmten, überglücklich. Ich bildete mir dummerweise ein, dass ich genug Energie hätte, um alles zu schaffen, und dass es ein Kinderspiel wäre, ein Baby zu haben. Aber mein wunderschönes Baby schläft nicht. Das heißt, sie schläft schon. Sie macht ungefähr fünfzig Millionen Nickerchen pro Nacht, und zwischendurch wacht sie auf und schreit, bis sie gefüttert wird. Zurzeit sieht die brutale Realität so aus, dass ich morgens manchmal zu müde bin, um mir die Haare zu waschen.

Flankiert von Oscar bücke ich mich, um die Post aufzuheben, und blättere seufzend den Stapel durch. Ich werde mir wohl einen anderen Zeitvertreib suchen müssen, denn heute ist nichts für mich dabei.

Ich lege das Postbündel auf den Konsolentisch, alles ordentlich nach Größe geordnet: unten die Investors Chronicle, die Zeitschrift für Kapitalanleger, oben die Rechnungen und kleineren Sachen. Da ist ein großer Umschlag aus Amsterdam, von dem ich annehme, dass er mit der Konferenz zu tun hat, an der Richard in drei Wochen teilnehmen wird. Den lege ich ganz unten in den Stapel. Ein Brief fällt dazwischen heraus. Ich hebe ihn vom Boden auf und drehe ihn in meiner Hand. Wie alle anderen ist er an Richard adressiert, aber dieser ist handgeschrieben, und es ist offensichtlich, dass er von einer Frau stammt. Ich werfe einen Blick auf die Rückseite, aber da steht kein Absender. Ich denke sofort, dass er von Isabella ist, der schönen Isabella, Richards Ex-Verlobter. Ich weiß, dass sie noch Kontakt haben, aber warum sie ihm einen Brief schicken sollte, ist mir ein Rätsel. Vielleicht ist es die Einladung zu einer Veranstaltung. Eine besondere Einladung. Zu einer besonderen Veranstaltung. Nur für ihn. Ohne Begleitung, bitte.

Plötzlich brenne ich darauf, es zu erfahren. Ich drehe das Kuvert zwischen meinen Fingern und überlege, ob ich zum Öffnen den alten Dampftrick versuchen soll, obwohl ich befürchte, dass er heutzutage nicht mehr funktioniert.

Ein kalter Luftzug lässt mich zusammenzucken, als die Haustür aufschwingt.

»Hallo, Mrs. A.«

»Roxanne!« Ich lache und presse den Umschlag an meine Brust. »Sie haben mir vielleicht einen Schrecken eingejagt. Ist es schon wieder so weit?«

Ihr Fahrrad lehnt draußen an der Wand, sie kommt herein und schließt die Haustür hinter sich.

»Tut mir leid, dass ich Sie erschreckt habe.« Sie schlägt die Kapuze ihres Mantels zurück. »Ich hätte klingeln sollen. Ich dachte, Sie sind oben bei Evie.«

Ich tue es mit einer Handbewegung ab. »Evie schläft tief und fest. Schon mindestens seit einer Viertelstunde. Ich glaube, das ist ein neuer Rekord. Ich habe gerade die Post durchgesehen.«

»Okay, dann fange ich mal an, Mrs. A.«

Ich habe Roxanne bestimmt schon fünfzigmal gebeten, mich Joanne zu nennen, aber sie tut es einfach nicht. Ich bin für sie immer Mrs. A., obwohl sie Mitte zwanzig sein dürfte und ich dann nur etwa fünf Jahre älter bin als sie.

Sie hängt ihren Mantel in der Garderobe auf, einem kleinen Raum neben der Haustür, in dem wir Schirme, Regenmäntel, Gummistiefel und dergleichen aufbewahren. Sie geht geradewegs durch die Flügeltüren, die zur großen Küche führen, um das Wägelchen mit den Reinigungsmitteln aus der Speisekammer zu holen. Ich bin direkt hinter ihr.

»Möchten Sie einen Tee, bevor Sie anfangen?« Das frage ich jedes Mal, und meistens sagt sie Nein. Sie denkt bestimmt, dass ich mir nichts merken kann. Oder dass ich schwerhörig bin.

»Nein, danke«, sagt sie. »Ich fang dann mal an.«

»Ich denke darüber nach, mir ein Fahrrad zuzulegen«, platze ich heraus, bevor sie dazu kommt, sich zu entfernen. Dabei stimmt das gar nicht. Was sollte ich schon damit anfangen? Das Kinderbett auf den Gepäckträger klemmen? Doch ich will unbedingt mit jemandem reden. Ich habe das Gefühl, seit Tagen mit niemandem gesprochen zu haben – obwohl das nicht ganz stimmt. Ich spreche mit Simon, unserem Gärtner, obwohl wir noch Winter haben und er momentan nicht viel Zeit hier verbringt. Er kommt nur ein-, zweimal die Woche, meistens, um das Grundstück zu pflegen und alles für den Frühling vorzubereiten. Ich rede natürlich jeden Abend mit Richard, aber Richard arbeitet lange und kommt in letzter Zeit nicht einmal mehr rechtzeitig zum Abendessen nach Hause. Ihm gehört eine exklusive Investmentbank, und zusammen mit seinem geschäftsführenden Partner arbeiten sie an einem neuen Produkt, einer großen neuen Finanzportfolio-Sache. Er hat versucht, es mir zu erklären, aber ich habe kein Wort verstanden. Ich habe es auf mein Babyhirn geschoben.

»Was für eins sollte ich Ihrer Meinung nach kaufen?«, frage ich Roxanne.

Sie zuckt mit den Schultern. »In Chertsey gibt es ein Fahrradgeschäft. Da können Sie sich beraten lassen.«

Ich nicke. »Ja. Gute Idee.« Ich lausche nach Evie und stelle befriedigt fest, dass alles ruhig ist. Dann nehme ich den Kessel und schwenke ihn in Roxannes Richtung. »Sind Sie sicher?«

»Bin ich«, antwortet sie.

»Okay!« Ich setze Wasser auf, hänge einen Beutel Pfefferminztee in meine Tasse, lehne mich an den Tresen und sehe zu, wie sie ihre Putzsachen zusammensucht. Ich versuche krampfhaft, mir noch ein anderes Gesprächsthema einfallen zu lassen, aber mein Gehirn ist wie eine zermatschte Kartoffel.

Manchmal frage ich mich, was wir uns dabei gedacht haben, in ein so großes Haus weit vor der Stadt zu ziehen. Natürlich weiß ich, was ich für ein Glück habe, in so einem wunderschönen Haus zu leben. Es hat sechs Schlafzimmer, fünf Bäder, ein Wohnzimmer und ein Tageswohnzimmer, jede Menge Ausblick, einen Keller, in dem Richard seine wertvollsten Weine aufbewahrt und den er zu einem Heimkino oder so etwas umbauen will, außerdem eine riesige Küche mit Speisekammer, die größer als die Wohnung ist, in der ich damals in London gewohnt habe. Und ich möchte nichts weiter, als mit Evie auf dem Schoß in der Küche zu sitzen, Tee zu trinken und mit Roxanne zu plaudern. An manchen Tagen ertappe ich mich dabei, wie ich ihr mit Evie auf dem Arm durchs Haus folge, während sie arbeitet, nur um jemanden zum Reden zu haben.

Roxanne steckt sich die Ohrhörer in die Ohren und tippt auf ihr Handydisplay. Ich unterdrücke ein Seufzen. Schon gut, ich hab’s kapiert. »Dann lasse ich Sie mal in Ruhe«, sage ich, obwohl sie mich nicht hören kann. Ich gieße das kochende Wasser auf den Teebeutel und gehe mit meiner Tasse wieder in den Flur.

Kapitel 2

Richard und ich leben in diesem Haus, seit ich mit Evie schwanger war. Es ist unser Zuhause für die Ewigkeit. Zu der Zeit hatte ich bereits meine Abneigung überwunden, von Richards Geld zu leben – zumindest, als es um einen Hauskauf ging. Zu Beginn unserer Suche war ich jedes Mal, wenn er mit mir eine Immobilie besichtigte, vor dem Preis zurückgeschreckt. Ich hatte nicht annähernd genug Einkommen, um eine Hypothek in der Höhe aufzunehmen, die ihm vorschwebte. Und diese Häuser waren nicht annähernd so groß wie dieses gewesen.

»Mach dir keine Sorgen um das Geld, Joanne. Lass uns das richtige gemeinsame Zuhause finden. Das ist mein Geschenk an dich«, hatte er gesagt und mich auf den Scheitel geküsst.

Ich erinnere mich noch an den ersten Besichtigungstermin. Ich traute meinen Augen nicht. Richard war begeistert. Das konnte wirklich uns gehören? Ich versuchte, mir das Leben auszumalen, das wir hier führen würden, während ich jeden Raum, jeden Sims, jedes Fenster bestaunte. Wir sprachen über die Partys, die wir hier veranstalten konnten, bewunderten den gepflegten Garten, stellten uns vor, wie unsere Kinder – und unser Labrador – auf dem Rasen herumtobten. Wir waren uns sofort einig gewesen, dass das Zimmer im Obergeschoss mit Blick auf den Rosengarten das perfekte Kinderzimmer wäre. Die Küche war etwas in die Jahre gekommen, und ich erzählte Richard begeistert, dass ich sie umbauen könnte. Das könnte mein persönliches Projekt werden, sagte ich.

Nur läuft es nicht so, wie ich gehofft hatte. Ich bin unfähig, selbst einfache Entscheidungen über Arbeitsplatten oder Schrankoberflächen zu treffen. Dabei sollte man meinen, dass ich mich mit diesen Dingen auskenne, da ich früher Immobilienmaklerin war. Ich habe schon viele, viele Küchen gesehen und weiß, welche Aufteilung funktioniert, was sich verkauft und was gut aussieht.

Jedenfalls wusste ich das früher. Heutzutage ertappe ich mich dabei, dass ich Roxanne Fragen stelle wie: »Ist das ein guter Ofen, was meinen Sie?« Oder: »Was ist zurzeit ein schöner Stil für eine Küche? Polierter Beton? Wie wäre es im Shaker-Stil? Oder, warten Sie, wie wäre es mit dem hier? Hochglanzweiß. Mögen Sie Hochglanzweiß?« Und sie sah mich mit leicht hochgezogenen Augenbrauen an und sagte: »Keine Ahnung, Mrs. A. Das müssen Sie entscheiden.«

Das war noch zu der Zeit, bevor sie anfing, ihre Ohrhörer mitzubringen.

*

Ich habe Richard kennengelernt, als er mit Isabella in das Immobilienbüro kam, für das ich in Chelmsford arbeitete. Ich war Jahre zuvor mit meinem damaligen Freund Marc dorthin gezogen, als er die Chance bekommen hatte, eine Firma zu leiten, die Computerhardware entwickelte. Nach unserer Trennung zog Marc wieder nach London, und ich blieb in der Gegend, hauptsächlich aus Trägheit.

Richard und Isabella interessierten sich für ein georgianisches Haus, das wir im Angebot hatten. Die Immobilie fiel eigentlich nicht in meinen Zuständigkeitsbereich. Sie war meinem Kollegen Anthony zugeteilt worden. Ich war ein bisschen in Anthony verknallt, aber das ist eine andere Geschichte. Aber da Anthony an diesem Tag nicht da war, bot ich an, ihnen die Immobilie zu zeigen.

Es war ein wunderschönes Haus mit gut geschnittenen Räumen, großen, offenen Kaminen und hohen Decken inmitten eines zwei Hektar großen Grundstücks mit eigenem See. Dieses Haus sollte ihr Zuhause für immer werden. Seines und Isabellas.

Ich erinnere mich gut an sie. Um die vierzig, hinreißend und groß, lockiges dunkles Haar, das ihr wunderschönes Gesicht umrahmte. Und ein bezauberndes Lächeln. Ein paar Tage vergingen, und eines Tages rief Richard an. Er wollte sich das Haus noch einmal ansehen. Wir vereinbarten einen Besichtigungstermin, aber Isabella verspätete sich an diesem Tag, und so ging ich mit Richard wieder alles durch. Er wollte den Keller sehen. Ich mag keine Keller und keine dunklen Räume, aber es gehörte zu meinem Job, also habe ich mit den Schultern gezuckt und klar gesagt. Wir gingen hinunter, und eine Windböe schlug die Tür zu. Richard ging zurück, um sie zu öffnen, aber sie klemmte. Ich zitterte. Meine Knie fühlten sich wie Pudding an.

»Alles okay mit Ihnen, Joanne?«

»Ja«, log ich und stützte mich mit der Hand an der kühlen Wand ab.

»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir sind im Nu wieder draußen.« Er zückte sein Handy, und natürlich hatten wir da unten absolut keinen Empfang.

Ich begann zu hyperventilieren.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Joanne. Sehen Sie das Fenster da oben? Ich steige da durch, gehe um das Haus herum und öffne die Tür.«

»Das Fenster da?«, hauchte ich. Es war nicht einmal ein Fenster, sondern nur eine Lücke. Ein paar fehlende Ziegelsteine. Er würde da bestimmt nicht durchpassen.

»Vertrauen Sie mir. Alles wird gut.«

»Okay«, flüsterte ich mit einiger Mühe.

Er zog sein Jackett aus und drapierte es sorgfältig zusammengelegt auf einer leeren Kiste. Dann krempelte er die Hemdsärmel hoch, lockerte seine Krawatte und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Obwohl ich kurz vor einer Panikattacke stand, musste ich wegen der leicht schiefen, dickrandigen Brille, dem dunklen, zerzausten Haar und der schief sitzenden Krawatte bei seinem Anblick lächeln. Er sah wie Clark Kent aus. Oder so, wie Clark Kent mit fünfzig aussehen würde.

Er schaffte drei weitere leere Kisten herbei und baute damit so etwas wie eine Treppe. »Darf ich meine Hand auf Ihre Schulter legen? Um mich abzustützen?«, fragte er.

»Ja, Verzeihung.« Ich stellte mich neben ihn, musste mich aber mit einer Hand an der Wand abstützen, um stabil zu bleiben. Vor meinen Augen tanzten schwarze Punkte, während er irgendwie die Kisten hochkletterte.

Es sah richtig unbeholfen aus, als er versuchte, sich durch die Öffnung zu zwängen. Wenn ich nicht so viel Angst gehabt hätte, hätte ich es lustig gefunden. Aber stattdessen habe ich mich gefragt: Was passiert, wenn er stecken bleibt? Wenn er da oben stirbt? Eingeklemmt in dieser winzigen Fensteröffnung? Dann verschwanden seine Beine, was eine neue Panikwelle bei mir auslöste.

»Sie hauen doch nicht ab und lassen mich hier zurück, oder?«, rief ich nervös.

Er streckte den Kopf wieder herein. »Keine zehn Pferde könnten mich davon abhalten, zurückzukommen«, keuchte er. »Ich bin gleich wieder da.«

Dann war er weg.

Ich hockte mich hin und ließ meinen Kopf zwischen die Knie sinken. Ich fragte mich, was ich tun würde, wenn er nicht zurückkäme, und mir wurde klar, dass ich nichts tun konnte. Überhaupt nichts. Ich würde einfach hier sterben, allein. Eine verrottende Leiche in einem Keller.

Dann öffnete sich die Tür, er polterte die Treppe herunter und half mir hoch.

»Ich komme mir so blöd vor«, sagte ich, als wir draußen waren.

»Nicht doch. Sie konnten ja nicht ahnen, dass das passiert.«

»Ich meinte, weil ich so viel Angst hatte.«

»Jetzt ist es vorbei. Es gibt nichts mehr, wovor man sich fürchten müsste.« Er zog mich in seine Arme, und ich begann zu weinen. Ich kam mir so albern vor, weil ich sein schönes Hemd vollweinte, aber in Wahrheit wollte ich mich nicht von ihm lösen. Ich fühlte mich so sicher wie schon lange nicht mehr, wenn ich so beschützend gehalten wurde.

Wir verharrten einige Augenblicke so, er streichelte meinen Kopf, und ich erschauderte wie ein Kind, bis ich mich zurückzog und mir mit dem Ärmel die Nase abwischte. »Entschuldigung. Ich habe Ihr Hemd ruiniert. Außerdem haben Sie Ihre Jacke da unten liegen lassen.«

»Ich hole sie schnell.« Er reichte mir ein Taschentuch, als ein Auto vor uns zum Stehen kam.

Isabella war angekommen.

*

In der darauffolgenden Woche kam er in die Agentur und teilte mir mit, dass er vom Kauf der Immobilie zurücktreten wollte, da Isabella und er sich getrennt hätten.

»Es tut mir so leid«, sagte ich, als ihm die Tränen in die Augen schossen.

Es war schon 17 Uhr, also ging ich mit ihm um die Ecke auf einen Drink ins The Ship. Dort erzählte er mir, dass Isabella ihn wegen eines anderen verlassen habe. Sie hatte schon seit Monaten eine Affäre, und als sie das Haus besichtigten, hatte sie bereits gewusst, dass sie nicht mit Richard dort einziehen würde. »Sie wusste nur nicht, wie sie es mir beibringen sollte.«

Ich hatte selbst Erfahrungen mit Untreue gemacht. Ich erzählte ihm von Marc, wegen dem ich hierhergezogen war. Marc und ich waren drei Jahre zusammen gewesen. Marc wollte erst vorläufig keine Kinder, später wollte er dann gar keine mehr. »Ich wäre ein schlechter Vater«, behauptete er. Dann verkündete Marc eines Tages beim Frühstück, dass er mich verlassen würde. Er hatte eine Affäre mit Olive aus der Personalabteilung, und sie war schwanger.

»Sie haben jetzt einen kleinen Jungen namens George, und das nächste Kind ist schon unterwegs.«

Richard schüttelte den Kopf. »Wie furchtbar.«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das ist schon eine Weile her«, sagte ich, als ob mir nicht noch immer die Galle hochkam, wenn ich daran dachte.

Wir plauderten noch ein bisschen, und plötzlich machte das Lokal zu. Ich hatte mich schon lange nicht mehr so wohl mit jemandem gefühlt.

»Danke, dass Sie mir zugehört haben«, sagte Richard und schloss den Schlag des Taxis für mich.

Zwei Monate später lud er mich zum Essen ein.

Acht Monate später waren wir verheiratet.

Kapitel 3

Als ich in die Halle komme, fällt mein Blick wieder auf den geheimnisvollen Brief auf der Konsole. Ich nehme ihn in die Hand und überlege, ob ich Isabellas Handschrift schon einmal gesehen habe. Falls ja, kann ich mich nicht daran erinnern. Ich wünschte, das würde mich nicht so verunsichern. Aber vor ein paar Monaten erzählte mir Richard, dass Isabella sich bei ihm gemeldet hatte. Ihre neue Beziehung hätte nicht funktioniert, und sie sei wieder Single.

»Meinst du, sie will wieder mit dir zusammenkommen?«, hatte ich ungläubig gefragt.

»Aber nein, absolut nicht. Wir waren eben nur viele Jahre zusammen. Ich glaube, sie möchte mit jemandem reden, der sie gut kennt. Sie braucht eine Schulter, an der sie sich ausweinen kann.«

Richard hatte meine Bedenken wohl zerstreuen wollen, aber es hatte nicht funktioniert. Schließlich war ich für ihn auch eine Schulter zum Ausheulen gewesen, und wohin hatte uns das geführt? Und damals war ich schlanker und voller Energie gewesen, eine viel beschäftigte Karrierefrau. Und ich hatte immer frisch gewaschenes Haar. Aber jetzt? Jetzt fühle ich mich so langweilig, als könnte ich mich schon selbst in den Schlaf reden.

Ich sollte mir mehr Mühe geben. Genau! Das sollte ich. Ich sollte ihm eine köstliche Mahlzeit zubereiten. Nein, besser ein Candle-Light-Dinner. Außerdem hatten wir seit Wochen keinen Sex mehr gehabt, und das war meine Schuld. Ich sollte mich sexy anziehen. Habe ich etwas, das sexy ist? Ich meine, etwas, das mir noch passt? Etwas, in dem ich nicht aussehe wie eine mit Bindfaden umwickelte Salami?

Ich will gerade nach oben ins Kinderzimmer gehen, als das Telefon klingelt. Das Festnetztelefon. Wir haben in fast jedem Zimmer des Hauses einen Telefonanschluss, weil der Handyempfang hier im besten Fall lückenhaft ist. Obwohl Richard behauptet, wir hätten das Festnetz, damit ich nicht ständig nach meinem Handy suchen müsste, wenn ich gerade Evie stille. Aus irgendeinem Grund machen sich alle Sorgen, dass ich mich überanstrenge.

»Joanne, Darling. Wie läuft dein Tag?«

»Wirklich gut!«, antworte ich fröhlich. »Richtig gut. Ich bin froh, dass du anrufst, weil ich dir heute Abend etwas Besonderes kochen möchte. Wann kommst du nach Hause?« Ich füge rasch hinzu: »Ich habe eine Überraschung für dich.«

Er lacht. »Was für eine Überraschung denn?«

Ich drehe den Brief zwischen meinen Fingern. »Wenn ich es dir sage, ist es ja keine Überraschung mehr. Aber was soll’s? Wenn du schon fragst – ich dachte, ich koche uns ein romantisches Abendessen … Und danach gibt’s vielleicht, du weißt schon … ein Dessert?«

Toll! Jetzt denkt er wahrscheinlich an Pudding.

»Liebling, das tut mir leid. Das klingt wunderbar, aber ich rufe an, um dir zu sagen, dass ich länger arbeiten muss. Wir müssen den Prospekt bis Montag fertig haben. Geoff hat gesagt, wir brauchen heute Abend alle Mann an Deck.«

Ach, verdammt, Geoff! »Das ist auch okay«, sage ich und versuche, fröhlich zu klingen – vergeblich. »Ein anderes Mal.« Ich höre, dass Evie sich oben rührt. »Ich muss jetzt Schluss machen. Es ist Zeit für Evies Fütterung. Rufst du mich später an?«

»Natürlich, Darling.«

Ich weiß, dass es diese blöden Hormone sind, aber trotzdem kribbeln Tränen in meinen Augen. Ich frage mich unwillkürlich, ob ich ihn allmählich verliere. Ob er mich schon so langweilig findet, dass er seine Abende lieber mit den Kollegen im Büro verbringt.

Ich gehe nach oben zu Evie. Sie ist wach, liegt auf dem Rücken und starrt auf das Mobile mit den Waldtieren über ihrem Bettchen. Als sie mich sieht, fängt sie an zu weinen. Mein Herz schlägt trotzdem höher. Ich hebe sie hoch und küsse ihr weiches Haar. Sie hört auf zu weinen und reibt ihre Nase an meinem Hals. Ich lache. Jede Unsicherheit ist aus meinem Kopf verschwunden. Mein Herz ist voller Liebe und Glück, wenn ich mit meinem Baby zusammen bin.

Ich nehme das Fläschchen, das ich schon vorbereitet habe, aus dem kleinen Eckkühlschrank und stelle es in den Wärmer. Dann laufe ich im Zimmer herum und warte, bis das Gerät ping macht. Ich würde mein Baby so gerne stillen, aber leider produziere ich nicht genug Milch.

Mein Handy klingelt. Es ist meine Freundin und Ex-Kollegin Shelley von der Agentur. Ich klemme mir das Telefon zwischen Ohr und Schulter und setze Evie auf meine Hüfte.

»Shelley! Hallo! Wie geht es dir? Bleib kurz dran, ich kann dich nicht hören. Ich geh nach draußen. Eine Sekunde.«

Ich gehe in mein Schlafzimmer und stelle mich vor die verglaste Doppeltür, die auf den Balkon führt. Hier hat man immer guten Empfang. »Kannst du mich jetzt hören?«

»He, Mama! Da bist du ja!«

Ich höre im Hintergrund Telefone klingeln, und mich überkommt ein kleiner Anflug von Nostalgie.

»Du klingst beschäftigt«, sage ich.

»Immer. Du weißt ja, wie das ist. Wie läuft es bei dir?«

»Ich bin auch total ausgelastet! Ich habe nicht mal eine Minute für mich!«

»Entschuldige, Jo«, sagt sie. »Ich will dich nicht aufhalten, ich habe nur eine kurze Frage.«

»Nein, bitte, halt mich unbedingt auf. Ich habe nur Spaß gemacht. Ich sterbe hier noch vor Langeweile. Wenn du willst, können wir den ganzen Tag plaudern.«

Sie lacht. »So schlimm ist es bestimmt nicht. Hör mal, ich bin wirklich in Eile, aber erinnerst du dich an das Berry-Haus, für das wir ein Gutachten erstellt hatten? Und der Kunde dann beschlossen hat, doch nicht zu verkaufen?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Er hat seine Meinung geändert und möchte die ursprüngliche Bewertung sehen. Aber ich kann die Akte nicht finden. Wir haben gesucht und gesucht, und in fünf Minuten haben wir ein Meeting.«

Ich schaukele Evie sanft auf meiner Hüfte. »Sie ist in dem Aktenschrank, wo wir die ›Rückruf in sechs Monaten‹-Akten aufbewahren.«

»Oh mein Gott, Jo, du bist unglaublich! Das hatte ich ganz vergessen, aber natürlich hast du recht.« Ich höre das Knarren eines Stuhles, der zurückgeschoben wird, das Geräusch einer Schublade, die sich öffnet, und dann kreischt Shelley triumphierend: »Da ist sie!« Sie hält das Telefon offenbar hoch, denn ich höre ein lautes Juchhu!, Beifall und empfinde einen Anflug von Stolz, als hätte ich die ganze Agentur vor dem unmittelbaren Bankrott bewahrt.

»Du bist ein Star. Das bist du wirklich«, sagt Shelley. »Ich muss mich beeilen, aber danke, Jo. Ich versuche, drei Dinge auf einmal zu jonglieren. Du weißt ja, wie es hier zugeht. Wir haben jetzt so viele Vermietungen, dass wir eine neue Abteilung eröffnen müssen, nur um sie zu bearbeiten, und wir haben sowohl Terry als auch Kimberley verloren.«

»Was ist passiert? Haben sie gekündigt?«

»Ja, allerdings. Sie haben einfach geheiratet. Wusstest du das nicht?«

»Nein! Das ist doch eine tolle Neuigkeit, oder? Ich meine, vielleicht nicht für dich.« Da kommt mir eine Idee. »Warte mal, ich überlege gerade, ob ihr etwas Unterstützung gebrauchen könntet? Ich könnte ein oder zwei Tage pro Woche von zu Hause aus arbeiten, falls das etwas bringt.« Ich spreche jetzt schnell und rede einfach drauflos, während die Idee in meinem Kopf Gestalt annimmt. »Alle Dokumente sind in der Cloud gespeichert. Natürlich kann ich keine Besichtigungen für Kaufinteressenten durchführen, aber ich könnte mit jemandem vom Team zusammenarbeiten, vielleicht mit Jacklyn? Ich könnte bei den Mietverträgen helfen, Reparaturen, Inspektionen und so weiter organisieren?«

Es versteht sich von selbst, dass die Chance, von Shelley einen Job zu bekommen – egal welchen –, so hoch ist wie die Aussicht auf einen Lottogewinn. Ich wohne ungefähr siebzig Meilen entfernt. Ich habe seit über einem Jahr keinen Fuß mehr in die Agentur gesetzt, länger, als ich je in einem Job gearbeitet habe. Was weiß ich über ihre aktuellen Angebote? Verwenden sie überhaupt noch die gleichen Systeme?

Sie schweigt. Jeden Moment wird sie »Nein, danke« sagen und mich abwimmeln.

»Ich sag dir was«, antwortet sie schließlich. »Wir könnten tatsächlich Hilfe gebrauchen, bis ich mehr Personal habe, aber es ist vielleicht nicht die interessanteste Arbeit, nur langweilige Routine, verstehst du?«

»Ich liebe Routine! Routine ist meine absolute Lieblingsbeschäftigung!«

Sie lacht, und wir verabreden, in ein oder zwei Tagen wieder zu telefonieren, nachdem sie Zeit hatte, darüber nachzudenken und mit dem Team zu reden. Als ich auflege, ist mir vor Freude fast schwindlig.

»Mami fängt vielleicht wieder an zu arbeiten«, gurre ich Evie zu. »Ist das nicht toll? Und du kannst auf meinem Schoß sitzen und mir helfen. Würde dir das gefallen?«

Ich weiß nicht, warum, aber plötzlich habe ich das Gefühl, beobachtet zu werden. Ich drehe mich um, und ein Schatten huscht über den Flur.

»Roxanne?« Ich strecke den Kopf heraus und sehe sie über den Korridor gehen. »Roxanne?«, rufe ich. »Brauchen Sie etwas?« Aber sie verschwindet, ohne sich umzudrehen.

Ich kehre ins Kinderzimmer zurück und setze mich mit Evie in den Sessel. Hat Roxanne mich beobachtet? Nein, natürlich nicht! Warum sollte sie sich dafür interessieren, was ich tue? Das bilde ich mir nur ein. Wahrscheinlich ist sie zufällig vorbeigegangen und hat kurz ins Zimmer geschaut, das ist alles. Und natürlich hat sie mich nicht gehört. Sie hat ja immer diese Dinger im Ohr.

Ich lockere meine Schultern, um das seltsame Gefühl zu vertreiben. »Es wird Zeit, dass Mami etwas zu tun bekommt, meinst du nicht auch?«, flüstere ich Evie zu. Eine weitere Marotte, die ich mir in letzter Zeit zugelegt habe: Ich rede laut mit mir selbst, tue aber so, als spräche ich mit meinem Baby. »Sonst dreht Mami noch völlig durch.«

Kapitel 4

Ich bin mit Evie auf meiner Brust eingeschlafen, aber jetzt bin ich wach. Irgendetwas hat mich geweckt. Roxanne? Nein, das kann nicht sein. Sie ist schon vor Stunden gegangen.

»Joanne? Ich bin’s!«

»Richard?« Ich stehe auf und lege die verschlafene Evie zurück ins Bettchen. »Du bist schon zu Hause!« Ich laufe ihm entgegen, die Treppe hinunter. »Ich dachte, du müsstest heute länger arbeiten?«

Er knöpft seinen Mantel auf. »Ich habe Geoffrey gesagt, er kann es selbst machen, wenn er will. Aber ich gehe nach Hause. Ich vermisse meine Mädchen zu sehr.« Er stellt seine Aktentasche auf den Boden und breitet die Arme aus.

»Aber du bist trotzdem so früh zurück!« Ich schmiege mich in seine Umarmung.

»Ich habe mir für den Rest des Tages freigenommen.« Er küsst mich auf den Scheitel. »Es tut mir leid«, sagt er leise.

»Was denn?«

»Du wolltest heute Abend etwas Besonderes für uns machen, und ich bin ein langweiliger alter Mann. Ich lasse dich viel zu oft allein. Ich habe dich nicht verdient«, sagt er.

»Hättest du nur angerufen. Dann hätte ich mir zumindest die Haare gekämmt!«

Er fährt mir mit der Hand über den Kopf. »Dein Haar ist perfekt.«

Ich ziehe mich zurück und schaue an mir herunter. »Aber ich sehe schrecklich aus.« Ich trage ein unförmiges altes Sweatshirt und ausgebeulte Yogahosen. Und ich habe überall Evies Rotz an mir.

»Und ich finde, du siehst wunderschön aus. Komm, wir köpfen eine Flasche Wein.«

Das ist der Vorteil, wenn man nicht stillen kann. Ich darf abends ein Glas Wein trinken.

»Ich habe nichts zu essen vorbereitet«, sage ich.

»Lass uns was von Piccolino holen.« Er nimmt meine Hand.

»Oh, das machen wir«, sage ich. »Ich könnte töten für eine Pizza.«

*

Später sitzen wir an dem großen Holztisch in der Küche, zwischen uns das Babyfon. Richard wickelt Spaghetti um seine Gabel. Sein Haar fällt ihm in die Stirn. Ich sollte ihm einen Haarschnitt verpassen. Ich frage mich oft, weshalb sich jemand, der so intelligent und erfolgreich wie Richard ist, als ein solcher Nerd präsentiert. Manchmal muss ich ihn aufhalten, bevor er das Haus verlässt, um seinen Hemdkragen zu richten, weil er einen Knopf vergessen hat. Oder er trägt ein Paar Socken, das fast passt, aber nicht ganz. Oder er sucht seine Brille eine halbe Stunde, obwohl er sie buchstäblich auf dem Kopf hat. Ich habe ihn einmal zum Optiker geschickt, um sicherzugehen, dass er nicht blind wird. Aber nein, seine Sehkraft ist unverändert. Er brauchte nicht einmal eine neue Brille. Er ist einfach so, und ich würde ihn auch nicht anders haben wollen. Er ist mein persönlicher, gut aussehender Clark Kent mit grauen Schläfen, und ich schmelze dahin, wenn ich ihn nur ansehe.

»Du siehst müde aus, Darling.«

Ich versuche zu lächeln. »Sie ist letzte Nacht erst nach zwei Uhr eingeschlafen.«

»Du hättest mich wecken sollen.«

»Nein! Du musst doch zur Arbeit. Das wäre nicht fair.«

»Ich hätte helfen können. Wie ging es dem kleinen Monster heute?«

»Sie hat natürlich den ganzen Tag geschlafen. Wie ein Engel.« Ich beiße in mein Pizzastück und wische mir den Mund mit der Serviette ab. »Wie auch immer, ich habe Neuigkeiten.«

»Oh?«

»Ich habe heute mit Shelley gesprochen.«

Er schenkt uns beiden ein Glas Wein ein. »Shelley?«

»Von der Agentur.«

»Shelley. Ja, natürlich. Und wie geht es Shelley?«

»Ihr geht’s sehr gut. Aber ganz ehrlich, sie haben da enorm viel zu tun. Sie kommt kaum dazu, Luft zu holen.« Ich fange an, mit meiner Serviette zu spielen, sie zu falten und wieder zu entfalten. »Jedenfalls«, fahre ich fort, »hat sie mich gefragt, ob ich ein paar Tage in der Woche aushelfen könnte. Natürlich nur von zu Hause aus«, füge ich schnell hinzu, damit er nicht denkt, ich würde jeden zweiten Tag nach Chelmsford fahren.

Er sieht mich über den Rand seines Weinglases hinweg stirnrunzelnd an. »Aber Darling, hast du wirklich Lust darauf?«

Ich nehme mir noch ein Stück Pizza und vergesse dabei meinen früheren Entschluss, so schnell wie möglich wieder in Form zu kommen. »Na ja … Sie braucht meine Hilfe, also …«

»Aber was willst du?« Er greift nach meiner Hand. »Du bist doch glücklich, oder? Manchmal mache ich mir Sorgen um dich. Haben wir das alles überstürzt? Ich weiß, du wolltest hier leben, in diesem Haus, weit weg von der Stadt … Aber war das ein Fehler?«

Genau deshalb habe ich es für nötig gehalten, diese kleine Notlüge zu erzählen. Shelley hat mich nicht gebeten, wieder zu arbeiten. Sondern ich hatte das Thema angeschnitten und sie fast angefleht, mich in der Agentur arbeiten zu lassen. Aber Richard erinnert mich zu Recht daran, dass dieses Haus, dieses Leben, genau das ist, was ich wollte. Ich wollte viele Kinder und ein Haus, um das ich mich kümmern kann. Ich wollte eine große Küche mit Töpfen und Pfannen, die von der Decke hängen. Ich wollte jeden Abend köstliche Mahlzeiten für meine Familie kochen. Ich wollte all diese Dinge, und ich bin diejenige, die monatelang davon schwärmte, wie sehr ich mich auf die Vollzeitmutterschaft freute und wie ich dieses Haus mit Kindern und Freunden und Lachen füllen wollte und wie beschäftigt ich sein würde und wie fantastisch das Leben jenseits der Arbeit wäre. Richard ist egal, was ich will, solange ich nur glücklich bin. Ich bin fest davon überzeugt, dass es Richard nicht im Geringsten interessiert, ob ich meine Meinung ändere oder ob ich Teilzeit arbeiten möchte oder nicht. Er ist nicht von mir enttäuscht. Aber ich bin es.

»Ich glaube, es könnte Spaß machen. Ich vermisse die Hektik im Büro.«

Er nimmt einen Schluck Wein. »Und du willst mit Anthony in diesem hektischen Büro arbeiten? Was ist mit unserem Baby? Was passiert mit Evie?«

Ich lege meine Hand auf seine. »Erstens: Ich würde von zu Hause aus arbeiten. Dass ich die Hektik im Büro vermisse, war nur metaphorisch gemeint. Zweitens: Ich weiß nicht mal, ob Anthony noch dort arbeitet.«

Das ist schlicht gelogen. Anthony arbeitet noch in der Agentur. Er schickt mir gelegentlich Nachrichten, einfach nur um Hallo zu sagen. Aber Anthony ist ein heikles Thema zwischen uns. Ein paar Wochen bevor ich Richard kennenlernte, haben Anthony und ich uns einmal geküsst. Das war nach der Weihnachtsfeier der Agentur, er hatte mich nach Hause begleitet. Danach haben wir auf der Arbeit geflirtet, und ich hatte immer gehofft, dass er mich um ein Date bittet, aber wir haben die Sache nicht weiter verfolgt. Dann lernte ich Richard kennen. Und ich habe den Fehler gemacht, ihm von Anthony zu erzählen. Ich glaube, ich wollte ihm das Gefühl geben, dass ich ein guter Fang sei. Dass die Männer Schlange stehen, um mit mir auszugehen.

»Da ist so ein Typ auf der Arbeit, der mich noch wahnsinnig macht. Er flirtet ständig mit mir. Es ist sehr süß, aber weißt du, er will es einfach nicht kapieren«, sagte ich. Wir saßen gerade in einem sehr teuren Restaurant in Mayfair. Ich hatte mir für diesen Anlass sogar ein neues Kleid gekauft, das die Hälfte meines Monatsgehalts verschlungen hatte.

Eine Ader pochte plötzlich an seiner Schläfe. »Wie kommt er dazu? Er weiß doch, dass du liiert bist, oder?«

»Ja! Natürlich weiß er das. Es ist nur so, dass …« Ich hätte es nicht sagen sollen. Ich hätte an seinem Tonfall merken müssen, dass das nicht so ankam, wie ich es erwartet hatte, aber ich war in meiner eigenen kleinen Vorstellung gefangen. »Wir haben uns geküsst, ein Mal.« Ich wedelte mit einer Hand in der Luft. »Ich war betrunken. Weihnachtsfeier. Muss ich noch mehr sagen? Wie auch immer«, seufzte ich theatralisch. »Ich glaube, er ist ein bisschen in mich verliebt.«

Er stellte sein Glas ganz langsam ab. »Und machst du das oft? Dich betrinken und andere Männer ficken?«

Ich schnappte hörbar nach Luft. Er gab dem Kellner ein Zeichen. »Die Rechnung, bitte.«

»Was machst du, Richard? Wir haben uns doch gerade erst hingesetzt!«

»Ich will dich nicht von deinem Lover fernhalten. Wenn du die Nacht lieber mit ihm verbringen möchtest, dann tu dir keinen Zwang an.«

Ich protestierte, erklärte, ich wäre dumm gewesen und hätte es nur gesagt, um ihn ein bisschen eifersüchtig zu machen. Ich würde niemals auch nur auf die Idee kommen, mit jemand anderem zusammen zu sein. Aber er war vor Wut rot im Gesicht und hatte die Hände zu Fäusten geballt. Diese Seite von ihm hatte ich noch nie gesehen, und ich konnte seine Reaktion einfach nicht fassen. Ich versuchte, es zu erklären. Es hätte nichts zu bedeuten. Es wäre nur ein Kuss gewesen. Anthony bedeute mir nichts. Nur er, Richard. So ging es weiter und weiter, aber er hörte einfach nicht zu. Normalerweise hätte ich bei ihm in seiner Wohnung in Kensington übernachtet, aber stattdessen setzte er mich in ein Taxi und schickte mich weg. Ich nahm anschließend die Bahn nach Hause in meinem eleganten neuen Kleid und schluchzte die ganze Fahrt über.

Am nächsten Tag schickte er ein Dutzend rote Rosen mit einer Karte. Ich bin nur ein alberner alter Mann, der unglaublich in dich verliebt ist. Verzeihst du mir bitte?

Natürlich tat ich das. Aber danach war ich vorsichtig, denn mein etwas nerdiger, trotteliger Clark Kent mit den silbergrauen Schläfen hatte offenbar auch eine empfindliche Seite. Ich habe danach nur noch einmal erlebt, dass er die Fassung verlor. Wegen einer Sache, die sich in seinem Büro zutrug. Ich bin mir allerdings nicht sicher, worum es ging. Wir waren zu Hause, und er telefonierte. Er schlug mit der Faust gegen ein Fenster. Immerhin hielt die Scheibe, aber es muss ziemlich wehgetan haben.

»Ich bin ja schließlich nicht die Erste, die von zu Hause aus arbeitet«, sage ich jetzt. »Es gibt mehrere Leute im Büro, die in der Woche ein oder zwei Tage im Homeoffice sind. Das ist heutzutage ganz normal.«

»Aber was ist mit Evie?«, hakt er nach.

Richard hat einen starken Beschützerinstinkt, wenn es um Evie geht, was zu den Dingen gehört, die ich am meisten an ihm liebe. Von der Minute ihrer Geburt an hat er sich um sie gekümmert, sich um sie gesorgt und sie beschützt. Er war begeistert, als ich sagte, ich wolle eine lange Auszeit nehmen, wenigstens für die ersten zwei Jahre. Manchmal kommt es mir vor, als wäre sein Beschützerinstinkt bei ihr noch ausgeprägter als bei mir – und das will etwas heißen. Bei der Wahl des richtigen Babyfons – ein ziemlich trivialer Gegenstand, wie ich finde – hat er vor dem Kauf so gründlich recherchiert, als ginge es um die Wahl der richtigen Schule.

»Ich besorge mir natürlich Hilfe. Ein Kindermädchen kann vorbeikommen und an den Tagen, an denen ich arbeite, auf Evie aufpassen.«

»Aber woher willst du wissen, ob du dem Kindermädchen trauen kannst? Was ist, wenn sie Evie für sich selbst will? Was ist, wenn sie unser Baby stiehlt?«

Ich weiß, dass er es nicht ernst meint. »Richard! Es gibt da draußen genug professionelle Kindermädchen. Ich wende mich an eine seriöse Agentur. Die arbeiten nur mit geprüften Leuten, die hervorragende Referenzen vorweisen können. Ich werde nicht irgendjemanden von der Straße auflesen. Das verspreche ich.« Ich lächle, und er lächelt zurück.

»Joanne, Darling, wenn du das willst, finde ich das wunderbar. Herzlichen Glückwunsch!« Er erhebt sein Glas, und ich tue es ihm nach.

»Ich danke dir. Das bedeutet mir sehr viel.«

Wir plaudern über seinen Tag, und dann fragt er: »Was hast du heute sonst noch so gemacht?«

Tja, ich habe den ganzen Morgen mit Evie zusammengesessen, ich habe die Post geholt und auf den Konsolentisch gelegt, die du kaum durchgeblättert hast, sodass dir der Brief von Isabella bisher entgangen ist, danach habe ich versucht, mit Roxanne zu reden, aber sie wollte nichts hören, und dann bin ich mit Evie eingeschlafen, und dann bist du nach Hause gekommen.

»Ich hatte einen sehr anstrengenden Tag«, antworte ich. »Ich spiele mit dem Gedanken, mir ein Fahrrad zu kaufen.«

Kapitel 5

Richard öffnet seine Post erst später, als wir im Wohnzimmer sitzen. Ich schüre das Feuer – das ist etwas, was ich richtig gut kann. Ich gebe mein Bestes, um so zu tun, als wäre ich nicht im Geringsten an seiner Post interessiert. Ich streichle Oscar, warte so lange wie möglich, was auf ganze fünf Minuten hinausläuft, setze mich dann wieder auf das Sofa, schiebe meine Füße unter mich, lehne mich zu ihm hinüber und tue so, als hätte ich gerade erst bemerkt, dass er den Brief von Isabella liest.

»Von wem ist der denn?«, frage ich so unschuldig wie ein Lamm.

»Du wirst es nicht glauben!«

»Warum? Von wem ist er?«

»Er ist von Chloe.«

Ich lehne mich zurück. »Von Chloe?«

Er hält den Brief in die Luft, und ein Lächeln breitet sich auf seinem attraktiven Gesicht aus. Dann schüttelt er langsam den Kopf, verwirrt und glücklich zugleich. »Sie will uns besuchen.«

»Deine Tochter Chloe?«

»Ja!« Er dreht das Blatt um und liest weiter, sein Grinsen ist so breit, dass auf seiner rechten Wange ein Grübchen zum Vorschein kommt. »Sie schreibt, wir sollen nicht mehr böse sein. Hör dir das an. ›Ich vermisse dich so sehr, Daddy. Es tut mir alles so leid, und ich möchte unbedingt meine kleine Schwester kennenlernen. Ich habe demnächst Semesterferien. Ich könnte zu dir kommen und eine Weile bei dir bleiben, wenn das okay ist.‹« Er sieht auf. »Ist das zu fassen?«

Ich hätte fast gefragt, ob sie mich erwähnt und ob sie mich auch kennenlernen möchte, aber wahrscheinlich ist das nicht. Schließlich bin ich der Grund, warum sie sich zerstritten haben. Ich weiß nur nicht, warum, da ich sie nie zu Gesicht bekommen habe. Aber sie war so sauer, dass ihr Vater wieder heiratete, dass sie sich strikt geweigert hat, zu unserer Hochzeit zu kommen. Seitdem hat sie kein einziges Wort mehr mit ihrem Vater gesprochen, obwohl er es immer wieder versucht hat. Das geht jetzt schon seit achtzehn Monaten so.

»Wann hast du Chloe von Evie erzählt?«, frage ich. Ich freue mich, dass sie miteinander gesprochen haben, bin aber auch überrascht, weil er es immer wieder aufgeschoben hatte. Wir hatten nach Evies Geburt Familienfotos machen lassen; ich hielt es für einen perfekten Anlass und schlug vor, dass er Chloe eines zusammen mit einem netten Brief schicken könnte. Aber er wollte es ihr persönlich sagen, was eingedenk der Tatsache, dass sie nicht einmal seine Anrufe entgegennahm, für mich eher nach Wunschdenken klang.

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