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Die versteckte Apotheke

Als Buch hier erhältlich:

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Gift, Rache und ein geheimer Frauenbund

Im London des 18. Jahrhunderts raunen sich Frauen hinter vorgehaltener Hand zu, dass es einen Ausweg aus besonders gewalttätigen Ehen gebe: Eine junge Apothekerin rettet sie mit tödlichen Arzneien aus der Not, eine versteckt übermittelte Nachricht genügt. Doch was, wenn aus der Retterin die Gejagte wird?

Knapp 200 Jahre später stößt die Historikerin Caroline Parcewell auf die außergewöhnliche Geschichte der giftmischenden Apothekerin und setzt damit unerwartete Ereignisse in Gang – nicht nur ihr eigenes Leben wird nicht mehr dasselbe sein …


  • Erscheinungstag: 21.07.2022
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749905256
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

FÜR MEINE ELTERN

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»ICH GELOBE UND SCHWÖRE VOR GOTT, SCHÖPFER UND GESTALTER ALLER DINGE …

… NIE UNDANKBARE MENSCHEN ODER NARREN DIE GEHEIMNISSE UND MYSTERIEN DES HANDWERKS ZU LEHREN.

… NIE DIE GEHEIMNISSE PREISZUGEBEN, DIE MIR ANVERTRAUT WERDEN.

… NIEMALS GIFT ZU VERABREICHEN.

… DIE SKANDALÖSEN UND ÜBLEN PRAKTIKEN VON QUACKSALBERN, EMPIRIKERN UND ALCHEMISTEN ZU VERLEUGNEN UND ZU MEIDEN WIE DIE PEST.

… KEINE VERDORBENE ODER SCHLECHTE ARZNEI IN MEINEM GESCHÄFT ZU FÜHREN.

MÖGE GOTT MICH SEGNEN, SOLANGE ICH WEITERHIN DIESE REGELN BEFOLGE!«

ALTER APOTHEKERSCHWUR

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NELLA

3. Februar 1791

Sie würde bei Tagesanbruch kommen – die Frau, deren Brief ich in den Händen hielt, die Frau, deren Namen ich noch nicht kannte.

Ich wusste weder, wie alt sie war, noch, wo sie wohnte. Ich kannte ihre Stellung in der Gesellschaft nicht und wusste nicht, welche dunklen Träume sie heimsuchten, wenn die Nacht hereinbrach. Sie könnte ein Opfer sein oder eine Übeltäterin. Frischgebackene Ehefrau oder rachsüchtige Witwe. Eine Magd oder eine Kurtisane.

Doch trotz all dem, was mir nicht bekannt war, verstand ich eines sehr gut: Diese Frau wusste genau, wer sterben sollte.

Ich hob das rötlich schimmernde Papier an, das von der sterbenden Flamme einer einzelnen Kerze erleuchtet wurde. Mit den Fingerspitzen strich ich über die Tinte ihrer Worte und malte mir aus, welche Verzweiflung diese Frau dazu brachte, jemanden wie mich um Hilfe zu ersuchen. Nicht nur eine Apothekerin, sondern eine Mörderin. Eine Meisterin der Tarnung.

Ihre Bitte war einfach und direkt. Für den Ehemann meiner Herrin, zu seinem Frühstück. Tagesanbruch, 4. Februar. Sofort stellte ich mir eine Hausangestellte mittleren Alters vor, die den Wunsch ihrer Herrin auszuführen hatte. Und mit dem Instinkt, den ich über die letzten zwei Jahrzehnte hinweg perfektioniert hatte, wusste ich sofort, welches Mittel zu diesem Gesuch am besten passte: ein mit nux vomica versetztes Hühnerei.

Die Vorbereitung würde nur wenige Minuten dauern. Das Gift hatte ich vorrätig. Doch aus Gründen, die mir noch unbekannt waren, beunruhigte mich irgendetwas an diesem Brief. Es war nicht der leicht holzige Geruch des Pergaments oder die Art, wie sich die linke untere Ecke ein wenig wellte, als wäre sie einmal mit Tränen benetzt worden. Nein, das Unbehagen braute sich in mir zusammen. Wie ein intuitives Begreifen, dass ich etwas vermeiden musste.

Doch welche ungeschriebene Warnung konnte ein einzelnes Blatt Pergament enthalten, verborgen hinter Federstrichen? Keine, versicherte ich mir selbst. Dieser Brief war kein Omen. Meine sorgenvollen Gedanken entsprangen schlicht meiner Erschöpfung – es war spät – und den anhaltenden Beschwerden in meinen Gelenken.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf mein in Kalbsleder gebundenes Register auf dem Tisch vor mir. Dieses kostbare Buch war ein Verzeichnis von Leben und Tod; die Bestandsaufnahme der vielen Frauen, die hier, in der finstersten aller Apotheken, Hilfe erbaten.

Auf den ersten Seiten war die Tinte hell, mit leichterer Hand geschrieben, frei von Trauer und Widerstand. Diese verblassten alten Einträge stammten von meiner Mutter. Ihr gehörte diese Apotheke für die Leiden der Frauen, in der Back Alley Nr. 3, lange bevor ich sie übernahm.

Manchmal las ich ihre Einträge – Mrs. R. Ranford. Schafgarbe 15 Tr. 3x. 23. März 1767 – und die Worte beschworen Erinnerungen an sie herauf: wie ihr die Haare in den Nacken fielen, während sie die Stiele der Schafgarbe im Mörser zerrieb, oder die gespannte, papierartige Haut ihrer Hand, wenn sie Samen vom Blütenkopf abpflückte. Doch meine Mutter hatte ihr Geschäft nicht hinter einer falschen Wand verborgen, und sie hatte ihre Arznei nicht in Gefäße mit dunklem Rotwein gemischt. Sie hatte keinen Grund gehabt, sich zu verstecken. Die Tinkturen, die sie verkaufte, waren nur zum Guten bestimmt: um die wunden, empfindlichen Stellen einer jungen Mutter nach der Geburt zu beruhigen oder die Menstruation einer kinderlosen Frau zu fördern. So füllte sie die Seiten ihres Registers mit harmlosen pflanzlichen Heilmitteln. Sie würden kein Misstrauen wecken.

Auf meinen Seiten notierte ich ebenfalls Dinge wie Brennnessel, Eisenkraut und Amarant, ja, aber auch teuflischere Substanzen: Nachtschatten und Nieswurz und Arsen. Hinter den Tintenstrichen meines Registerteils verbargen sich Verrat, Kummer … und dunkle Geheimnisse.

Geheimnisse über den kraftstrotzenden jungen Mann, der am Abend seiner Hochzeit einem schwachen Herzen erlag, oder wie es kam, dass ein gesunder frischgebackener Vater Opfer eines plötzlichen Fiebers wurde. Mein Register offenbarte alles: Das waren kein schwaches Herz und kein Fieber, sondern Stechapfelsaft und Nachtschattengewächs, in Wein oder Pasteten gemischt von listigen Frauen, deren Namen nun mein Register befleckten.

Oh, wenn dieses Buch doch nur auch mein eigenes Geheimnis erzählen würde, die Wahrheit darüber, wie dies alles begonnen hatte. Denn ich hatte auf diesen Seiten alle Opfer dokumentiert, alle bis auf eins: Frederick. Die scharfen schwarzen Linien seines Namens entstellten nur mein düsteres Herz, meinen vernarbten Schoß.

Sanft schloss ich das Register und wandte mich wieder dem Brief zu: Was beunruhigte mich daran so? Die Ecke des Pergaments zog erneut meine Aufmerksamkeit auf sich, als wäre etwas daruntergekrabbelt. Und je länger ich an meinem Tisch verweilte, umso mehr schmerzte mein Leib und zitterten meine Finger. In der Ferne, jenseits der Mauern des Gebäudes, klangen die Glöckchen an einer Kutsche beängstigend ähnlich wie die rasselnden Ketten am Gürtel eines Wachtmeisters, doch ich versicherte mir, dass die Amtsmänner heute Abend nicht kommen würden, genauso wenig wie sie es während der letzten beiden Jahrzehnte getan hatten. Mein Geschäft, ebenso wie mein Gift, waren zu geschickt versteckt. Niemand würde diesen Ort finden; er befand sich tief verborgen hinter einer Schrankwand am Ende einer verwinkelten Gasse in den Tiefen Londons.

Mein Blick fiel auf die rußgeschwärzte Wand. Ich brachte es nicht über mich, sie sauber zu schrubben, und besaß auch gar nicht die Kraft dazu. Eine leere Flasche auf dem Regal zeigte mir mein Spiegelbild. In meinen Augen, einst so leuchtend grün wie die meiner Mutter, blitzte nur noch wenig Leben. Auch meine früher rosigen Wangen waren fahl und eingefallen. Meine Erscheinung glich einem Geist, viel älter als meine einundvierzig Jahre.

Vorsichtig rieb ich den runden Knochen an meinem linken Handgelenk, der vor Hitze geschwollen war wie ein Stein, den man im Feuer vergessen hatte. Der Schmerz in meinen Gelenken kroch seit Jahren durch meinen Körper. Inzwischen war er von einer Heftigkeit, dass ich keine Stunde mehr ohne Qual war. An manchen Abenden waren meine Finger so dick und steif, dass ich sicher war, die Haut würde aufplatzen und das Darunterliegende offenbaren.

Das Töten und Hüten von Geheimnissen hatte mir das angetan. Es hatte mich aus der Mitte heraus verfaulen lassen, und etwas in meinem Innern wollte mich aufbrechen.

Prompt wurde die Luft stickig, und Rauch sammelte sich kräuselnd unter der niedrigen Decke meines verborgenen Zimmers. Die Kerze war fast niedergebrannt, bald würden mich die Laudanumtropfen in ihre schwere Wärme hüllen. Die Nacht war längst hereingebrochen, und in wenigen Stunden würde sie erscheinen: die Frau, deren Namen ich meinem Register hinzufügen und deren Rätsel ich enthüllen würde, egal welches Unbehagen sich dabei in mir zusammenbraute.

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CAROLINE

Gegenwart, Montag

Ich sollte nicht allein in London sein.

Reisen anlässlich eines Hochzeitstags sind für zwei Personen ausgelegt, nicht für eine allein, doch als ich aus dem Hotel ins gleißende Sonnenlicht eines Londoner Sommernachmittags trat, war der Platz an meiner Seite leer. Heute, an unserem zehnten Hochzeitstag, sollten James und ich eigentlich zusammen hier sein, auf dem Weg zum London Eye, dem Aussichtsriesenrad, von dem man die Themse überblicken konnte. Wir hatten eine Abendfahrt in einer VIP-Kabine gebucht, einschließlich einer Flasche Sekt und privater Bewirtung. Seit Wochen hatte ich mir ausgemalt, wie die schummrig beleuchtete Kabine unterm Sternenhimmel schaukelte, wie unser Lachen nur vom Klirren unserer Champagnergläser und von der Berührung unserer Lippen unterbrochen wurde.

Doch James war einen Ozean weit entfernt. Ich war allein in London, traurig, wütend, vom Jetlag geplagt und musste eine Entscheidung treffen, die mein Leben verändern würde.

Statt den Weg nach Süden Richtung London Eye und Themse einzuschlagen, ging ich nördlich nach St. Paul’s und Ludgate Hill. Auf der Suche nach dem nächstgelegenen Pub kam ich mir mit meinen grauen Turnschuhen und der Schultertasche wie eine typische Touristin vor. In der Tasche befand sich mein Notizbuch, in Blau vollgeschriebene Seiten mit Herzchenkritzeleien und einer Übersicht über unsere Programmplanung für die nächsten zehn Tage. Ich war zwar gerade erst angekommen, doch ich ertrug es nicht, unsere Zweisamkeitspläne und die liebevollen Einträge zu lesen, die wir uns gegenseitig hineingeschrieben hatten. Southwark, Pärchengarten-Tour, hatte ich auf einer der Seiten notiert.

Hinter einem Baum Babymachen üben, hatte James danebengekritzelt. Ich hatte vorgehabt, ein Kleid zu tragen, nur für den Fall.

Nun brauchte ich das Notizbuch nicht mehr, und die Pläne darin hatte ich allesamt verworfen. Mein Hals fing an zu brennen, und mir kamen die Tränen, als ich mich fragte, was wohl bald noch alles verworfen werden würde. Unsere Ehe? James und ich waren seit dem College zusammen – ich kannte kein Leben ohne ihn. Ich wusste gar nicht, wer ich ohne ihn war. Würde ich auch meine Hoffnung auf ein Baby aufgeben müssen? Bei dieser Vorstellung fühlte ich ein Ziehen im Bauch, denn er verlangte nach mehr als einem anständigen Essen. Ich sehnte mich danach, Mutter zu sein: diese perfekten kleinen Zehen zu küssen und meinem Baby kitzelnd auf den runden Bauch zu prusten.

Ich war noch keinen Block weit gegangen, da entdeckte ich den Eingang zu einem Pub, der Old Fleet Tavern. Doch als ich auf die Tür zusteuerte, wurde ich von einem etwas zottelig aussehenden Kerl mit Clipboard und fleckigen Kakishorts abgefangen, der auf dem Bürgersteig stand. Er war etwa Mitte fünfzig und fragte mich mit breitem Grinsen: »Lust, uns auf eine Runde mudlarking zu begleiten? Eine Schatzsuche im Uferschlamm?«

Mudlarking? Schatzsuche? Uferschlamm? dachte ich. Soll das ein Witz sein? Ich rang mir ein Lächeln ab und schüttelte den Kopf. »Nein, vielen Dank.«

So leicht ließ er sich jedoch nicht abschütteln. »Haben Sie noch nie einen viktorianischen Roman gelesen?« Seine Stimme ging fast im Kreischen eines roten Touristentourbusses unter.

Ich blieb wie angewurzelt stehen. Vor einem Jahrzehnt hatte ich am College Britische Geschichte studiert. Ich hatte meine Kurse mit akzeptablen Noten abgeschlossen, aber am meisten hatte mich immer das interessiert, was nicht in den Lehrbüchern stand. Die trockenen formelhaften Kapitel fesselten mich längst nicht so wie moderige antiquarische Alben aus den Archiven alter Gebäude oder die digitalisierten Bilder verblichener Alltagsdokumente – Theaterkarten, Volkszählungsunterlagen, Passagierlisten –, die ich online fand. Stundenlang konnte ich mich in diesen scheinbar bedeutungslosen Dokumenten verlieren, während sich meine Kommilitonen zum Lernen in Coffeeshops trafen. Ich konnte mein unkonventionelles Interesse auf nichts Spezifisches zurückführen. Ich wusste nur, dass mich Hörsaaldiskussionen über Bürgerrevolution und machthungrige Politiker anödeten. Für mich lag der Reiz von Geschichte in den Details längst vergangener Leben, den wohlgehüteten Geheimnissen der normalen Leute.

»Ich habe ein bisschen was in diese Richtung gelesen, doch«, sagte ich. Natürlich liebte ich viele der britischen Klassiker und hatte während des Studiums stapelweise Romane verschlungen. Manchmal hatte ich mir sogar gewünscht, Literatur statt Geschichte gewählt zu haben, da es meinen Interessen eher zu entsprechen schien. Was ich ihm nicht erzählte, war, dass ich seit Jahren nichts dergleichen mehr gelesen hatte – keines meiner alten englischen Lieblingsbücher. Wenn diese Unterhaltung in einem Quiz enden sollte, würde ich kläglich versagen.

»Na, die haben doch alle dauernd von den Schatzsuchern im Flussbett der Themse geschrieben – diese vielen armen Seelen, die das Ufer nach etwas Altem, etwas Wertvollem abgesucht haben. Man kriegt vielleicht nasse Schuhe dabei, aber es gibt keinen besseren Weg, in die Vergangenheit einzutauchen. Die Flut kommt, die Flut geht, und sie fördert jedes Mal etwas Neues zutage. Sie dürfen sich gerne unserer Tour anschließen, wenn Sie Lust auf ein Abenteuer haben. Das erste Mal ist immer umsonst. Wir treffen uns auf der anderen Seite dieser Backsteingebäude, die Sie dort sehen …« Er zeigte in die entsprechende Richtung. »Halten Sie Ausschau nach der Treppe, die zum Fluss runterführt. Die Gruppe startet um halb drei, wenn bei Ebbe das Wasser zurückgeht.«

Ich lächelte ihn an. Er hatte eine etwas ungepflegte Erscheinung, doch seine haselnussbraunen Augen strahlten Wärme aus. Hinter ihm schwang das Schild der Old Fleet Tavern an einem quietschenden Scharnier hin und her. »Vielen Dank«, sagte ich, »aber ich bin auf dem Weg zu einem … einem anderen Termin.«

In Wahrheit brauchte ich einen Drink.

Er nickte langsam. »In Ordnung, aber falls Sie Ihre Meinung ändern, wir sind ungefähr bis halb sechs oder so auf Erkundungstour.«

»Viel Vergnügen«, murmelte ich, schob meine Tasche auf die andere Schulter und ging davon aus, dass ich diesem Mann nie wieder begegnen würde.

Ich betrat den halbdunklen, feuchten Schankraum und ließ mich auf einen hohen Lederstuhl an der Bar sinken. Als ich mich nach vorn beugte, um einen Blick auf die Biere vom Fass zu werfen, zuckte ich sofort wieder zurück, weil meine Arme in etwas Nassem landeten – wahrscheinlich eine Mischung aus Schweiß und Bier, die jemand auf dem Tresen hinterlassen hatte. Ich bestellte ein Boddingtons und wartete ungeduldig, bis der cremefarbene Schaum an die Oberfläche gestiegen war und sich gesetzt hatte. Endlich nahm ich einen tiefen Schluck, zu erschöpft, um dem beginnenden Kopfschmerz Beachtung zu schenken oder der Tatsache, dass das Bier lauwarm war und ein Krampf an der linken Seite meines Bauches zog.

Die Viktorianer. Ich dachte wieder an Charles Dickens, dessen Name in meinen Ohren klang wie der eines liebevoll vergessenen Exfreunds. Eines interessanten Kerls, der nicht vielversprechend genug gewesen war, um lange zu währen. Ich hatte viele seiner Werke gelesen – Oliver Twist war eines meiner Lieblingsbücher gewesen, dicht gefolgt von Große Erwartungen – und schämte mich nun fast ein wenig.

Laut dem Mann, den ich draußen getroffen hatte, schrieben die Autoren jener Zeit »alle dauernd« über mudlarking, und trotzdem hatte ich nicht einmal gewusst, was das Wort bedeutete. James hätte mich bestimmt mit diesem Fauxpas aufgezogen. Er scherzte immer, dass ich mich durchs College »gebuchclubt« hätte: bis spät in die Nacht Schauermärchen gelesen, statt, wie ich es seiner Meinung nach hätte tun sollen, mehr Zeit mit der Analyse akademischer Zeitschriften zu verbringen und meine eigenen Thesen über historische und politische Aufstände zu entwickeln. Recherche dieser Art, hatte er stets betont, war die einzige Art, wie ein Abschluss in Geschichte für irgendjemand von Nutzen sein konnte, weil sie eine akademische Laufbahn ermöglichte. Ich hätte promovieren und eine Professur anstreben können.

In gewisser Weise hatte James recht behalten. Nach meinem Abschluss vor zehn Jahren war mir schnell klar geworden, dass mein Bachelor in Geschichte nicht dieselben Karriereaussichten bot wie James’ BWL-Studium. Während sich meine ergebnislose Jobsuche in die Länge zog, bekam er ohne Probleme eine gut bezahlte Stelle als Wirtschaftsprüfer in Cincinnati. Ich bewarb mich auf mehrere Lehramtsposten an den Highschools und Community Colleges vor Ort, doch wie James es vorausgesagt hatte, bevorzugten sie allesamt höhere Abschlüsse.

Unbeirrt betrachtete ich dies als Chance, tiefer in meine Studien einzusteigen. Mit einer gewissen nervösen Begeisterung stürzte ich mich auf die Bewerbungsunterlagen für ein Aufbaustudium an der University of Cambridge, eine Stunde nördlich von London. James war entschieden dagegen, und ich erfuhr bald, warum: Nur wenige Monate nach unserem Collegeabschluss führte er mich ans Ende eines Piers mit Blick auf den Ohio River, sank auf ein Knie und hielt tränenreich um meine Hand an.

Cambridge hätte genauso gut von der Landkarte verschwinden können, wenn es nach mir ging – Cambridge und Aufbaustudiengänge und sämtliche Romane, die Charles Dickens je geschrieben hatte. Von dem Moment an, als ich am Ende dieses Piers James die Arme um den Hals schlang und Ja flüsterte, begann mein Selbstbild als aufstrebende Historikerin zu rosten und wurde von meiner Rolle als James’ zukünftige Frau verdrängt. Ich warf die Bewerbung in den Müll und stürzte mich in die Hochzeitsvorbereitungen: Buchdruckschrift für die Einladungen und Pfingstrosen in Rosétönen für die Tischgestecke. Und als die Hochzeit nur noch eine glitzernde Flussufererinnerung war, steckte ich meine Energie ins Einrichten unseres ersten Eigenheims. Wir zogen in das perfekte Haus: drei Schlafzimmer, zwei Bäder, am Ende einer Sackgasse, in einer Gegend mit lauter jungen Familien.

Der Alltag des Ehelebens ergab sich mühelos von selbst, so geradlinig und vorhersehbar wie die Reihen von Hartriegelsträuchern entlang der Straßen unseres neuen Wohnviertels. Und während James sich auf der ersten Sprosse der Unternehmensleiter einrichtete, machten mir meine Eltern, die Landwirtschaftsflächen östlich von Cincinnati besaßen, ein verlockendes Angebot: eine bezahlte Anstellung im Familienbetrieb, wo ich mich um einfache Buchhaltungs- und Verwaltungsaufgaben kümmern sollte. Unbefristet, verlässlich. Keine Unbekannten.

Ich dachte ein paar Tage darüber nach, wobei meine Überlegungen nur kurz zu den Kisten in unserem Keller wanderten, in denen sich die Dutzenden von Büchern befanden, die ich im Studium so geliebt hatte. Die Abtei von Northanger. Rebecca. Mrs. Dalloway. Was hatten sie mir genützt? James hatte recht gehabt: Mich in antiquarische Dokumente und Geschichten alter Herrenhäuser zu vertiefen hatte mir nicht ein einziges Jobangebot eingebracht. Im Gegenteil, es hatte mich Zehntausende von Dollar an Studienkrediten gekostet. Ich fing an, die Bücher in jenen Kisten zu hassen, und verbuchte meinen Plan, in Cambridge zu studieren, als die verrückte Idee einer ruhelosen arbeitslosen Collegeabsolventin.

In Anbetracht von James’ sicherem Job war es richtig und vor allem vernünftig, in Cincinnati bei meinem frischgebackenen Ehemann und in unserem neuen Zuhause zu bleiben.

Ich nahm die Stelle im Familienbetrieb an, was James aufs Höchste erfreute. Und die Brontës, Dickens und alles, was ich so viele Jahre lang verehrt hatte, blieb in Kartons verpackt in einer der hintersten Ecken unseres Kellers, ungeöffnet und schließlich vergessen.

Im Halbdunkel des Pubs nahm ich einen weiteren großen Schluck von meinem Bier. Es war ein Wunder, dass James eingewilligt hatte, überhaupt mit nach London zu kommen. Er hatte keinen Hehl aus seiner ersten Wahl für unsere Reise gemacht: ein Strandresort auf den Virgin Islands, wo er die Tage dösend neben einem leeren Cocktailglas verbringen konnte. Doch wir hatten bereits vergangene Weihnachten eine Version dieses Daiquiri-getränkten Urlaubs gemacht, also flehte ich James an, ein anderes Ziel in Betracht zu ziehen, wie zum Beispiel England oder Irland. Unter der Bedingung, dass wir keine Zeit mit übermäßig akademischen Dingen verschwenden würden, wie dem Restaurations-Workshop für seltene Bücher, den ich kurz erwähnt hatte, willigte er schließlich ein. Er gab nach, sagte er, weil er wusste, dass es einst ein Traum von mir gewesen sei, England zu besuchen.

Ein Traum, den er vor nur wenigen Tagen wie einen Champagnerkelch emporgehoben und klirrend hatte zerbersten lassen.

Der Mann hinter der Bar zeigte auf mein halb leeres Glas, doch ich schüttelte den Kopf. Eines war genug. Ruhelos zog ich mein Handy heraus und öffnete den Facebook Messenger. Rose, meine beste Freundin seit Kindertagen, hatte mir eine Nachricht geschickt: Alles okay bei dir? Alles Liebe.

Dann: Hier noch ein Foto von der kleinen Ainsley. Sie liebt dich auch.

Da war sie, die neugeborene Ainsley, in graues Leinen gewickelt. Ein perfekter, sieben Pfund schwerer Säugling, meine Patentochter, die süß in den Armen meiner lieben Freundin schlummerte. Ich war dankbar, dass sie auf die Welt gekommen war, ehe ich von James’ Geheimnis erfahren hatte. So hatte ich viele wunderbare glückliche Momente mit diesem Baby verbringen können. Trotz meiner Trauer musste ich lächeln. Wenn ich auch alles andere verlieren sollte, wenigstens hatte ich diese beiden.

Den sozialen Medien nach zu urteilen waren James und ich die Einzigen in unserem Freundeskreis, die noch keinen Kinderwagen schoben und breiverschmierte Wangen küssten. Und auch wenn das Warten hart gewesen war, bereuten wir die Entscheidung nicht: James’ Firma erwartete von ihren Mitarbeitern, dass sie regelmäßig Kunden ausführten und oft neunzig Stunden und mehr die Woche leisteten. Während ich mir schon früh in unserer Ehe Kinder gewünscht hatte, wollte James nicht zusätzlich zum Stress langer Arbeitstage auch noch eine junge Familie haben. Und so wie er sich nun seit zehn Jahren Tag für Tag die Karriereleiter hocharbeitete, legte ich mir täglich diese kleine pinkfarbene Tablette auf die Zunge und dachte dabei: eines Tages.

Ich warf einen Blick auf das heutige Datum: 2. Juni. Fast vier Monate waren vergangen, seit James befördert worden war und Aussichten hatte, zum Partner gemacht zu werden – was bedeutete, dass die Abende mit Klienten der Vergangenheit angehörten.

Seit vier Monaten versuchten wir, ein Baby zu bekommen.

Seit vier Monaten war mein eines Tages endlich da.

Aber noch kein Baby.

Ich kaute an meinem Daumen herum und schloss die Augen. Zum ersten Mal war ich froh, dass ich nicht schwanger geworden war. Vor wenigen Tagen hatte unsere Ehe begonnen, unter dem drückenden Gewicht meiner Entdeckung zu bröckeln: Unsere Beziehung bestand nicht länger aus nur zwei Menschen. Eine andere Frau hatte sich zwischen uns gedrängt. Kein Kind verdiente ein solches Dilemma – meines nicht und auch sonst keines.

Es gab nur ein Problem: Ich hätte gestern meine Tage bekommen sollen, doch bis jetzt keinerlei Anzeichen. Aus tiefstem Herzen hoffte ich, dass Jetlag und Stress dafür verantwortlich waren.

Ich warf einen letzten Blick auf das Baby meiner besten Freundin. Dabei verspürte ich keinen Neid, sondern nur Unbehagen, was die Zukunft betraf. Ich hätte mir für mein Kind sehr gewünscht, Ainsleys lebenslange beste Freundin zu sein. Eine Verbindung, wie sie Rose und mich verband. Doch seit ich James’ Geheimnis entdeckt hatte, war ich mir nicht mehr sicher, ob die Ehe für mich noch bestimmt war, ganz zu schweigen von Mutterschaft.

Zum ersten Mal in zehn Jahren fragte ich mich, ob ich an jenem Pier vielleicht einen Fehler gemacht hatte, als ich James’ Heiratsantrag annahm. Was, wenn ich Nein gesagt hätte oder »Noch nicht«? Ich bezweifelte sehr, dass ich dann immer noch in Ohio wäre und meine Tage mit einer Arbeit verbringen würde, die ich nicht liebte, während meine Ehe auf einen Abgrund zustolperte. Würde ich stattdessen irgendwo in London leben, lehrend und forschend? Vielleicht würde ich mit der Nase in Märchen stecken, wie James immer gewitzelt hatte – aber wäre das nicht besser als der Albtraum, in dem ich mich jetzt befand?

Ich hatte den Pragmatismus und das kalkulierende Wesen meines Mannes stets geschätzt. Während des Großteils unserer Ehe hatte ich darin James’ Art gesehen, mich zu erden und mir Sicherheit zu geben. Wenn ich irgendeine spontane Idee äußerte – sprich irgendetwas, das außerhalb seiner vorbestimmten Ziele und Wünsche lag –, holte er mich schnell auf den Boden zurück, indem er die Risiken und Gegenargumente aufzählte. Genau diese Herangehensweise hatte ihn auch in der Firma vorangebracht. Nun, so weit von James entfernt, fragte ich mich zum ersten Mal, ob die Träume, die ich einst verfolgt hatte, für ihn wenig mehr als ein Buchhaltungsproblem gewesen waren. Ihn interessierten die Kapitalrendite und das Risikomanagement wesentlich mehr als mein persönliches Glück. Was ich an James immer als vernünftig betrachtet hatte, erschien mir zum ersten Mal als etwas anderes: erdrückend und unterschwellig manipulativ.

Ich veränderte meine Sitzposition, wobei ich meine klebrigen Schenkel vom Leder lösen musste, und schaltete das Handy aus. Gedanken an zu Hause und an das, was hätte sein können, würden mir hier in London nichts nützen.

Zum Glück störten sich die wenigen Gäste der Old Fleet Tavern nicht an einer vierunddreißigjährigen Frau allein an der Bar. Ich wusste den Mangel an Aufmerksamkeit zu schätzen, und das Boddingtons hatte meinen schmerzenden, reisemüden Körper beruhigt. Ich umfasste das Glas mit beiden Händen, wobei sich der Ring an meiner linken Hand schmerzhaft in den Finger bohrte, und trank aus.

Als ich nach draußen trat und überlegte, wohin ich als Nächstes gehen sollte – eine Runde Schlaf im Hotel schien höchst verdient –, erinnerte ich mich an den Herrn in Kakishorts, der mich angesprochen und eingeladen hatte, mit zum mudlarking zu kommen. Er hatte gesagt, die Gruppe würde sich um halb drei am Fuße der Treppe treffen. Ich sah auf die Uhr: vierzehn Uhr fünfundzwanzig. Fast schon beschwingt beschleunigte ich meine Schritte. Vor zehn Jahren hätte ich genau so ein Abenteuer vermutlich geliebt: einem freundlichen älteren Engländer zur Themse zu folgen, um etwas über die Viktorianer und Schlammsucher zu erfahren. Zweifellos hätte James sich dieser spontanen Unternehmung verweigert, doch er war nicht hier, um mich zurückzuhalten.

Allein konnte ich, verdammt noch mal, tun, was immer ich wollte.

Auf dem Weg kam ich am La Grande vorbei – unser Aufenthalt in diesem edlen Hotel war ein Geschenk meiner Eltern zum Hochzeitstag –, doch ich ging weiter und steuerte stattdessen auf den Fluss zu. Ein Stück entfernt entdeckte ich die Betonstufen, die zum Wasser hinunterführten. Der schmutzige trübe Strom im tiefsten Teil des Kanalbetts strudelte, als würde darunter etwas aufgewühlt arbeiten. Ich ging weiter, während die Fußgänger um mich herum berechenbareren Zielen zustrebten.

Die Treppe war steiler und in schlechterem Zustand, als ich es mitten in einer ansonsten so modernisierten Stadt erwartet hatte. Die einzelnen Stufen waren über dreißig Zentimeter tief und aus gebrochenem Stein, der uraltem Beton ähnelte. Ich stieg sie langsam hinunter, dankbar für meine Turnschuhe und meine Tasche, die ich mir wieder quer über die Schulter gehängt hatte. Unten angekommen blieb ich stehen und nahm die Stille um mich herum wahr. Auf der anderen Flussseite, am South Bank, zogen Autos und Fußgänger vorbei, doch aus dieser Entfernung drang nichts davon herüber. Ich hörte nur das leise Plätschern der Wellen am Ufer, das Rasseln der Kiesel im Wasser und über mir den einsamen Ruf einer Möwe.

Die mudlarking-Gruppe stand ein kleines Stück entfernt und lauschte aufmerksam ihrem Tourführer – dem Mann, der mich zuvor auf der Straße angesprochen hatte. Ich straffte die Schultern und machte mich vorsichtig über lose Steine und schlammige Pfützen auf den Weg dorthin. Je näher ich der Gruppe kam, umso weiter weg schob ich alle Gedanken an zu Hause: James, das gelüftete Geheimnis, unser unerfüllter Kinderwunsch. Ich brauchte eine Pause von dem Kummer, der mich erstickte, und den Dornen der Wut, so spitz und unerwartet, dass es mir den Atem nahm. Egal wie ich die nächsten zehn Tage verbrachte, es hatte keinen Sinn, an das zu denken, was ich achtundvierzig Stunden zuvor über James erfahren hatte.

Hier in London, auf dieser besonderen Reise anlässlich unseres Hochzeitstags, musste ich herausfinden, was ich wirklich wollte und ob zu dem Leben, das ich mir vorstellte, immer noch James und die Kinder gehörten, die wir uns gewünscht hatten.

Doch um das zu tun, musste ich erst ein paar meiner eigenen Wahrheiten ans Licht befördern.

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NELLA

4. Februar 1791

Als es sich beim Haus Nr. 3 in der Back Alley noch um eine ehrbare Apotheke für Frauen gehandelt hatte, die meiner Mutter gehörte, bestand das Geschäft aus einem großen Raum. Erhellt vom Schein zahlloser Kerzen und oft voller Kundinnen mit ihren Babys, vermittelte er ein Gefühl von Wärme und Sicherheit. In jenen Tagen schien jeder in London die Adresse für Frauenleiden zu kennen, und die schwere Eichentür am Eingang blieb selten längere Zeit geschlossen.

Doch vor vielen Jahren – nach dem Tod meiner Mutter, nach Fredericks Verrat und nachdem ich angefangen hatte, Frauen in ganz London mit Gift zu versorgen – wurde es nötig, den Raum in zwei getrennte abgeschlossene Bereiche aufzuteilen. Dies ließ sich leicht durch das Einziehen einer Wand mit Regalen erreichen, die das Zimmer halbierte.

Der Bereich vorne blieb von der Back Alley aus direkt zugänglich. Jeder konnte die Eingangstür öffnen, die fast nie abgeschlossen war, doch die meisten würden davon ausgehen, am falschen Ort gelandet zu sein. In diesem vorderen Bereich bewahrte ich nun nichts weiter auf als ein altes Getreidefass, und wer interessierte sich schon für einen Behälter mit halb verfaulten Graupen? Manchmal, wenn ich Glück hatte, bauten die Ratten ein Nest in einer Ecke, was den Eindruck verstärkte, dass es sich hier um einen ungenutzten, leer stehenden Raum handelte. Dieser vordere Bereich war meine erste Tarnung.

Tatsächlich kamen viele Kundinnen bald nicht mehr. Sie hatten vom Tod meiner Mutter gehört, und nachdem sie diesen kahlen Raum gesehen hatten, nahmen sie einfach an, dass die Apotheke nicht mehr existierte.

Die Neugierigeren oder die mit unlauteren Absichten – wie kleine Jungs mit langen Fingern – ließen sich vom ersten Eindruck der Leere nicht abschrecken. Auf der Suche nach Diebesgut wagten sie sich weiter hinein, um die Regale auf Waren oder Bücher zu inspizieren. Doch sie fanden nichts, weil ich nichts zum Stehlen dagelassen hatte, nichts von geringstem Interesse. Und so zogen sie weiter. Sie zogen immer weiter.

Was für Narren sie doch waren. Alle, außer jene Frauen, deren Freundinnen, Schwestern oder Mütter ihnen gesagt hatten, wo sie suchen mussten. Nur sie wussten, dass das Fass mit den Graupen eine sehr wichtige Funktion erfüllte: Es war ein Kommunikationsmittel, ein Versteck für Briefe, deren Inhalt man nicht laut auszusprechen wagte. Nur sie wussten, dass sich, versteckt in der Regalwand, eine geheime Tür befand, die zu meiner Apotheke führte. Nur sie wussten, dass ich still hinter dieser Wand saß, mit Fingern, die von Giftrückständen verfärbt waren.

An diesem Ort erwartete ich nun bei Tagesanbruch die Frau, meine neue Kundin.

Als ich das Knarren der Tür zum Vorraum hörte, wusste ich, dass sie gekommen war. Ich spähte durch den kaum wahrnehmbaren Spalt zwischen den Regalbrettern, um einen ersten verschwommenen Blick auf sie zu erhaschen.

Erschrocken hielt ich mir mit zitternden Fingern den Mund zu. War das eine Verwechslung? Das hier war keine Frau, sondern ein Mädchen, nicht viel älter als zwölf oder dreizehn, gekleidet in ein graues Wollkleid mit einem abgetragenen dunkelblauen Umhang über den Schultern. War sie an den falschen Ort gekommen? Vielleicht war sie eine dieser kleinen Diebinnen, die sich durch meinen Lagerraum nicht täuschen ließen und etwas zum Stehlen suchten. Sollte das der Fall sein, wäre ihr besser geraten, bei einer Bäckerei Kirschtörtchen zu klauen, um ein bisschen Fett anzusetzen.

Doch das Mädchen, jung oder nicht, war genau zu Tagesanbruch erschienen. Sie stand ganz still und gelassen im Vorraum, den Blick auf die unechte Regalwand gerichtet, hinter der ich stand.

Nein, das hier war keine zufällige Besucherin.

Sofort war ich entschlossen, sie aufgrund ihres Alters wieder wegzuschicken, doch dann zögerte ich. In ihrer Nachricht hatte gestanden, sie bräuchte etwas für den Mann ihrer Herrin. Was würde aus meinem Ruf werden, wenn diese Herrin in der Stadt wohlbekannt war und sich herumsprach, dass ich ein Kind weggeschickt hatte? Außerdem, wie ich die Kleine so durch den Spalt weiter betrachtete, hielt sie den Kopf mit dichten schwarzen Haaren hoch erhoben. Ihre runden Augen glänzten, doch sie blickte nicht auf ihre Füße oder über die Schulter zur Eingangstür zurück. Zwar fröstelte sie offenbar ein wenig, aber ich war mir sicher, dass es an der kühlen Luft lag und nicht an Nervosität. Die Haltung des Mädchens war zu aufrecht, zu stolz, um sie für ängstlich zu halten.

Woher nahm sie diesen Mut? Aus der strengen Anweisung ihrer Herrin, oder gab es dafür finsterere Gründe?

Ich schob den Riegel aus seiner Verankerung, schwang die Regalsäule nach innen und winkte die junge Kundin herein. In kürzester Zeit hatte ihr Blick den winzigen Raum erfasst, ohne auch nur einmal blinzeln zu müssen. Das Zimmerchen war so klein, dass wir mit ausgestreckten Armen beinahe die Wände links und rechts berühren konnten.

Ich folgte ihrem Blick über die Regale an der hinteren Wand voller Glasflakons und Zinntrichter, Salbentöpfchen und Mahlsteine. An einer zweiten Wand, so weit vom Feuer entfernt wie nur möglich, enthielt der Eichenschrank meiner Mutter eine Sammlung von Töpferwaren und Porzellankrügen für die Tinkturen und Kräuter, die sich bereits beim geringsten Licht zersetzten und zerfielen. Entlang der Wand, die der Tür am nächsten war, zog sich ein schmaler Tresen, so hoch wie die Schultern des Mädchens, auf dem mehrere Metallwaagen, Glas- und Steingewichte und einige gebundene Nachschlagewerke zu Frauenleiden standen. Und würde das Mädchen in den Schubladen unter dem Tresen stöbern, kämen Löffel, Korken, Kerzen, Zinnteller und Dutzende Pergamentbögen zum Vorschein, viele von ihnen mit eiligen Notizen und Berechnungen.

Als ich vorsichtig um sie herumging und die Tür schloss, war mein erstes Bestreben, meiner neuen Kundin ein Gefühl von Sicherheit und Diskretion zu vermitteln. Meine Sorge war jedoch unbegründet, denn sie ließ sich in einen meiner zwei Stühle plumpsen, als wäre sie schon hundertmal in meinem Geschäft gewesen. Nun, da sie im Licht saß, konnte ich sie besser studieren. Ihre Gestalt war schlank, und sie hatte strahlende braune Augen, fast zu groß für ihr ovales Gesicht. Sie verschränkte die Finger ineinander, legte die Hände auf den Tisch, sah mich an und lächelte. »Hallo.«

»Hallo«, erwiderte ich, überrascht von ihrem Verhalten. Sofort kam ich mir vor wie eine Närrin, dass ich in dem rosafarbenen Brief dieses Kindes Unheil gewittert hatte. Ich fragte mich außerdem, woher sie in ihrem jungen Alter bereits über eine solche Schreibgabe verfügte. Im selben Maß, wie meine Sorge schwand, nahm eine entspannte Neugier ihren Platz ein. Ich wünschte, mehr über dieses Mädchen zu erfahren.

Ich wandte mich der Feuerstelle zu, welche die linke Ecke des Raumes einnahm. Der Wasserkessel, den ich vor Kurzem übers Feuer gehängt hatte, spuckte Dampf aus. »Ich habe einige Blätter aufgebrüht«, erklärte ich dem Mädchen. Ich füllte zwei Becher mit dem Teesud, stellte sie auf den Tisch und setzte mich auf den Stuhl ihr gegenüber.

Sie bedankte sich und zog ihren Becher zu sich her. Ihr Blick ruhte nun auf der Tischplatte zwischen uns, auf der unsere Tassen, eine einzelne brennende Kerze, mein Register und der Brief lagen, den sie in der Graupentonne hinterlassen hatte: Für den Ehemann meiner Herrin, zu seinem Frühstück. Tagesanbruch, 4. Februar. Die Wangen des Mädchens, die bei ihrer Ankunft gerötet gewesen waren, blieben weiterhin rosig vor Jugend, vor Leben. »Welche Art von Blättern?«

»Baldrian«, antwortete ich, »gewürzt mit etwas Zimtrinde. Einige Schlucke, um den Körper zu wärmen, ein paar weitere, um den Geist zu erhellen und zu entspannen.«

Danach schwiegen wir etwa eine Minute lang, doch es war kein ungemütliches Schweigen, wie es zwischen Erwachsenen der Fall sein kann. Ich nahm an, dass das Mädchen vor allem dankbar war, der Kälte entkommen zu sein. Ich ließ ihr ein paar Augenblicke Zeit, um sich aufzuwärmen, während ich zu meinem Tresen ging und mich an einigen kleinen schwarzen Steinen zu schaffen machte. Sie mussten an der Feile glatt geschliffen werden, um als Flaschenverschlüsse zu dienen. Im Bewusstsein, dass das Mädchen mich beobachtete, nahm ich den ersten Stein, übte mit der Handfläche Druck aus, rollte ihn hin und her, drehte ihn um und rollte ihn wieder. Mehr als zehn oder fünfzehn Sekunden schaffte ich nicht, ehe ich innehalten und Atem schöpfen musste.

Vor einem Jahr noch war ich stärker gewesen. So stark, dass ich diese Steine innerhalb von Minuten zurechtschleifen und glätten konnte, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten. Doch an diesem Tag, unter dem Blick des Kindes, konnte ich nicht weitermachen. Meine Schulter schmerzte zu sehr. Oh, ich verstand diese Krankheit einfach nicht! Vor einigen Monaten hatte sie in meinem Ellbogen begonnen, war zum gegenüberliegenden Handgelenk gewandert, und erst vor kurzer Zeit war die Hitze in die Fingerknöchel gekrochen.

Das Mädchen verhielt sich still, die Hände fest um seinen Becher gelegt. »Was ist dieses cremige Zeug in der Schüssel da drüben am Feuer?«

Ich wandte mich von den Steinen ab, um zum Herd zu sehen. »Eine Salbe«, sagte ich, »aus Schweineschmalz und Rotem Fingerhut.«

»Dann wärmen Sie sie also, weil sie zu hart ist.«

Ihre schnelle Auffassungsgabe überraschte mich. »Ja, das stimmt.«

»Wofür ist die Salbe gut?«

Hitze stieg mir ins Gesicht. Ich konnte ihr nicht sagen, dass die Blätter des Roten Fingerhuts, wenn sie getrocknet und zermahlen waren, Hitze und Blut aus der Haut saugten und deshalb in den Tagen, nachdem eine Frau ein Kind zur Welt gebracht hatte, sehr helfen konnten. Solche Erfahrungen waren einem Kind ihres Alters unbekannt. »Bei Rissen in der Haut«, antwortete ich und setzte mich wieder.

»Oh, eine giftige Salbe für einen Riss in der Haut?«

Kopfschüttelnd erwiderte ich: »Daran ist nichts giftig, Kind.«

Ihre schmalen Schultern spannten sich. »Aber Mrs. Amwell – meine Herrin – hat gesagt, Sie verkaufen Gift.«

»Das tue ich, aber das ist nicht alles, was ich verkaufe. Die Frauen, die wegen tödlicher Mittel hier waren, haben gesehen, was in meinen Regalen lagert, und manche haben flüsternd ihren vertrautesten Freundinnen davon erzählt. Ich vertreibe ganz verschiedene Öle und Tinkturen und Arzneitränke – alles, was eine ehrbare Apothekerin in ihrem Laden führen würde.«

In der Tat, als ich vor vielen Jahren begann, Gift zu verkaufen, leerte ich nicht einfach meine Regale bis auf Arsen und Opium. Ich behielt die Zutaten, die man benötigte, um die meisten Leiden zu behandeln, darunter so harmlose Dinge wie Scharlachsalbei oder Tamariske. Nur weil sich eine Frau eines Leidens entledigt hatte – eines teuflischen Ehemanns zum Beispiel –, bedeutete das nicht, dass sie immun gegen andere Beschwerden war. Mein Register war der Beweis: Aufgelistet zwischen den tödlichen Wirkstoffen befanden sich auch viele heilende Arzneien.

»Und hier kommen nur Frauen her?«, wollte das Kind wissen.

»Hat dir deine Herrin das auch gesagt?«

»Ja, Miss.«

»Nun, da hat sie sich nicht getäuscht. Es ist eine besondere Apotheke für Frauen.« Bis auf eine Ausnahme vor langer Zeit hatte kein Mann je den Fuß in mein Geschäft gesetzt. Ich half ausschließlich Frauen.

Meine Mutter hatte sich strikt an dieses Prinzip gehalten und mir schon früh eingebläut, wie wichtig es war, einen sicheren Ort zu schaffen – einen Ort der Heilung für Frauen. London hat für Frauen in Not wenig liebevolle Zuwendung zu bieten. Stattdessen ist die Stadt voll von Ärzten, einer so gewissenlos und korrupt wie der andere. Das Bestreben meiner Mutter war es, Frauen einen Zufluchtsort zu bieten, wo sie ihre Schwäche zeigen und über ihre Beschwerden sprechen konnten, ohne von einem Mann lüstern begafft zu werden.

Auch die Ideale der Medizin dieser Gentlemen unterschieden sich von denen meiner Mutter. Sie glaubte an die bewährten Mittel aus der süßen, fruchtbaren Erde, nicht an Diagramme in Büchern, die von bebrillten Herren mit Brandy auf der Zunge studiert wurden.

Das junge Mädchen in meinem Laden sah sich um, wobei der Feuerschein in seinen Augen tanzte. »Wie klug. Ich mag diesen Ort, auch wenn es ein bisschen düster ist. Woher wissen Sie, wann der Morgen kommt? Da ist gar kein Fenster.«

Ich zeigte auf die Uhr an der Wand. »Es gibt mehr als eine Möglichkeit, die Zeit zu messen«, sagte ich, »und ein Fenster würde mir keine guten Dienste leisten.«

»Sie müssen der Dunkelheit müde sein.«

An manchen Tagen konnte ich die Nacht nicht vom Tag unterscheiden, da ich das intuitive Gespür fürs Wachsein längst verloren hatte. Mein Körper schien in einem Zustand der Müdigkeit zu verharren. »Ich bin daran gewöhnt.«

Wie seltsam es war, diesem Kind gegenüberzusitzen. Das letzte Kind, das in diesem Raum gesessen hatte, war vor Jahrzehnten ich gewesen, als ich meiner Mutter bei der Arbeit zusah. Doch ich war nicht die Mutter dieses Mädchens, und ihre Anwesenheit begann mich zu beunruhigen. Obwohl ihre Naivität sie liebenswert machte, war sie vermutlich zu jung, um überhaupt ihre Menstruation zu haben. Egal was sie von meinem Geschäft hielt, sie konnte nichts von dem brauchen, was ich sonst anbot – die Fruchtbarkeitshilfen, die Krampflöser. Sie war nur wegen des Giftes gekommen, daher wollte ich uns auf dieses Thema zurückbringen. »Du hast deinen Trunk noch gar nicht angerührt.«

Sie betrachtete das Gebräu skeptisch. »Ich möchte nicht unhöflich sein, aber Mrs. Amwell hat gesagt, ich soll sehr vorsichtig sein –«

Ich hob die Hand, um sie zu unterbrechen. Sie war ein schlaues Ding. Ich nahm ihren Becher, trank einen großen Schluck und stellte ihn wieder vor sie.

Sofort griff sie danach, hob ihn an die Lippen und trank ihn in einem Zug aus. »Ich war kurz vorm Verdursten«, sagte sie. »Oh, vielen Dank, wie köstlich! Kann ich noch ein bisschen was haben?«

Mühsam erhob ich mich von meinem Stuhl und ging die zwei Schritte zur Feuerstelle. Ich versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen, als ich die schwere Kanne hob, um ihren Becher aufzufüllen.

»Was ist mit Ihrer Hand?«, fragte sie hinter mir.

»Wie meinst du das?«

»Sie halten sie die ganze Zeit schon so komisch, als würde sie schmerzen. Haben Sie sich verletzt?«

»Nein«, erwiderte ich, »und es gehört sich nicht, so neugierig zu sein.« Doch dann bereute ich meinen scharfen Ton sofort. Sie war nur wissbegierig, wie ich es einst gewesen war. »Wie alt bist du?«, fragte ich, nun wieder freundlicher.

»Zwölf.«

Ich nickte, denn so etwas hatte ich vermutet. »Ziemlich jung.«

Sie zögerte, und der rhythmischen Bewegung ihrer Röcke nach zu urteilen, wippte sie mit dem Fuß auf dem Boden. »Ich habe noch nie –« Sie hielt inne. »Ich habe noch nie jemanden umgebracht.«

Beinahe hätte ich gelacht. »Du bist doch noch ein Kind. Ich würde nicht erwarten, dass du in einem kurzen Leben schon viele Menschen getötet hast.« Mein Blick fiel auf ein Bord hinter ihr, auf dem ein kleines milchfarbenes Porzellanschälchen stand. Darin befanden sich vier braune Hühnereier, das Gift im Innern verborgen. »Und wie heißt du?«

»Eliza. Eliza Fanning.«

»Eliza Fanning«, wiederholte ich, »zwölf Jahre alt.«

»Ja, Miss.«

»Und deine Herrin hat dich heute hierhergeschickt, ist das richtig?« Dieses Arrangement zeigte mir, dass Elizas Herrin großes Vertrauen zu ihr haben musste.

Doch das Kind antwortete nicht sofort, sondern legte die Stirn in Falten. Was sie dann sagte, überraschte mich: »Es war ursprünglich ihre Idee, ja, aber ich habe das mit dem Frühstück vorgeschlagen. Mein Herr bevorzugt zum Abendessen die Speisehäuser in Gesellschaft seiner Freunde, und manchmal bleibt er die ganze Nacht lang weg oder auch zwei. Ich dachte, das Frühstück wäre deshalb vielleicht die beste Gelegenheit.«

Ich betrachtete Elizas Brief auf dem Tisch und strich mit dem Daumen über eine Ecke. In Anbetracht ihrer Jugend hielt ich es für nötig, ihr noch einmal etwas klarzumachen: »Und du verstehst, dass ihm das nicht nur schaden wird? Es wird ihn nicht nur krank machen, sondern –« Ich sprach bewusst langsam. »Es wird ihn töten, so sicher, wie es ein Tier töten würde. Ist es das, was ihr wollt, du und deine Herrin?«

Die kleine Eliza sah mit wachen Augen zu mir auf. Sie faltete die Hände artig vor sich auf dem Tisch. »Ja, Miss.« Dabei zuckte sie nicht einmal mit der Wimper.

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CAROLINE

Gegenwart, Montag

»Konnten dem Ruf des Flusses doch nicht widerstehen, was?«, fragte eine bekannte Stimme. Der Tourguide löste sich von der Gruppe und kam auf mich zu. Er trug übergroße kniehohe Galoschen und blaue Putzhandschuhe.

»Scheint so.« Um ehrlich zu sein, wusste ich immer noch nicht, was wir hier im Flussbett eigentlich wollten, aber das war Teil des Reizes. Ich konnte nicht anders, als ihn anzugrinsen. »Brauche ich auch so was?« Ich deutete auf seine Stiefel.

Er schüttelte den Kopf. »Turnschuhe reichen, aber nehmen Sie ein Paar hiervon.« Aus seinem Rucksack zog er zwei gebrauchte fleckige Gummihandschuhe, ähnlich wie seine. »Sie wollen sich ja nicht schneiden. Kommen Sie, wir sind da hinten.« Er drehte sich um, blieb dann aber noch mal stehen und sagte zu mir: »Ach, ich bin übrigens Alfred. Alle nennen mich ›Bachelor Alf‹. Lustig, wenn man bedenkt, dass ich an die vierzig Jahre verheiratet bin. Der Spitzname kommt daher, dass ich so viele von diesen verbogenen Ringen gefunden habe.«

Als er meinen verständnislosen Gesichtsausdruck sah, fuhr er fort: »Vor vielen, vielen Jahren verbogen Männer Metallringe, um ihre Stärke zu beweisen, bevor sie um die Hand einer Dame anhielten. Doch wenn die Dame den Mann nicht heiraten wollte, dann warf sie den Ring von der Brücke und schickte ihn weg. Ich habe Hunderte dieser Ringe gefunden. Wie es aussieht, haben jede Menge Gentlemen dieses Ufer als Junggesellen verlassen, wenn Sie verstehen. Sowieso eine seltsame Tradition.«

Ich betrachtete meine Hände in den Gummihandschuhen. Mein eigener Ring war nun verborgen. Auch mir hatte die Tradition nicht viel gebracht. Vor ein paar Wochen, bevor mein Leben so stotternd zum Stillstand gekommen war, hatte ich für James ein antikes Kästchen für seine neuen Visitenkarten bestellt. Die Büchse war aus Blech, dem traditionellen Material für ein Geschenk zu einem zehnten Hochzeitstag, da es die Beständigkeit der Ehe symbolisieren sollte. Ich hatte James’ Initialen eingravieren lassen, und es war am Abend vor unserer geplanten Londonreise mit der Post gekommen – gerade rechtzeitig.

Doch seither war nicht mehr viel gut gelaufen.

Sobald das Kästchen geliefert worden war, nahm ich es mit nach oben, um es in meinem Koffer zu verstecken. Während ich im Schrank herumkramte, sammelte ich noch schnell ein paar weitere Kleinigkeiten für die Reise zusammen: Unterwäsche, ein paar hohe Schuhe mit Riemchen, einige ätherische Öle. Ich wählte unter anderem Lavendel-, Rosen- und Orangenöl. James mochte Orange besonders gern.

Ich saß also im Schneidersitz auf dem Boden unseres begehbaren Kleiderschranks und hielt ein Dessousteil hoch, bei dem ich mich nicht so recht entscheiden konnte – ein dünnes Stückchen knallroter Stoff, das irgendwie um den Hintern und zwischen den Beinen hindurch passen sollte. Schulterzuckend warf ich das Ding in meinen Koffer, zu einem Schwangerschaftstest, den ich unbedingt in London machen wollte, falls meine Periode ausblieb. Was mich an die Kinderwunschvitamine erinnerte. Auf Empfehlung meines Arztes hin hatte ich angefangen, diese Tabletten zu nehmen, sobald ich die Pille absetzte.

Als ich auf dem Weg ins Bad war, um die Pillen zu holen, summte James’ Handy auf dem Nachttisch. Desinteressiert warf ich im Vorbeigehen einen Blick darauf, doch dann summte es ein zweites Mal, und ein Wort stach mir ins Auge: Kuss.

Zitternd beugte ich mich vor, um die Nachrichten auf dem Display zu lesen. Sie waren von jemandem geschickt worden, der in James’ Kontakten als B abgespeichert war.

Ich werde dich sehr vermissen, war die erste. Dann: Trink nicht so viel Champagner, dass du letzten Freitag vergisst. Kuss

Zu der zweiten Nachricht gehörte zu meinem Entsetzen ein Foto von einem schwarzen Slip in einer Schublade. Unter dem Slip erkannte ich ein buntes Faltblatt mit dem Logo von James’ Firma. Das Bild musste also an seinem Arbeitsplatz aufgenommen worden sein.

Wie betäubt starrte ich auf das Handy. Vergangenen Freitagabend hatte ich mit Rose und ihrem Mann im Krankenhaus verbracht, während Rose in den Wehen lag. James war im Büro gewesen und hatte gearbeitet. Oder nicht gearbeitet.

Nein, nein, das musste irgendein Missverständnis sein. Meine Handflächen fingen an zu schwitzen. Ich hörte James unten in der Küche hantieren. Nachdem ich ein paarmal tief durchgeatmet hatte, nahm ich das Handy und umklammerte es wie eine Waffe.

Ich rannte die Treppe hinunter. »Wer ist B?«, wollte ich wissen und hielt James das Handy hin.

Der Ausdruck in seinen Augen sagte alles.

»Caroline«, erwiderte er ganz ruhig, als wäre ich eine Klientin und er würde mir gleich eine Fehler-Ursachen-Analyse präsentieren. »Es ist nicht das, was du denkst.«

Mit zitternden Fingern navigierte ich zur ersten Nachricht. »Ich werde dich sehr vermissen?«, las ich laut vor.

James stützte die Hände auf die Arbeitsplatte und beugte sich vor. »Das ist nur eine Kollegin. Sie schwärmt seit ein paar Monaten ein bisschen für mich. Wir machen im Büro Witze darüber. Wirklich, Caroline, da ist nichts.«

Eine glatte Lüge. Ich verriet ihm den Inhalt der zweiten SMS nicht – noch nicht. »Ist zwischen euch je irgendwas gelaufen?«, fragte ich und zwang mich, ganz ruhig zu sprechen.

Er seufzte und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. »Wir sind uns bei dieser Feier vor ein paar Monaten begegnet«, sagte er schließlich. Seine Firma hatte für die frisch beförderten Mitarbeiter eine Bootsfahrt mit Dinner in Chicago veranstaltet. Ehepartner durften auf eigene Kosten teilnehmen, aber da wir fleißig für London sparten, hatte ich mir nichts dabei gedacht, das Event sausen zu lassen. »Wir haben uns an diesem Abend geküsst, nur ein Mal, weil wir zu viel getrunken hatten. Ich konnte kaum noch richtig geradeaus gucken.« Er trat einen Schritt auf mich zu. Sein Blick war weich, flehend. »Das war ein schrecklicher Ausrutscher. Sonst ist nichts passiert, und ich habe sie seither auch nicht mehr gesehen –«

Wieder gelogen. Ich streckte ihm erneut das Handy hin und zeigte auf das Bild mit dem schwarzen Slip in der Schublade. »Bist du sicher? Denn sie hat dir gerade dieses Foto geschickt und dir gesagt, du sollst den letzten Freitag nicht vergessen. Wie es aussieht, bewahrt sie ihre Unterwäsche jetzt in deinem Schreibtisch auf.«

Ein dünner Schweißfilm trat auf seine Stirn, als er verzweifelt nach einer Erklärung suchte. »Das ist bloß ein übler Scherz, Car–«

»Bullshit«, unterbrach ich ihn. Tränen liefen mir übers Gesicht. Eine namenlose Person nahm in meiner Vorstellung Gestalt an – die Frau, der dieses winzige schwarze Höschen gehörte –, und ich verstand, zum ersten Mal in meinem Leben, welche unberechenbare Wut manche Leute zu Mördern werden lässt. »Du hast am Freitag nicht viel Arbeit erledigt bekommen, hab ich recht?«

James antwortete nicht, und sein Schweigen war so belastend wie ein Geständnis.

Da wusste ich, dass ich auch sonst nichts von dem glauben konnte, was er sagte. Vermutlich hatte er dieses Höschen nicht nur mit eigenen Augen gesehen, sondern es ihr auch höchstpersönlich ausgezogen. James fehlten selten die Worte. Wenn zwischen den beiden nichts Ernstes gelaufen wäre, würde er sich jetzt nachdrücklich verteidigen. Stattdessen blieb er stumm, und das schlechte Gewissen stand ihm ins zerknautschte Gesicht geschrieben.

Das Geheimnis – seine Untreue an sich – war schlimm genug. Doch in diesem Moment schienen die hässlichen Fragen nach dieser Frau und dem Ausmaß ihrer Beziehung weniger wichtig, verglichen mit der Tatsache, dass er dieses Geheimnis seit Monaten hütete. Was, wenn ich nicht zufällig die Nachrichten gesehen hätte? Wie lange hätte er es vor mir verheimlicht? Erst vergangene Nacht hatten wir uns geliebt. Wie konnte er es wagen, den Geist dieser Frau mit in unser Bett zu bringen, dem heiligen Ort, an dem wir versuchten, ein Kind zu zeugen.

Meine Schultern zuckten, meine Hände bebten. »All die Nächte, in denen wir versucht hatten, schwanger zu werden. Hast du da an sie gedacht statt an –« Ich erstickte an meinen eigenen Worten, unfähig das Wort mich auszusprechen. Ich ertrug es nicht, diese Farce mit uns in Verbindung zu bringen, mit meiner Ehe.

Bevor er etwas antworten konnte, stieg die Übelkeit mit Wucht empor, unerbittlich, sodass ich Richtung Toilette stürzte, wobei ich die Badtür hinter mir zuschlug und abschloss. Ich würge fünf, sieben, zehn Mal, bis nichts mehr in mir übrig war.

Das Dröhnen eines Bootsmotors auf dem Fluss riss mich aus der Erinnerung. Als ich aufblickte, sah ich, dass Bachelor Alf mich mit ausgestreckten Händen beobachtete. »Sind Sie so weit?«, fragte er.

Peinlich berührt nickte ich und folgte ihm zu einer Gruppe von fünf oder sechs weiteren Personen. Ein paar von ihnen knieten zwischen den Steinen und durchsiebten die Kiesel. Ich trat näher zu Alf und fragte leise: »Verzeihung, aber ich verstehe immer noch nicht so ganz, was mudlarking eigentlich bedeutet. Suchen wir was Bestimmtes?«

Er sah mich an und lachte, wobei sein Bauch wackelte. »Ich hab Ihnen das noch gar nicht erklärt, stimmt’s?! Also, Folgendes müssen Sie wissen: Die Themse fließt direkt durch die Innenstadt von London, und das ein ganz schön langes Stück. Wenn man lange genug sucht, kann man hier im Schlick kleine Überbleibsel aus der Vergangenheit bis zurück zur Römerzeit entdecken. Früher haben die Schlammsucher nach alten Münzen, Ringen, Tonwaren und Ähnlichem Ausschau gehalten, um diese dann zu verkaufen. Darüber haben die Viktorianer geschrieben, über diese armen Kinder, die davon Brot kaufen wollten. Heutzutage suchen wir hier nur, weil es uns Spaß macht. Was man findet, darf man behalten, das ist unsere Regel. Sehen Sie mal, da.« Er zeigte auf meinen Fuß. »Sie stehen fast auf einer Tonpfeife.« Er beugte sich vor, um sie aufzuheben. Für mich sah es nach einem länglichen Stein aus, aber Bachelor Alf lächelte breit. »Davon kann man tausend an einem Tag finden. Nichts Besonderes, außer es ist das erste Mal. Die hat man früher mit Tabakblättern gestopft. Sehen Sie, hier, die Rillen entlang des Rohrs? Ich würde sie so auf irgendwann zwischen 1780 und 1820 schätzen.« Er hielt inne, um meine Reaktion abzuwarten.

Mit hochgezogenen Augenbrauen betrachtete ich die Tonpfeife genauer. Auf einmal überkam mich die Begeisterung dafür, einen Gegenstand in den Händen zu halten, den das letzte Mal jemand vor über einem Jahrhundert berührt hatte. Bachelor Alf hatte vorhin gesagt, dass das Wasser jedes Mal, wenn es kam und ging, neue Geheimnisse aufdeckte. Welche anderen alten Gegenstände schlummerten wohl noch in nächster Nähe? Ich überprüfte meine Handschuhe, um sicherzugehen, dass sie fest saßen, dann ging ich in die Hocke. Vielleicht würde ich noch ein paar weitere Tonpfeifen finden oder eine Münze oder einen verbogenen Ring, wie Bachelor Alf es beschrieben hatte. Oder vielleicht konnte ich meinen eigenen Ring abstreifen, verbiegen und ins Wasser zu all den anderen Symbolen gescheiterter Liebe werfen.

Langsam ließ ich den Blick über die Steine wandern und strich mit den Fingern über die glänzenden rostfarbenen Kiesel. Nach einer Minute jedoch runzelte ich die Stirn. Alles sah irgendwie ziemlich gleich aus. Selbst wenn ein Diamantring dort im Schlick steckte, hätte ich ihn kaum entdeckt.

»Haben Sie irgendwelche Tipps?«, rief ich Bachelor Alf zu, der ein paar Meter entfernt stand und ein eiförmiges Objekt untersuchte, das einer der anderen gefunden hatte. »Oder vielleicht eine Schaufel?«

Er lachte. »Die Londoner Hafenverwaltung verbietet Schaufeln, leider, beziehungsweise Graben in jeglicher Form. Wir dürfen nur die Oberfläche absuchen. Deshalb ist es ein bisschen wie Schicksal, wenn man etwas findet. Zumindest betrachte ich es gerne so.«

Schicksal oder totale Zeitverschwendung. Doch ich hatte die Wahl zwischen Flussbett und einem kalten riesigen Doppelbett im Hotel, also ging ich ein paar Schritte näher ans Wasser und kniete mich wieder hin, wobei ich einen Schwarm Mücken vertrieb, der über meinen Füßen schwebte. Langsam ließ ich den Blick über die Kiesel wandern, bis ich plötzlich etwas Glänzendes, Schimmerndes entdeckte. Ich schnappte aufgeregt nach Luft und wollte schon nach Bachelor Alf rufen, damit er sich meinen Fund ansah. Doch als ich einen Schritt weiterging, um das dünne glänzende Etwas zu mir herzuziehen, wurde mir klar, dass ich lediglich den fauligen perlmuttfarbenen Schwanz eines toten Fischs gepackt hatte.

»Igitt«, stöhnte ich. »Wie eklig.«

Auf einmal ertönte hinter mir ein aufgeregtes Quietschen. Ich drehte mich um und sah, dass eine andere Sucherin – eine Dame mittleren Alters, die sich so weit nach vorn beugte, dass ihre Haare beinahe in eine sandige Pfütze vor ihr hingen – einen weißlichen Stein mit scharfen Kanten hochhob. Sie wischte heftig mit ihrer behandschuhten Hand daran herum, um das Ding dann stolz in die Höhe zu halten.

»Ein Stück Steingut!«, rief Bachelor Alf. »Und dazu noch ein ganz besonders schönes. So ein Blau findet man heutzutage nirgends mehr. Coelinblau, im späten achtzehnten Jahrhundert entdeckt. Heute gibt es nur noch billige Glasuren. Sehen Sie, da.« Er fuhr mit dem Finger das Muster nach. »Sieht aus wie die Ecke eines Kanus, vielleicht ein Drachenboot.«

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