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Die unsterbliche Braut

hier erhältlich:

Die Götter haben ihren Prinzen entführt. Nur wenn es Kate gelingt, Henrys Vergangenheit und Zukunft zu vereinen, kann sie ihn retten - und sich selbst.Endlich hat Kate die Unsterblichkeit erlangt und steht kurz davor, zur Königin der Unterwelt gekrönt zu werden. Aber sie fühlt sich isoliert wie nie zuvor. Denn je größer ihre Liebe zu Henry wird, dem Herrscher dieser Welt, desto distanzierter gibt er sich. Da wird Henry mitten in der feierlichen Krönungszeremonie vom König der Titanen entführt. Nur Kate kann ihn aus den tiefsten Höhlen des Tartarus befreien. Doch um ihren Weg durch das Labyrinth zu finden, braucht sie die Hilfe ihrer größten Feindin: Persephone, Henrys erste Frau!


  • Erscheinungstag: 15.11.2015
  • Aus der Serie: The Goddess
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783733785284
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

IMPRESSUM

books2read ist ein Imprint der HarperCollins Germany GmbH,
Valentinskamp 24, 20354 Hamburg, info@books2read.de

 

 

Copyright © 2012 by Aimée Carter
Originaltitel: “Goddess Interrupted”
Erschienen bei: Harlequin TEEN, Toronto
Published in Arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.ár.l

Deutsche Erstausgabe Copyright © 2012 bei MIRA Taschenbuch in der Harlequin Enterprises GmbH
Übersetzung: Freya Gehrke

Copyright © 2015 by books2read in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

 

Umschlagmotiv: Conrado/ shutterstock, DavidMSchrader, VBaleha, Justdd / Thinkstock
Umschlaggestaltung: Deborah Kuschel

Veröffentlicht im ePub Format im 11/2015

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733785284

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
books2read Publikationen dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

www.books2read.de

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PROLOG

Calliope stapfte über die sonnenbeschienene Wiese und ignorierte das Geplapper des Rotschopfes, der hinter ihr hertänzelte. Ingrid war die erste Sterbliche, die versucht hatte, die Prüfungen zu bestehen, um Henrys Frau zu werden. Und hätte er mehr als fünf Minuten am Tag mit ihr verbracht, hätte er vielleicht verstanden, warum Calliope sie umgebracht hatte.

„Mach dich auf was Tolles gefasst“, sagte Ingrid, während sie ein Kaninchen aus dem hohen Gras hob und es sich an die Brust drückte. „Um zwölf Uhr mittags fängt alles an zu blühen.“

„So wie gestern?“, erwiderte Calliope. „Und vorgestern? Und am Tag davor?“

Ingrid strahlte. „Ist das nicht wunderschön? Hast du die Schmetterlinge gesehen?“

„Ja, ich hab die Schmetterlinge gesehen“, gab Calliope zurück. „Und die Rehe. Und jedes sonstige Detail deines sinnfreien Lebens nach dem Tod.“

Ein Schatten schien sich auf Ingrids Gesicht zu legen. „Tut mir leid, wenn du’s dämlich findest, aber es ist mein Leben nach dem Tod, und mir gefällt’s.“

Es kostete sie große Mühe, aber Calliope verkniff es sich, die Augen zu verdrehen. Ingrid wütend zu machen würde alles nur verschlimmern. Und so wie es gerade lief, würde es noch ewig dauern, bis Calliope hier rauskam. „Du hast recht“, lenkte sie betont freundlich ein. „Es ist bloß so, dass ich nie Zeit in diesem Reich verbringe, deshalb ist das alles etwas ungewohnt für mich.“

Ingrid entspannte sich und streichelte das Kaninchen. „Ist ja klar, dass du hier keine Zeit verbringst“, erklärte sie kichernd, sodass Calliope unwillkürlich mit den Zähnen knirschte. „Du bist eine Göttin. Du kannst nicht sterben. Anders als ich“, fügte sie hinzu. „Aber es war nicht so schlimm, wie ich erwartet hatte.“

Hätte diese Idiotin auch nur einen Funken Verstand besessen, hätte sie gewusst, dass Calliope nicht irgendeine Göttin war. Sie war eins der ursprünglichen sechs Ratsmitglieder, bevor diese Kinder bekommen hatten und der Rat gewachsen war. Bevor ihr Ehemann beschlossen hatte, dass Treue unter seiner Würde war. Bevor sie die Unsterblichkeit wie Bonbons verteilt hatten. Sie war eine Tochter der Titanen, nicht einfach bloß eine Göttin. Sie war eine Königin.

Und egal, was der Rat und diese Schlampe Kate entschieden hatten: Sie hatte es nicht verdient, hier sein zu müssen.

„Gut“, antwortete Calliope. „Den Tod zu fürchten ist dumm.“

„Henry sorgt dafür, dass es mir gut geht. Ab und zu kommt er vorbei und verbringt einen Nachmittag mit mir“, erzählte Ingrid. Und mit einem provozierenden Grinsen fügte sie hinzu: „Du hast mir nie erzählt, wer gewonnen hat.“

Calliope öffnete den Mund, um zu erklären, dass es kein Wettbewerb war, doch das war nicht die Wahrheit. Alles daran war ein Wettbewerb gewesen, und sie hatte viel härter um den Preis gekämpft als alle anderen. Meisterhaft hatte sie ihre Konkurrentinnen ausgelöscht. Selbst Kate wäre gestorben, hätten Henry und Diana nicht eingegriffen.

Calliope hätte die Siegerin sein sollen, und Ingrids Grinsen war wie Salz in dem blutigen Loch, wo einmal ihr Herz gesessen hatte. Zuerst hatte sie ihren Ehemann verloren. Und als sie gedacht hatte, sie hätte jemanden gefunden, der ihre Misere verstand und ihr die Liebe geben konnte, nach der sie sich so sehnte, hatte dieser Jemand – Henry – ihr nicht einmal eine Chance gegeben. Und deshalb hatte sie alles verloren. Ihre Freiheit, ihre Würde, jeden Funken Respekt, den sie sich über die Jahrtausende erkämpft hatte. Doch ihr größter Verlust war Henry gewesen.

Seit Anbeginn der Menschheit waren sie zusammen gewesen, zwei der ursprünglichen sechs. Über Äonen hatte sie ihn beobachtet, umhüllt von Geheimnissen und einer Einsamkeit, die niemand durchbrechen konnte – zumindest bis Persephone auf der Bildfläche erschienen war. Und nach dem, was sie ihm angetan hatte …

Wenn irgendjemand es verdient hatte, bestraft zu werden, dann Persephone. Alles, was Calliope je gewollt hatte, war, dass Henry glücklich war. Und eines Tages würde er begreifen, dass er das nur sein konnte, wenn sie endlich vereint waren. Egal, wie lange es dauern würde, sie würde ihn dazu bringen, das zu erkennen. Und dann würde Kate dafür bezahlen, dass sie ihnen kostbare gemeinsame Zeit gestohlen hatte.

„Calliope?“, hakte Ingrid nach, und Calliope versuchte, diese trüben Gedanken abzuschütteln. Die Worte verflüchtigten sich aus ihrem Kopf, doch ihr Zorn und die Bitterkeit blieben.

„Kate“, erwiderte Calliope und spie den Namen aus wie Gift. „Ihr Name ist Kate. Sie ist Dianas Tochter.“

Ingrids Augen wurden groß. „Und Persephones Schwester?“

Calliope nickte, während sich hinter Ingrid ein seltsamer Nebel in der Ferne bildete. Er schien nach ihr zu rufen, sie zu sich zu locken, doch sie widerstand der Versuchung, sich von Ingrid abzuwenden und ihm zu folgen. Solange sie ihre Strafe hier verbüßte, indem sie Zeit mit jedem der Mädchen verbrachte, das sie umgebracht hatte, konnte sie nicht gehen, ohne dass Henry es sofort erfuhr. Wenn sie sich den Befehlen des Rats bewusst widersetzte, würde sie endgültig verbannt werden, und jemand anders würde ihren Platz im Rat einnehmen.

Sie wusste genau, wer dieser Jemand sein würde, und schwor sich, dass Kate niemals auch nur in die Nähe ihres Throns geraten würde, solange sie selbst noch eine Göttin war.

Nachdenklich betrachtete Calliope den Nebel. „Bist du schon mal dahinten gewesen?“

„Wo?“, fragte Ingrid. „Bei den Bäumen? Ein paarmal, aber ich mag die Wiese lieber. Wusstest du, dass die Blütenblätter wie Zuckerwatte schmecken? Probier doch mal.“

„Ich esse keine Süßigkeiten“, gab Calliope zurück, immer noch fasziniert von dem Nebel. So etwas hatte sie in ihrer Zeit in der Unterwelt nie zuvor gesehen, und irgendetwas musste es zu bedeuten haben. Vielleicht war das Henrys Art, ihr mitzuteilen, dass sie zum nächsten Mädchen weiterziehen konnte. Vielleicht hatte er endlich kapiert, wie anstrengend Ingrid war.

„Wie kann man denn keine Süßigkeiten essen?“ Ingrid schien zwischen Unglauben und Fassungslosigkeit zu schwanken. „Jeder isst Süßigkeiten.“

„Ich bin nicht jeder“, erwiderte Calliope knapp. „Warte hier.“

„Damit du abhauen kannst? Wohl kaum“, widersprach Ingrid. „Ich muss dir vergeben, bevor du gehen darfst, schon vergessen?“

Calliope knirschte mit den Zähnen. Natürlich hatte sie es nicht vergessen, aber ganz ehrlich – Ingrid würde ihr niemals verzeihen. Selbst wenn sie es tat, wagte Calliope zu bezweifeln, dass jedes Mädchen, das sie getötet hatte, dasselbe tun würde. Doch so lautete Kates Urteil, was bedeutete, dass sie wahrscheinlich bis in alle Ewigkeit in der Unterwelt festsaß. Das war länger, als Calliope zu warten bereit war. „Wenn du nicht willst, dass ich deine Füße am Boden festwachsen lasse, bleibst du hier.“

„So was kannst du?“

Calliope machte sich nicht die Mühe, darauf zu antworten. Stattdessen marschierte sie auf diesen faszinierenden Nebel zu, weg von Ingrid, die wenigstens so viel Grips besaß, ihr nicht zu folgen. Je weiter sie sich von Ingrid entfernte, desto mehr verblasste die Wiese, bis Calliope von Felsen umgeben war – das wahre Erscheinungsbild der Unterwelt, wenn keine tote Seele in der Nähe war, um es zu beeinflussen.

Von Nahem betrachtet war der Nebel gar kein richtiger Nebel, wie Calliope erkannte. Vielmehr schien die Luft zu schimmern – Tausende zarte Lichtfinger, die nach ihr zu greifen schienen. Calliope streckte die Hand danach aus, und in der Sekunde, als ihre Finger das seltsame Glühen berührten, wusste sie, warum es sie so magisch angezogen hatte. Endlich, nach Jahrzehnten des Wartens, war er erwacht.

Calliope lächelte, und eine Woge der Macht durchströmte sie. Eine Macht, die so alt war, dass es keinen Namen dafür gab. Ingrid verblasste zu nichts als einer undeutlichen Erinnerung, als Calliope vortrat und der Zorn, den sie schon so lange in sich nährte, sich endlich zu voller Kraft entfaltete.

„Hallo, Vater.“

1. KAPITEL

RÜCKKEHR NACH EDEN

Als ich noch in der Schule war, haben meine Lehrer die Klasse jeden Herbst einen dieser furchtbaren Aufsätze schreiben lassen: „Was ich letzten Sommer gemacht habe“. Das volle Programm, mit Vortrag, Fotos und lustigen Anekdoten – alles, um einen Raum voll gelangweilter Schüler dazu zu bringen, etwas Interesse zu zeigen.

Jedes Jahr saß ich da und hörte zu, wenn meine Klassenkameraden an der New Yorker Grundschule von ihren Ferien in den Hamptons oder in Florida oder in Europa berichteten – mit ihren reichen Eltern oder Au-pair-Mädchen oder, als wir älter wurden, ihren Freunden und Freundinnen. Als wir schließlich in der Highschool waren, hatte ich bis zum Erbrechen immer dieselben glamourösen Geschichten gehört: Eskapaden in Paris mit Supermodels, nächtelange Partys auf den Bahamas mit Rockstars und so weiter. In ihrem Wunsch, Aufmerksamkeit zu erregen, überschlugen sich meine Mitschüler förmlich mit der Schilderung immer wilderer Abenteuer.

Meine Geschichte war jedes Jahr dieselbe. Meine Mutter war Floristin, und weil der Großteil ihres Einkommens für die Schule draufging, fuhren wir nie aus New York City weg. An ihren freien Tagen gingen wir in den Central Park und sogen das Sonnenlicht in uns auf. Als sie dann krank wurde, verbrachte ich meine Sommer bei ihr im Krankenhaus. Hielt ihr das Haar aus dem Gesicht, wenn sie sich wegen der Chemotherapie übergeben musste, oder zappte auf der Suche nach irgendetwas Interessantem durch die Fernsehkanäle.

Es waren nicht die Hamptons. Es war nicht Florida. Es war nicht Europa. Aber es waren meine Sommer.

Jener Sommer nach meinen ersten sechs Monaten mit Henry jedoch ließ jeden Sommer, den meine Klassenkameraden je verlebt hatten, blass aussehen.

„Ich kann immer noch nicht glauben, dass du vorher noch nie mit Delfinen geschwommen bist“, sagte James, während ich eine löchrige Schotterstraße entlangfuhr, die nicht besonders oft benutzt zu werden schien. Wir waren zurück auf der oberen Halbinsel von Michigan und umgeben von Bäumen, die höher waren als die meisten Gebäude. Je näher wir Eden Manor kamen, desto breiter wurde mein Grinsen.

„Ist ja nicht so, als hätten wir davon im Hudson besonders viele gehabt“, gab ich zurück und trat etwas fester aufs Gas. Dieser Ort lag so weit ab von der Zivilisation, dass es kein Tempolimit gab, aber als ich das letzte Mal hier entlanggefahren war, war meine Mutter zu krank gewesen, als dass ich das hätte ausnutzen können. Doch jetzt, nachdem der Rat mir die Unsterblichkeit gewährt hatte, war das Einzige, was in Gefahr war, mein klappriges altes Auto. Bisher gefielen mir die Vorteile. „Der Vulkanausbruch hat mich mehr beeindruckt.“

„Keine Ahnung, woher das auf einmal kam“, gestand James ein. „Dieser Vulkan war schon länger nicht mehr aktiv, als manche von uns auf der Welt sind. Darauf sollte ich Henry vielleicht ansprechen, wenn wir zurück sind.“

„Was sollte Henry denn mit einem Vulkan zu tun haben?“, fragte ich, während mein Herz einen Sprung machte. Mittlerweile waren wir so nah, dass ich ihn fast spüren konnte, und ich trommelte nervös mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad.

„Es gibt Vulkane in Henrys Reich. Wenn ein so alter Vulkan so heftig ausbricht, dann ist irgendwas im Gang.“ James biss ein Stück Trockenfleisch ab und hielt mir den Rest hin. Ich rümpfte nur die Nase. „Selbst schuld. Du weißt, dass du ihm jede Einzelheit über alles erzählen musst, was wir unternommen haben, oder?“

Verwirrt warf ich ihm einen Seitenblick zu. „Ich hatte auch nichts anderes vor. Wieso? Was ist daran verkehrt?“

James zuckte mit den Schultern. „Nichts. Ich hatte bloß den Eindruck, er wäre nicht so begeistert von dem Gedanken, dass du sechs Monate mit einem gut aussehenden blonden Fremden in Griechenland verbringst, das ist alles.“

Ich musste so sehr lachen, dass ich fast von der Straße abkam. „Und wer war dieser gut aussehende blonde Fremde? Ich kann mich an niemanden in der Art erinnern.“

„Genau das solltest du Henry sagen, dann sind wir beide auf der sicheren Seite“, gab James fröhlich zurück.

Es war natürlich ein Witz. James war mein bester Freund, und wir hatten den Sommer damit verbracht, gemeinsam alte Ruinen, weitverzweigte Städte und atemberaubende Inseln zu erforschen – an einem der schönsten Orte der Erde. Vielleicht auch einer der romantischsten, aber James war James, und ich war mit Henry verheiratet.

Verheiratet. Ich hatte mich immer noch nicht daran gewöhnt. Meinen Ehering mit dem schwarzen Diamanten hatte ich an einer Kette um den Hals getragen – aus lauter Angst, ihn zu verlieren. Jetzt, da wir kaum noch eine Meile von Eden entfernt waren, wurde es Zeit, ihn mir wieder auf den Ringfinger zu stecken. Ich hatte mich durch die sieben Prüfungen gekämpft, die der Rat der Götter mir auferlegt hatte, um herauszufinden, ob ich der Unsterblichkeit würdig war. Ob ich würdig war, Königin der Unterwelt zu werden. Und weil ich es geschafft hatte – gerade so –, waren Henry und ich jetzt Mann und Frau.

Allerdings fühlte es sich nicht so an, wenn ich an die Stille dachte, die in den letzten sechs Monaten zwischen uns geherrscht hatte. James gegenüber hatte ich es nicht eingestanden, aber den ganzen Sommer über hatte ich mich immer wieder umgeblickt – in der Hoffnung, Henry in der Menge zu erblicken, auch wenn er eigentlich gar nicht da sein sollte. Doch egal, wie aufmerksam ich nach ihm gesucht hatte, ich hatte keine Spur von ihm entdeckt. Zugegeben, ein halbes Jahr war quasi nur ein Wimpernschlag für jemanden, der schon vor der Geburt der Menschheit existiert hatte. Aber ein kleiner Hinweis, dass er mich vermisste, war ja wohl nicht zu viel verlangt.

Auch während meines Winters mit ihm hatte ich um jeden kleinen Fortschritt kämpfen müssen. Jeder Blick, jede Berührung, jeder Kuss – was, wenn wir nach sechs Monaten wieder ganz von vorn anfangen mussten? Er hatte tausend Jahre damit verbracht, um seine erste Frau Persephone zu trauern, und mich kannte er erst seit einem einzigen. Unsere Hochzeit war nicht das perfekte Ende einer wundervollen Liebesgeschichte gewesen. Sie hatte den Beginn der Ewigkeit bedeutet, und nichts an unserem neuen gemeinsamen Leben würde einfach sein. Für keinen von uns. Vor allem wenn man bedachte, dass ich mich nicht nur in die Ehe würde einfinden müssen, sondern gleichzeitig auch noch lernen musste, Königin der Unterwelt zu sein.

Und egal, wie viele Jahre ich damit verbracht hatte, mich um meine sterbende Mutter zu kümmern – ich hatte das ungute Gefühl, dass mir das in keinster Weise dabei helfen würde, über das Totenreich zu herrschen.

Ich schob die Sorgen beiseite, als das schmiedeeiserne schwarze Tor von Eden Manor in Sicht kam. New York, die Schule, die Krankheit meiner Mutter – das war die Vergangenheit. Mein sterbliches Leben. Dies war meine Zukunft. Was auch immer in diesem Sommer passiert war oder auch nicht passiert war – jetzt konnte ich mit Henry zusammen sein, und ich würde keine Sekunde davon vergeuden.

„Trautes Heim, Glück allein“, murmelte ich, als ich durch das Tor fuhr. Ich würde das schaffen. Henry würde auf mich warten, und er würde sich riesig freuen, mich zu sehen. Meine Mutter würde auch da sein, und ich würde nie wieder sechs Monate überstehen müssen, ohne sie zu sehen. Nachdem ich sie beinahe verloren hatte, war der Sommer ohne Kontakt zu ihr die reinste Folter gewesen, doch sie hatte darauf bestanden – dieser erste Sommer sollte nur mir gehören, und sie und Henry würden sich heraushalten. Doch jetzt war ich zurück, und alles würde gut werden.

James verdrehte den Hals, um das leuchtend bunte Laub der Bäume am Straßenrand zu betrachten. „Alles in Ordnung?“, wollte er wissen.

„Das sollte ich dich fragen“, gab ich zurück und warf einen bezeichnenden Blick auf seine Finger, mit denen er nervös auf der Armlehne herumtrommelte. Daraufhin hielt er still, und bevor ich mich bremsen konnte, fügte ich hinzu: „Er wird glücklich sein, mich zu sehen, oder?“

James blinzelte und antwortete kühl: „Wer? Henry? Kann ich nicht sagen. Ich bin nicht er.“

Das war die letzte Antwort, mit der ich gerechnet hatte, aber natürlich würde James wegen unserer Rückkehr keine Luftsprünge machen. Er wäre derjenige gewesen, der Henry als Herrscher über die Unterwelt ersetzt hätte, wäre ich gescheitert. Und auch wenn es auf unserer Reise nicht zur Sprache gekommen war, stellte das zweifellos einen wunden Punkt bei ihm dar.

„Könntest du wenigstens so tun, als würdest du dich für mich freuen?“, fuhr ich ihn an. „Du kannst nicht deine restliche Existenz damit vergeuden, deswegen sauer zu sein.“

„Ich bin nicht sauer. Ich mache mir Sorgen“, erklärte er. „Du musst das nicht tun, wenn du nicht willst, weißt du. Niemand würde dir etwas vorwerfen.“

„Was muss ich nicht tun? Nach Eden zurückkehren?“ Ich hatte die Prüfungen bereits bestanden und Henry gesagt, ich würde zurückkommen. Wir waren verheiratet, verdammt noch mal.

„Alle tun so, als wärst du Henrys letzte und einzige Chance“, fuhr James fort. „Es ist nicht fair, dich so unter Druck zu setzen.“

Herr im Himmel, er redete tatsächlich davon, dass ich nicht zurückgehen sollte.

„Hör zu, James, ich weiß, dass es dir in Griechenland gefallen hat – mir auch –, aber wenn du glaubst, du könntest mich überreden, nicht zurückzukehren …“

„Ich versuch dich zu gar nichts zu überreden“, schnitt James mir mit überraschend fester Stimme das Wort ab. „Ich versuche nur sicherzustellen, dass das auch niemand anders macht. Es ist dein Leben. Niemand wird dir deine Mutter wieder wegnehmen, wenn du dich entscheidest, dass du das hier doch nicht machen willst.“

„Das ist nicht … das hat nichts damit zu tun, warum ich zurückgehen will“, platzte ich wütend heraus.

„Was dann, Kate? Nenn mir einen guten Grund, und ich lass dich in Ruhe.“

„Ich kann dir ein ganzes Dutzend sagen.“

„Ich will nur einen.“

Verärgert reckte ich das Kinn. Das alles ging ihn überhaupt nichts an. Bei meinen Versuchen, Henry vor dem Untergang zu bewahren, war ich fast gestorben. Ich würde jetzt keinen Rückzieher machen, bloß weil mir die Unterwelt vielleicht nicht gefallen könnte. „Ich weiß nicht, wie ihr das so macht, aber ich liebe Henry, und ich werde ihn nicht verlassen, bloß weil du denkst, er wäre nicht gut für mich.“

„In Ordnung“, gestand mir James zu. „Aber was machst du, wenn Henry dich nicht liebt?“

Ich trat auf die Bremse und riss den Schalthebel so heftig auf „Parken“, dass ich den Knauf abbrach. Kein Problem, das Auto ist sowieso eine Schrottkarre, tröstete ich mich. „Das ist unmöglich. Er hat gesagt, dass er mich liebt, und ich vertraue ihm. Er würde mich nicht anlügen. Anders als andere Leute, die ich kenne.“

Wütend starrte ich ihn an, doch sein Gesichtsausdruck blieb unverändert. Ich wollte aussteigen und fluchte, als sich der Gurt an meiner Jeans verhakte. Nach einigen vergeblichen Versuchen, mich selbst zu befreien, griff James herüber und löste den Gurt für mich.

„Sei nicht sauer“, bat er. „Bitte. Nach allem, was mit Persephone geschehen ist – ich will nur nicht, dass du dasselbe durchmachen musst, okay? Das ist alles.“

Ich war keine Idiotin und wusste, dass ein Teil von Henry Persephone für immer lieben würde. Immerhin hatte er den Lebenswillen verloren, nachdem sie die Unsterblichkeit aufgegeben hatte, um die Ewigkeit nach ihrem Tod mit einem Sterblichen zu verbringen. So hätte er nicht empfunden, wenn nicht seine gesamte Existenz sich um sie gedreht hätte. Doch ich konnte ihm das eine geben, was er von ihr nie bekommen hatte: Ich erwiderte seine Liebe.

„Wenn du wirklich glücklich bist und ihr einander gleich stark liebt, dann ist das super“, sagte James. „Viel Glück euch beiden. Aber wenn es nicht so ist – wenn du eines Tages aufwachst und erkennst, dass du dich zwingst, ihn zu lieben, weil du denkst, damit würdest du das Richtige tun, und ihn nicht liebst, weil er dich glücklicher macht, als du es je zuvor gewesen bist –, dann will ich sicher sein, dass du weißt, dass du eine Wahl hast. Und wenn du jemals gehen willst, musst du es nur sagen, und ich gehe mit dir.“

Ich stürmte zum Eingangsportal des Hauses und zerrte mit aller Kraft am Griff. „Super, also wenn ich je beschließen sollte, dass mein Leben mit Henry es nicht wert ist, seh ich zu, dass ich dir Bescheid sage. Hilf mir mal, verdammt!“

James sagte kein Wort, als er neben mich trat und die schweren Türen öffnete, als wären sie federleicht. Ich schlüpfte hindurch und zwang mich zu lächeln, in der Erwartung, Henry würde mir entgegenblicken. Doch die prachtvolle Eingangshalle aus Spiegeln und Marmor war leer.

„Wo sind denn alle?“, fragte ich, und mein Lächeln verblasste.

„Sie warten auf dich, nehm ich mal an.“ James trat hinter mir ein, und die Tür fiel krachend ins Schloss. Das Dröhnen hallte durch das riesige Foyer.

„Du hast doch nicht gedacht, dass wir hierbleiben, oder?“

„Ich wusste nicht, dass es noch einen anderen Ort gibt, an dem sie auf uns warten könnten.“

Behutsam legte er mir den Arm um die Schultern, doch als ich ihn abschüttelte, schob er die Hände in die Taschen. „Natürlich gibt es einen anderen Ort. Komm mit.“

James führte mich in die Mitte des Foyers, wo mitten im Marmorboden eine kreisrunde kristallene Fläche in allen Regenbogenfarben schimmerte. Als ich zum anderen Ende der Halle weitergehen wollte, griff er nach meiner Hand und hielt mich zurück.

„Hier geht’s lang“, erklärte er und blickte nach unten.

Ich starrte auf den Kristall unter meinen Füßen, und schließlich sah ich es. Eine seltsame schimmernde Aura schien von der Stelle auszugehen, an der wir standen, und ich sprang aus dem Kreis. „Was ist das?“

„Hat Henry dir nicht davon erzählt?“, fragte James, und ich schüttelte den Kopf. „Es ist ein Portal zwischen dem Jenseits und der Unterwelt. Absolut sicher, versprochen. Die sind wie Abkürzungen, damit wir nicht den langen Weg nehmen müssen.“

„Den langen Weg?“

„Wenn du weißt, wo du suchen musst, kannst du einen Durchlass in die Unterwelt finden und durch diverse Höhlen und so Zeugs wandern“, erklärte er. „Dunkel, bedrückend, zeitraubend und beunruhigend, wenn du ein Problem damit hast, das Gewicht von Millionen Tonnen Felsgestein über deinem Kopf zu spüren.“

„Unter der Oberfläche ist nichts als Lava und Dreck“, gab ich zurück und ignorierte die Vorstellung, lebendig begraben zu sein. „Das lernt man in der ersten Klasse.“

„Wir sind Götter. Wir sind hervorragend darin, unsere Spuren zu verwischen“, erwiderte James und grinste jungenhaft. Diesmal nahm ich seine Hand, als er sie mir anbot, und trat zurück in den Kreis.

„Was könnt ihr noch so?“, grummelte ich. „Wasser in Wein verwandeln?“

„Das ist Xanders Spezialität“, sagte er. „Ich bin überrascht, dass er das Tote Meer noch nicht in einen riesigen Sangria-Eimer verwandelt hat. Ist ihm wahrscheinlich zu salzig. Was mich angeht: Ich kann alles und jeden finden – und jeden Ort, den du suchst. Ist dir nicht aufgefallen, dass wir uns in Griechenland kein einziges Mal verlaufen haben?“

„Bis auf das eine Mal.“

„Da waren wir auch nicht wirklich falsch“, erinnerte er mich.

„Trotzdem.“ Ich warf ihm einen Blick zu, und er wurde rot. „Ich dachte, du kennst die Gegend einfach gut.“

„Hab ich auch, zumindest vor Tausenden von Jahren. Seitdem hat’s ein paar Veränderungen gegeben. Mach die Augen zu.“

Um uns herum wirbelte eine Woge beinah elektrischer Energie, und ein Brüllen erfüllte meine Ohren. Ohne Vorwarnung verschwand der Boden unter unseren Füßen, und ich kreischte.

Vor Schreck schien mein Herz stillzustehen, und unwillkürlich riss ich die Augen auf, als ich versuchte, mich von James zu lösen, doch er umklammerte mich mit Armen wie aus Stahl. Wir waren umgeben von Felsgestein – nein, wir waren im Gestein, und wir fielen hindurch, als wäre es durchlässig wie Luft. James’ Gesichtsausdruck war so ruhig wie immer, als wäre es vollkommen normal, durch Fels und Erde und Gott weiß was noch zu rasen.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, doch schon ein paar Sekunden später landeten meine Füße wieder auf festem Boden. James löste seinen Griff um meine Schultern, doch meine Knie zitterten so sehr, dass ich mich weiter an ihm festklammerte, obwohl ich ihm am liebsten eine gescheuert hätte.

„War doch gar nicht so schlimm, oder?“, fragte er fröhlich, und ich starrte ihn wütend an.

„Dafür krieg ich dich“, fauchte ich. „Du wirst es nicht kommen sehen, aber wenn’s vorbei ist, wirst du wissen, wofür es war.“

„Ich freu mich schon drauf“, erwiderte er, und schließlich fühlte ich mich sicher genug, allein stehen zu können. Ich schluckte meine Antwort herunter, während ich mich umsah und feststellte, dass wir uns in einer gewaltigen Kaverne befanden, so groß, dass ich die Decke nicht sehen konnte. Dass wir unter der Erde waren, konnte ich – abgesehen von unserem grauenhaften Abstieg gerade – nur daran erkennen, dass es kein Sonnenlicht gab.

Toll. Anscheinend lebte Henry in einer Höhle.

Statt eines Himmels liefen Adern aus Kristall durch die Felsen, von denen ein schimmerndes Licht ausging, das die gesamte Höhle erleuchtete. Gigantische Stalagmiten und Stalaktiten vereinten sich zu zwei Reihen von Säulen, die unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnten. Zu meiner Erleichterung bildeten sie denn auch eine Allee, die zu einem prachtvollen Palast aus glänzendem schwarzen Stein führte, der aussah, als wäre er direkt aus der Felswand gewachsen.

„Wenn du gestattest“, setzte James an. „Lass mich der Erste sein, der dich im Namen des Rates in der Unterwelt willkommen heißt.“

Ich öffnete den Mund, doch bevor ich etwas sagen konnte, drang Henrys wütendes Gebrüll an meine Ohren, und ich fiel auf die Knie, als die Welt um mich herum in Schwärze versank.

2. KAPITEL

DIE GABE

Direkt vor mir erschien Henry, das Gesicht so wutverzerrt, dass ich zurückzuckte. Er war in der Unterwelt, umgeben von dem gleichen kristallgeäderten Felsgestein, das ich bei meiner Ankunft gesehen hatte, doch die Höhle war nicht dieselbe. Diese war so weitläufig, dass ich das andere Ende nicht erkennen konnte, und leer bis auf ein gigantisches Gittertor, das aussah, als würde es aus der Wand selbst bestehen.

Henry erhob die zitternden Hände gegen einen dichten Nebel, der durch die steinernen Gitterstäbe sickerte, den Kiefer angespannt. Seine Brüder Walter und Phillip standen ihm zur Seite, doch es war offensichtlich, dass Henry in dieser Schlacht der General war.

„Es wird nicht funktionieren“, erklang eine mädchenhafte Stimme, bei der mein Innerstes zu Eis gefror. Hinter Henry stand Calliope, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. „Er ist bereits wach.“

„Warum?“, fragte Henry, und seine Stimme klang gepresst. „Bist du wirklich so wahnsinnig, dass du das für die Lösung hältst?“

Doch was auch immer er damit meinte, ich bekam keine Gelegenheit, es herauszufinden. Henry und seine Brüder verschwanden, und ich öffnete die Augen und sog gierig die kühle feuchte Luft der Höhle ein, in der der Palast sich befand. Irgendwie war ich auf Händen und Knien gelandet, und James kniete neben mir, die Stirn gerunzelt, während er mir über den Rücken strich.

„Geht’s dir gut?“, fragte er.

„Was ist passiert?“ In der Ferne erblickte ich zwei Gestalten, die auf uns zukamen, und verspannte mich. Es konnten nicht Henry und Calliope sein. Er würde sie niemals in meine Nähe lassen.

„Nichts“, antwortete James unsicher. „Hast du dir den Kopf gestoßen?“

Ich war zu beschäftigt damit, die zwei Silhouetten zu beobachten, um zu reagieren. James schien nicht beunruhigt, also konnte es nicht Calliope sein – aber hatte er die Höhle mit dem Tor gesehen? Wusste er, dass sie da draußen war und gegen Henry und seine Brüder kämpfte?

Endlich waren die zwei Gestalten nah genug, um sie zu erkennen. Erleichterung erfasste mich. „Mom“, rief ich und stand mit zittrigen Knien auf. James stützte mich, und ich schaffte ein paar Schritte auf sie zu.

Meine Mutter, die jahrelang gegen den Krebs gekämpft hatte, der sie schließlich getötet hatte, strahlte vor Schönheit, als sie mir entgegentrat. Noch immer hatte ich mich nicht an den Gedanken gewöhnt, dass sie eine Göttin war und diese Tatsache mir gegenüber achtzehn Jahre lang nicht erwähnt hatte. Doch in diesem Moment war alles, wonach ich mich sehnte, dieses klaffende Loch in meiner Brust zu schließen, das in den sechs Monaten, die ich fort gewesen war, immer größer geworden war.

„Hallo, Liebes“, begrüßte sie mich und schloss mich in die Arme. Tief sog ich ihren Duft ein – Äpfel und Freesien – und erwiderte ihre Umarmung mit Nachdruck. Ich hatte sie mehr vermisst, als ich je würde in Worte fassen können, und wenn es nach mir ging, würde mich niemand dazu bringen, auch nur für kurze Zeit von ihrer Seite zu weichen.

„Was war das denn gerade?“, erklang eine zweite Stimme. Ava. Meine beste Freundin und der Grund, warum ich Henry überhaupt getroffen hatte. Noch eine, die mich bezüglich ihrer Sterblichkeit belogen hatte. „Kate hat ausgesehen, als hätte sie einen Anfall.“

„Kein Grund zur Besorgnis. Es ist nichts, was sich nicht mit ein wenig Übung kontrollieren ließe“, erwiderte meine Mutter und berührte meine Wange. „Wie ich sehe, hast du ordentlich Sonne abgekriegt. War es schön in Griechenland?“

Sie löste sich von mir, und Ava schloss mich in die Arme. „Du siehst hinreißend aus! Wie braun du bist – ich bin so neidisch. Hast du dir die Haare gefärbt? Sie sehen heller aus.“

Suchend blickte ich über ihre Schulter hinweg, doch der Weg zu dem Obsidian-Palast war leer. Henry war doch nicht zu meiner Begrüßung gekommen. Mir wurde das Herz schwer, und ich mied James’ Blick. Ich wollte sein selbstgefälliges Grinsen nicht sehen. „Was meinst du damit: ‚Mit etwas Übung kann man es kontrollieren‘?“

„Deine Gabe natürlich.“ Das Lächeln auf dem Gesicht meiner Mutter verblasste. „Bitte sag mir, dass Henry dir das letzten Winter erklärt hat.“

Ich knirschte mit den Zähnen. „Wie wär’s, wenn ab jetzt alle davon ausgehen, dass Henry, wenn er mir irgendetwas eigentlich erklärt haben sollte, es nicht getan hat? Wäre das machbar?“

„Hat wahrscheinlich gedacht, du überlebst nicht lange genug, dass es eine Rolle spielt“, murmelte James.

Ava ignorierte ihn und hakte sich bei mir unter. „Du bist heute aber mies drauf.“

„Wärst du auch, wenn du durch ein Loch im Fußboden gefallen und in der Hölle gelandet wärst“, gab ich zurück.

Meine Mutter ergriff meinen anderen Arm, und James trottete hinter uns her, als wir auf den Palast zugingen. „Lass Henry nicht hören, dass du diesen Ort Hölle nennst“, warnte sie mich. „Da ist er ziemlich empfindlich. Dies ist die Unterwelt, nicht die Hölle. Es ist der Ort …“

„… an den die Leute gehen, wenn sie sterben“, unterbrach ich sie. „Ich weiß. So viel hat er mir verraten. Wo ist er?“

Doch während ich fragte, hatte ich das ungute Gefühl, dass ich das nur zu gut wusste.

„Er und einige der anderen mussten sich um etwas kümmern“, antwortete meine Mutter vage. „Sie werden vor deiner Krönungszeremonie heute Abend zurück sein.“

„Hat dieses Etwas zufällig mit einem riesigen Tor und Calliope zu tun?“

Ava blieb abrupt stehen, und ich zog an ihrem Arm, doch sie weigerte sich standhaft, weiterzugehen. „Woher weißt du das?“

Ich zuckte mit den Schultern. „Das hab ich vorhin versucht zu erklären – ich hab’s gesehen, gerade eben.“

Oben in der normalen Welt wäre ich für solche Visionen eingewiesen worden, aber meine Mutter blinzelte nicht einmal. „Ja, Liebes, das wird von Zeit zu Zeit passieren, und nach einer Weile wirst du lernen, es zu kontrollieren.“

„Toll“, erwiderte ich gereizt. „Könntest du mir wenigstens erklären, was es ist?“

„Kein Grund, sich aufzuregen“, erklärte meine Mutter, und mein Ärger löste sich augenblicklich in Luft auf. Sie mochte nicht mehr im Sterben liegen, aber nachdem ich sie vier Jahre lang zwischen Leben und Tod hatte schweben sehen, hatte ich es verlernt, wütend auf sie sein zu können. Sechs Monate ohne sie hatten daran nichts geändert.

„Tut mir leid“, murmelte ich, als ich von Schuldgefühlen erfasst wurde. Kurz blickte ich zu James, der sich im Hintergrund hielt, die Hände in die Taschen geschoben und das blonde Haar so verwuschelt, dass es sein Gesicht verbarg. Doch ich wollte Antworten und keinen weiteren Vortrag darüber, dass ich eine Wahl hatte. „Was geht hier vor? Warum konnte ich Henry sehen?“

Meine Mutter legte mir den Arm um die Schultern, und ich lehnte mich gegen sie. „Warum gehen wir nicht rein, wo wir es gemütlich haben, und besprechen dann alles?“

Irgendwie bezweifelte ich, dass ich je wirklich alles erfahren würde, was es über meine neue Familie zu wissen gab. Aber meine Jeans war feucht vom Herumkriechen auf dem Boden, und je früher wir in den Palast kamen, desto früher würde ich Henry sehen. Und dann …

Und dann was?

Erneut musste ich an James’ Angebot denken. Es beschäftigte mich derart, dass ich es nicht länger ignorieren konnte. Er irrte sich. Er musste sich einfach irren. Ich hatte überlebt; ich hatte die Prüfungen bestanden, und Henry liebte mich. Wenn wir uns erst wiedersahen, würde sofort alles einen Sinn ergeben, alles wäre richtig und endlich wieder normal. Und ich würde mich wie eine Idiotin fühlen, dass ich Henry je infrage gestellt hatte.

Der Weg war kürzer, als ich gedacht hatte, und führte zu einem weitläufigen Hof vor dem Palast. Statt Blumenbeeten und Bäumen war der Boden von herrlichen Juwelen in allen Regenbogenfarben übersät, die im Licht funkelten. Genau wie die Gärten meiner Mutter Kunstwerke waren, war dies ein Meisterstück, und ich konnte die Augen nicht davon abwenden.

„Persephone hat ihn entworfen“, erklärte Ava, während wir auf die imposanten Tore zugingen. Ich biss mir auf die Zunge, um nichts Unfreundliches zu erwidern. Bisher hatte ich keinen Gedanken darauf verwendet, wie sehr die Unterwelt Henry an Persephone erinnern musste. Nachdem sie Jahrtausende miteinander verbracht hatten, würde es ohnehin unmöglich für mich sein, jede Einzelheit von ihr aus Henrys Erinnerung zu verbannen. Doch ich war nicht darauf vorbereitet, schon so bald mit ihrem Bild konfrontiert zu werden.

Ich holte tief Luft. Alles würde gut werden. Ich hatte bloß Jetlag, das war alles, und sobald ich mich ein bisschen erholte und Henry wiedersah, wäre alles wieder normal. Mich über jede Kleinigkeit aufzuregen würde mir gar nichts bringen.

Die Eingangshalle war vollkommen anders, als ich erwartet hatte. Im Gegensatz zu der Dunkelheit außerhalb des Palasts war es drinnen hell und freundlich. Die roten Wände und Spiegel ähnelten denen von Eden Manor. Doch dieser Raum war kleiner, irgendwie heimeliger. Von den goldenen Zierleisten um die Spiegel bis hin zu den braunen Ledermöbeln, die im Korridor verstreut standen, wirkte alles warm und freundlich, kein bisschen Furcht einflößend.

Es gefiel mir.

„Hier wohne ich den Winter über?“, vergewisserte ich mich, und meine Mutter nickte.

„Das ist der Privatflügel des Palasts, nur für dich, Henry und eure Gäste.“

„Es gibt Gäste?“

Ava hüpfte neben mir auf und ab und kugelte mir beinahe den Arm aus. „Wie uns zum Beispiel, du Dummerchen. Im Moment ist der gesamte Rat hier, um bei deiner Krönung dabei zu sein.“

„Alle?“ Mir wurde der Mund trocken. „Ich dachte, es wären bloß Henry und ich. Und ihr.“

„Natürlich ist der gesamte Rat hier. Henry krönt heute Abend eine neue Königin der Unterwelt“, erinnerte mich meine Mutter, während sie mich sanft einen anderen Gang entlangschob. „Das kommt nicht besonders oft vor.“

Sie schien den Weg genau zu kennen, und ich verzagte innerlich. Sie musste hier viel Zeit mit Persephone verbracht haben – schließlich war sie ihre Tochter, meine Halbschwester. Die Vertrautheit meiner Mutter mit diesem Palast erinnerte mich erneut daran, wie tief Persephone in Henrys Leben verwurzelt gewesen war. Wie sehr die Erinnerung an sie noch immer lebendig war.

„Dein Schlafzimmer“, sagte Ava und deutete auf eine kunstvoll verzierte Tür am Ende des Ganges. Gerade wollte ich fragen, woher sie das wusste, doch als wir näher kamen und ich die fein ausgearbeiteten Schnitzereien wiedererkannte, blieben mir die Worte im Hals stecken.

Es war genau dieselbe Tür, die in Eden Manor zu Persephones Schlafzimmer führte. Auf der oberen Hälfte war eine wunderschöne Wiese zu sehen, und irgendwie hatte der Künstler es geschafft, den Eindruck von Sonnenschein in das Holz einzuarbeiten. Darunter lag die Unterwelt mit ihren Steinsäulen und Juwelengärten. Mit großer Anstrengung brachte ich hervor: „Glaubt ihr, es macht Henry etwas aus, wenn ich das hier ein bisschen umgestalte?“

Ava und meine Mutter tauschten einen verwirrten Blick, doch James, der bis dahin geschwiegen hatte, trat vor. Aber ich wollte sein Mitleid nicht. Oder sein Verständnis. Henry war beschäftigt, er ignorierte mich nicht, und er konnte unmöglich gewusst haben, dass sich eine einfache Tür für mich wie ein Schlag in die Magengrube anfühlen würde. Ich wollte nicht, dass er zwischen mir und seiner toten Frau wählte; ich wollte nur, dass ich in seinem jetzigen Leben wichtiger war. Vielleicht würde es eine Weile dauern, doch diese Zeit war ich bereit zu investieren, wenn Henry das auch war.

Ich schüttelte den Kopf. Natürlich war er das. Er war es gewesen, der am Flussufer auf mich zugekommen war. Er war es, der mich während meiner Zeit in Eden beschützt hatte. Er war es, der mich von den Toten zurückgeholt hatte. Er war es, der danach so gut wie jede wache Minute an meinem Krankenbett verbracht hatte. Ich war ihm wichtig. Das war offensichtlich.

Aber das war, bevor der Rat dir die Unsterblichkeit gewährt hat, ertönte eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, die verdächtig nach James klang. Meine Mutter war Henrys Lieblingsschwester. Vielleicht wollte er mich nur um ihretwillen beschützen.

Ich schob den Gedanken beiseite, wollte keinen Elefanten aus einer Mücke machen. Henry würde bald hier sein, und er konnte mich nicht den ganzen Winter über meiden. Selbst wenn er immer noch Bedenken hatte, würden wir darüber reden. Es war ja nicht so, als wäre ich nicht genauso nervös.

„Das hier ist jetzt dein Zuhause, und du solltest tun, was du möchtest, damit du dich wohlfühlst“, setzte James an. „Wenn Henry dich wirklich liebt, wird er das verstehen.“

„Wie kannst du so etwas sagen?“, fuhr Ava ihn entsetzt an. „Natürlich liebt er sie. Ich sollte es ja wohl wissen.“

„Ja“, gab er knapp zurück. „Das solltest du. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich hab noch zu tun.“

Er gab mir einen kurzen Kuss auf die Wange, bevor er an Ava und meiner Mutter vorbeirauschte. Zu dritt blickten wir ihm hinterher. Ich gab mir alle Mühe, es mir nicht zu sehr zu Herzen zu nehmen, aber der Gedanke, James sechs Monate lang nicht zu sehen, nachdem ich den gesamten Sommer mit ihm verbracht hatte, war schwer zu verdauen. Wie auch immer seine Gefühle für mich aussahen, er war immer noch mein Freund.

„Ich seh mal nach, was mit ihm los ist“, sagte meine Mutter, als James schließlich außer Sichtweite war.

„Danke“, murmelte ich. „Als wir in Griechenland waren, hat er sich nicht so benommen.“

Sie seufzte. „Ja, das kann ich mir vorstellen.“ Mit einer letzten Umarmung fügte sie hinzu: „Ich sehe vor der Zeremonie noch mal nach dir. Ava, bleib bei ihr, bis Henry zurück ist.“

„Hatte ich vor“, beruhigte Ava sie, und nachdem meine Mutter James hinterhergeeilt war, drehte sich Ava mit einem verschmitzten Grinsen zu mir um. „Und, willst du sehen, wo’s rundgeht?“

Bei meinem erstaunten Gesichtsausdruck bekam sie einen Lachanfall und beruhigte sich erst wieder, als ich damit drohte, meiner Mutter zu folgen.

„Tut mir leid, es ist bloß … Du bist so prüde.“

Das würdigte ich keiner Antwort. Das einzige Mal, das ich mit Henry geschlafen hatte, war, nachdem ich ein Aphrodisiakum genommen hatte, das uns Calliope untergejubelt hatte. Obwohl Henry bei der Erkenntnis, dass ich bei einer Prüfung versagt hatte, in rasende Wut verfallen war – ein Teil von mir hoffte noch immer, dass es für ihn genauso schön gewesen war wie für mich. Seitdem hatten wir nicht mehr miteinander geschlafen, aber jetzt, wo wir verheiratet waren, erwartete er es vielleicht.

Ich war mir nicht sicher, was ich schlimmer fand: den Gedanken, dass Henry von mir erwarten könnte, mit ihm zu schlafen, oder die Möglichkeit, dass er vielleicht gar nicht mit mir schlafen wollte.

Schließlich stieß Ava die Tür auf und gab den Blick frei auf eine weitläufige Schlafzimmer-Suite, die sich dahinter verbarg. Der weiche Teppich war cremefarben, und die Wände waren in demselben satten Rot gestrichen wie die Eingangshalle. Auf einer kleinen Erhöhung in der Mitte stand ein breites Bett mit golden bezogenen Decken und Kissen. Es war perfekt, und ich hasste mich dafür, dass es mir so gut gefiel.

„Bitte sag, dass irgendwer die Laken gewechselt hat, seit Persephone hier gewohnt hat“, murmelte ich, und Ava lachte wieder.

„Natürlich. Ich hab Henry sogar dazu überredet, dass ich für dich alles neu einrichten durfte. Ich dachte, die Tür würde dir nichts ausmachen, sonst hätte ich die auch ausgetauscht.“

Der Stein in meinem Magen löste sich schlagartig in Luft auf. „Wie wär’s, wenn du damit nächstes Mal gleich rausrückst?“ Gespannt begann ich die Suite zu erkunden. Gemütliche Möbelstücke standen überall verstreut, darunter zwei Sofas, ein Sekretär und ein Schminktisch. Aus dem breiten Panoramafenster hatte man einen fantastischen Blick auf den Palasthof – und die Juwelengärten. Ich zog die Vorhänge zu.

Ein aufgeregtes hohes Bellen ertönte hinter mir, und ich drehte mich gerade rechtzeitig um, um Pogo, den kleinen Hund, den Henry mir letzten Winter geschenkt hatte, auf mich zuflitzen zu sehen. Seine kleinen Beinchen kamen kaum hinterher bei dem Tempo, das er draufhatte, und er wedelte so begeistert mit dem Schwanz, dass ich Angst hatte, er würde irgendwo anstoßen und ihn sich brechen.

„Pogo“, begrüßte ich ihn, nahm ihn hoch und drückte ihn an meine Brust. „Du bist kein Stück gewachsen, was? Wo ist Cerberus?“ Er leckte mir die Wange, und ich musste grinsen. Endlich lief mal etwas gut.

„Cerberus hat hier unten seinen eigenen Job“, erklärte Ava von der anderen Seite des Zimmers her. „Ich hab mich für dich um Pogo gekümmert – hab ihm sogar ein paar neue Tricks beigebracht.“

Mein Grinsen verblasste. „Ich dachte, Henry würde sich um ihn kümmern.“ Henry hatte mir Pogo geschenkt, um mir zu zeigen, dass er sich eine feste, lange Beziehung mit mir wünschte. Und statt sich wie versprochen um ihn zu kümmern, hatte er ihn den Sommer über an Ava abgeschoben? Ich schloss die Arme fester um Pogo.

„Er hat manchmal ziemlich viel zu tun“, beschwichtigte mich Ava, während ich den Raum durchquerte, um mich zu ihr zu stellen. „So, das hier ist dein Kleiderschrank. Ich hab Henry sogar überreden können, dass ich diesmal an Ellas Stelle deine Kleider aussuchen durfte.“

Ella war während meiner Zeit in Eden gemeinsam mit Calliope so etwas wie meine Zofe gewesen. Während der ersten paar Monate hatte sie mich in die engsten Kleider der letzten tausend Jahre gesteckt, nur um mich leiden zu sehen. Ich hätte lieber die nächsten sechs Monate in ein Laken gewickelt verbracht, als mich in die Reifröcke und Korsetts zu zwängen, die Ella mir zweifellos in den Schrank gehängt hätte.

Ava öffnete eine Tür, und meine Augen wurden groß. Das war der größte Kleiderschrank, den ich je gesehen hatte. Voll bis oben hin mit einer langen Stange voller Jeans, stapelweise Blusen und Pullovern und einer ganzen Wand von Schuhen. Auch eine Abteilung mit Abendkleidern war dabei, aber die hatte Ava barmherzig klein gehalten.

„Ich dachte, du willst sie sowieso nicht, also hab ich mir die meisten für meine eigene Garderobe stibitzt“, gestand sie, während ich mit der Hand über eine schimmernde silberne Robe strich, die ich fast tragbar fand – hätte sich eine Gelegenheit dazu geboten. „Verrat’s nicht Henry.“

„Keine Angst.“ Ich ließ mich vor der Schuh-Wand auf die Knie sinken und sah mir das nächstbeste Paar genauer an. 37,5 – genau meine Größe. „Wenn ich dir was erzähle, versprichst du, es niemandem sonst zu sagen?“

Eine Sekunde später war sie an meiner Seite, und die Gier nach Klatsch, die in ihren Augen stand, brachte mich fast dazu, es mir noch einmal zu überlegen. Aber sonst hätte ich nur mit meiner Mutter und James reden können. Meiner Mutter gegenüber war mir diese Sache zu peinlich, und James – na ja, er war quasi das Problem.

„Natürlich“, flüsterte sie verschwörerisch. „Du weißt, dass du mir alles sagen kannst, ich verrat’s keiner Menschenseele.“

Ich wollte ihr glauben, doch da war immer noch die Erinnerung an das Mädchen aus Eden, das mich mit einem Trick dazu gebracht hatte, auf Henrys Besitz einzudringen – nur um dann zu versuchen, mich dort allein zurückzulassen. Die Sache war nach hinten losgegangen: Ava war gestorben, und Henry hatte angeboten, sie zu heilen, wenn ich sechs Monate eines jeden Jahres bei ihm bleiben würde. Seitdem war sie jedoch zu meiner besten Freundin geworden, und das konnte ich nicht einfach ignorieren.

„Es ist wegen James“, setzte ich an und hielt den Blick auf die Sandalette in meiner Hand gesenkt. Diese Schuhe würden perfekt zu dem silbernen Kleid passen. „Er hat gesagt, ich hätte eine Wahl. Dass ich nicht hier herunterkommen müsste, wenn ich nicht wollte.“ Ich bremste mich, bevor ich zu dem Teil kam, wo er mir angeboten hatte, mit mir gemeinsam fortzugehen. „Ich glaub, er ist eifersüchtig auf Henry.“

Statt mich auszulachen, setzte sich Ava neben mir auf den Fußboden. „Das kann durchaus sein. Keiner von uns war glücklich mit dem Gedanken, Henry könnte vergehen, aber wenigstens James hätte was davon gehabt.“

Ich schüttelte den Kopf. „Ich meine, nicht eifersüchtig auf die Herrschaft über die Unterwelt. Ich meine … eifersüchtig, dass er mich hat.“

„Oh.“ Avas Augen weiteten sich. „Oh. Du glaubst, James …“

Ich zuckte mit den Schultern. „Sieht irgendwie danach aus, oder? Wir haben den gesamten Sommer zusammen verbracht. Er war so glücklich und entspannt, solange wir in Griechenland waren. Aber jetzt, wo wir wieder hier sind, ist er plötzlich total launisch und eigen und will nicht mehr in meiner Nähe sein. Und ich glaube, es ist wegen Henry.“

„Weil Henry dich hat und er nicht.“ Nachdenklich tippte Ava sich mit einem Finger an die Wange. „Du weißt, wer ich bin, oder?“

Ich warf ihr einen misstrauischen Blick zu. War das eine Fangfrage? „Klar. Du bist Ava.“

„Und die Göttin von was?“, hakte sie nach und warf sich das blonde Haar über die Schulter.

Niemand hatte es mir je gesagt, aber von den vierzehn Ratsmitgliedern war Ava bei Weitem diejenige, die am leichtesten ihrem olympischen Gegenstück zuzuordnen war. Nach Henry natürlich. „Die Göttin der Liebe.“

Sie strahlte. „Sehr gut, obwohl du Schönheit und Sex vergessen hast.“

Ja, sie war definitiv Aphrodite. „Worauf willst du hinaus?“ Die meiste Zeit schaffte ich es, zu vergessen, wie umwerfend Ava war. Doch wenn es mir wieder einfiel, war es schwer, sich neben ihr nicht wie ein hässliches Entlein vorzukommen.

„Ich will darauf hinaus, dass ich bestimmte Gaben habe, und ich kann sehen, dass James dich liebt. Aber wir alle lieben dich, Kate. Du gehörst jetzt zur Familie.“

„Was für eine Art Liebe ist es? Bei James, meine ich.“

Sie stieß einen dramatischen Seufzer aus und tätschelte mir das Knie. „Dir das zu sagen wäre eine unverzeihliche Einmischung in James’ Privatsphäre, und ich muss bis auf absehbare Zeit mit ihm zurechtkommen.“

Daraufhin verdrehte ich nur die Augen. „Seit wann scherst du dich denn um die Privatsphäre anderer Leute?“

„Seit Henry vor zehn Sekunden aufgetaucht ist.“

Hektisch rappelte ich mich auf. Mit Schmetterlingen im Bauch stürmte ich aus dem begehbaren Kleiderschrank, blieb jedoch sofort stehen, als ich Henry auf dem Bett sitzen sah, die Hände gefaltet und das Gesicht versteinert. Er sah blass und erschöpft aus, und ich glaubte ein leichtes Zittern an seinen Händen zu entdecken, doch das war es nicht, was meine Aufmerksamkeit fesselte.

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