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Die Toten von Veere. Ein Zeeland-Krimi

Als Buch hier erhältlich:

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Malerische Kleinstadt - oder Schauplatz eines ungeheuren Verbrechens?
Ein Vermisstenfall in Zeeland, das gehört eigentlich nicht in den Zuständigkeitsbereich von Liv de Vries, Hoofdinspecteur der Landespolizei. Trotzdem folgt sie der Bitte ihres Vorgesetzten, der sie mit der Ermittlung in Veere nach einem missglückten Einsatz aus der Schusslinie nehmen will. Doch das Verschwinden des Kochs Rob van Loon ist weit mehr als ein Vermisstenfall. Er führt Liv zurück in die Vergangenheit – zu Esmée, einem Mädchen mit surinamischen Wurzeln, das vor vielen Jahren ebenfalls spurlos in Veere verschwand. Was hat Rob van Loon damit zu tun? Und warum ist plötzlich die rechte Szene an seinem Auffinden interessiert? Wo Menschen für gewöhnlich auf die Schönheit von Zeeland treffen – das Meer, kilometerlange Strände, beeindruckende Gebäude und eine bewegte Geschichte – stößt Liv de Vries auf unbequeme Wahrheiten, die auch sie ganz persönlich vor ein ernstes Problem stellen.


  • Erscheinungstag: 23.07.2024
  • Seitenanzahl: 576
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906604
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Westkapelle, Insel Walcheren, 03. Oktober 1944

»Ich denke nicht, dass wir hier in Gefahr sind.« Onkel Boetius zog an seiner selbst gedrehten Zigarette und ließ den Rauch durch die Nase entweichen.

Mareike verschränkte die Arme vor der Brust. »Und was, wenn du dich irrst?«

»Wenn dein Onkel sagt, dass es so ist«, fuhr ihre Mutter dazwischen, »dann ist es auch so.«

»Aber Hendrik hat gemeint …«

»Hendrik … Hör mir auf mit Hendrik!« Mutter schenkte ihr einen wütenden Blick. »Was weiß der Schustersohn schon davon? Und was hast du überhaupt mit dem zu schaffen?« Sie widmete sich wieder Onkel Boetius’ Socke, die sie mit Nadel und Faden stopfte.

Mareike erwiderte nichts mehr. Es hatte keinen Sinn, mit den beiden zu diskutieren, und sie wollte keine Fragen zu Hendrik beantworten. Sie betrachtete das zerknitterte Papier, das sie in Händen hielt. Es war eines jener Flugblätter, die die Royal Air Force gestern im Norden von Westkapelle abgeworfen hatte. Der Wind hatte die Papierwolke allerdings in Richtung Aagtekerke im Inneren der Insel geweht, sodass kaum jemand hier im Ort gelesen hatte, was auf den Blättern stand. Wie Onkel Boetius es geschafft hatte, eines zu ergattern, wusste nur der liebe Herrgott allein.

Natürlich hatten Gerüchte die Runde gemacht. Die Rede war von einer Warnung des alliierten Oberkommandos, die offenbar auch über den britischen Rundfunk verbreitet wurde.

Die Nachricht von den Flugblättern hatte Hendrik in Aufregung versetzt. Etwas ganz Übles stünde ihnen bevor, hatte er gesagt und war losgezogen, um Genaueres zu erfahren. Danach hatte Mareike nichts mehr von ihm gehört – bis heute Morgen. Sie würde nachher zu ihm gehen. Aber davon mussten Mutter und Onkel Boetius natürlich nichts wissen, so wie sie auch von allem anderen nichts wissen mussten.

Sie saßen an dem runden Holztisch in Onkel Boetius’ Küche. Mareike wohnte mit ihren Eltern und ihrem Bruder Henk im etliche Kilometer entfernten Veere. Onkel Boetius war allein, und Mareike und Mutter besuchten ihn mindestens einmal im Monat.

Boetius schnappte sich das Flugblatt aus Mareikes Hand. Er zog die Lesebrille aus der Brusttasche des Hemds und setzte sie auf. Dann überflog er kurz die Zeilen und deutete auf das Papier. »Hier steht es doch: An die Bewohner der Inseln in der Scheldemündung.« Boetius nahm die Brille wieder ab und gestikulierte damit. »Die Scheldemündung beginnt erst bei Vlissingen. Wir sind viel weiter nördlich. Uns wird also nichts geschehen.«

Letztendlich rechneten sie alle damit, dass es jeden Tag losgehen konnte. Die Engländer hatten im vergangenen Monat Antwerpen eingenommen. Nach allem, was man auf Radio Oranje hörte, drangen sie mit den Kanadiern in nördliche Richtung vor, im besten Fall war es nur eine Frage der Zeit, bis sie Walcheren befreiten. Die Insel gehörte zum Atlantikwall, und die Deutschen kontrollierten über die hier installierten Geschütze und Bunker die Scheldemündung und damit den Zugang zum Seehafen von Antwerpen, der für die Versorgung der alliierten Truppen von Bedeutung war.

»Da steht aber auch etwas von einer bevorstehenden Bombardierung und einer Überflutung«, wandte Mareike ein. »Sie schreiben, wir sollen die Insel verlassen oder einen sicheren Ort aufsuchen.«

Onkel Boetius stieß ein kehliges Lachen aus. »Einen sicheren Ort. Mädchen, wo soll der denn sein? Und der Sloedam ist dicht. Wo willst du also hin?«

Mareike gab es ungern zu, aber Onkel Boetius hatte recht. Der Sloedam war die einzige Verbindung zum Festland, und die Deutschen hatten den Überweg seit Beginn der Besatzung abgeriegelt.

Boetius zog einen grauen Pullover über, der inzwischen nur noch aus den diversen Flicken zu bestehen schien, mit denen Mutter die Löcher gestopft hatte.

»Selbst wenn«, sagte er, »unsere Deiche sind stabil. Was soll passieren?«

»Lasst uns von etwas anderem reden. Vielleicht essen wir erst mal etwas.« Mutter stand auf und ging zur Kochstelle neben dem Waschtrog hinüber. Sie öffnete die verbeulte Metallkanne, die sie mitgebracht hatten, und gab den Inhalt in einen Kochtopf. Mutter hatte Erbsensuppe vorbereitet, die sie nun schon am dritten Tag aßen, nachdem man mit den Lebensmittelkarten immer weniger Nahrungsmittel bekam und die Vorräte zur Neige gingen. Zum Glück machte Mareikes Bruder Henk eine Bäckerlehre. Wenigstens an Brot mangelte es ihnen nicht.

Sie sprachen nicht viel während des Essens.

Erst, als sie fertig waren und Mutter die Teller abgeräumt hatte, erzählte Onkel Boetius von Klaas und Jolanda de Wetering, die drei Häuser weiter wohnten. Mutter und Boetius hatten mit den beiden die Schule besucht. Die Polizei und der deutsche SD hatten in der vergangenen Nacht das Haus von Klaas und Jolanda gestürmt und sie aus ihren Betten gescheucht. Sie hatten vergessen, eine Kerze im Wohnzimmer zu löschen. Es konnte nur ein winziger Lichtschein gewesen sein, der nach draußen gedrungen war, doch die Verdunklung wurde nun noch rigoroser durchgesetzt.

Mutter schüttelte den Kopf. »Das sind keine Menschen mehr …«

»Was sollen sie denn machen?«, sagte Boetius. »Die Deutschen zwingen sie dazu.«

»Von denen rede ich ja. Dass unsere Leute nicht anders können, ist mir klar. Wobei ich mich manchmal frage, was wäre, wenn wir ihnen einfach nicht mehr gehorchen. Sie können uns schließlich nicht alle erschießen.«

Boetius rümpfte die Nase. »Da wäre ich mir nicht so sicher.«

Mutter erhob sich und begann mit dem Abwasch. Mareike half ihr, während Boetius sich der Zeitung widmete.

Sie trockneten die letzten Teller ab, als Mutter plötzlich innehielt. »Was ist das?«

Mareike brauchte einen Moment, bis sie begriff, was Mutter meinte. Dann hörte sie es auch. Es war ein tiefes Brummen, das rasch näher kam.

Mutter ließ den Teller, den sie in der Hand hielt, ins Spülbecken fallen. Sie eilte Boetius hinterher, der bereits auf dem Weg nach draußen war. Mareike folgte ihnen. Sie hatten die Haustür erreicht, als der Lärm der Flugabwehrgeschütze losbrach, die in den Dünen stationiert waren.

Auf der Straße waren die Leute stehen geblieben, auch die Nachbarn kamen aus ihren Häusern.

Mareike legte die Hand schützend vor die Augen. Einige größere Wolken hingen am Himmel, dazwischen Flecken von Blau. Sie konnte drei Maschinen ausmachen, die über den Ort flogen, etwas abwarfen und anschließend in einer weiten Schleife beidrehten und wieder in Richtung offenes Meer verschwanden.

»Was machen die?«, fragte Mareike.

»Das sind Markierungsbomben.« Jegliche Gelassenheit war aus Onkel Boetius’ Gesicht gewichen. »Kommt. Uns bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen uns in Sicherheit bringen.«

Mutter wollte ins Haus zurück, doch Boetius hielt sie am Arm. »Nein.« Er überlegte kurz. »Die Mühle … Wir gehen zur Mühle, dort gibt es einen Keller.«

Ihre Mutter hakte sich bei Mareike unter, und sie folgten Boetius im Laufschritt die Straße hinunter. Die Kornmühle befand sich am südlichen Ende von Westkapelle in der Nähe des Seedeichs.

»Die Wände sind einen Meter dick …«, keuchte Boetius im Laufen, »… und sie hat ein stabiles Holzständerwerk.«

Sie waren nicht die Einzigen, die Schutz in der Mühle suchten. Die Kellertüren standen offen, als sie ankamen, und die Menschen strömten hinein. Der Müller band auf der Wiese die Geißen los, dann kam er zu ihnen hinüber und deutete in den Himmel. »Beeilt euch, sie kommen.«

Mareikes Blick folgte seiner ausgestreckten Hand. Über dem Meer erkannte sie eine Gruppe von Flugzeugen, die sich wie ein gigantischer Vogelschwarm der Insel näherten. »Wie viele sind das?«

»Es … Herrgott … Es müssen Hunderte sein. Das sind Lancasters, schwere Bomber.« Boetius schob Mareike weiter.

»Gott steh uns bei!«, entfuhr es Mutter.

Sie folgten den anderen in den Keller. Der Müller stieg als Letzter zu ihnen herunter und verriegelte die Tür hinter sich.

Mareike blickte sich um. Im Schein der wenigen Kerzen, die brannten, war es schwer, jemanden zu erkennen. Sie sah die Schemen von einigen Dutzend Menschen, die mit ihnen hier unten Schutz suchten.

Über ihnen brach die Hölle los. Das Brummen der Flugzeugmotoren, der Lärm der Luftabwehr, das Pfeifen der herabfallenden Bomben, die Explosionen. Mit jeder Detonation bebten die Wände. Schmutz und Staub rieselten zu ihnen herunter. Mutter klammerte sich an Mareike. Manche Frauen und Kinder weinten, sogar Männern entfuhren Schreckensschreie.

Ihre Hand glitt in die Tasche ihrer Jacke und umfasste den Brief, den Hendrik ihr geschrieben hatte. Sie sollte ihn nach dem Lesen direkt vernichten, hatte darin gestanden, doch sie hatte es nicht übers Herz gebracht, wollte die Zeilen, in denen er schrieb, wie sehr er sie vermisste, immer und immer wieder lesen. Ob sie ihn wiedersehen würde?

Mareike wusste nicht, wie lange es andauerte, es kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Als die Explosionen nachließen und sie glaubte, sie hätten das Schlimmste überstanden, geschah es. Ein ohrenbetäubender Knall, eine Druckwelle. Dann stürzte alles auf sie ein. Steine, Balken, Säcke mit Korn, Staub, Splitter.

Um Mareike herum wurde alles schwarz.

Als sie wieder zu sich kam, hatte das Bombardement endgültig aufgehört. Auch die Flugabwehr feuerte nicht mehr. Es herrschte Stille.

Nun war nur noch leises Jammern und Stöhnen zu hören.

Etwas lag auf ihr. Ein Kornsack, dachte sie zuerst. Doch als sie danach griff, merkte sie, dass es ein menschlicher Körper war. Sie schob ihn von sich.

»Mutter? Boetius?«

Sie erhielt keine Antwort.

Mareike versuchte, auf die Beine zu kommen, als jemand rief: »Still! Seid alle still, verflucht!«

Als alle schwiegen, hörte Mareike es ebenfalls. Ein leises Plätschern irgendwo zwischen den Steinen, die auf sie herabgestürzt waren.

»Bleibt ruhig«, sagte eine Männerstimme in die Dunkelheit hinein. »Neben der Mühle ist ein kleiner Graben. Da steht immer ein Wasser … Das kann nicht viel sein. Helft mir, den Ausgang …«

»Nein! Probiert es … Das ist salzig. Sie haben den Deich getroffen!«

Im selben Moment hörte Mareike draußen jemanden schreien: »Das Wasser kommt!«.

TEIL 1

EIN GEFALLEN UNTER FREUNDEN

1

Rotterdam, heute

Der Einsatz drohte zu scheitern, noch bevor er begonnen hatte.

Liv de Vries, Hoofdinspecteur des Dienst Landelijke Recherche, der Landeskriminalpolizei, steuerte ihren schwarzen Renault Mégane durch die Straßen des Rotterdamer Viertels Delfshaven. Die Stadt erwachte gerade erst zum Leben. Links und rechts brannte vereinzelt Licht in den Fenstern der Häuserzeilen aus rotem Backstein. Nur wenige Leute waren auf der Straße unterwegs, der einzige Umstand, der Liv an diesem Tag bislang in die Karten spielte.

Nach vielen Jahren wieder in Delfshaven zu sein, rief unweigerlich Erinnerungen wach. Hier, in diesem Viertel, das im Schatten des Euromasts lag, hatte sie einen Großteil ihrer Kindheit und Jugend verbracht. Unter anderen Umständen wäre sie vielleicht an dem Haus vorbeigefahren, das sie mit ihren Eltern und den Großeltern bewohnt hatte, um zu sehen, was daraus geworden war. Doch dafür hatte sie keine Zeit.

Liv stoppte den Wagen an der Polizeiabsperrung, die einen halben Kilometer von ihrem eigentlichen Ziel entfernt lag. Man hatte den Einsatzort weiträumig abgeriegelt. Zwei Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht versperrten den Weg. Die uniformierten Kollegen waren mit schusssicheren Westen und Maschinenpistolen ausgestattet.

Einer der Männer trat an ihren Wagen heran. Liv ließ das Fenster herunter und zeigte ihren Dienstausweis. Der Dienst Landelijke Recherche befasste sich auf nationaler Ebene unter anderem mit organisierter Kriminalität, Terrorismus und Cyberverbrechen.

Der Streifenbeamte hob das Absperrband an und ließ sie passieren. Liv fuhr weiter.

Die Straßen waren menschenleer. Am Himmel über den Hausdächern zeigte sich das erste Morgenlicht. Hinter den Fenstern erkannte Liv hier und da die Gesichter von Menschen, die versuchten, einen Blick auf die Geschehnisse zu erhaschen. Man hatte die Anwohner, deren Wohnungen hinter der Absperrung lagen, aufgefordert, in ihren Häusern zu bleiben. Die Evakuierung des gesamten Viertels wäre in der kurzen Zeit nicht möglich und wenig sinnvoll gewesen. Solange sich die Leute nicht im Freien aufhielten, waren sie in sicherer Distanz.

Liv bog in eine Seitenstraße ab und parkte den Renault hinter dem Einsatzwagen des Sonderkommandos. Ein Kranken- und ein Notarztwagen standen ebenfalls dort. Bevor sie ausstieg, griff sie nach dem Plastikbecher, der in der Halterung am Armaturenbrett steckte, und führte ihn an die Lippen. Der Kaffee war kalt geworden. Sie hatte die Fahrt von Amsterdam hierher in unter einer Stunde bewältigt und dabei vielleicht zwei Schluck getrunken. Die ganze Zeit über hatte sie über Handy mit dem Polizeiführer in Kontakt gestanden, der den Einsatz koordinierte. Der Mann hatte sie auf dem Laufenden gehalten und das Vorgehen mit ihr abgesprochen, wobei sich die Lage rasch zu ihren Ungunsten entwickelt hatte.

Liv stieg aus und ging an den Männern des Sonderkommandos vorüber, die neben schusssicheren Westen noch mit Helmen und Sturmhauben ausgestattet waren. Sie warteten auf weitere Befehle.

Als Angehörige der Landespolizei arbeitete Liv in aller Regel mit den zuständigen Polizeistellen vor Ort zusammen. Dieser Einsatz lag in Händen der Rotterdamer Kollegen, und Liv machte ihnen keinen Vorwurf, dass die Lage derart verfahren war. Es hatte alles damit angefangen, dass der Hinweis mitten in der Nacht eingegangen war. Eigentlich hätte ein Einsatz dieser Art sorgfältiger Vorbereitung bedurft, doch dazu hatten sie keine Zeit, schnelles Handeln war erforderlich. Deshalb hatte Liv den Zugriff auch befohlen, als sie sich noch auf der Autobahn befunden hatte. Üblicherweise erteilte sie keine solchen Weisungen, bevor sie sich vor Ort einen Eindruck der Lage verschafft hatte.

Liv fand den Polizeiführer in einem Hauseingang neben dem Ausrüstungswagen, aus dem ein Mann des Sonderkommandos gerade eine Ramme hervorholte. Vor ihm auf einem Treppenabsatz hockte eine Frau. Sie trug Turnschuhe, Jeans, einen schwarzen Pullover und ein Kopftuch in derselben Farbe.

Der Polizeiführer hatte Liv bemerkt und drehte sich zu ihr herum. »Hoofdinspecteur de Vries?«

»Richtig, meneer Bos«, antwortete Liv. »Wir haben miteinander gesprochen.«

»Wir haben mit der Evakuierung der angrenzenden Häuser begonnen.«

»Gut.« Anders als in den weiter entfernten Straßen bestand hier eine direkte Gefahr für die Anwohner. Liv ging ein paar Schritte weiter und spähte um die Ecke in die nächste Straße, wo sich ihr Einsatzziel befand. Die Polizei führte in aller Stille die Bewohner aus den Eingängen der umliegenden Häuser. Einige von ihnen trugen noch Schlafanzüge und Nachthemden.

»Wo bringen Sie die Leute hin?«, fragte Liv über die Schulter.

»Ein paar Straßen weiter ist ein Platz. Dort sind sie erst mal sicher«, antwortete Bos.

»Ist sie das?« Liv deutete mit einem Nicken auf die Frau, die auf den Stufen saß.

»Ja. Ihr Name ist Raja. Sie kam aus dem Haus gerannt, kaum dass wir einen Fuß in die Straße gesetzt hatten.«

»Darf ich?«

»Nur zu.«

Liv ging zu der Frau hinüber und kniete sich vor sie. »Wie geht es Ihnen, Raja?«

Raja hielt den Kopf gesenkt, sodass Liv ihr Gesicht unter dem Kopftuch nur zum Teil sehen konnte. »Ich … weiß nicht, was in ihn gefahren ist …«

»Wir sind hier, um zu helfen. Wir wollen nicht, dass Ihrem Mann etwas zustößt. Erzählen Sie mir einfach, was geschehen ist.«

Raja hob den Kopf, und Liv sah die Tränen in ihren braunen Augen. »Als ich aufgewacht bin, lag Kamal nicht neben mir im Bett … Ich ging ins Wohnzimmer rüber. Er saß auf dem Sofa und hielt ein Feuerzeug und eine Gasflasche in der Hand. Er meinte, dass die Polizei unten auf der Straße wäre und er uns in die Luft jagt, wenn sie uns holen kommen.«

Liv blickte zu Bos auf, der die Angaben der Frau mit einem knappen Nicken bestätigte.

»Und was taten Sie dann?«

»Ich bekam Angst und wollte weg. Kamal hat versucht, mich aufzuhalten. Aber ich hab mich gewehrt und bin raus auf die Straße …«

»Raja, hören Sie mir gut zu«, sagte Liv. »Gibt es eine Möglichkeit, mit Ihrem Mann in Kontakt zu treten? Haben Sie ein Telefon in der Wohnung oder haben Sie seine Handynummer?«

Die Frau zögerte kurz, griff in die Hosentasche und zog ein Smartphone heraus. »Hier.«

Liv bat Raja, die Nummer ihres Mannes zu wählen. Raja nickte, entsperrte das Handy, startete den Anruf und reichte Liv das Telefon. Es klingelte mehrere Male, aber niemand nahm ab. Liv beendete den Anruf und gab Raja das Handy zurück.

Sie stand auf, um sich mit Bos zu beraten. Nach einem Blick auf Raja gingen sie ein paar Schritte zur Seite, bis sie außer Hörweite waren.

»Wissen wir, wie sich die Lage in der Wohnung aktuell darstellt?«

»Nein. Die Vorhänge sind zugezogen. Visuellen Kontakt über Kameras herzustellen, erscheint mir zu riskant. Sobald er jemanden von uns bemerkt …«

Bos brauchte den Satz nicht zu beenden, Liv wusste, was er meinte. Üblicherweise hätte man versucht, die Wohnung mittels Endoskopkameras zu überprüfen, die man durch Schlitze, Türöffnungen oder Bohrungen in die Räume einführte. Doch so leise das Einsatzkommando dabei auch vorgehen mochte, Bos hatte recht: Kamal hatte buchstäblich den Finger am Zünder. Die kleinste Verunsicherung konnte dazu führen, dass er durchdrehte.

»Was ist mit Bauplänen und Grundrissen?«

Bos schüttelte den Kopf. »Negativ. Wir haben auf dem Amt nachgefragt, aber bis die mit etwas rüberrücken, ist die Sache gelaufen. Und der Hauseigentümer … Na ja, Sie wissen ja, wie das hier ist.«

Liv kannte die Verhältnisse in Delfshaven. Es war einer der Stadtteile mit der höchsten Zahl von Allochthonen in den ganzen Niederlanden. Als Kind hatte sie gemeinsam mit ihren Eltern und Großeltern erlebt, wie sich die ehemalige Arbeitergegend in ein Viertel verwandelt hatte, in dem die Einheimischen irgendwann in der Minderheit waren. Die offiziellen Gesetze hatten allenfalls noch auf dem Papier Bestand gehabt. Man machte die Regeln auf den Straßen. Daran hatte sich bis heute nichts geändert, im Gegenteil, es war eher schlimmer geworden. Bevor man jemanden zur Kooperation mit der Polizei überredete, konnte man sein Glück besser mit einem Flug zum Mond versuchen.

»Das bedeutet, wir gehen blind rein«, stellte Liv fest.

»So ist es. Alles, was wir wissen, ist, dass dort oben ein Verrückter auf seinem Sofa sitzt und nur darauf wartet, sich ins Paradies zu sprengen.«

Liv schaute hinüber zu dem rot verklinkerten Gebäudekomplex, der von einem Ende der Straße zum anderen reichte. In Delfshaven sprachen sich die Dinge schnell herum. Die Häuser hatten Augen und Ohren, nichts geschah hier unbemerkt, niemand, vor allem niemand Fremdes oder gar die Polizei, tat einen Schritt, ohne dass es jenen Leuten, die das Sagen hatten, zu Ohren kam. Insofern war es kaum verwunderlich, dass Kamal vom anrückenden Einsatzkommando Wind bekommen hatte, noch bevor die Kollegen einen Fuß auf seine Türschwelle gesetzt hatten.

Liv war dieses Problem bewusst gewesen. Trotzdem hatte sie den Zugriff angeordnet, ansonsten wäre Kamal über alle Berge gewesen.

Abu Kamal al-Din.

Er gehörte zu jenen, die ihnen üblicherweise durchs Netz schlüpften. Einer der kleinen Spinner, die sich unbemerkt radikalisierten, ihre Informationen aus dem Internet bezogen und ihre Waffen und Bomben mit Bordmitteln aus dem nächsten Drogerie- oder Baumarkt bastelten – was ihre Taten nicht weniger tödlich machte. Sie konnten von Glück sprechen, dass Kamal überhaupt auf dem Radar aufgetaucht war. Die Kollegen vom AIVD, dem Inlandsgeheimdienst, hatten Liv in den frühen Morgenstunden aus dem Bett geklingelt. Kamal war im Zuge einer anderen Ermittlung aufgefallen. Er hatte sich offenbar bei einem V-Mann des AIVD verplappert. Laut dessen Angaben wollte Kamal ein Attentat auf ein Einkaufszentrum in Rotterdam verüben. Und allem Anschein nach stand er kurz davor, seinen Plan in die Tat umzusetzen.

Livs Blick wanderte hoch zum Obergeschoss des Gebäudekomplexes. Kamals Wohnung befand sich im Mittelteil direkt unter dem Dach.

»Wenn wir den Angaben seiner Frau glauben können«, sagte Bos, »gibt es hinter der Eingangstür einen Flur. Von dem gehen links das Bad und rechts das Schlafzimmer ab. Geradeaus liegt der Wohn-Ess-Bereich. Kein Balkon.«

»Was ist mit der Gasflasche?«

»Der Beschreibung nach scheint es sich um eine gewöhnliche Campinggasflasche zu handeln.«

»Seltsam.« Liv legte die Stirn in Falten. »Campinggas? Wenn der Mann einen Bombenanschlag plant, würde man meinen, er hat potenteres Zeug dort oben gelagert.«

»Können wir nicht ausschließen. Die Explosionskraft einer vollen Campinggasflasche ist allerdings auch nicht zu unterschätzen. Wenn ich ehrlich bin … Ich würde lieber auf den Verhandlungsführer warten, bevor wir unsere Männer dort reinschicken.«

»Klingt vernünftig.«

Die Chancen, dass das Einsatzkommando die Wohnungstür öffnete – egal ob mit einer Ramme oder indem sie das Schloss knackten –, in das Apartment stürmte und Kamal erwischte, bevor er das Gas zündete, tendierten gegen null.

Liv blickte zum Hundeführer hinüber, der beim Einsatzwagen mit seinem Tier wartete. »Was ist mit ihm?«

Bos wog den Kopf. »Wenn wir die Tür leise aufbekommen, könnte der Hund es schaffen – wenn er schnell genug ist. Aber wollen Sie es wirklich darauf ankommen lassen?«

»Nein.«

Liv wusste nichts über Abu Kamal al-Din. Er war ein Unbekannter, der die Behörden zum ersten Mal auf sich aufmerksam gemacht hatte. Dementsprechend hatte sie nichts über ihn in den Datenbanken gefunden, keine Vorstrafen, keine kleineren Delikte, nichts. Eines wusste sie dennoch: Einen Mann, der offenbar in Panik verfallen und eventuell nicht zurechnungsfähig war, reizte man besser nicht unnötig. Vor allem nicht, wenn er drohte, sich in die Luft zu sprengen. Bos hatte ganz recht, sie waren gut beraten, auf die Verhandlungskarte zu setzen.

Liv wandte sich wieder um, und ihr Blick fiel eher zufällig auf Raja. Die Frau saß noch immer auf den Stufen des Hauseingangs. Sie hatte das Smartphone in der Hand, tippte etwas darauf und ließ das Gerät schnell wieder in der Hosentasche verschwinden.

In dem Moment wusste Liv, dass etwas nicht stimmte.

Sie ging zu der Frau hinüber und streckte die Hand aus. »Her mit dem Handy!«

Raja schüttelte verständnislos den Kopf.

Liv legte die andere Hand auf das Holster ihrer Dienstpistole. »Das Handy. Jetzt.«

»Sie können mich nicht zwingen …«, setzte Raja an, kam aber nicht weit. Liv war mit wenigen Schritten bei ihr, löste in einer fließenden Bewegung den Sicherungsbügel des Holsters, zog die Waffe und hielt sie der Frau an die Schläfe.

»Wollen Sie das wirklich herausfinden?«

Raja griff in ihre Hosentasche und gab Liv das Smartphone.

»Also, Sie möchte ich auch nicht erleben, wenn Sie richtig schlechte Laune haben«, meinte Bos. »War das nicht etwas übertrieben?«

Liv erwiderte nichts und entsperrte das Handy. Sie hatte sich den Zahlencode gemerkt, den Raja vorhin eingetippt hatte.

Auf dem Bildschirm erschien die Eingabemaske einer Messenger-App. Ein Chatfenster mit Kamal war geöffnet. Raja hatte ihm vor wenigen Sekunden eine Nachricht geschickt.

»Verdammt!«, entfuhr es Liv.

»Was hat sie ihm geschrieben?«, fragte Bos.

»Keine Ahnung.«

Liv hielt ihm das Handy hin. Dort waren nur arabische Buchstaben zu lesen. Sie blickte kurz zu Raja, erkannte an deren Gesichtsausdruck jedoch sofort, dass sie keinen weiteren Ton aus der Frau herausbekommen würden.

»Raja sagte, dass sie wach wurde, ins Wohnzimmer ging und dort ihren Mann mit der Gasflasche entdeckte«, sagte Liv an Bos gewandt. »Dann türmte sie sofort aus der Wohnung. Korrekt?«

»Ja, so hat sie es erzählt.«

Liv überlegte kurz. »Sagen Sie, Bos, was ziehen Sie eigentlich im Bett an?«

»Wie bitte?«

»Im Winter ziehe ich einen Schlafanzug an«, erklärte Liv. »Im Sommer, besonders bei so hohen Temperaturen, wie sie derzeit herrschen, schlafe ich allerdings am liebsten nackt.« Es bereitete ihr stille Freude, zu sehen, wie Bos bei der Vorstellung errötete.

Er musste einmal kräftig schlucken, bevor er sich wieder gesammelt hatte. »Shorts … Ich trage Shorts und T-Shirt.«

»Sehen Sie. Ich weiß nicht, wie Raja es gerne hat. Aber egal ob Schlafanzug oder nackt, wie hat sie es wohl geschafft, sich in der kurzen Zeit zwischen dem Aufstehen und der Flucht vor ihrem Mann vollständig anzukleiden, ihr Handy mitzunehmen und sich sogar ihre Turnschuhe zu schnüren?«

Bos rieb sich das Kinn. »Sie meinen …«

»Dass sie uns zum Narren gehalten hat. Kamal hat sie rausgeschickt, um sich Zeit zu verschaffen.«

»Wozu? Er kommt doch hier nicht raus. Wir haben seinen Hauseingang im Blick. Und auf dem gegenüberliegenden Dach sind Scharfschützen postiert, die das Hausdach im Blick haben. Dort oben wird er also auch nicht rumturnen.«

Liv schaute zum Dach des Häuserblocks hoch. »Verstehen Sie etwas von Architektur, Bos?«

»Nicht viel. Ich habe neulich ein Gartenhaus zusammengeschraubt.«

»Und, hat es gehalten?«

»Ja, allerdings erst im zweiten Anlauf …«

»Immerhin.« Liv deutete auf den Wohnkomplex. Er musste schätzungsweise vierzig bis fünfzig Apartments beherbergen. »Was denken Sie, ist das ein zusammenhängendes Gebäude?«

»Sieht ganz danach aus.«

»Das würde bedeuten, es gibt zwar mehrere Eingänge, aber keine Fugen, die den Komplex in einzelne Häuser unterteilen.«

»Vermutlich.«

»Dementsprechend ist auch der Dachstuhl durchgehend.«

»Wie gesagt, ich habe keine Ahnung. Das könnte gut sein.« Bos schaute ebenfalls in die Höhe. Der Dachstuhl zog sich von einem Ende des langen Gebäudes bis zum anderen. Direkt darunter lagen die Wohnungen des Obergeschosses.

»Falls es so ist«, sagte Liv, »hat Kamal sich vielleicht Zutritt zum Dachboden verschafft. Über den könnte er sich leicht in einen anderen Abschnitt des Gebäudes bewegt haben, ohne dass wir es mitbekommen.«

Bos machte große Augen. »Dann …«

»Richtig. Dann hat er sich unter die Nachbarn gemischt, die wir gerade evakuieren, und ist in der Menge einfach nach draußen spaziert.«

»Verdammter Mist!«

Liv rief auf ihrem Smartphone das Foto von Kamal auf, das ihr der AIVD zur Verfügung gestellt hatte, um sich das Gesicht des Mannes in Erinnerung zu rufen. Sie hatte es bereits an Bos und das Einsatzteam weitergeleitet.

»Sagen Sie Ihren Leuten, sie sollen nach Kamal Ausschau halten. Und stellen Sie zwei Männer ab, die auf Raja aufpassen.«

Bos nickte und ging zum Führer des Sonderkommandos hinüber.

Liv näherte sich währenddessen der Seitenstraße, durch die die Polizei die Anwohner in Sicherheit brachte. Es mussten Dutzende sein. Unter den vielen Gesichtern ein fremdes auszumachen, das man lediglich von einem Foto her kannte, war schwierig bis unmöglich.

Bos kam ihr nach. Sie schoben sich durch die Gasse an den Menschen vorbei, bis sie zu dem großen Platz kamen, wo die Polizei alle versammelte. Die Menschengruppe wurde von einem Absperrband zusammengehalten, und Uniformierte kümmerten sich um die Evakuierten.

Liv aktivierte auf Rajas Handy die Wahlwiederholung. Was sie vorhatte, glich eher einer Verzweiflungstat als planvollem Vorgehen.

Es klingelte mehrere Male. Was auch immer Raja ihrem Mann geschrieben hatte, es bewirkte, dass er den Anruf diesmal entgegennahm. Liv hörte eine Männerstimme am anderen Ende.

»Raja?«

»Hören Sie mir gut zu«, sagte Liv, ließ dabei den Blick über die Menge gleiten und suchte nach jemandem, der sich ein Telefon ans Ohr hielt. »Wir haben Sie im Visier. Der Platz ist umstellt. Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir …«

Kamal legte auf.

Liv steckte das Handy weg und sah sich um. Bos stand einige Meter von ihr entfernt. Er beobachtete ebenfalls die Menschenansammlung. Schließlich schüttelte er den Kopf. Nichts.

Da bemerkte Liv etwas aus dem Augenwinkel. Einer der Streifenpolizisten redete beschwichtigend auf einen Mann in einem weißen T-Shirt ein, der nicht hinter der Absperrung bleiben wollte. Als der Beamte ihn an der Schulter fasste und zurückschob, schlug der Mann blitzschnell auf ihn ein und schickte ihn zu Boden.

Für einen kurzen Moment sah Liv das Gesicht. »Das ist er«, sagte sie leise zu Bos und bedeutete ihm, ihr zu folgen.

Kamal sprintete in eine Straße auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes. Er war schnell. Liv hatte Mühe, ihm zu folgen, und Bos schien eine noch schlechtere Kondition zu haben – sie konnte seinen pfeifenden Atem hinter sich hören.

An einer Hausecke gabelte sich die Straße vor ihnen. Kamal wählte die linke Abzweigung. Die Häuser standen hier dicht an der Straße gebaut, sodass es keinen Gehweg gab. Er hatte noch keine hundert Meter hinter sich gebracht, als ihnen ein Lieferwagen entgegenkam. In der engen Gasse kam er unmöglich an dem Fahrzeug vorbei. Er warf einen Blick über die Schulter, schoss dann knapp vor dem Transporter in eine Seitengasse hinein.

Liv brachte den Lieferwagen mit erhobener Hand zum Stehen.

»Folgen Sie ihm«, wies sie Bos an. »Ich komme von der anderen Seite.«

Sie wies den Fahrer des Transporters an, zurückzusetzen. Als er so weit zurückgewichen war, dass die Abzweigung zur nächsten Querstraße frei wurde, schlüpfte Liv hinein und beschleunigte sofort das Tempo.

Am Ende der Gasse angekommen, brannten ihre Lungen, doch offenbar war es ihr gelungen, Kamals Vorsprung nicht größer werden zu lassen. Sie bog in dem Moment um die Ecke, als er aus der Parallelgasse gerannt kam. Bos folgte ihm mit Abstand, aber dennoch hatten sie den Mann jetzt in der Zange.

Kamal blieb stehen. Er blickte sich um. Auf der einen Seite versperrte ihm eine Hauswand den Weg, auf der anderen das Hafenbecken.

»Die Hände hoch!«, rief Liv.

Noch während sie nach ihrer Waffe griff, fuhr Kamal herum und stürmte auf Bos zu, der nach vorne gebeugt die Hände auf die Knie stützte und nach Atem rang.

»Stehen bleiben!«, versuchte Liv es. Sie riss die Waffe hoch und zielte auf Kamals Rücken.

Als Kamal nahe an Bos heran war, griff er in den Hosenbund und zog etwas Längliches unter seinem T-Shirt hervor. Es blitzte metallisch. Liv konnte nicht genau erkennen, was das war.

»Stehen bleiben!«, schrie sie noch einmal, doch Kamal machte keine Anstalten.

Liv betätigte den Abzug.

Der Schuss hallte von der Hauswand wider.

Kamals weißes T-Shirt färbte sich augenblicklich rot. Einige Blutspritzer landeten in Bos’ Gesicht. Der Flüchtende stürzte aus vollem Lauf zu Boden und rührte sich nicht mehr.

Bos blickte auf den Mann hinab, der vor seinen Füßen gelandet war. Er brauchte einen Moment, um sich von dem Schrecken zu erholen, dann bückte er sich und legte die Finger an Kamals Halsschlagader.

Als er zu Liv herüberkam, hielt sie noch immer die Waffe ausgestreckt vor sich. Bos legte die Hand vorsichtig darauf und senkte sie. »Ist gut«, sagte er. »Lassen Sie los.«

Liv tat, wie ihr geheißen, und Bos nahm ihr die Waffe ab.

Ihre Hände zitterten.

»Danke«, meinte Bos. »Ich glaube, Sie haben mir gerade das Leben gerettet.«

Liv trat einige Schritte an Kamal heran, unter dem sich auf dem Boden eine Blutlache ausbreitete.

»Er lebt noch«, hörte sie Bos in ihrem Rücken sagen.

Liv besah sich, was Kamal in der Hand hielt. Es war keine Schusswaffe, sondern ein metallener Schlagstock. Ihre Knie gaben nach; sie sank neben Kamal zu Boden.

Bos legte ihr die Hand auf die Schulter. »Machen Sie sich mal keine Sorgen. Es hat keinen Unschuldigen erwischt. Wir regeln das schon.«

Das glaubte Liv ihm aufs Wort.

Etwas anderes bereitete ihr Sorgen: die Erinnerungen, die plötzlich in ihr hochstiegen. Sie stand wieder in jener Gasse. Jahre waren seitdem vergangen, doch der Moment verfolgte sie in ihren Träumen. Auch damals war ihr Finger zu schnell am Abzug gewesen.

2

Ein warmer Wind wehte durch die offene Dachluke des Hausboots herein. Die Abendsonne hatte sich vor Stunden mit einem orangeroten Farbspiel verabschiedet, doch die Hitze hielt sich beharrlich zwischen den Häusern der Stadt. Zumindest über die Gracht strich eine leichte Brise, was die ganze Sache etwas erträglicher machte.

Liv lag im Bett, den Rücken gegen die Kissen gelehnt. Sie hatte kein Licht eingeschaltet, sodass es im Inneren des Bootes dunkel war und sie durch das Fenster hinaus auf die Amsterdamer Prinsengracht schauen konnte, wo sich der Vollmond im Wasser spiegelte.

Sie blickte kurz zu Adriaan, der mit geschlossenen Augen neben ihr lag, die Arme hinter dem Kopf verschränkt.

Am Nachmittag hatte sie die Befragung durch die internen Ermittler über sich ergehen lassen. Von deren Urteil würde ihr weiteres berufliches Schicksal abhängen.

Der Teleskop-Schlagstock, den Kamal mit sich geführt hatte, bestand aus gehärtetem Metall, mit einem zusätzlichen, kugelförmigen Gewicht an der Spitze. Man konnte damit Fensterscheiben einschlagen, aber ebenso gut auch menschliche Schädel. Kamal hätte Bos also ernsthaft verletzen können. Dennoch stand die Frage im Raum, ob Liv zu Recht Gebrauch von der Schusswaffe gemacht hatte.

Liv machte so etwas nicht zum ersten Mal durch, was natürlich nichts daran änderte, dass dieser beinahe inquisitorische Prozess in jeder Hinsicht eine Belastung darstellte. Sie hatte die Stunden heruntergezählt, bis sie das Hauptquartier verlassen und endlich nach Hause hatte fahren können.

Sie schlug das Bettlaken zur Seite und stand auf. Von draußen wehte von einem der Nachbarboote der Geruch nach Gebratenem herein, und sie hatte Appetit bekommen.

»Was hast du vor?«, fragte Adriaan neben ihr.

»Etwas essen. Hast du auch Hunger?«

»Nein.« Er rollte sich auf die Seite und stützte sich auf den Ellbogen. »Wir müssen reden, Liv.«

»Ich weiß. Setzen wir uns oben auf die Terrasse?«

»Wie du magst.«

Sie streifte sich einen Morgenmantel über und band ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Das Innere des Hausboots bestand aus einem durchgehenden großen Raum. Liv hatte das Boot mangels bezahlbarer Alternativen erworben, als sie damals bei der Kripo in Amsterdam angefangen und nach einer Wohnung gesucht hatte. Die alten, mit Holz vertäfelten Zwischenwände herauszureißen, war eine ihrer ersten Taten gewesen. Sie mochte offene Räume, die ihr das Gefühl von Weite gaben.

Das Bett befand sich auf einer kleinen Empore im vorderen Teil des Schiffs. Liv stieg die Stufen hinunter und ging hinüber zur Küchenzeile, die aus einer Kochinsel und einer Reihe von Einbauschränken bestand. Seit ihrem Wechsel zur Landespolizei in Den Haag pendelte sie jeden Tag und kochte abends selten. Dementsprechend leer sah es in ihrem Kühlschrank aus. Sie fand eine Pappschachtel mit einem Rest Asia-Nudeln, die sich in akzeptablem Zustand befanden. Daneben stand eine Flasche Chardonnay, die Adriaan dort deponiert hatte.

Während Liv die Flasche entkorkte, stellte sich Adriaan hinter sie und legte die Hände auf ihre Hüften.

»Geht es dir gut?«

»Warum fragst du das?«

»Du siehst fertig aus.«

Sie betrachtete ihr Spiegelbild in der Glasfront des Hängeschranks. Unter ihren Augen lagen tiefe Ringe, die Wangenknochen traten hervor, und ihr Teint schien so blass, als hätte sie seit Wochen kein Tageslicht mehr gesehen. Insgesamt wirkte sie eher wie Mitte fünfzig als Mitte vierzig. Adriaan hatte recht. Sie sah fertig aus. Was sie nach dem heutigen Tag nicht verwunderte.

»Das wird schon wieder«, sagte sie, öffnete den Schrank, holte zwei Weingläser heraus und stieg die Treppe zur Dachterrasse hinauf. Adriaan folgte ihr.

Die bloße Dachpappe hatte sie durch einen Kunstrasen ersetzt und rund um das Holzgeländer Bambusse, Sträucher und kleinere Kirsch- und Apfelbäume gesetzt, die in den vergangenen Jahren dicht gewuchert waren. Die hohen Ulmen zu beiden Seiten ihres Liegeplatzes schützten zusätzlich vor neugierigen Blicken von der Straße oder aus den alten Speicherhäusern gegenüber. Auf der anderen Seite des Schiffs kräuselte sich das Wasser der Gracht.

Liv lebte in einer kleinen Oase mitten in der Stadt, und sie wusste, wie dankbar sie sein konnte, dass sie dieses Plätzchen ergattert hatte. Letztlich war das auch der Grund, weshalb sie die tägliche Fahrt nach Den Haag in Kauf nahm.

Außerdem hatte sich ihr kleines Nest fernab des Präsidiums auch in anderer Hinsicht als nützlich erwiesen.

Sie ging zum breiten Loungesofa hinüber, das zur Seite der Gracht ausgerichtet war. Adriaan machte es sich darauf bequem. Liv setzte sich neben ihn, reichte ihm die Flasche und beobachtete, wie er ihnen eingoss. Obwohl sein halblanges Haar beinahe vollständig ergraut war, hatte es seine Fülle behalten. Sein Gesicht hatte etwas Jugendliches, was daran liegen mochte, dass er auf den modischen Trend verzichtete, sich einen Bart wachsen zu lassen. Aber auch Falten musste man auf seiner Haut mit der Lupe suchen.

Liv öffnete ihr Bier, lehnte sich zurück und trank einen Schluck.

Adriaan legte den Arm um ihre Schultern. »Wir bekommen das wieder hin. Das geht vorbei, versprochen.«

Sie hörte die beruhigende Floskel an diesem Tag nicht zum ersten Mal. Zahlreiche Kollegen hatten ihr seit dem Einsatz heute Morgen auf die Schulter geklopft, ihr versichert, dass sie auf ihrer Seite stünden und Liv das Richtige getan habe. Der Zuspruch hatte mit dem unverbrüchlichen Korpsgeist zu tun, der auch bei der Landespolizei herrschte.

»Da bin ich mir nicht so sicher«, erwiderte sie und schaute auf die Gracht hinaus.

Adriaan wähnte sie ebenfalls auf ihrer Seite. Er war nicht nur ihr Geliebter, sondern auch ihr Vorgesetzter, und er ließ keinen Zweifel daran, dass er sich für sie einsetzen würde.

Dennoch machte Liv sich nichts vor. Die Sache mit Abu Kamal al-Din würde nicht so einfach vorbeigehen. Und dafür gab es mindestens zwei Gründe. Der eine war, dass Kamal noch im Krankenwagen gestorben war. Die Ärzte hatten nichts mehr für ihn tun können, nachdem die Kugel, die Liv abgefeuert hatte, seine Lunge perforiert und die rechte Herzkammer durchlöchert hatte. Das Schlagwort Polizeigewalt leuchtete nun in grellroten Lettern wie ein Warnsignal über dem missglückten Einsatz.

Als wäre das nicht genug, hatte sich bei der Durchsuchung von Kamals Wohnung herausgestellt, dass Livs Bauchgefühl sie nicht getrogen hatte. Sie hatte sich gewundert, weshalb er eine Campinggasflasche anstatt wesentlich gefährlicherem Sprengstoff verwenden wollte, wo er doch angeblich eine Bombe baute. Die Erklärung war einfach. Die Campinggasflasche hatten er und Raja erfunden, um die Polizei hinzuhalten und Kamal die Flucht zu ermöglichen. Sie existierte in Wahrheit nicht, ebenso wenig wie der Sprengstoff für den mutmaßlichen Anschlag. Das Einzige, was die Kollegen gefunden hatten, waren Drogen. Davon eine ganze Menge. Denn Kamal hatte ein kleines Drogenlabor im Wohnzimmerformat betrieben, in dem er Crystal Meth kochte. Doch unter dem Strich blieb die Feststellung: Jemand hatte Mist gebaut. Der Hinweis des AIVD hatte sich als Luftnummer entpuppt. Abu Kamal al-Din war kein Bombenbauer, er war nicht verrückt, und er hatte keinen Anschlag in einem Einkaufszentrum geplant.

Für die Kollegen beim Inlandsgeheimdienst würde das ein Nachspiel haben, vermutlich würden Köpfe rollen. Die Medien aber würden Liv den Schwarzen Peter zuschieben. Schließlich war sie es gewesen, die einen kleinen Drogenkocher mit einem übertriebenen Einsatz aufgeschreckt, ihn zur Flucht getrieben und hinterrücks erschossen hatte.

Liv sah, dass Adriaan auf seinem Smartphone durch die Nachrichten scrollte. »Ich will dich nicht runterziehen«, sagte er. »Aber vielleicht hast du recht. Die Medienmaschinerie läuft schon heiß. Das Fernsehen hat es wohl in den Abendnachrichten gebracht. Und von Social Media wollen wir gar nicht reden.«

»Zeig her.«

»Nein, das siehst du dir lieber nicht an.« Adriaan kniff die Lippen zusammen. »Man erinnert sich an dich.«

»Natürlich tut man das.«

Das war der zweite Grund, weshalb die Angelegenheit nicht spurlos vorüberziehen würde. Liv hatte auch nicht erwartet, dass die Vergangenheit sie jemals in Ruhe lassen würde. Kamal war nun mal nicht der erste Tote, der auf ihr Konto ging.

Nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, stand Liv immer wieder in dem Hinterhof des Mehrfamilienhauses in Amsterdam-Geuzenveld und dachte an das Mädchen. Vergewaltigung mit Todesfolge. Das Mädchen stammte aus einer Akademikerfamilie. Ein weißes Mädchen. Die Sonderkommission, von der Liv ein Teil gewesen war, hatte den Täter schnell ermittelt – einen 25-jährigen Somalier, der wegen Körperverletzung vorbestraft war. Der Mann hatte sich der Festnahme widersetzt. Ein Kollege ihres Teams hatte den Hinterausgang abgedeckt. Als er versuchte, den flüchtenden Täter aufzuhalten, hatte dieser ihn mit einem Messer angegriffen. Es war ein Jagdmesser mit scharfer Klinge und einem Sägeblatt auf der anderen Seite gewesen. Liv sah noch heute, wie der Mann im strömenden Regen über ihrem Kollegen stand und sich zu ihr herumdrehte. Das Blut an der Klinge des Messers. Sie hätte auf seine Beine schießen können – ja, hätte sie –, aber sie war auf Nummer sicher gegangen und hatte auf seine Brust gezielt. Zwei Kugeln. Er war tot gewesen, noch bevor er auf dem Boden aufschlug.

Wenige Tage später war ihr Kollege im Krankenhaus ebenfalls gestorben.

Was folgte, war ein medialer Feuersturm. Dabei schien sich das Land in zwei Hälften zu spalten. Die einen sahen den Fall als Musterbeispiel für Polizeigewalt und Alltagsrassismus, die anderen fanden Bestätigung für ihren Ausländerhass und die Angst vor Überfremdung und jubilierten, dass die Polizei endlich hart durchgriff.

Über Nacht hatte es in der Öffentlichkeit plötzlich zwei Versionen von Liv gegeben: die schießwütige, notorisch rassistische Polizistin. Und das Postergirl der neuen Rechten, die in ihr eine letzte aufrechte Verfechterin der niederländischen Kultur und der weißen Rasse sahen.

Natürlich entsprach keines von beidem der Wahrheit.

Doch für ausgewogene Betrachtungen gab es im hocherhitzten Social-Medial-Zeitalter scheinbar keinen Raum mehr.

Fakt war: Der Somalier hatte eine Frau vergewaltigt. Sein kultureller Hintergrund, seine Herkunft, seine Hautfarbe oder an welchen Gott er glaubte, spielte für Liv keinerlei Rolle. Der Mann hatte ein Verbrechen begangen, für das er nach dem Strafgesetzbuch vor Gericht gestellt und bestraft gehörte. Dabei war es gleichgültig, welche Hautfarbe das Opfer hatte. Als er sich der Verhaftung widersetzte und einen Polizeibeamten verletzte, wusste er, welches Risiko er einging. Ob die zwei Kugeln in die Brust nötig gewesen waren oder ob es nicht auch ein gezielter Schuss auf die Beine getan hätte, darüber ließ sich streiten. Gut möglich, dass sie es übertrieben und in der Situation nicht korrekt reagiert hatte. Liv war bereit gewesen, für ihren Fehler geradezustehen.

Die Amsterdamer Polizei hatte letztlich den smarten Ausweg gewählt. Man hatte abgewartet, bis sich die Aufregung legte, und Liv von allen Vorwürfen freigesprochen. Dann hatte man sich ihrer entledigt, durch die Beförderung zur Landespolizei.

Das alte Sprichwort besagte zwar, dass der Blitz nie zweimal an dergleichen Stelle einschlug, allerdings schien das für Liv nicht zu gelten. Sie verspürte wenig Verlangen, dieselbe mediale Schlammschlacht erneut durchzustehen.

»Wir müssen gut überlegen, wie wir vorgehen«, sagte er, während er sich Wein nachschenkte. »Die Meth-Küche, die Drogen in Kamals Wohnung … Mit ein bisschen Glück können wir die Sache drehen.«

»Du weißt, dass das schwierig wird. Besonders jetzt.«

In wenigen Monaten standen die Parlamentswahlen an. Der Wahlkampf ging in die entscheidende Phase, und die rechtspopulistische Partij voor de Vrijheid von Geert Wilders und das Forum voor Democratie mit Thierry Baudet trieben die etablierten Parteien vor sich her. Es brauchte keinen Hellseher, um zu wissen, dass sich alle gründlich am Fall Abu Kamal al-Din abarbeiten würden.

»Du hast recht«, sagte Adriaan. »Deshalb möchte ich dir einen Vorschlag machen.«

»Bin ganz Ohr.«

»Du machst eine kleine Reise und verschwindest für eine Weile von der Bildfläche. Und vielleicht könntest du mir dabei einen Gefallen tun …«

»Und was schwebt dir da vor?«

»Es geht um einen Vermisstenfall.«

Liv runzelte die Stirn. »Das fällt nicht unbedingt in unsere Zuständigkeit.«

»Ich weiß. Und es ist nicht ganz einfach.« Er trank einen Schluck Wein. »Du müsstest erst mal sehen, ob an der Sache wirklich etwas dran ist. Und falls ja, dann wäre die Angelegenheit mit einer Reise nach Zeeland verbunden. Was unter den gegebenen Umständen vielleicht nicht so schlecht wäre.«

»Erzähl mir mehr.«

»Ein Mann aus Den Haag wurde von seiner Freundin als vermisst gemeldet. Er ist vor einigen Tagen nach Veere gefahren, aber nicht zurückgekommen. Das Ganze ist eine persönliche Sache für mich.«

»Du kennst den Mann?«

»Ja. Er ist … ein Bekannter. Die zuständigen Kollegen werden das wie jeden anderen Vermisstenfall behandeln. Ich habe allerdings Gründe, mir Sorgen zu machen.«

Liv dachte kurz nach, nickte aber. Ihr blieben nicht viele Optionen. »Einverstanden.«

»Danke. Und bitte sei diskret. Rede bis auf Weiteres nur mit mir über den Fall.« Adriaan stand auf. »Kommst du wieder runter?«

»Gleich.«

Liv blickte ihm hinterher, wie er die Treppe nach unten stieg. Dann lehnte sie sich zurück und sah hinauf in den Nachthimmel, der von Sternen übersät war. Aus der Ferne hörte sie Kirchturmglocken schlagen. Mitternacht.

Liv fragte sich nicht zum ersten Mal, ob es klug war, Arbeit und Privates zu vermischen. Sie hatte Adriaans Angebot nicht ablehnen können, sie brauchte einen Verbündeten, der ihr den Rücken freihielt und sich bei den entscheidenden Stellen für sie in die Bresche warf.

Trotzdem beschlich sie das sichere Gefühl, dass es keine gute Idee gewesen war, ein Verhältnis mit ihrem Vorgesetzten anzufangen.

3

Das Hauptquartier der Landespolizei befand sich in einem historischen Bau aus roten Klinkersteinen unweit des Stadtzentrums von Den Haag. Das Gebäude war auf drei Seiten von Grachten umgeben. Auf dem Platz vor dem Hauptportal wehten die Fahnen der Niederlande und der Europäischen Union.

Liv passierte die Kontrollschranke und stellte ihren Wagen im Parkhaus ab. Als sie das Hauptgebäude betrat, kam ihr ein willkommener Schwall kalter Luft entgegen. Das Thermometer hatte heute in den frühen Morgenstunden bereits die 25°C-Marke geknackt, und im Lauf des Tages sollte es noch heißer werden. Die kühle Luft, die durch die Korridore strömte, war eine Wohltat. Anders als in anderen Bereichen hatte man bei der Klimatisierung des Gebäudes nicht gespart.

Livs Arbeitsplatz befand sich im Großraumbüro ihrer Einheit, ein Schreibtisch in einem uniformen Abteil, das sie lediglich mit ein paar Topfpflanzen aufgehübscht hatte. Im Gegensatz zu den meisten Kollegen verzichtete sie darauf, Fotos der Familie, von Urlauben oder Hobbys an den Trennwänden aufzuhängen. Je weniger die anderen über ihr Privatleben wussten, desto besser.

Sie ging in die Teeküche und holte sich einen Kaffee, dann setzte sie sich an ihren Tisch. Adriaan hatte ihr eine Kopie der Vermisstenakte hingelegt. Liv trank einen Schluck Kaffee und schlug die Akte auf.

Die Anzeige war gestern Morgen auf der Wache im Den Haager Stadtteil Schilderswijk aufgenommen worden. Bei dem Vermissten handelte es sich um Rob van Loon, der mit seiner Freundin Lisanne Eldering in der Waterbuurt lebte.

Am vergangenen Freitag war Rob nach der Arbeit gegen 18 Uhr nach Veere gereist. Er hatte am Sonntagabend heimkehren wollen, was er aber nicht getan hatte. Seine Freundin erreichte ihn in der Folge weder auf dem Handy noch im Hotel, das er in Veere bewohnte. Sie hinterließ dort eine Nachricht. Als er sich bis Dienstag – vorgestern – nicht gemeldet hatte, ging sie zur Polizei.

Liv lehnte sich zurück, führte die Kaffeetasse mit beiden Händen zum Mund und nippte nachdenklich daran.

Wenn Kinder oder Jugendliche vermisst gemeldet wurden, war die Sache einfach. Auch wenn die meisten von ihnen wohlbehalten wiederauftauchten, nahm man die Situation vorsorglich ernst und leitete umgehend entsprechende Schritte ein. Bei Erwachsenen lag die Sache anders. Ein erwachsener Mensch konnte tun und lassen, was er wollte, und war niemandem Rechenschaft schuldig. Vielleicht hatte Rob van Loon beschlossen, dass er von seiner Freundin die Nase voll hatte und irgendwo ein neues Leben beginnen wollte. Voilà, das war sein gutes Recht. Solange keine Hinweise vorlagen, dass eine ernste Bedrohung für sein Leben bestand, wartete die Polizei deshalb, bevor man eine Suche einleitete. Und Robs Freundin hatte den Kollegen offenbar keinen Grund zur Sorge gegeben.

Liv suchte die Nummer des Kurhauses in Scheveningen heraus, dem Hotel, in dem Rob van Loon angestellt war, und griff zum Telefon. Nachdem sie sich vorgestellt und der Dame an der Rezeption ihr Anliegen dargelegt hatte, wurde sie mit dem Küchenchef verbunden. Der Mann wunderte sich nicht, dass Rob vermisst wurde. Offenbar hatte dessen Freundin Lisanne auf der Suche nach ihm unter anderem im Hotel angerufen, bevor sie sich an die Polizei wandte.

Der Küchenchef war nicht gut auf seinen Mitarbeiter zu sprechen. Er erklärte Liv, dass Rob seit Montag nicht mehr zur Arbeit erschienen sei. Dabei habe man ihn wegen einer besonderen Veranstaltung dringend gebraucht. Er habe sich nicht einmal abgemeldet. Der Küchenchef polterte, dass Rob sich warm anziehen könne, sollte er wiederauftauchen.

Liv bedankte sich und legte auf.

An einem Montag befiel nicht wenige Menschen eine gewisse Unlust, zur Arbeit zu gehen. Wer kannte das nicht. Allerdings meldete man sich üblicherweise krank, und wenn man länger fehlte, reichte man eine Krankmeldung ein. Dass sich jemand überhaupt nicht bei seinem Arbeitgeber meldete, kam hingegen selten vor und ließ tiefergehende Gründe für das Fernbleiben vermuten. Das galt vermutlich umso mehr, wenn man für das erste Haus am Platz arbeitete. Das Kurhaus genoss als Nobelhotel über die Landesgrenzen hinweg einen exzellenten Ruf. Solche Häuser legten erfahrungsgemäß Wert auf ein tadelloses Verhalten ihrer Angestellten.

Liv schlug in der Akte die Aussage der Freundin auf und überflog sie. Offenbar war Rob wegen familiärer Angelegenheiten nach Veere gefahren. Er hatte dort ein Zimmer im Hotel Campveerse Toren bezogen. Liv griff erneut zum Telefonhörer und ließ sich dort mit dem Concierge verbinden.

»Ja, ein Rob van Loon hat hier logiert«, hörte sie eine knorrige Stimme am anderen Ende. »Und ich habe ihn bereits Ihren hiesigen Kollegen gemeldet.«

»Warum das?«

»Weil der gute Herr weder sein Zimmer geräumt noch die Rechnung bezahlt hat.«

»Wann hätte er denn auschecken müssen?«

»Er hatte bis Sonntag gebucht und hätte sein Zimmer bis elf Uhr am Vormittag räumen müssen.«

»Was er aber nicht tat?«

»Genau. Er ist ohne zu bezahlen einfach von der Bildfläche verschwunden.«

»Sie sagten, er hat seine Sachen auf dem Zimmer gelassen?«

»Richtig. Eine Reisetasche, einen Kulturbeutel, Schuhe, ja, sogar sein Tablet.«

»Wann wurde er zuletzt im Hotel gesehen?«

»Das weiß ich nicht, da müsste ich unter den Kollegen fragen.«

»Es wäre nett, wenn Sie das tun könnten.« Liv gab dem Mann ihre Telefonnummer, damit er sie zurückrufen konnte.

»Wie soll ich denn nun mit dem Besitz des Herrn verfahren?«, fragte er. »Ein solcher Fall ist mir ehrlich gesagt noch nicht untergekommen. Und … verstehen Sie mich nicht falsch, aber … Ihre Kollegen hier vor Ort sind nicht gerade die schnellsten. Wir müssen das Zimmer weitervermieten. Ich kann es nicht ewig frei halten.«

»Doch, das können Sie. Schließen Sie das Zimmer ab und rühren Sie nichts an. Dann befolgen Sie die Anweisungen meiner Kollegen. Ich danke Ihnen.«

Liv beendete das Gespräch. Es sah ganz danach aus, als hätte Adriaans Bauchgefühl ihn nicht getrogen. Rob van Loons Verbleib warf tatsächlich Fragen auf.

Sie betrachtete das Foto, das Robs Freundin den Kollegen übergeben hatte und das der Akte beigefügt war. Ihren Angaben nach handelte es sich um ein aktuelles Bild, kein halbes Jahr alt. Rob hatte langes rotblondes Haar, das er zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte. Sein Gesicht war rundlich und von Sommersprossen übersät. Auf dem Foto stand er hinter seiner Freundin und hatte den Arm um sie gelegt. Ein Selfie, das auf dem Pier von Scheveningen entstanden sein musste, wie Liv an dem Riesenrad im Hintergrund erkannte.

Hinter ihr räusperte sich jemand.

Liv drehte sich auf dem Stuhl herum.

Vor ihr stand eine junge Frau, schätzungsweise Anfang dreißig. Sie trug Rastalocken und ein blaues Businesskostüm.

»Noemi Bogaard. Ich soll mich bei Ihnen melden.« Mit einem Nicken deutete die Frau auf das Zimmer mit der Glasfront neben dem Eingang des Großraumbüros. Es gehörte Adriaan. Er stand mit dem Telefon am Ohr hinter der Scheibe und winkte kurz mit einer Hand in Livs Richtung.

»Natürlich«, sagte Liv. »Ich … habe Sie bereits erwartet.«

Im Stillen schalt sie sich dafür, dass sie vergessen hatte, dass heute der erste Tag der neuen Kollegin war.

Liv hatte Adriaan versprochen, dass sie sich um Noemi Bogaard kümmern würde. Sie kam von der Kriminalpolizei in Leeuwarden, die für Friesland zuständig war. Erst im vergangenen Winter hatte Noemi in einem aufsehenerregenden Mordfall im Rahmen des Elfstedentocht, dem traditionellen Eisschnelllaufrennen, das über zugefrorene Grachten und Kanäle führte, entscheidend zum Ermittlungserfolg beigetragen. Der Schnappschuss, der zeigte, wie sie den Täter in Handschellen zum Streifenwagen führte, hatte es landesweit in die Medien geschafft. Man hatte Noemi dafür gefeiert, auch innerhalb der Polizei. Sie war das Musterbeispiel für all jene, die sich im Korps für mehr Diversität einsetzten.

Liv stand auf und reichte der neuen Kollegin die Hand. »Es tut mir leid … Ich nehme mir nachher gerne Zeit und zeige Ihnen alles. Es ist nur so … Ich bin hier gerade an einer eiligen Sache dran.« Sie deutete auf die Akte, die aufgeschlagen auf ihrem Schreibtisch lag.

Noemi zuckte mit den Schultern. »Kein Problem. Wir brauchen uns nicht lange mit der Vorrede aufhalten. Worum geht es denn? Vielleicht kann ich helfen?«

Liv zögerte. Adriaan hatte sie gemahnt, Diskretion zu wahren. Doch Noemi war bereits an den Schreibtisch herangetreten und blickte auf die Akte. Sie deutete auf das Foto von Rob van Loon.

»Seltsam«, meinte sie. »Der Kerl kommt mir bekannt vor.«

4

Die Waterbuurt war ein von schmalen Kanälen durchzogener Stadtteil im Südosten von Den Haag, in dem vorwiegend Menschen mit niedrigen bis mittleren Einkommen lebten. Liv fuhr an uniformen Häuserzeilen vorbei, die sich allenfalls in der Gestaltung der briefmarkengroßen Vorgärten unterschieden. Lediglich die Straßenschilder dienten der Orientierung.

Sie folgte dem Navigationsgerät ihres Autos zu dem schmalen Eckhaus, das Rob van Loon mit seiner Freundin Lisanne bewohnte, stellte den Wagen auf dem Parkplatz davor ab und ging zur Haustür.

Liv hatte Noemi Bogaard damit beauftragt, eine Datenbankabfrage nach Rob van Loon zu machen. Damit war sie erst mal beschäftigt, und Liv ging davon aus, dass sich in den Systemen nichts Heikles über Van Loon befand, ansonsten hätte Adriaan ihr davon erzählt.

Liv betätigte die Klingel, und nach kurzem Warten öffnete eine junge Frau die Haustür. Lisanne Eldering musste Ende zwanzig, Anfang dreißig sein. Sie trug Jeans und das übergroße T-Shirt einer Hard-Rock-Band. Die pink gefärbten Haare fielen ihr auf die Schultern. In ihrer Nasenscheidewand steckte ein silberner Piercing-Ring, der Liv an die Nasenringe erinnerte, die man Kühen verpasste.

Nachdem sie sich vorgestellt und ihren Dienstausweis vorgezeigt hatte, bat Lisanne sie herein. Sie schien erleichtert, dass sich jemand von der Polizei wegen ihres Freundes blicken ließ.

»Ihre Kollegen auf der Wache haben nicht gerade den Eindruck gemacht, als würden sie mich ernst nehmen«, sagte Lisanne, während sie Liv durch den Hausflur führte.

»Ich verstehe Ihren Unmut. Allerdings gilt bei Erwachsenen das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Jeder Mensch darf sein, wo er will, und es besteht ja bei Ihrem Freund immer noch die Möglichkeit, dass er sich meldet und wohlbehalten wiederauftaucht …«

»Aber es ist überhaupt nicht seine Art, einfach zu verschwinden. Vor allem, weil wir …« Lisanne sprach nicht weiter und schien mit den Tränen zu ringen. Sie wandte sich ab und führte Liv durch den schmalen Eingangsbereich in ein offenes Wohn-Ess-Zimmer. Eine Theke trennte die Küchenzeile vom Rest des Zimmers ab, in dem ein runder Esstisch, eine Couch und ein überdimensionierter Fernseher standen.

Es gab keine Klimaanlage, die Hitze staute sich in den Räumen.

Livs Blick wanderte zu dem Tisch hinüber. Diverse Prospekte lagen darauf. Es waren Kataloge von Babymärkten.

»Sie erwarten ein Kind?«

Lisanne nickte. »Wir wollten diese Woche das Kinderzimmer aussuchen …«

Liv erwiderte nichts darauf, da sich in ihren Gedanken zwei widerstreitende Theorien bildeten. Dass Rob van Loon verschwunden war, obwohl seine Freundin ein Kind erwartete, gab Anlass zur Sorge. Es konnte allerdings auch das genaue Gegenteil bedeuten, Rob wäre nicht der erste werdende Vater, der vor der neuen Verantwortung Reißaus nahm. Doch das wollte Liv der jungen Frau lieber nicht sagen.

»Sie haben meinen Kollegen auf der Wache erklärt, dass Rob am Sonntag zurück sein wollte?«, fragte sie stattdessen.

»Ja, das ist richtig.«

»Hatte er die Reise schon länger geplant?«

»Nein, es war ein spontaner Entschluss.«

»Und was trieb ihn dazu?«

»Rob hatte einige Tage zuvor einen Brief erhalten. Er … war ziemlich aufgewühlt, nachdem er ihn gelesen hatte.«

»Wissen Sie, was in dem Schreiben stand?«

»Nicht genau, nein. Er sagte nur, dass der Brief von einem alten Freund stamme, dem es offenbar nicht gut ging. Rob wollte ihn unbedingt besuchen.«

»Hat er Ihnen den Namen dieses Freundes genannt?«

Lisanne schüttelte den Kopf. »Er meinte, da sei eine alte Sache, die er ins Reine bringen müsse. Ich fragte Rob, ob ich mitkommen soll, aber das wollte er nicht.«

Liv blickte sich nachdenklich im Zimmer um. Die Wohnung war eingerichtet wie viele andere. Die Möbel stammten dem Aussehen nach überwiegend von IKEA, die Wände waren in unterschiedlichen Farben gestrichen. Diverse elektronische Unterhaltungsgeräte standen herum.

»Darf ich mich nach Ihrem Beruf erkundigen?«, fragte Liv.

»Ich bin Erzieherin. Ich habe mir immer eigene Kinder gewünscht und Rob auch.« Lisanne hob eine Hand, als Liv etwas sagen wollte. »Ich weiß, was Sie vielleicht denken. Aber ich kann Ihnen versichern, dass Rob nicht abgehauen ist. Er ist verrückt nach Kindern, und … er war zu Tränen gerührt, als ich ihm das Ultraschallbild gezeigt habe.«

Was nichts zu bedeuten hatte, wie Liv wusste. Sie hatte in ihrer Zeit als Streifenpolizistin genügend solcher Familiendramen erlebt.

»Gab es in letzter Zeit irgendetwas, das Rob Sorgen bereitet hat?«

»Nein. Rob war zufrieden mit seinem Job. Im Kurhaus zu arbeiten, machte ihn sehr stolz … Hören Sie, Ihre Kollegen haben mich das schon alles gefragt. Es gibt wirklich keinen Grund, weshalb Rob einfach so verschwinden sollte. Er ist jemand, der sich für gewöhnlich auch aus allem Ärger heraushält. Ich … Ich habe schon mit dem Hotel in Veere telefoniert. Ich weiß, dass er dort sein Zimmer nicht geräumt hat. Es muss ihm irgendetwas zugestoßen sein.«

Liv konnte die Sorge der jungen Frau nachvollziehen. Aus ihrer Perspektive schien es tatsächlich keinen Grund zu geben, weshalb ihr Freund einfach von der Bildfläche...

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