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Die Séance

hier erhältlich:

Eine Frau wird vergewaltigt und ermordet aufgefunden. Das Muster ist exakt dasselbe wie bei einer Mordserie vor zwölf Jahren. Der damals ermittelnde Polizist Beau Kidd wurde für den Täter gehalten und von seinem Partner erschossen. Ist nun ein Nachahmungstäter am Werk oder war Beau Kidd unschuldig? Um dieses Thema dreht sich das Gespräch auf Christinas Einzugsparty in ihrem alten viktorianischen Herrenhaus. Um die Stimmung etwas aufzulockern, holt ein Gast ein Ouija-Bord hervor … und plötzlich steht der ruhelose Geist von Beau Kidd im Raum und fleht Christina an, ihm zu helfen. Die aktuellen Morde sind keine Nachahmungstaten, sondern der ursprüngliche Mörder läuft immer noch frei herum. Der ehemalige Polizist Jett Braden ist skeptisch, als Christina ihm von ihrem geisterhaften Besuch erzählt. Doch seine Freunde bei der Polizei bestätigen die grausamen Details der Fälle. Ihre Quelle aus dem Jenseits ist zuverlässig - der Interstate-Killer läuft immer noch frei herum, und die Zahl der Opfer wächst.


  • Erscheinungstag: 10.12.2012
  • Seitenanzahl: 192
  • ISBN/Artikelnummer: 9783955761837
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Heather Graham

Die Séance

Roman

Image

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2012 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

The Séance

Copyright © 2007 by Heather Graham Pozzessere

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Übersetzt von Volker Schnell

Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Umschlaggestaltung: pecher und soiron, Köln

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © Charles William Bush

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN eBook 978-3-95576-183-7

www.mira-taschenbuch.de

eBook-Herstellung und Auslieferung:
readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

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Die Séance

Für Mary Walkley, mit vielem Dank für viele Dinge, und mit den allerbesten Wünschen an Leigh Collet

PROLOG

Christie öffnete die Augen.

Alles schien so zu sein, wie es sein sollte. Die kleine Porzellanuhr auf dem Kaminsims – das Lieblingsstück ihrer Granma, aus Irland herübergebracht – war an ihrem Platz, die Sekunden tickten sanft dahin. Im Badezimmer brannte ein Licht, weil sie vollständige Dunkelheit nicht mochte.

Die Klimaanlage summte.

Die Uhr schlug leise.

Es war Mitternacht.

Dann begriff sie, was nicht stimmte. Ihr Großvater war im Zimmer. Er beobachtete sie von dem alten weißen Schaukelstuhl, der vor ihrem Bett stand. Er rauchte seine alte Pfeife, schaukelte sanft, und er lächelte, als sie die Augen öffnete.

“Granpa?”, murmelte sie.

“Ah, Kleine, ich habe dich geweckt”, sagte er. “Das wollte ich nicht.”

“Ist schon okay, Granpa”, sagte sie, neugierig. “Stimmt etwas nicht?”

“Nein, meine Kleine, alles in Ordnung”, sagte er und beugte sich zu ihr vor. “Ich möchte bloß, dass du immer gut zu deiner Granma bist, das ist alles, Christie. Sei immer für sie da.”

Beinahe hätte sie protestierend laut herausgelacht. Sie war erst zwölf Jahre alt, und sie lebte nicht einmal in der Nähe ihrer Großmutter, deshalb konnte sie kaum viel für sie tun. “Ich bin doch noch klein, Granpa”, erinnerte sie ihn. “Ich kann nicht mal alleine einkaufen gehen.”

Sie wurde mit seinem tiefen und gewinnenden Lächeln belohnt. “Du bist noch jung, Mädchen, du bist noch jung. Aber Kinder können sehr viel Liebe schenken.”

Sie verzog das Gesicht, plötzlich überrascht, dass er so gut aussah und dass er so ruhig wirkte, wie er so schaukelnd dasaß, der angenehme Duft seiner Pfeife so stark. Granma hatte ihm kürzlich wegen dieser Pfeife zugesetzt. Und er hatte versucht, mit dem Rauchen aufzuhören, um ihr eine Freude zu machen, was leicht genug gewesen war, da er in letzter Zeit so oft krank im Bett gelegen hatte. Deshalb war sie überhaupt hier, obwohl sie eigentlich zu Hause sein und zur Schule gehen sollte. Sie waren hergekommen, um Granma zu helfen. Natürlich, Granma war nicht allein. Christies Onkel, der Bruder ihrer Mutter, lebte mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in der Nähe, aber Christie vermutete, dass ihre Großmutter jetzt ihre Mutter brauchte. Bestimmt glaubte ihre Mutter, dass Töchter stärker mit den Eltern verbunden waren – oder vielleicht waren Töchter einfach nützlicher.

“Sie müsste es wissen, ja, müsste sie, aber du wirst dafür sorgen, dass sie weiß, dass ich sie liebe, nicht wahr?”, sagte Granpa.

“Ach, Granpa. Das weiß sie doch längst.”

“Und deine Mutter auch. Aber die hat deinen Daddy, und der ist ein guter Mann.”

“Mom liebt dich auch, Granpa”, sagte Christie entschlossen, sie fühlte, es war wichtig, dass er das wirklich begriff.

“Ja. Und du liebst mich auch, nicht, Püppchen?”

“Ganz bestimmt!”

“Deine Granma wird mich am meisten vermissen.”

“Was redest du denn da, Granpa? Du gehst doch nicht weg!”

“Sei für sie da”, sagte er, dann erhob er sich und legte seine Pfeife auf den Kamin. Er kam ans Bett, setzte sich neben sie, nahm sie in die Arme, drückte sie gegen seine Brust und hielt sie fest, wie er das oft machte, wenn er ihr eine Geschichte vorlas – oder sich eine für sie ausdachte. Sie wusste fast nie, was Wahrheit und was Erfindung war, denn Granpa besaß, hatte Granma mal zu ihr gesagt, das Talent, hemmungslos zu flunkern. Aber sie liebte ihn, und sie liebte seine Geschichten, und alle ihre Freundinnen liebten ihn auch, weil er die Fabeln so toll erzählen konnte, die er aus der alten Heimat mitgebracht hatte.

Er strich ihr sanft das Haar zurück. “Die Iren sind was Besonderes”, sagte er zu ihr. “Die haben die Gabe des zweiten Gesichts.”

Sie wusste noch, wie Granpa das einmal zu ihrem Vater gesagt hatte. Der hatte nur trocken bemerkt: “Klar, ganz was Besonderes. Gib ihnen ‘ne Flasche Whiskey, und sie sehen Dinge, die sonst keiner von uns sieht.”

Granpa war nicht etwa wütend geworden; er hatte gemeinsam mit ihrem Vater darüber gelacht. Ihr Dad war nicht in Irland geboren worden, wie ihre Mutter, aber auch seine Eltern stammten von der grünen Insel. Und obwohl sie noch nicht ganz ein Teenager war, wusste sie doch ganz genau, was um sie herum vor sich ging.

Eine Menge der irischen Freunde ihrer Eltern hatten die Angewohnheit, sehr viel Whiskey zu konsumieren.

“Gib auf deine Gabe acht”, sagte Granpa sanft zu ihr.

“Aber Granpa, ich bin doch noch zu jung zum Trinken”, sagte sie. “Ehrlich.”

Er lachte. “Ich meine die Gabe des zweiten Gesichts, du kleiner Frechdachs”, sagte er neckend. “Ich muss jetzt gehen, Christie. Aber mir geht’s gut. Das richtest du der Granma bitte aus, okay?”

“Wo gehst du denn hin?”, fragte sie.

“Wo es schön ist”, sagte er. “Wo es keine Kriege gibt, wo Gott nur Güte sieht, wenn er auf uns hinabschaut, nicht Religionen. Wo das Gras immer so grün bleibt wie damals in Eire.”

Es machte ihr Angst, wie er redete. Sie hasste es, wenn jemand über den Tod sprach. Sie wusste, dass ihre Großeltern schon alt waren, dass alle Menschen älter wurden. Aber sie dachte immer, solange sie selbst fröhlich war und ihre Großeltern davon überzeugen konnte, sie wären noch jung, könnte nichts wirklich Schlimmes geschehen. “So ein schöner Ort?”, hänselte sie. “Da sollten wir alle mitkommen.”

“Das geht jetzt nicht, noch nicht”, sagte er. “Alles zu seiner Zeit. Deine Granma wird eines Tages zu mir kommen. Bis dahin kümmere dich bitte um sie.”

Er strich ihr noch einmal übers Haar. Dann runzelte er für einen Augenblick die Stirn und sah sich um.

“Was ist denn, Granpa?”, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf. “Ach, na ja, es ist alles neu für mich, aber wie’s scheint … tja, es gibt so viele Türen. Ich habe tatsächlich eine neue Tür geöffnet. Kein Grund zur Sorge, Püppchen.” Er drückte sie an sich, lächelte zärtlich. “Vergiss nicht, was ich dir alles gesagt habe, mein kleines Mädchen.” Er steckte sie wieder ins Bett und begann ein altes Wiegenlied zu singen. Granpa hatte eine tolle Stimme. Er war nie öffentlich aufgetreten – außer in Pubs –, aber er hätte Karriere machen können, dachte sie stolz. Er selbst hielt überhaupt nichts von seinem Talent – seiner Ansicht nach konnten alle irischen Männer Tenöre werden, wenn sie das wollten.

Während er ihr etwas vorsang, sank sie wieder in tiefen Schlaf.

Am Morgen hörte sie leises Weinen aus dem Salon. In diesem Haus gab es einen Salon, nicht bloß ein Wohnzimmer, wie bei ihr daheim in Miami. Ihre Großeltern hatten das Haus gekauft, lange bevor ein Großteil von Orlando erst von der Disney Company aufgekauft worden war, dann von Hotel- und Restaurantketten und anderen Firmen der Unterhaltungsindustrie. Es war eins der wirklich historischen Häuser in der Gegend, eins der wenigen, die schon vor dem Bürgerkrieg erbaut worden waren – oder vor dem Überfall des Nordens, wie manche von Opas Freunden den Bürgerkrieg gern nannten. Es war schon fast eine Ruine gewesen, als sie es fanden, und deshalb hatten sie es sich überhaupt nur leisten können. Sie nannten es ein viktorianisches Herrenhaus. Christies zwei Cousins fanden es gruselig – obwohl sie Jungs waren. Sie selbst liebte es – aber schließlich liebte sie auch ihre Großeltern, und die bestanden nie darauf, dass sie abends alle Lichter löschte.

Jetzt war heller Tag. Aber selbst von ihrem Schlafzimmer in der ersten Etage konnte sie leises Schluchzen unten im Salon hören.

Sie sprang aus dem Bett und eilte zur Treppe. Zuerst hörte sie die Stimme ihres Vaters. “Mary, Seamus hat jetzt seinen Frieden. Er hat seinen Frieden.”

“Sei doch still, Sean”, sagte ihre Mutter zu ihrem Vater. “Mom weiß das. Wir weinen alle bloß, weil wir ihn so sehr vermissen.”

Granma blickte plötzlich die Treppe hoch, sie wirkte traurig, aber stark. Granma wirkte immer stark. Sie streckte die Arme aus. “Christie, Kind.”

Christie rannte die Treppe hinunter, setzte sich bei ihrer Großmutter auf den Schoß und umarmte sie. “Granma? Was ist passiert?”

“Granpa. Er – er ist von uns gegangen.”

“Gegangen?”, fragte Christie, zog eine Schnute. Dann rollte die Erinnerung an letzte Nacht über sie hinweg wie eine Welle. “Ach … er hat mir erzählt, dass er gehen müsste.”

Eine merkwürdige Stille machte sich breit. “Als du an seinem Bett gestanden hast, Christie?”, fragte ihr Vater.

“Nein, Dad. Letzte Nacht. Er war in meinem Zimmer, rauchte seine Pfeife, saß in dem Schaukelstuhl. Er sagte mir, dass er gehen müsste und dass du ihn dort eines Tages wiedersehen wirst, Granma. Er sagte, ich muss immer für dich da sein. Er sagte, da wäre es grün, wie in Eire. Und …”

Wieder Stille. Kurz darauf klingelte es an der Tür. Ihre Großmutter schob Christie von ihrem Schoß, als der Notarzt und die Polizei hereinkamen. Christie schnitt eine Grimasse und fragte sich, was die Polizei hier wollte, dann war sie plötzlich von allen vergessen, als der Notarzt und seine Assistenten die Treppe hoch eilten. Sie folgte ihnen. Jemand fragte ihre Granma, was passiert wäre; sie erklärte, als sie aufwachte, hätte er sich schon kalt angefühlt.

“Er ist seit Stunden tot, mindestens seit Mitternacht”, sagte jemand anders. Dann ging dieser jemand ans Telefon und rief Opas Hausarzt an, und Christie wurde klar, weil er zu Hause “dahingegangen” war, mussten sie sichergehen, dass Granma ihn nicht umgebracht hatte.

Über diesen Verdacht war Christie entsetzt.

Aber dann erst begriff sie, was das wirklich bedeutete.

Granpa war gegangen.

Granpa war tot.

Aber er war auch in ihrem Zimmer gewesen!

Nach Mitternacht.

Ihre Mutter entdeckte sie und ergriff ihre Hand. Sie schluchzte, und Christie spürte ihren Schmerz, auch ihren eigenen Verlust. Irgendwie war das nicht so schlimm. Granpa war schließlich zufrieden gewesen, bereit, in einem Land zu leben, wo es wieder so grün war wie in Eire.

“Mom, es ist alles gut, es ist alles gut”, sagte sie eindringlich.

Ihre Mutter war abgelenkt und schien sie nicht richtig zu verstehen. “Er war sehr krank”, wisperte sie. “Er hatte Schmerzen. Und jetzt … hat er keine mehr.”

“Ich habe ihn gesehen, Mom. Letzte Nacht. Er liebt dich ganz doll. Er sagte, dass es ihm gut geht, und er will, dass es dir auch gut geht.”

“Kindermund”, sagte ihr Vater freundlich. “Hey, es ist kalt heute, junge Dame. Du solltest was an die Füße ziehen.”

“Ich kümmere mich um sie”, sagte ihre Mutter.

Schweigend ging sie mit Christie auf ihr Zimmer, immer noch leicht abgelenkt, weinend; die Tränen rannen ihr übers Gesicht.

In Christies Zimmer blieb ihre Mutter stehen und starrte sie mit gerunzelter Stirn an. “Beinahe … beinahe kann ich seinen Tabak riechen.”

“Er war ja auch hier. Bei mir. Das habe ich dir doch gesagt, Mom.”

Ihre Mutter sah sie an, als ob sie Christie zum ersten Mal wirklich verstand. Sie vergaß die Slipper völlig, wurde blass und verließ das Zimmer.

In dieser Nacht kamen die anderen Iren aus der Gegend zu Besuch. Zuerst und vor allem natürlich die Familie, ihr Onkel und ihre Tante und ihre Cousins. Sie alle in Trauer, die Jungs, nur wenig älter als Christie, wirkten auf einmal sehr erwachsen und ernst und gingen sanft und sogar höflich mit ihr um.

Granpa hatte exakte Anweisungen hinterlassen. Man sollte nicht um ihn trauern. Sein Leben sollte nach alter Art gefeiert werden. Also kamen auch seine Kumpels, und sie tranken Bier, und sie lamentierten, aber sie feierten auch, erzählten Geschichten, tranken noch mehr Bier. Und Granpa wäre auf seine Familie stolz gewesen, sie bewirtete alle, die ihn geliebt hatten, so wie es in der alten Heimat üblich war.

Seamus Michael McDuff wurde drei Tage später beerdigt.

An seinem Grab gab es niemanden, der nicht um ihn weinte. Er war siebzig Jahre alt geworden und hatte ein erfülltes Leben gehabt. Er war aus Irland in die Vereinigten Staaten gekommen, mit seiner Frau, seiner Tochter und seinem Sohn, und er hatte ein gutes Heim für sie geschaffen. Er war Patissier gewesen, der für Kuchen und Desserts zuständige Küchenchef eines Restaurants, und er hatte sehr hart gearbeitet und sein Geld gespart, und schließlich sein eigenes Restaurant eröffnet, wo er auch das irische Talent für Gesang und Geschwätz an den Tag gelegt und seine Gäste ebenso gut unterhalten wie leiblich verwöhnt hatte. Er hatte Gott und seine Familie geliebt; er war ein guter Mensch gewesen.

Als die alten irischen Dudelsäcke die traurige Melodie eines Klagelieds erklingen ließen, da sah Christie ihn noch einmal.

Die meisten Leute standen, aber Granma hatte sich hingesetzt, als er an ihre Seite trat, ihr Haar berührte und ihr ins Ohr flüsterte.

Granma sah auf, verblüfft, die Stirn runzelnd. Dann schien es Christie so, als würde die Andeutung eines versonnenen Lächelns durch ihre Tränen schimmern.

Granpa drehte sich um, als sei ihm bewusst, dass Christie ihn beobachtete, und blinzelte ihr zu. Er sah jetzt so gesund aus. So viel jünger. Sein verschmitztes gälisches Selbst.

Sie konnte nicht anders, sie musste einfach zurücklächeln.

Die Trauerfeier ging zu Ende, die Dudelsäcke spielten “Danny Boy”.

In diesem Augenblick sah sie auf, ließ ihren Blick über den ganzen Friedhof schweifen.

Eine weitere Beerdigungszeremonie fand gerade statt, klein im Vergleich zu der ihres Großvaters. Da waren ein Mann und eine Frau und ein Priester. Nur drei Leute. Die Frau weinte sich die Seele aus dem Leib. Der Priester redete auf sie ein, wollte sie offensichtlich beruhigen. Seltsamerweise schien es Christie so, als hätten sie es eilig, als wollten sie nicht von irgendwem beobachtet werden.

Das alles hatte etwas furchtbar Trauriges an sich.

Sie schaute auf ihren Großvater. Er betrachtete sie mit einer Art wehmütigem Humor in seinem Blick.

“Liebe ist alles, was wir mit uns ins Grab nehmen können”, murmelte er. “Liebe ist das Wichtigste jeder menschlichen Existenz, und ich bin so reich daran gestorben.”

Sie wollte mit ihm sprechen; außerdem war ihr zum Schreien zumute.

Weil er nicht wirklich da sein konnte.

Sie hörte ihn flüstern. “Sei lieb, Mädchen. Sei immer freundlich zu deinen Mitmenschen, mir zuliebe.”

Sie bemerkte, dass die Trauerfeier fast vorbei war und sie plötzlich auch eine Rose in der Hand hielt. Sie machte nach, was die anderen taten, und warf sie auf den Sarg. Sie wandte sich ab und sah, dass eine Rose auf den Boden gefallen war. Sie hob sie auf und ging, ohne nachzudenken, hinüber zu der anderen Beisetzung, die auch gerade ihrem Ende zuging. Der Priester und das trauernde Paar waren bereits gegangen. Nur die Sargträger standen noch um das Grab, wollten gerade den Sarg hinablassen.

“Kennst du diesen Mann?”, fragte einer von ihnen, als sie näher kam.

“Nein.”

“Ja, dann …?”

Sie legte die Rose auf den Sarg. “Geh mit Gott”, murmelte sie.

“Christina!” Sie hörte, wie ihre Mutter nach ihr rief. Sie wandte sich ab von der traurigen Einsamkeit dieses Grabes, an dem nur so wenige Leute getrauert hatten, und lief zurück zu ihrer Familie.

Später erzählte sie Großmutter, dass sie Granpa gesehen hatte, weil sie glaubte, ihre Granma würde sich dann besser fühlen. Granma starrte sie an und sagte: “Ja, Liebes, ich habe ihn auch gespürt.”

Aber abends schien ihre Mutter, zu ihrer Überraschung, böse auf sie zu sein. “Christie, bitte hör auf zu sagen, du hättest deinen Großvater gesehen. Lass das. Es tut anderen Menschen weh, verstehst du das nicht?”

Sie verstand es nicht. “Ich habe niemandem wehgetan”, protestierte sie.

“Und dann bist du auch noch weggelaufen … Gott, war das furchtbar. Wenn man bedenkt, er wurde zur selben Zeit, am selben Tag beerdigt wie mein Vater.”

“Mom, wovon redest du eigentlich?”

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. “Tut mir leid, Christina. Ich liebe dich sehr, und ich weiß, du bist genauso traurig wie wir alle … aber du träumst vor dich hin. Du träumst nachts, und du hast Tagträume, wenn du wach bist. Du kannst Granpa nicht sehen. Und du musst aufhören zu behaupten, dass du es könntest!”

Ihre Mutter war durcheinander, natürlich; sie hatte gerade ihren Vater verloren. Das konnte Christie verstehen. Trotzdem, es war beinahe, als ob ihre Mutter … Angst hätte.

Wenn sie wirklich ihren Großvater sehen konnte, war das nicht eigentlich eine gute Sache?

Um ehrlich zu sein, sie wünschte, dass er wiederkommen würde, noch näher, dass er mit ihr reden, ihr alles erklären würde.

Für wen war das andere, frisch ausgehobene Grab gewesen?

Darauf hatte ihre Mutter nicht geantwortet, aber sie hörte die anderen Leute tuscheln. Jeder bestätigte, wie schrecklich es sei. Ein Mörder war frei herumgelaufen, aber zum Glück jetzt tot. Er war von der Polizei erschossen worden, obwohl er selbst die Polizei gewesen war, irgend so etwas. Es verwirrte sie, wie die Leute immer gleich verstummten, wenn sie näher kam. Sie war schließlich fast schon ein Teenager, groß für ihr Alter, sie entwickelte sogar schon Figur. Es war beleidigend, wie ein Kind behandelt zu werden. Dann wurde ihr klar, dass sie eine Blume auf den Sarg eines Mörders gelegt hatte. Das war verstörend. Aber sie hatte ihren Granpa gerade erst gesehen, und er hatte von Freundlichkeit gesprochen …

“Was ist da bloß los?”, fragte sie ihre Freundin Ana, die in derselben Straße wohnte und im selben Alter war. Ana war natürlich auch zur Beerdigung und hinterher zum Haus gekommen, zusammen mit ihren Eltern und ihrem Cousin Jedidiah, der schick aussah in seiner Militäruniform. Ein unmittelbarer Nachbar ihrer Großeltern war auch anwesend, Tony, schon achtzehn. Er und Jed unterhielten sich unter vier Augen, deshalb konnte sie mit Ana allein reden.

“Das wusstest du nicht?”, fragte Ana. “Sie haben diesen Kerl erwischt, der Leute umbrachte. Vielleicht habt ihr da unten in Miami nicht so viel davon mitgekriegt, aber hier oben sind alle total verängstigt gewesen. Dieser Typ wurde auch heute beerdigt.”

Und sie hatte eine Rose auf seinen Sarg gelegt.

Später, als sie mit ihrer Großmutter allein war, wurde ihr wieder gesagt, sie solle nicht mehr davon reden, ihren Großvater sehen zu können.

“Du hast ihn geliebt, Kleines. Das weiß ich. Aber du darfst nicht mehr erzählen, dass du ihn gesehen hättest, auch wenn ich weiß, du willst mir damit nur das Herz leichter machen.”

“Tue ich dir weh, Granma?”, fragte sie.

“Nein, das ist es nicht.”

“Was dann?”

Granma sah sie ganz ernst an. “Es ist gefährlich. Sehr gefährlich. Heute hast du dich von ihm verabschiedet. Niemals, niemals wieder darfst du an ihn denken, als ob er zu dir sprechen würde … dir nahe käme … niemals wieder.”

“Granpa würde mir nie etwas antun.”

“Granpa nicht.”

“Aber …”

Granma sprach plötzlich ganz intensiv. “Um Granpa sehen zu können … hast du eine Tür geöffnet. Und Gott allein weiß, wer sonst noch durch diese Tür treten kann.”

Bei den Worten ihrer Granma wurde ihr eiskalt.

“Granma, hat Ana die Wahrheit gesagt? Alle glauben, mit zwölf wäre ich noch nicht alt genug, um irgendwas zu verstehen. Aber das stimmt nicht. Bitte, sag mir, ist heute auch ein Mörder beerdigt worden?”

Das Gesicht ihrer Großmutter wurde bleich. “Sprich nie davon, sprich diesen Namen nie in Verbindung mit deinem Großvater aus!”

“Was für einen Namen?”

“Das geht dich nichts an. Es ist vorbei. Eine entsetzliche Zeit ist vorüber. Und dein Großvater … nun, er ist jetzt in Gottes Obhut. Was hingegen aus solchen Monstern wird, das weiß ich nicht.”

Dann gab Granma ihr einen Kuss und hielt sie fest. “Es ist alles gut, mein Kind, alles gut. Zwischen uns ist so viel Liebe! Ich habe dich, und ich habe deine Mom und meinen lieben Sohn und seine Freunde … Es ist alles gut.”

Christie betrachtete sie. Sie wollte schreien, denn es war nicht alles gut. Sie wollten alle immer die ganze Welt von ihr fernhalten, aber bestimmt war es besser, die Welt zu verstehen, als sich davor zu verstecken.

Aber hier im Haus ihrer Großeltern – jetzt nur noch dem ihrer Großmutter – waren alle viel zu durcheinander.

Wie verloren.

Sie wusste nicht genau, warum, und das machte ihr Angst. Nicht Angst vor ihrem Granpa, sondern lediglich …

Angst.

Angst vor den Toten.

In dieser Nacht konnte sie nicht schlafen. Sie lag hellwach in ihrem Bett und betete stumm zum Himmel, dass er ihr nicht erscheinen möge.

Und das tat er auch nicht.

Wahrscheinlich war sie so durcheinander gewesen, dass sie sich einfach nur Sachen eingebildet hatte.

Granpa, bitte komm nicht mehr. Komm niemals wieder. Wenn du mich auch nur ein bisschen liebst, bitte, dann komm niemals wieder.

Sie redete sich selbst ein, dass sie nur einen Luftzug spürte, obwohl es keinen gab. Eine sanfte Berührung, als ob …

Als ob man sie gehört und verstanden hätte.

Ihr Großvater tauchte nicht mehr auf.

Tatsächlich hat sie ihn nie wieder gesehen, nicht einmal in ihren Träumen.

Und als die Jahre dahingingen, vergaß sie die Geschehnisse, langsam, aber vollständig.

Es war bloß ein Traum gewesen, genau wie ihre Mutter gesagt hatte.

Daran konnte sie glauben, beinahe zwölf Jahre lang. Und dann, eines Tages, musste sie begreifen, dass ihre Großmutter damals die Wahrheit gesagt hatte.

Die Toten sehen zu können … das war gefährlich.

1. KAPITEL

Ein Autopsieraum roch immer nach Tod, egal wie gründlich er sterilisiert war.

Und es war dort nie dunkel, wie so oft in so vielen Filmen. Falls überhaupt, war es zu hell. Alles hier kündete vom Tod, und zwar ganz nüchtern und sachlich.

Die nüchternen Fakten, ja, die waren es, hinter denen sie her waren. Die Stimme des Opfers war für immer verstummt, und nur der mitteilsame, aber stille Schrei des Leichnams war übrig, um denen zu helfen, die einen Mörder fassen wollten.

Jed Braden konnte nie begreifen, wie der Gerichtsmediziner und die Cops angesichts dieses Ortes so blasiert sein konnten, dass sie es fertigbrachten, mitten im Autopsieraum nicht nur zu essen, sondern ihr Fastfood regelrecht zu verschlingen.

Nicht dass er nicht selbst schon in genügend Autopsieräumen gewesen wäre. Tatsächlich war er wesentlich vertrauter mit seiner gegenwärtigen Umgebung, als er jemals hätte sein wollen. Aber essen, hier drin? Nichts für ihn.

Heute Morgen waren es Donuts für die anderen, aber er hatte sogar den Kaffee abgelehnt. Er war nie bei einer Autopsie ohnmächtig geworden, nicht mal als blutiger Anfänger bei der Mordkommission, und er wollte nicht ausgerechnet heute damit anfangen.

Auch eine frische Leiche riecht. Der Körper – jeder Körper – setzt bei Eintritt des Todes Gase frei. Und wenn es eine Weile gedauert hat, bis jemand die Leiche findet, egal ob es nun ein natürlicher Tod, ein Selbstmord oder ein gewaltsamer Tod gewesen ist, die Bakterien und der allgemeine Vorgang der Verwesung richten Verheerendes am Geruchssinn der Lebenden an.

Aber manchmal dachte er, die schlimmsten Gerüche von allen sind jene, die nun einmal Begleitumstand des Sicherns von Beweismitteln waren: Formaldehyd und andere Präservatoren für alle möglichen Stoffe, und die schweren Adstringenzien, die man benutzt, um die Spuren von Tod und Verwesung zu kaschieren. Manche Gerichtsmediziner und ihre Assistenten trugen Masken oder sogar Atemschutzgeräte. Und seit die Nation prozessverrückt geworden war, waren diese Dinger in einigen Gerichtsbezirken sogar zwingend vorgeschrieben.

Nicht so Doc Martin. Er war schon immer der Ansicht gewesen, die Gerüche, die in Zusammenhang mit dem Tod entstehen, seien ein wichtiges Hilfsmittel. Er gehörte zu jenen fünfzig Prozent aller Menschen, die Zyanid riechen können. Außerdem war er ein Pedant; er hasste es, wenn eine Leiche exhumiert werden musste, weil beim ersten Mal irgendetwas falsch gemacht oder übersehen worden war.

Es gab keinen besseren Arzt, den man in einem Mordfall auf seiner Seite haben konnte.

Wann immer ein Todesfall verdächtig erschien, musste es eine Autopsie geben, und das schien immer die letzte, die ultimative Verletzung zu sein. Alles, was einmal zu einem lebendigen Menschen gehört, dessen Seele beherbergt hatte, wurde nicht nur nackt auf einem Stahltisch ausgebreitet, sondern aufgeschnitten, sämtlichen Innereien entledigt und akribisch untersucht.

Wenigstens war bei Margaritte keine Autopsie notwendig gewesen. Sie war vollgepumpt mit Morphinen, und am Ende hatten sich ihre Augen noch einmal geöffnet und in die seinen geblickt; sich dann für immer geschlossen. Ihre Brust hatte sich mit einem Flattern erhoben, dann war sie in seinen Armen gestorben. Sie sah aus, als würde sie nur schlafen, aber er wusste, dass sie nun endlich Frieden gefunden hatte.

Doc Martin sprach Uhrzeit und Datum in seinen Rekorder, schaltete das Gerät für einen Augenblick ab und starrte ihn an.

Allerdings sprach er nicht Jed direkt an. Er sprach zu Jerry Dwyer, neben ihm.

“Lieutenant. Was macht der denn hier?”

Jed stöhnte innerlich.

“Doc …”, murmelte Jerry unbehaglich. “Ich glaube, es ist sein … Gewissen.”

Der Gerichtsmediziner hob die buschigen Augenbrauen. “Aber er ist doch kein Cop mehr. Er ist ein Schreiberling.”

Er schaffte es, das Wort Schreiberling so auszusprechen, als wäre das ein anderes Wort für Drecksack.

Wieso auch nicht, dachte Jed. Er fühlte sich heute Morgen tatsächlich ein bisschen wie ein Drecksack.

Doc Martin schnüffelte. “Früher, da war er mal ein Cop. Sogar ein guter”, gab er muffig zu.

“Ja, also, dann geben Sie ihm doch ‘ne Chance”, meinte Jerry Dwyer. “Er hat immerhin eine Lizenz als Privatdetektiv. Er ist durchaus berechtigt, hier zu sein.”

Diesmal gab Martin einen skeptischen Laut von sich, der ganz hinten aus seiner Kehle kam. “Ja, er hat diese Lizenz, damit er seine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute stecken kann – um dann darüber zu schreiben. Arbeitet er etwa im Auftrag des toten Mädchens? Kennt er ihre Familie? Das bezweifele ich.”

“Vielleicht möchte ich nur, dass ihr Gerechtigkeit widerfährt”, sagte Jed ruhig. “Vielleicht haben wir vor zwölf Jahren ja alle falsch gelegen.”

“Vielleicht haben wir auch einfach nur einen Nachahmungstäter”, sagte Martin.

“Vielleicht haben wir damals aber schlichtweg den Falschen geschnappt.”

“Technisch gesehen haben wir niemanden geschnappt, also wenn man’s genau nimmt”, rief Jerry ihnen die unbehaglichen Details ins Gedächtnis.

“Und Sie würden sich heute wie ein Häuflein Elend fühlen, weil Sie es so hingestellt haben, als ob der Cop, der damals erschossen wurde, schuldig wie die Sünde war”, sagte Doc Martin zu Jed.

“Ja, falls das der Fall sein sollte, dann fühle ich mich tatsächlich wie ein Haufen Scheiße”, stimmte Jed zu.

Jerry kam ihm wieder zu Hilfe. “Hören Sie, sein eigener Partner dachte damals, er wäre schuldig. Zum Teufel, er war derjenige, der ihn erschossen hat. Und Robert Gessup, der Staatsanwalt, hatte genügend Beweismaterial für eine Verhaftung und eine Anklage zusammengetragen.” Jerry räusperte sich. “Und bis jetzt hat uns niemand etwas Gegenteiliges beweisen können. Vielleicht hat das alles mit damals gar nichts zu tun? Mit der Problematik von Nachahmungstätern sind wir doch alle bestens vertraut.”

“Die Sache mit Nachahmungstätern ist die, irgendwas machen sie immer falsch, irgendeine Kleinigkeit”, sagte Doc Martin. “Unglücklicherweise war ich bei den früheren Opfern nicht der zuständige Gerichtsmediziner. Das war der alte Dr. Mackleby, aber der ist letzten Sommer einem Herzanfall erlegen, und Dr. Austin, der jüngere Kollege, der auch an dem Fall gearbeitet hat, fiel einem Verkehrsunfall zum Opfer. Aber machen Sie sich keine Sorgen, wenn hier irgendetwas nicht koscher ist, dann finde ich es heraus. Ich bin gut. Verdammt gut.”

“Lieber Himmel, Doc”, sagte Jerry Dwyer und fügte trocken hinzu: “Das wussten wir bereits, bevor Sie uns daran erinnert haben.”

Martin grunzte und stellte den Kassettenrekorder wieder an. Jerry warf Jed einen Blick zu und hob die Schultern. Er hatte Jed gewarnt, dass es Schwierigkeiten geben könnte. Er hatte ihm vorher gesagt, wenn Martin der Meinung war, er müsse verschwinden, dann müsste er eben verschwinden.

Eine Autopsie war ein langer, komplizierter Vorgang, und Jed wusste das nur zu gut. In seinen fünf Jahren bei der Mordkommission hatte er gelernt, was alles aufs Genaueste und aufs Langweiligste getan werden musste. Und aufs Schmutzigste.

Er hätte nie gedacht, einmal einer Autopsie beizuwohnen, obwohl seine Anwesenheit für die Lösung des Falles gar nicht zwingend erforderlich war, aber eigentlich musste er heute auch gar nicht hier sein.

Außer für sich selbst.

Die Frau auf dem Tisch steckte nicht mehr in einem Leichensack. Es gab keinen Grund, zuerst ihre Kleidungsstücke zu inspizieren. Sie war gänzlich ohne gefunden worden.

Die Entdeckung ihrer Leiche am Interstate Highway 4 war für die Polizei und auch jeden sonst, der sich vor zwölf Jahren während der ursprünglichen Mordserie in der Gegend aufgehalten hatte, nicht nur eine Tragödie, sondern auch ein Schock gewesen. Ihr Name war Sherri Mason und sie kam in die Gegend, weil hier die großen Vergnügungsparks angesiedelt waren, die wichtigen Hotels und die gehobene Gastronomie, und weil sie hier eine steile Karriere machen wollte. Die Polizei wusste, wer sie war, weil ihre Handtasche – nicht nur mit ihrem Pass, auch mit fünfundfünfzig Dollar und Kleingeld und mehreren Kreditkarten – in der Nähe ihrer nackten Leiche aufgefunden worden war.

Sherri Mason hatte nicht einfach nur dagelegen, sie war sorgfältig zur Schau gestellt, arrangiert worden, auf dem Rücken ausgestreckt, als würde sie schlafen, die Arme über der Brust gekreuzt, wie bei einer Mumie. Man nahm an, eine Annahme, die durch die Autopsie noch bestätigt werden musste, dass sie sexuell missbraucht worden war.

Genau wie die anderen fünf Opfer – die vor zwölf Jahren umgebracht worden waren.

Das Problem war, dass die Anwohner von Theme Park Central die letzten zwölf Jahre in der Überzeugung verbracht hatten, dass der Mörder dieser fünf jungen Frauen – gefunden neben demselben Highway, abgelegt in genau der gleichen Position – seine Taten selbst nicht überlebte. Er war ein Polizist namens Beau Kidd gewesen, erschossen von seinem eigenen Partner, der ihn bei der Leiche des fünften Opfers entdeckt hatte. Beau hatte seine Waffe gezogen und seinem Partner keine andere Chance gelassen, als zu schießen. Er war nie vor Gericht gestellt worden, weil er an Ort und Stelle für tot erklärt wurde, nachdem er sein Leben über der Leiche seines letzten Opfers ausgehaucht hatte.

Falls es sich bei ihm wirklich um den Mörder gehandelt hatte. Was die an dem Fall beteiligten Detectives und die Staatsanwaltschaft glaubten, da es genügend Indizien dafür gegeben hatte.

Diese Indizienbeweise waren durchaus stichhaltig gewesen, das wusste Jed. Er hatte den Fall selbst noch einmal aufgerollt, nachdem er aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Er sprach mit jedem, der irgendwie mit dem Fall zu tun hatte und den er auftreiben konnte. Sein erstes Buch, dem er seine Reputation als Schriftsteller verdankte, handelte von genau diesem Fall. Ein fiktives Werk, mit geänderten Namen, aber es basierte ganz eindeutig auf der Mordserie des Interstate-Killers.

Wie alle anderen auch hatte er, ohne weitere Nachforschungen anzustellen, die Morde dem Mann angelastet, der erschossen worden war. Einem Ermittler, der selbst an dem Fall arbeitete.

Als Doc Martin begann, seine Beobachtungen zu diktieren und Fotos zu knipsen, schlug sich Jed die Vergangenheit und all seine Zweifel erst mal aus dem Kopf. Die Leiche wies Anzeichen brutaler Misshandlung auf, jede Menge Prellungen. Wie erwartet, war sie sexuell missbraucht worden, aber wie damals war der Mörder vorsichtig gewesen. Weitere Tests waren notwendig, aber eigentlich waren alle Anwesenden jetzt schon sicher, dass sie keinerlei Körperflüssigkeiten nachweisen würden, die ihnen eine verwertbare DNA-Spur verschaffen könnten.

Die meisten Prellungen befanden sich um ihren Hals. Wie die früheren Opfer war sie erwürgt worden.

Ab und zu stellte der Gerichtsmediziner Jerry eine Frage, der erklärte, Sherri wäre zuletzt in einer örtlichen Shopping-Mall gesehen worden. Ihr Auto wurde dort auf dem Parkplatz gefunden. Sie war mit Freunden im Kino, später dann allein unterwegs gewesen. Als sie am nächsten Tag nicht zur Arbeit erschien, hatte ein Kollege sie als vermisst gemeldet, und die Meldung wurde offiziell bearbeitet, nachdem die vorgeschriebenen vierundzwanzig Stunden vergangen waren. Am dritten Tag nach ihrem Verschwinden wurde sie neben dem Highway aufgefunden.

Jed merkte, dass Jerry ihn anstarrte. “Genau wie das letzte Mal?”, wollte er wissen.

“Ich war bei keiner der damaligen Autopsien dabei, weißt du doch”, erwiderte Jed.

“Du hast Recherchen angestellt”, erinnerte Jerry ihn.

Jed zögerte und schüttelte grimmig den Kopf. “Die damaligen Opfer verschwanden und wurden innerhalb weniger Tage entdeckt. Sie hatten Wundmale, als ob sie sich gewehrt hätten. Viele Anzeichen von Gewaltanwendung, aber keine Schnitte, keine Brandwunden von Zigaretten oder etwas in der Art. Niemals konnte irgendetwas zur Gewinnung von DNA unter den Fingernägeln gefunden oder durch Abstriche sichergestellt werden. Das war einer der Gründe für die Annahme, der Mörder könnte ein Polizist sein. Wer immer diese Mädchen getötet hat, wusste genau, wie man einen Mord begeht, ohne Spuren zu hinterlassen.”

“Keiner von Ihnen beiden hat damals an dem Fall gearbeitet oder war wenigstens am Rande involviert?”, fragte Doc Martin und sah auf.

Beide Männer schüttelten den Kopf.

“Ich war zu der Zeit auch noch nicht hier. Ich hab damals noch im Broward County gearbeitet”, murmelte Doc Martin. “Hey, wenn ich drüber nachdenke, Jed, Sie müssen damals noch fast ein Kind gewesen sein.”

“Achtzehn, und beim Militär”, sagte Jed.

Dann machte Doc Martin sich an die Arbeit. Nachdem er auch den Rücken der Leiche inspiziert hatte, wurde sie gebadet und jede Faser möglichen Beweismaterials im Abfluss aufgefangen. Gerätschaften klirrten gegen den rostfreien Stahl des Autopsietisches. Das Untere von Sherris Fingernägeln wurde herausgekratzt, aber Jed war bereits sicher, dass man nichts finden würde. Als Nächstes kam das Skalpell, der Y-Einschnitt, die Entnahme von Organen und Körperflüssigkeiten für weitere Tests. Alle waren stumm. Jed ertappte sich dabei, über Sherris Träume zu spekulieren. Sie war nach Orlando gekommen, um einen Anfang zu machen. Damit sie etwas in ihren Lebenslauf schreiben konnte, für spätere Castings in Kalifornien oder New York, Hollywood oder am Broadway. Bei all diesen Vergnügungsparks in der Gegend hätte sie eine gute Chance gehabt, als Tänzerin oder Sängerin Arbeit zu finden.

Wen hatte sie also getroffen? Was hatte sie getan, um all die glänzenden Aussichten zunichtezumachen, die das Leben für sie bereitzuhalten schien?

“Nun, Doc?”, fragte Jerry leise. Jed musterte seinen alten Freund. Jerry hatte schon einige Jahre vor ihm bei der Polizei gearbeitet. Auch er hatte bereits reichlich Zeit in Autopsieräumen verbracht. Aber heute … Dieser Tod berührte sie besonders. Sie war noch so jung gewesen. Der Tod gehört zum Leben. Aber das Leben zu verlieren, wenn die Zukunftsträume gerade erst Gestalt annehmen, das war etwas besonders Ergreifendes.

Doc Martin sah sie an und schüttelte traurig den Kopf. “Die Untersuchungen auf Giftstoffe werden eine Weile dauern, aber ich erwarte nicht, dass dabei etwas herauskommt. Das Mädchen war clean. Tänzerin, könnte ich mir vorstellen, voller Hoffnung, mal eine Märchenprinzessin zu werden. Todesursache? Strangulation. Wurde sie vor ihrem Tod gequält? Zur Hölle, ja – ich nenne es ganz sicher Folter, ständig geschlagen zu werden und dabei zu wissen, dass der eigene Tod wahrscheinlich unmittelbar bevorsteht. Die Prellungen scheinen darauf hinzudeuten, dass sie zu irgendwelchen Dingen gezwungen wurde und dass sie sich gewehrt hat. Wir werden natürlich das Material unter ihren Nägeln analysieren, aber …”

“Aber wenn dieser Mord vom Interstate-Killer begangen worden ist”, sagte Jed dumpf, “wird es keinerlei DNA unter ihren Nägeln geben. Und auch kein Sperma in ihrem Vaginalkanal.”

“Genau wie vor zwölf Jahren. Als ob der Täter jemand ist, der genau weiß, wie man ihn festnageln kann – ein Polizist, Gerichtsmediziner oder jemand von der Spurensicherung”, sagte Jerry.

“Oder ein leidenschaftlicher Hobby-Forensiker?”, sagte Jed.

Doc Martin wurde einen Augenblick nachdenklich. “Da kann man nicht sicher sein, aber jedenfalls wäre das eine Möglichkeit.”

Ein paar Minuten später standen sie draußen vor der Leichenhalle. Die Sonne stand hoch und es war glühend heiß, der Himmel von exakt dem Kristallblau, für das Florida so berühmt war. Aber die ersten Sturmwolken brauten sich bereits zusammen. Zum Teufel, es war Spätsommer. Das bedeutete in der Regel: ein heftiger Sturm pro Tag, üblicherweise gegen drei oder vier. Die Einheimischen fanden das Phänomen erfrischend, aber die Touristen neigten dazu, aus den Vergnügungsparks zu stürzen, wenn der Regen anfing, weil ihnen nicht klar war, dass alles in einer guten Stunde wieder vorbei sein würde.

Die folgende Nacht wurde dann stets wunderschön, kristallklar, trotz Hitze und Luftfeuchtigkeit.

“Deine Meinung?”, forderte Jerry und starrte Jed an.

“Na ja, entweder hat irgendein Beteiligter komplett Mist gebaut und Beau Kidd war gar nicht der Mörder, oder wir haben da draußen einen Nachahmungstäter, der den Fall genau studiert hat und das Original jetzt verdammt gut imitiert.”

“So viel war mir auch schon klar.”

“Jerry, als das damals passierte, war ich nur selten in der Stadt”, erinnerte Jed seinen Freund. “Und ich war noch gar nicht bei der Polizei. Wer ist denn eigentlich momentan dein Partner?”

“O’Donnell. Mal O’Donnell. Und der war vor zwölf Jahren auch noch nicht in der Gegend. He, wollen wir was essen gehen?”

Essen? Bei dem Gedanken drehte sich Jed der Magen um. Machte ihn das zu einem Weichei? Er hatte immer noch den Tod und die Desinfektionsmittel in der Nase. Trotzdem wollte er schon zusagen, in der vermutlich vergeblichen Hoffnung, Jerry könnte ihm etwas mitteilen, das ihm einen Hinweis auf die Wahrheit hinter diesen Morden geben würde. Fühlte er sich schuldig? Himmel, ja – vorausgesetzt er hatte einen Fehler gemacht. Nicht nur hatte er in seinem Roman einen Cop zum Täter gemacht, es war auch ganz eindeutig, welcher Fall dem allen zugrunde lag, auch wenn er den Namen aus rechtlichen Gründen ändern musste.

Und der echte Polizist war jetzt tot.

Nun, aber seine Eltern nicht. Und die mussten jeden Tag damit leben, dass die Welt von der Schuld ihres Sohnes überzeugt war, eine Überzeugung, die er mit seinem Roman noch untermauert hatte.

Jed begriff, dass er unbedingt wollte, dass dieser neue Mord die Tat eines Nachahmers wäre – er wollte nicht für das Fortbestehen eines schrecklichen Irrtums mitverantwortlich sein.

“Hey, bist du noch anwesend?”, fragte Jerry.

“Ja, Entschuldigung.” Jed blickte auf seine Uhr. “Ich kann nicht mit dir essen gehen. Ich bin anderweitig verabredet.”

“Tatsächlich?”

“Meine Kusine Ana. Eine ihrer besten Freundinnen aus Kindertagen ist gerade in das Haus ihrer Großmutter gezogen. Ich habe versprochen, dass ich zu der Einweihungsparty komme.”

“Cool. Wo ist das Haus?”

“Beinahe schon draußen im Horse County. So ein altes Schmuckstück von vor dem Bürgerkrieg, eines der wenigen, die es da noch gibt.”

“Ah. Reicher Leute Kind.”

“Nein, eigentlich nicht. Ich bin in derselben Straße aufgewachsen, und Ana lebt da immer noch, weil sie das Haus ihrer Eltern gekauft hat. Christinas Haus ist bloß älter und größer. Ihre Großeltern waren Einwanderer, die haben das Haus gekauft, lange bevor sich diese ganzen Themenparks breitgemacht haben, als es da auf dem Land noch nichts als Gehölz gab.”

“Muss heute ein Vermögen wert sein”, bemerkte Jerry.

“Ja, schätze schon. Aber du weißt ja, wie diese Nachbarschaften da entstanden sind. Christina besitzt fast einen Morgen Land, mit einem riesigen abfallenden Rasen. Sieht fast aus, als stünde das Haus auf einem Hügel, aber rechts davon steht eine ganz moderne Ranch und links so ein Art-déco-Bungalow aus den 1930ern.”

“Klingt cool”, kommentierte Jerry. “Besser als diese Plätzchenform-Häuser, die jetzt überall entstanden sind. Wie dem auch sei, wenn dir noch irgendwas einfällt, ruf mich an. Und schau mal auf dem Revier vorbei. Die Jungs werden sich freuen, dich wiederzusehen.”

“Ja, die ziehen mich gerne wegen meiner Bücher auf.”

“Was? Bist du jetzt zu ‘ner Memme geworden? Hältst du das etwa nicht mehr aus? Ich wette, ich sehe dich sowieso bald genug”, sagte Jerry zu ihm. “Ich kenn dich doch, du wirst da nicht locker lassen. Und das finde ich sogar lässig”, fügte er hinzu. “Wir haben den Bürgermeister und den Gouverneur im Nacken. Sogar die FBI-Typen haben Interesse an der Sache.”

“Dann bin ich sicher, dass der Kerl geschnappt wird.”

“So?”, sagte Jerry düster. “Wir hatten letztes Mal Detectives aus etwa sechs Counties und das FBI an dem Fall. Wie auch immer, bleib in Verbindung. Viel Spaß beim Schnäbeln mit den Reichen und Berühmten.”

“Ich sagte doch, Christinas Familie war niemals reich”, sagte Jed lachend.

“Wenn sie die Hütte verkaufen würde, wäre sie es zumindest jetzt.”

“Sie wird nicht verkaufen”, sagte Jed schlicht. Aber woher wusste er das überhaupt? Christina war die Freundin seiner Kusine. Eigentlich kannte er sie gar nicht so besonders gut, obwohl er aus irgendeinem Grund das Gefühl hatte, dem wäre so. Er hatte sie gerade erst vor sechs Monaten bei der Beerdigung ihrer Großmutter wiedergesehen. Das schlaksige Mädchen von damals hatte sich in eine schöne Frau verwandelt. Groß und schlank, aber mit toller Figur. Majestätisch, und stoisch im Angesicht der Trauer. Sie hatte natürlich Schwarz getragen, ein Kleid mit einem von diesen Bleistiftröcken. Ihr Haar erschien im Kontrast zu dem Schwarz leuchtend rot, daran konnte Jed sich nur zu gut erinnern. Die Sonne hatte es in voller Länge erleuchtet, als es ihr auf den Rücken fiel, und der Effekt war wirklich aufsehenerregend gewesen.

Ein typisches irisches Rot, wie es schien.

Sie hatte bei der Trauerfeier nicht geweint, aber ihre riesigen blauen Augen waren von tieferen Gefühlen erfüllt gewesen, als irgendwelche Tränen jemals hätten vermitteln könnten. Sie hatte ihre Großmutter geliebt, die Letzte aus ihrer Familie, außer den beiden Cousins. Er kannte die beiden noch, obwohl sie nicht in seinem Alter waren. Dan und Michael hatten nacheinander den Schulabschluss gleich nach ihm gemacht, aber sie hatten unterschiedliche Interessen und hatten mit anderen Kumpels abgehangen. Er hatte bloß einen normalen Abschluss gemacht, während Michael und Daniel McDuff sich in die schönen Künste stürzten. Daniel kämpfte immer noch als Schauspieler, während Michael als freiberuflicher Produzent für mehrere der örtlichen Themenparks arbeitete und plante, eines Tages seine eigene Firma zu gründen.

Jed wusste von Ana, dass Christina, obwohl sie einige Autostunden entfernt im Süden Floridas aufgewachsen war, von allen drei Enkeln ihrer Großmutter am nächsten gestanden hatte. Laut Ana hatten Christina und ihre Granma eine besonders innige Verbindung gehabt.

Die Einladung für heute Abend hatte er zunächst abgelehnt. Er gehörte nie wirklich zu diesen Leuten. Aber seltsamerweise war es die Erinnerung an Christina auf der Beerdigung ihrer Großmutter, weswegen er seine Meinung änderte. Sie war nicht nur eine schöne, sondern auch interessante Frau geworden. Sie hatte sich eine Aura von Bildung und Intelligenz zugelegt, die er nur als äußerst anziehend bezeichnen konnte. Außerdem waren ihre Eltern erst fünf Jahre zuvor verstorben, und sie hatte auf ihn einen irgendwie verlorenen und erschöpften Eindruck gemacht, den er nur zu gut von sich selbst kannte.

Er wünschte, er könnte für sie irgendwie alles leichter machen. Es war sehr einfach, nach so vielen Verlusten bitter zu werden. Ihm war das jedenfalls so gegangen, aber Christina wirkte auf ihn, als könne sie besser damit umgehen.

Er war doch überrascht, wie sehr er sich auf die Party freute. Auch wenn Anas alte Freundin sich beachtlich gemausert hatte und er spürte, dass die Trauer sie mit ihm verband – normalerweise war er selten so euphorisch.

Normalerweise ging er jeder Frau aus dem Weg, die man vielleicht als potenzielle Freundin einstufen konnte. Er mochte kein Mitleid, und er redete nicht gern über sich. Margaritte war jetzt seit vier Jahren tot. Er selbst fühlte sich innerlich nicht mehr ganz so tot, aber er war sich immer noch nicht sicher, ob er Menschen überhaupt wieder um sich haben wollte, und noch weniger, ob er es zulassen wollte, dass ihm jemand wirklich nahekam. Am besten hielt er sich fern von allen Situationen, aus denen eine echte Beziehung entstehen konnte. Die Bars abklappern und gelegentliche One-Night-Stands zulassen, das war jetzt seine bevorzugte Form von sozialen Kontakten.

Aber Ana hatte ihn regelrecht angefleht. Und wenigstens für eine Weile wollte er nicht über den Interstate-Killer nachdenken oder darüber, ob der eigentliche Täter tot oder noch am Leben war.

Oder über die Tatsache, dass er große Angst davor hatte, der Albtraum könnte wieder von vorn beginnen.

Immer noch standen überall Umzugskisten herum.

Christina konnte selbst am wenigsten begreifen, wieso sie Anas Drängen nach einer Einweihungsparty nachgegeben hatte, solange sie noch gar nicht richtig eingezogen war, aber in Anas Vorstellung sollte das Glück bringen. Wenigstens hatte sie auf einer “kleinen Runde” bestanden und das auch so gemeint. Nur Ana, vielleicht ihr Cousin Jed, Tony und Ilona von nebenan, und ihre eigenen beiden Cousins, Mike und Dan. An Speisen und Getränken nur das Einfachste: Softdrinks, Bier und Wein aus dem kleinen Supermarkt unten am Highway, das Barbecue geliefert von Shorty’s. Das war kein allzu großer Aufwand, schätzte sie.

Aber trotzdem …

Es war ihr erster Tag. Der erste Tag nach ihrem Auszug in Miami. Umzugskisten standen überall im Weg; sie würde zum ersten Mal hier schlafen, nachdem sie das Haus geerbt und beschlossen hatte, hier leben zu wollen.

Ana kam schon früh vorbei, während Christina noch über der Frage brütete, wo sie das Klavier platzieren sollte. Das Klavier war entscheidend für ihre Arbeit. Es war fast ein körperlicher Teil von ihr.

Im Salon war das Licht am besten, aber eigentlich wollte sie hier drin nicht Regale voller Papierkram und Ständer voller CDs stehen haben, geschweige denn das ganze Büromaterial. Trotzdem, das Piano wirkte großartig vor dem Fenster zur Bucht.

Da bleibt es erst mal, beschloss sie. Irgendwann würde sie schon ein paar gute Büromöbel aus Eiche oder Ahorn auftreiben – sie sich überhaupt leisten können –, die zu der Einrichtung passten. Und falls nicht, die Bibliothek war nur den Gang runter, ein perfekter Platz zum Aufbewahren von Büromaterial. Sie bräuchte bloß rüberzugehen, wenn sie etwas brauchte. Keine große Sache.

Wieso habe ich so viele Kisten?, frage sie sich angewidert.

Weil ich nicht in der Lage bin, mich von irgendetwas zu trennen.

Sie fühlte sich als Hüter des Familienerbes oder wie man das auch immer nennen mag. Es war kaum zu glauben, dass keiner mehr übrig geblieben war außer Mike und Dan und ihr selbst. Und weder Mike noch Dan verspürten den Drang, die Cocktail-Serviette zu bewahren, die ihre Mom von der ersten Verabredung mit Dad mit nach Hause gebracht hatte. Oder die vielen hundert Fotos aus Irland, oder auch nur die Familienfotos von ihnen allen, aus der Zeit, als sie noch Kinder gewesen waren.

Der Klang der alten Türklingel unterbrach ihre Gedanken. Sie öffnete und ließ Ana herein. Ana trug eine große Schachtel mit einem in Plastik gewickelten Pappbecher obenauf. Christina streckte schnell die Arme aus, um ihr zu helfen.

“Nein, nein … ich brauche bloß ein bisschen Platz, um das hier abzustellen”, sagte Ana fröhlich.

Ein bisschen Platz, das klang ganz einfach.

Ein bisschen Platz, das verlangte gründliches Nachdenken.

“Die Durchreiche zwischen Küche und Esszimmer”, sagte Christina schnell.

Ana bahnte sich einen Weg durch den Flur und den Salon. Bis auf die kreuz und quer gestapelten Kisten war das Haus sauber und ordentlich. Es war ein großes, luftiges Gebäude, in Christinas Vorstellung das perfekte Heim für eine Familie. Der Flur diente auch als Luftzufuhr und Durchzug, angelegt nach dem traditionellen “Schrotflinten-Prinzip” des Südens, die dem Haus die beste Frischluft verschaffte, aus welcher Ecke der Wind auch wehte. Die Treppe befand sich auf der linken Seite des Flurs und führte bis in den zweiten Stock, versehen mit einem schön gearbeiteten Treppengeländer und geschwungenem Handlauf.

Ana kannte sich im Haus gut aus. Sie war seit Ewigkeiten mit Christina befreundet und hatte viel Zeit hier verbracht, wenn sie aus Miami anreiste, um ihre Großeltern zu besuchen.

“Das ist wirklich ein tolles Plätzchen”, sagte Ana und ging voran.

Das Haus war wirklich wunderbar. Christina hatte es immer geliebt, und weil ihre Großmutter das wusste, auch, wie gut sie sich darum kümmern würde, hatte sie es ihr vermacht. Aber weder Mike noch Dan waren vergessen worden. Sie hatten von der Frau Treuhandfonds geerbt, die nach Amerika gekommen war, um ihre eigenes Leben zu leben, und die durch harte Arbeit, Umsicht und Schläue immer gut zurechtgekommen war.

“Okay”, sagte Ana und stellte ihre Last ab. “Jetzt brauche ich ein Bier. Auch eins?”

“Klar.”

Ana marschierte zum Kühlschrank, holte zwei eisgekühlte Flaschen heraus, und beide stießen feierlich an. “Darauf, dass du ab jetzt immer hier leben wirst”, sagte sie.

“Ich wusste immer, dass ich das eines Tages tun würde, aber ich wollte wirklich nicht, dass der Tag schon so früh eintritt”, sagte Christina zu ihr.

“Sie hatte ein gutes, langes Leben”, sagte Ana.

Ein langes Leben, aber auch ein schmerzvolles, dachte Christina. Granma hatte Granpa zu früh verloren, und dann auch noch ihre Tochter und ihren Sohn, beide viel zu jung, und deren Lebenspartner. Aber sie hatte ihre Reserven mobilisiert und war für ihre drei Enkelkinder immer da gewesen. Vielleicht war sie einfach müde gewesen. Bereit, denen zu folgen, die bereits vor ihr gegangen waren.

“Fürwahr, das hatte sie in der Tat”, sagte Christina sanft, hob die Flasche und gab dabei eine Imitation des prägnanten irischen Akzents ihrer Großmutter zum Besten.

Es klingelte wieder an der Tür. Beide eilten hin.

“Hey, wollte Jed nun eigentlich kommen?”, fragte Christina.

“Er würde gern, hat er gesagt. Aber das kann er noch nicht sein. Er meinte, er müsste sich heute Nachmittag mit einem Freund treffen, wegen irgendwas mit seinem Job, und wenn er überhaupt kommt, dann wohl erst später.”

“Wer hätte je gedacht, dass er mal ein Bestseller-Autor wird?”, sagte Christina.

“Ich hatte gehofft, er würde eine ganz große Nummer beim Football werden und mir jede Menge Dates verschaffen”, seufzte Ana.

Christina verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. Komisch, sie kannte Jed fast gar nicht mehr. Damals, als sie Kinder waren, schien er für sie so eine Art Gott zu sein. Jetzt hatte sie ihn bei der Beerdigung ihrer Großmutter wiedergesehen, wo er reserviert, jedoch ganz nett gewesen war, aber sie hatte sich so verloren gefühlt, dass sie andere Menschen kaum wahrgenommen hatte. Jedenfalls hatte er sich nicht in Floskeln ergangen. Während alle anderen ihr erzählten, was für ein gutes und langes Leben ihre Großmutter gehabt hatte, sagte er einfach nur, er wüsste genau, wie sehr sie ihre Granma vermissen würde, und dass es wehtat, jemanden zu verlieren, egal wie alt er war, selbst wenn das Wissen um ein langes und gutes Leben irgendwann dabei helfen würde, die Trauer zu überwinden.

Er spricht aus Erfahrung, dachte sie, er hat seine Frau verloren, als sie gerade erst fünfundzwanzig war.

“Da seid ihr ja, ihr beiden”, sagte sie erfreut, als sie die Tür öffnete. Dan und Mike waren zusammen gekommen. Sie waren bloß ein Jahr auseinander und wurden oft für Zwillinge gehalten, so sehr ähnelten sie einander. Dan war noch zwei Zentimeter größer als die eins neunundachtzig seines älteren Bruders, aber beide hatten das tiefrote Haar, das sich weder mit Kamm noch Bürste bändigen ließ, und die warmen braunen Augen ihrer Großmutter. Christina selbst hatte blaue Augen – die Augen ihres Vaters.

“Willkommen daheim, süße Kleine”, sagte Dan, kam herein und umarmte sie.

“Klein? Sie ist fast eins achtzig und keinen Zentimeter kürzer”, meinte Michael kopfschüttelnd und folgte seinem Bruder ins Haus. Beide machten gern Witze über ihre Größe. Das hatte angefangen, als sie schon in der achten Klasse ihre gegenwärtige Körperhöhe erreichte, und nie wieder aufgehört.

“Haha, ich mag euch auch”, sagte sie und ließ sich auch von Michael umarmen. Beide waren gut aussehend, schon immer gewesen. Sie linste an ihnen vorbei zur Veranda, schaute sie dann überrascht an.

“Was, keine Freundinnen?”

“Ana hat gesagt, nur Familie”, sagte Dan grinsend.

“Hey, hier ist ja wirklich mal ein echter Winzling”, sagte Michael, schnappte sich Ana und hob sie in die Höhe. Sie war wirklich winzig – nur knapp über eins fünfzig –, und beide nahmen auch sie deswegen gern auf den Arm.

“Lass mich runter”, kommandierte Ana und drehte sich zu Daniel um. “Und du denkst besser gar nicht erst dran.”

“Ich bin unschuldig”, sagte Dan.

“Wie der Teufel”, murmelte Ana, aber sie grinste ihn dabei an. Als Erwachsene hatten sie unterschiedliche Wege eingeschlagen, aber das spielte jetzt alles keine Rolle. Zwischen ihnen hatte sich eine Verbindung entwickelt, als sie klein waren, als dieses Haus und Christinas Großmutter sie zusammengebracht hatte, und diese Verbindung war nie zerbrochen.

Nur Jed Braden war immer außen vor geblieben, dachte Christina. Ein Jahr älter als Michael, zwei Jahre älter als Dan. Und irgendwie anders drauf, so als gehöre er nicht dazu. Vielleicht war es seine Entschlossenheit gewesen, zum Militär zu gehen. Nicht weil er unbedingt in einen Krieg wollte, sondern weil er auf die späteren Zuschüsse scharf war, um durchs College zu kommen. Er war meistens unterwegs gewesen, seit er in die Armee eingetreten war, und danach hatte er gleich diese niedliche, nette Margaritte auf einer wunderschönen romantischen Hochzeit zur Frau genommen. Nach der Heirat entfernte er sich sogar noch weiter von ihnen, lud sich noch größere Verantwortung auf die Schultern, indem er erst Polizist wurde, dann sogar Detective.

Und dann ein Witwer und ein berühmter, aber fast wie ein Eremit lebender Schriftsteller.

Sie schüttelte die Gedanken an Jed ab. Irgendwie war es ihr ein bisschen unbehaglich, ihn wiederzusehen.

Vielleicht, weil sie sich viel zu oft auf Beerdigungen zu treffen schienen.

“Hey”, sagte sie, als sie merkte, dass ihre Cousins sie anstarrten und darauf warteten, dass sie etwas sagte. Sie probierte es mit einem breiten Lächeln. “Ich muss zugeben, ich hatte eigentlich nicht geplant, heute Abend fremde Leute zu bewirten, aber ihr beide hättet ruhig eure aktuellen Liebsten mitbringen können.”

“Bei mir gibt es keine aktuelle Liebste”, sagte Dan mit gespielter Trauer in der Stimme.

“Ich will keine aktuelle Liebste”, sagte Mike, und sein Ton war schärfer. Er war einmal verheiratet gewesen, und die Scheidung verlief ziemlich hässlich. So begnügte er sich seitdem mit unregelmäßigen Verabredungen.

“Na ja, Tony von nebenan kommt, und er bringt Ilona mit, das Mädchen, das wir bei der Beerdigung gesehen haben. Sie leben zusammen”, erzählte Christina. “Also kommt rein. Es gibt nur Barbecue und Bier. Ich hole die Teller, sobald ich ein paar Kisten von den Stühlen kriege, damit wir den Salon benutzen können.”

“Ich helfe”, sagte Ana, als sie alle ins Haus gingen. Plötzlich ließ sie einen überraschten Ausruf hören, als sie etwas aus einer Kiste holte. “Seht mal, ein Ouija-Brett.”

“Ich kann einfach nichts wegschmeißen”, gab Christina verlegen zu.

“Warum solltest du auch so etwas wegwerfen?”, wollte Ana wissen. Sie nahm das Ouija-Brett, setzte sich damit in einen Lehnstuhl und blickte es hingerissen an. “Mein Gott, wisst ihr noch? Wir hatten so einen Spaß mit diesem Ding.”

Christina fühlte sich plötzlich merkwürdig gereizt und wünschte, sie hätte das verdammte Ding irgendwo hingestopft, wo es außer Sichtweite war, oder wäre es längst losgeworden.

Sie stöhnte laut. “Wir hatten Spaß damit, weil wir Kinder waren und sowieso schon wussten, was für Antworten wir haben wollten, deshalb haben wir es herumgedreht, bis wir sie bekommen hatten.”

“Wir müssen unbedingt mal wieder mit diesem Teil spielen”, sagte Ana verzückt, offenkundig bekam sie gar nicht mit, dass Christina überhaupt nicht so scharf darauf war, die Vergangenheit noch mal aufzuwühlen. “Weißt du nicht mehr? Wir hatten so viel Spaß. Manchmal hast du dir ein Handtuch um den Kopf geschlungen wie einen Turban und dich Madame Zee genannt, und wir veranstalteten eine Séance. Was für ein Spaß. Aber dieses Teil …” Sie klopfte liebevoll auf das Ouija-Brett. “Mensch, was haben wir ihm alles für Fragen gestellt. Das war toll. Müssen wir mal wieder machen.”

“Wieso? Ich weiß schon, was ich werde, wenn ich groß bin”, sagte Christina. “Und wir sind jetzt alle erwachsen, falls du’s nicht bemerkt hast.”

“Sollten wir jedenfalls sein”, warf Mike skeptisch ein.

“Erwachsen – aber nicht tot”, sagte Ana mit gespielter Ungeduld. “Fragen wir es doch mal was.”

“Ich will überhaupt keine Antworten auf irgendwelche Fragen – solche Prophezeiungen könnten sich womöglich selbst erfüllen”, sagte Christina.

“Vielleicht willst du ja keine Antworten”, sagte Dan. “Aber ich will schon wissen, ob ich mein ganzes Leben lang ‘ne Mieze machen muss.”

“‘ne Mieze?” Ana kicherte. “Müsstest du dazu nicht ein Mädchen sein? Oder vielleicht auch nicht, heutzutage.”

“Sehr witzig, Kleine, wirklich sehr witzig”, meinte Dan trocken.

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