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Die schöne Münchnerin

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Die Gewinnerin des diesjährigen Schönheitswettbewerbs trägt eine koksperforierte Nase, deren DNA sich, sehr kurios, vom Rest des Körpers unterscheidet. Ein neuer Fall für das bewährte Team um Chefinspektor Mader und seinen Dackel, Brühwürfel-Fan Bajazzo. „Soulman“ Hummel, „Dosi“ Roßmeier und der schwangerschaftsgestresste Zankl krempeln die Ärmel hoch. Sie stoßen auf ein dicht gewebtes Netz aus rolexbewehrten Schönheitschirurgen mit bizarren Geschäftspraktiken. Die Frage, die sich alle stellen: Wurde die schöne Münchnerin zum Schweigen gebracht, weil sie über die wahre Herkunft ihrer Nase Auskunft geben wollte?


  • Erscheinungstag: 23.04.2024
  • Aus der Serie: Chefinspektor Mader, Hummel & Co.
  • Bandnummer: 2
  • Seitenanzahl: 304
  • ISBN/Artikelnummer: 9783749906994
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für K & K

Münchens scharfer Scherenschnitt

klebt am Horizont wie Pritt

der Alpen wilde Zackenkette

echter Schönheit Silhouette

Von der Ferne in die Stadt

bedeckt mit Herbstlaub satt

Straßen, Parks, Alleen

überall ist es zu sehn

Ab und an Wind eisig schon

Blätterwirbel jetzt Saison

rot und gelb und braun

melancholisch anzuschaun

Alles hat so seine Zeit

Herbst heißt auch Vergänglichkeit

Die schöne Münchnerin ist nach Isartod der zweite Kriminalroman aus der Reihe mit dem Ermittlerteam der Münchner Mordkommission.

Karl-Maria Mader: Chef der Mordkommission I in München, Mitte fünfzig, Dackelbesitzer, wohnhaft im betonierten Neuperlach, liebt Frankreich und Catherine Deneuve (Fernbeziehung, einseitig). Eigenbrötler, geschieden.

Klaus »Soulman« Hummel, fantasievoller Kriminalbeamter, träumt von einer Zweitkarriere als Krimiautor und ist unsterblich verliebt in die Schwabinger Kneipenwirtin Beate – meistens. Aktuell läuft es nicht so toll, also gar nicht.

Hummels Kollege Frank Zankl hat seine großen Testosteron-Reserven noch immer nicht aufgebraucht.

Doris »Dosi« Roßmeier ist und bleibt die niederbayerische Seele der Münchner Mordkommission: loses Mundwerk, fintenreich. Klein, stark, rothaarig – »das Sams« (Zitat Zankl). Ihr Freund Fränki liebt sie abgöttisch.

Rechtsmedizinerin Dr. Gesine Fleischer kümmert sich hingebungsvoll um die Toten.

Dezernatsleiter Dr. Günther ist stets besorgt um das gute Ansehen der Polizei.

Bajazzo ist und bleibt der klügste Dackel Münchens. Teilt mit seinem Herrchen Mader so manche Ansicht und auch Brühwürfel. Bajazzo versteht sein Herrchen blind und zieht die Fäden im Hintergrund.

WWWWWRRRROOOOAAAAAAARRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRRR

Der Sound ist unbeschreiblich. Dr. Hanke tritt das Pedal voll durch, dann Gas zurück, Kupplung, Schalthebel vor, Getriebe jault auf, Maserati geht auf 110 runter, Hanke steigt auf die Bremse, lässt sie los, am Scheitelpunkt der Kurve wieder Gas, Hinterreifen drehen durch, greifen und katapultieren den Wagen aus der 90-Grad-Kurve. Hankes Lederhandschuhhände halten das Lenkrad ruhig und gelassen. Er lächelt. So ein geiles Auto! Gestern haben sie es endlich geliefert. Jetzt Sonntag. Kaiserwetter. Gut, dass die Kesselbergstraße am Wochenende für Motorräder gesperrt ist. Und die Biker halten sich auch noch dran, ha! Na ja, vorhin hat er noch zwei Typen auf einer alten Triumph gesehen. Die letzten Gesetzesbrecher. Wo käme man auch hin, wenn alles nach Vorschrift liefe? Bei ihm läuft es gerade gut, richtig gut – finanziell. Und definitiv nicht vorschriftsmäßig! No risk, no fun.

Er schaltet die Anlage an. Verdis Requiem erfüllt den Innenraum des Wagens mit Bombast. Dies irae. Tag des Zorns. Passt zur Stimmung, die das Telefonat vorhin bei ihm ausgelöst hat. Grasser hat sie doch nicht alle! Sein ewiges Misstrauen. Wenn die Jungs das wahre Potenzial bei dem Geschäft nicht erkennen, muss er eben Konsequenzen ziehen. »Die Hosenscheißer! Und dieser blöde Sammer. Will mitspielen bei den Großen und gibt diesem Journalisten ein Interview. Was für ein Depp! Scheißt ins eigene Nest. Soll der mal bei seiner kleinen Priener Praxis bleiben! Aber den hab ich gut eingebremst, auf Spur gebracht.« Hanke lacht. Das Chefmäßige ist genau seins. Das würde Grasser auch noch einsehen. Er schnauft durch. Der Ärger hat sein Testosteron in Wallung gebracht. Da ist der Maserati genau das Richtige! Yeah! Er tritt aufs Gas und der Wagen macht einen Satz. »Geile Karre!«, schießt es ihm wieder durch den Kopf. Und morgen ab damit in den Urlaub, nach bella italia. »In deine Heimat, Baby!«, sagt er zu seinem Wagen. »Zwei Wochen!« Wann hat er zum letzten Mal so lange Urlaub gemacht? Nie. Überfällig. Er braucht dringend eine Auszeit. Dass sich sein Nebenjob so prächtig entwickelt, war nicht abzusehen. Kostet aber auch Zeit und Nerven. Doch der Einsatz lohnt sich. Spitzenrendite!

Er sieht in den Rückspiegel. Was ist das denn?! Ein schwarzer BMW. Bisschen nah dran, die Proletenschleuder. Er tippt aufs Gas und gibt Gummi. Die Kiste bleibt an ihm dran. Am Ende überholt der ihn! Jetzt ist der BMW ganz nah dran. »Echt nicht!«, denkt Hanke. Er schaltet einen Gang runter und gibt Stoff. BROAAAARRRR …

Auf der kurvenreichen Strecke entscheiden allerdings nicht die PS darüber, wer die Hosen anhat, sondern das Fahrkönnen. Das weiß Hanke. Und er hat keine Zweifel, wer der Bessere ist. Er natürlich. Er schneidet die nächste Kurve scharf an, schaltet einen Gang runter und beschleunigt kraftvoll aus der Kurve heraus. Von 90 auf 140. Weg ist er. Hanke entspannt sich auf der Geraden und legt den nächsten Gang ein.

Nein, verdammt, jetzt taucht der BMW schon wieder auf. Hanke spürt, dass seine Hände feucht werden, trotz Lederhandschuhen. »Hey, der Typ will’s wissen«, denkt er – »Komm schon, du Arsch!« – und tritt noch mehr aufs Gas. Maserati geht ab wie Rakete. Rein in die nächste Kurve, in den dritten Gang runter, nur Motorbremse, Maserati brüllt – Verdi auch –, und raus aus der Kurve, vierter Gang, lange S-Kombination, die gerade noch 130 aushält, dann wieder Gang runter, Drehzahl auf 7000. Kehre. Weiter den Berg hoch. Der verdammte BMW ist immer noch da. Klebt geduckt auf der Straße. Wie eine Raubkatze vor dem Sprung. »Was will der von mir?!«

Hankes Hände krallen sich ins Lenkrad, beinahe kommt er von der Strecke ab, Steine spritzen an den Wagenboden. »Cool bleiben, Alter, lass dich von dem Bauern nicht provozieren!« Hanke bleibt nicht cool, er starrt in den Rückspiegel. Jetzt ist der BMW fast an seiner Stoßstange. Hinter der tiefgetönten Scheibe kann er keinen Fahrer erkennen. »Du Arsch machst mir keine Kratzer in den Lack!«, zischt Hanke und tritt aufs Gas. Der BMW bleibt dran. Panik verschleiert jetzt Hankes Blick. Der Typ meint es ernst! Er schaltet einen Gang hoch und gibt auf der langen Geraden Gas. Doch der BMW klebt wie Pech an seinem Heck. Hanke tippt aufs Bremspedal, Bremslicht flammt auf. Sofort steigt der BMW-Fahrer in die Eisen, das pumpende ABS drückt die Wagenfront auf die Straße, der BMW kommt ins Schlingern. »Siehst du wohl!«, sagt Hanke und konzentriert sich wieder auf die Strecke vor ihm. Doch da sieht er im Rückspiegel den BMW schon wieder näher kommen. Hanke schneidet in die nächste Kurve, erwischt die Ideallinie, nein, zu schnell, er bremst … ssssssssssssssssssssssssssshhhhh!!!!!!!!!!! Der Wagen rutscht über nasses Laub, schießt geradeaus, Hanke reißt das Lenkrad nach links, der Wagen gleitet unbeirrt weiter. Der Tacho zeigt 110. Leitplanke? Fehlanzeige. Ungebremst passiert der Maserati das Bankett, ein gewaltiges Panorama öffnet sich. Hanke sieht schneebedeckte Gipfel, Bäume in schillernden Herbstfarben, den weiten Himmel.

Hankes Gedanken sind ganz klar. Er genießt die Aussicht. »So schön ist die Welt«, denkt er, »die ich gleich verlasse. Aber ich hab dort viel Spaß gehabt, sehr viel Geld verdient. In letzter Zeit liefen die Geschäfte richtig gut. Diese Ersatzteil-Connection, großartig!« Doch wo Licht ist, ist auch Schatten, denn jetzt blitzt der Gedanke in seinem Kopf auf, dass der schwarze BMW etwas mit diesen Geschäften zu tun haben könnte. Kaum ist der Gedanke da, ist er schon hinfällig, denn der Maserati setzt zur Landung an. Der Verdi-Chor dröhnt … Pooootschhhhhhhhh… Airbags knallen raus. Aber kein Splittern, Bersten von Glas, keine brutalen kinetischen Energien, die den Motorblock nach hinten rammen und seine Beine zerquetschen, kein Dach, das abgerissen wird wie ein Blatt von einem Zeichenblock. Nichts dergleichen. Hanke lacht, als er merkt, was passiert ist. Der Maserati ist genau in einen Moorsee geplumpst. Das Schicksal meint es gut mit ihm. Der zähe Schlick hat den Aufprall auf ein erträgliches Maß gemindert, der Vierpunktgurt und die Airbags haben Hanke wohl behütet, ihm das Leben gerettet. Mit ein bisschen Glück ist der Wagen noch zu gebrauchen.

Jetzt schnell das Gurtschloss öffnen. Doch seine Hände sind vor der Brust eingeklemmt. Die Airbags haben ihn fest im Griff. Verdi dröhnt immer noch. Das Gluckern des schwarzen Wassers hört Hanke nicht, aber er spürt es. Das Wasser steht ihm bereits bis zum Hals. Schreien wäre jetzt angebracht. Aber uncool. Er weiß, dass es sinnlos ist. Wenn er wenigstens an die Anlage käme, um sie abzustellen. Keine Chance. Orchester und Chor schwellen noch einmal machtvoll an, als er das schwarze Wasser schluckt. So schmeckt also der Tod. Dann verstummt auch Verdi.

HERBST

Oben an der Straße steht der schwarze BMW. Hanke hat sich geirrt. Kein Typ. Zwei Typen. Beide Jeans, Lederjacke, grobe Stiefel, dunkle Haare. Rest anders. Einer sieht aus wie ein Zuhälter: zurückgegelte halblange schwarze Haare, Koteletten, Schnauzbart, Ohrring. Unter der Bomberjacke antrainierte Muskeln. Der andere deutlich kleiner, spitzbübisch-bleiches Gesicht, irgendwie verschoben, und die Mundpartie zeichnet sich durch eine leichte Hasenscharte aus, nur vage verdeckt von einem flunsigen dunklen Oberlippenbart. Keine California-Dreamboys. Aber nicht auf den Mund gefallen: »El Condor pasa«, sagt der mit der Hasenscharte.

»Loki, du bist echt ein Arsch, muss das sein?!«, blafft der andere.

»Nenn mich nicht immer Loki! Ich heiße Ludwig!«

»Aber das musste wirklich nicht sein!«

»Helmut, sei mal nicht so pingelig. Ich hab ihn nicht mal berührt. Fährt wie ein Irrer.« Ludwig kickt einen matschigen Laubflatschen von der Straße. »Es ist Herbst!«

Helmut schüttelt den Kopf. »Scheiße. Wir sollten ihn nur beschatten. Was sagen wir jetzt Grasser?«

»Dass es ein Unfall war.«

Sie sehen nach unten, wo gerade die letzten Zentimeter des roten Wagenhecks in der trüben Soße verschwinden.

»Schönheit ist vergänglich«, sagt Ludwig. »Was machen wir jetzt?«

»Den Umzugswagen bestellen. Hankes Bude ausräumen.«

»Helmut, altes transsilvanisches Schlitzohr. Wenn das deine Mama wüsste …«

»Die freut sich über jeden Euro, den ich ihr heimschicke. Wir sagen es den Jungs, und dann gehen wir essen. Ich hab Hunger.«

»Wann ist die Sendung fällig?«

»Grasser hat die Details. Ich ruf ihn nachher an.«

Loki sieht noch mal nach unten. »Du, wir könnten den Wagen doch wieder rausholen, wenn Gras über die Sache gewachsen ist.«

SPANNWEITE

Hummel durchfurcht mit wütenden Schritten das Laub. Er ist so was von sauer, auf die ganze Welt! Müsste er nicht auf Bajazzo aufpassen, wäre er in seiner dunklen Wohnung geblieben und hätte weitergegrübelt, wäre seinen dunklen Gedanken nachgehangen. Der Grund: Seine geliebte Beate, Wirtin seiner geliebten Stammkneipe Blackbox, heiratet! Nicht ihn! Mehr Tragik ist nicht möglich. Und das, nachdem es in letzter Zeit sich doch so positiv für ihn entwickelt hatte. War das ein Aussetzer? Ihrerseits? Ein Zustand der Verwirrung? Und er soll auch noch mit seiner Band auf ihrer Hochzeit spielen. Hat sie sich tatsächlich von ihm gewünscht. Never! Obwohl, vielleicht erkennt sie im letzten Moment, wer für sie der Richtige ist, wenn er auf der Trauung in der Kirche mit Samtstimme à la Motown singt: Egal, was einen Mann ausmacht, ohne Liebe ist er nichts, wandelt er durch dunkle Nacht … Die Schönheit der herbstlichen Max-Anlagen lässt Hummel kalt. Bajazzo verschwindet mit einer adretten Collie-Dame im Gebüsch. Die Zweige rascheln. »Sogar der hat mehr Glück bei den Frauen als ich«, denkt Hummel.

Mader sitzt im Zug von Paris nach München. Kurztrip. Leider schon vorbei. Immer wieder zieht es ihn dahin. Die flache Landschaft rast an ihm vorbei. Kaum Ansiedlungen, kaum Bäume. Als würde Frankreich nur aus Paris bestehen. Quatsch natürlich. Aber Paris ist natürlich das Größte. Er blättert in dem Buch mit alten Schwarz-Weiß-Fotos aus den Sechzigern, das er gestern in einem Antiquariat gekauft hat. Wundervolle Bilder, Straßenszenen, schöne Menschen, schöne Häuser, schöne Autos. Ganz so ist es heute nicht mehr. Aber ein paar Ecken sind immer noch toll, zeitlos. Er überlegt, ob er ins Bordbistro auf einen Kaffee gehen soll. Aber der schmeckt bestimmt schauderhaft und verdirbt ihm den süßen Nachgeschmack seiner viel zu kurzen Reise. Er lehnt sich zurück und schließt die Augen.

Dosi wärmt sich die Finger am tickenden Motor von Fränkis Triumph. Die schwarzen Helme hängen über den Rückspiegeln. Im blitzenden Kunststoff der Helme der Walchensee, psychedelisch verzerrt wie eine Landschaft von Dalí. In echt natürlich gleichmäßig, still, erhaben. Eine hochglanzpolierte Fläche, in der sich orange die Wolken spiegeln. Vor grandioser Bergkulisse. Klarheit, Größe, Stille.

Zankl hat es eng und heimelig. Mit seiner Frau Jasmin auf dem Sofa. Kompressionsstrümpfe und Fußballbauch. Nicht er. Sie. Er liest ihr aus einem Schwangerschaftsratgeber vor. Er senkt das Buch und fragt: »Jasmin-Schatz, wie sieht es jetzt aus mit einem Teechen?«

»Frank, blas mir den Schuh auf, ich will ein Bier! Und kein Jever Fun!«

Er sieht sie entsetzt an. »Bist du wahnsinnig!? Ich hab gelesen, dass in der Frühphase schon ein kleiner Schluck …«

»Pff, Frank! Weißt du, ich mach dir jetzt einen Tee zur Beruhigung. Damit du nachher fit bist für den Infoabend.«

Er lächelt ergeben und denkt: »Wahnsinn, Infoabend bei einer Eltern-Kind-Initiative – an einem Sonntag! Damit sich die ungeborenen Kinder schon mal kennenlernen!« Zankl lächelt seine Frau liebevoll an.

Die ganze Spannweite eines herbstlichen Sonntagnachmittags: Vorfreude – Melancholie, Fernweh – Heimweh, Weite – Nähe. Alles da.

SCHNEEWITTCHEN

»Sonntagabend hab ich mir eigentlich anders vorgestellt«, sagt Mader. Bajazzo nickt, als würde er verstehen. Hummel zuckt mit den Schultern. Er hätte nichts Besseres vorgehabt. Also nichts. Er geht zum Rauchen auf den Balkon. Bajazzo leistet ihm Gesellschaft.

Milbertshofen. Von Maklern gern als »Nord-Schwabing« bezeichnet. Echt nicht seine Ecke. Unten an der Ampel zur Schleißheimer Straße orgeln zwei tiefgelegte Golf ihre Leerlaufdrehzahl hoch, um dann bei Grün die Reifen pfeifen zu lassen. Gespitzte Dackelohren. Ein Motorrad schießt die Straße hoch. Bremst scharf. Der bollernde Motor erstirbt. Eine kompakte Person in schwarzem Leder steigt vom Bike und nimmt den Jethelm ab. Dosi! Sie gibt dem Fahrer ein Bussi aufs Nasi. Hummel muss grinsen. Er flippt die Kippe über die Brüstung und geht zurück in das Appartement, wo sich die Kollegen von der Spurensicherung schon auf den Füßen stehen. Neben dem Couchtisch liegt das Opfer.

Opfer? Ein viel zu kühler Begriff für das, was dort zu sehen ist – ein Engel. Anders kann man es nicht sagen. Eine zauberhafte junge Frau: langes schwarzes Haar, riesige Augen im zarten bleichen Gesicht, aufgerissen vor Erstaunen. Aus einem Nasenloch ein verkrusteter Faden Blut. »Schneewittchen«, murmelt Hummel. »Wunderschön.«

Mader nickt. »Steht hier sogar amtlich.« Er deutet an die Wand, wo die gerahmte Seite einer Ausgabe der Abendzeitung hängt. Die Schöne Münchnerin. Mit Foto der quicklebendig in die Linse strahlenden Veronika Saller, wie die nun leblose Lady bürgerlich heißt. Irgendwie sieht sie auf dem Foto anders aus. Natürlicher.

Dosi betritt die Wohnung. Dr. Gesine Fleischer, die gerade aus dem Bad kommt, sieht Mader entnervt an. »Na, was meinen Sie, wie viele Leute hier reinpassen?«

»Sieben.«

»Aha?!«

»Schneewittchen und die sieben …« – »Verschonen Sie mich!«

»Hübsch, des Bohnenstangerl«, urteilt Dosi über die liegende Dame.

Mader lächelt und dreht sich zu Gesine: »Nun, Frau Doktor, ich höre …«

»Vermutlich Herzstillstand. Drogen. Koks. Der Couchtisch ist voll davon. Hämatome am Hinterkopf. Ich tippe, da hat sie jemand mit der Nase drauf gestoßen.«

»Wer hat die Polizei gerufen?«, fragt Dosi.

»Ein Spanner von gegenüber«, sagt Mader. »Sah wilde Schattenspiele hinterm Vorhang. Hat aber sonst nichts gesehen. Wenigstens haben wir eine Uhrzeit. Circa 18 Uhr 30

»Ist das eine gute Zeit für Spanner?«, fragt Dosi.

»Der frühe Vogel pickt den Wurm«, sagt Hummel.

COOL BLEIBEN

Professor Prodonsky sitzt in seinem Büro im 7. Stock des Klinikums Großhadern. Es ist kurz vor 9 Uhr. Seine Sekretärin ist nicht da. Klar, Sonntag. Er durchforstet die Papiere auf seinem Schreibtisch. Wo ist die Scheißliste? Warum hat er sie hier offen rumliegen lassen? Verdammt, er fängt an, unvorsichtig zu werden. Er denkt an Hanke. Der fühlt sich schon so sicher, dass er einfach einen Sportwagen für 150 000 Euro kauft. Und mit Grasser in den Clinch geht, um das Geschäft auszuweiten. Aber das ist deren Geschichte. Wo ist jetzt die blöde Liste? Der Papierkorb ist leer. Vielleicht hat er sie aus Versehen weggeschmissen? Der Putztrupp ist jedenfalls schon durch. »Cool bleiben. Wird schon nix passieren«, denkt er.

Eine Mail plingt in seinem Computer auf. Absender: Dr. Weiß. »Was will der Heini wieder von mir?«, denkt Prodonsky missmutig und öffnet die Mail. »Hallo Harry, ich hab da was Interessantes gefunden, sieht aus wie eine Bestellliste. Wir sollten mal reden! Bin noch in der Klinik. Dein Hans.«

Prodonsky flucht. »Dein Hans!« Was bildet der sich ein? Geht an seinen Schreibtisch! Fuck! Was soll er jetzt machen? Der kann ihn in den Knast bringen. Er antwortet: »Hallo Hans, ich hab noch ein Stündchen zu tun. Terminsachen. Ich komm dann runter. Okay? Harry.«

Er sinkt in den Stuhl zurück und massiert sich die Nasenwurzel.

Pling! Schon ist die Antwort da. »Bis gleich, Hans.«

VERSTÄNDNISVOLL

Dr. Weiß ist guter Dinge. Es ist Viertel vor zehn. Er hat ein großes Arbeitspensum hinter sich. Der Job hier in der Pathologie ist chronisch unterbezahlt, aber das wird sich ja bald ändern. Gleich wird sein Chef kommen und ihm ein gutes Angebot machen.

Zapp! Licht aus.

Dr. Weiß knipst die Schreibtischlampe an – nichts. Der Raum im zweiten Untergeschoss bleibt stockfinster. »Hallo?«, ruft Weiß.

Stille. In der Pathologie ist niemand. Nur die Notstromaggregate der Kühlschränke brummen. Dr. Weiß greift zum Telefon. Auch tot. Er holt sein Handy aus der Kitteltasche. Kein Empfang. Klar. Hier unten. Er aktiviert die LED-Lampe seine iPhones und leuchtet sich den Weg zwischen den Tischen. Ein leises Klirren, dann zerplatzt ein Reagenzglas auf dem Estrich. »Hallo, ist da wer?!«, ruft er ängstlich. »Harry, bist du das?«

Er starrt in die Dunkelheit, sieht das grüne Schildchen über der Tür für den Fluchtweg, findet den Weg bis zum Gang. Dann hört er Schritte. Er dreht sich um. Eine Taschenlampe blendet ihn. Er rennt los. Zum Lift. Nein, zum Treppenhaus. Hinter ihm Schritte, ganz ruhig. Harte Absätze auf dem Estrich.

»Was, was wollen Sie?!«

Keine Antwort. Er reißt die Tür zum Treppenhaus auf. Als er die Stufen hochlaufen will, blendet ihn eine zweite Lampe. Er dreht um, läuft nach unten, stolpert, schlägt mit dem Kopf auf.

Zwei Lichtkegel wandern über seinen Rücken. »Ist er tot?«, fragt Ludwig.

»Glaub nicht«, meint Helmut. »Mach mal das Licht an, Loki.«

»Nenn mich nicht …« – »Jetzt mach schon!«

Ludwig verschwindet und sorgt für Strom. Das Licht geht an. Die beiden ziehen Dr. Weiß hoch. Der stöhnt. »Na, geht doch«, sagt Helmut. »Dann wollen wir mal sehen, was du Vögelchen uns vorsingst.«

Dr. Weiß hat Glück. Die zwei Herren sind sehr verständnisvoll. Er erzählt ihnen von dem Journalisten, der ihn auf die Idee gebracht hat, sodass er sich einfach mal bei seinem Vorgesetzten umgesehen hätte. Und da hätte er die Liste gefunden, die er ihnen jetzt natürlich gerne aushändigt. Nun ja, man könnte doch gemeinsam sehen, wie man das Geschäft voranbringt. Er hätte hier in der Pathologie schließlich ganz hervorragende Möglichkeiten. Gespannt sieht er in die Gesichter der beiden Herren. Die haben aufmerksam zugehört. Ludwig reicht ihm ein Glas Wasser. Mit gierigen Schlucken trinkt er. Er entspannt sich. Und wird sehr müde. Helmut fängt ihn auf, als er vom Stuhl rutscht. »Loki, du nimmst die Füße.« Sie tragen ihn hinüber zu den Kühlfächern.

REIM DRAUF

Hummel sitzt am Küchentisch und versucht den Abend zu verarbeiten. Sich einen Reim drauf zu machen. Seine Zigarette verglimmt ungeraucht im Aschenbecher. Eine Rauchfahne schlängelt sich zur Decke hoch. Gut, dass hier kein Rauchmelder ist. Hummel liest noch mal den letzten Eintrag in seinem Tagebuch.

Im Norden ist sie aufgetaucht

all die Schönheit – ausgehaucht

einst voll Esprit, voll Eleganz

aus, vorbei – der letzte Tanz

Hingegossen aufs Parkett

jede Hilfe längst zu spät

kalt die Stirn und kalt die Hand

blasse Haut so weiß wie Wand

Fragezeichen schmal und blau

die Lippen dieser jungen Frau

ehedem sehr voll, sehr rot

Habe die Ehre, sagt der Tod

Alles hat so seine Zeit

Herbst heißt auch Vergänglichkeit

LILA

Mitternacht. Ein junger Arzt und eine junge Krankenschwester betreten den Raum im zweiten Untergeschoss. Er löscht das grelle Neonlicht und schaltet einen der alten Leuchtkasten für die Röntgenbilder an.

»Hey, romantisch«, sagt sie und deutet auf die Hirnquerschnitte in der Lichtbox.

»Ich bin so scharf auf dich«, zischelt er.

Sie säuselt: »Die Leichenhalle turnt mich total an.«

»Was hast du unter dem Kittel?«

»Guck doch nach!«

Gierig schiebt er ihren Kittel hoch, unter dem sie nichts trägt außer einem lilafarbenen Bonsaistring. Er drängt sie an den Schrank. Ihre nackten Pobacken berühren das Metall der Schubladen. Heiß und kalt. Er öffnet hastig seine Hose.

»Halt! Hör auf!«

»Was denn?!«

»Hörst du das nicht?!«

»Was, dein Herz?«

»Quatsch! Da ist was!«

Jetzt hört auch er das kratzende Geräusch. Sie sehen sich ängstlich an. »Ein Tier, eine Ratte?«, schlägt er vor. Sie schüttelt den Kopf. »Es kommt von da drinnen.« Sie deutet auf die Kühlfächer. Er zieht eine der Schubladen auf. Leer. Eine weitere. Eine bleiche Leiche sieht sie unverwandt an. Er schließt die Schublade und öffnet die nächste. »Dr. Weiß? Was machen Sie denn hier?«

TIGERMAN

Dosi ist gerädert, als sie um 1 Uhr nach Hause kommt. Heute ist sie mal wieder in ihrer Wohnung. Fränki wäre ihr jetzt zu viel. Sie hat mit Mader Schneewittchens Eltern besucht. In Mittersendling, in einer kleinen Wohnung, die nach Schweiß und Kohl roch. Die Mutter in ihrem geblümten Kittel ist bei der Nachricht vom Tod ihrer Tochter auf dem dunkelbraunen Wohnzimmersofa zusammengesackt. Der Vater hat mit betoniertem Blick die Schnitzkunst der monströsen Schrankwand fokussiert.

Dosi weiß nicht, was ihr mehr zugesetzt hat, die beengten Wohnverhältnisse oder die Gefühlsimplosion, die sämtliches Leben aus den vier Wänden der Sallers gesaugt hat. Atemnot. Nach solch einer schrecklichen Nachricht Fragen stellen – geht gar nicht. Sie werden noch mal vorbeischauen. Oder Mader solo. Der hat ein Händchen für so was.

Dosi geht zum Kühlschrank und holt sich ein Weißbier und eine Zitronenlimo. Sie gießt den Inhalt der beiden Flaschen in einen Maßkrug und fährt mit dem Zeigefinger durch den Schaum. Was für ein Tag! Erst die große Freiheit auf dem Motorrad in den Bergen, dann die Schattenseiten der Großstadt, das Beton-Appartement in Milbertshofen, die muffige Enge des Mietshauses in Sendling. Ihre eigene Wohnung ist auch nur eine Schuhschachtel, aber mehr Leben ist schon drin. Sie nimmt einen großen Schluck von ihrer Russenmaß und geht auf Spotify: Tigerman. Elvis 1968 in Las Vegas. Das Cover zeigt ihn ganz in schwarzem Leder. Wow!

DISSONANT

Der Neuperlacher Hochnebel strahlt in grellem Rosa, als Mader aufwacht. Ihn fröstelt. Seine Nase läuft. Die Klimaanlage des TGV fordert jetzt ihren Tribut. Passt stimmungsmäßig. Er sieht aus dem Küchenfenster über den bräunlichen Filz der trostlosen Grünanlagen. Bei den Mülltonnen verwelken zwei Fahrräder und ein Campingstuhl. Vielleicht soll er doch wieder ins Zentrum ziehen? Er öffnet für Bajazzo eine Dose Hundefutter und schaltet die Kaffeemaschine ein. Die Leiche von gestern hat seinen heiteren Urlaubsnachklang gestört, dissonant werden lassen. Im Traum hat er die schöne Frau auf dem Laufsteg einer Pariser Modenschau gesehen. Klassische Musik, Blitzlichtgewitter, Applaus. Jetzt liegt sie in einer Schublade von Dr. Fleischers Kühlraum.

EISWÜSTE

Nein. Die Schöne Münchnerin befindet sich bereits auf dem Obduktionstisch, denn Gesine schätzt die Gunst der frühen Stunde. Wenn die Sinne noch scharf sind. Die Bee Gees fisteln im Radio, Gesine pfeift mit. Mit Kennerblick scannt sie noch einmal den Körper der jungen Frau, die sorgfältig epilierte Scham, die kleinen Narben fast unsichtbar. Ebenso an der Brust. Gesine hat gestern Nacht noch ihr Innerstes gesehen, daher die grobe Naht am Thorax. Die Lungenflügel eine kristalline Eiswüste. »Gibt es eigentlich den Begriff ›Kokserlunge‹?«, überlegt sie. Heute noch Details. Die Nase interessiert sie. Wunderschön. Und ebenfalls operiert, klar – das hat sie auf dem Röntgenbild gesehen. Aber da ist noch was … Gesine entnimmt ein Stückchen Haut von der inneren Nasenscheidewand und ein wenig Knorpel. Mit ihren Latexhandschuhen fährt sie zärtlich über den Nasenrücken der Dame. Perfekt. Sie denkt an das Foto in dem Zeitungsausschnitt zur Schönen Münchnerin. Auch sehr schön, aber ganz anders. Mal sehen. Gesines Magen knurrt. Sie bringt das Reagenzglas mit der Gewebeprobe ins Labor und schreibt eine kurze Notiz dazu. Jetzt freut sie sich auf einen starken Kaffee und ein Croissant.

MENSCHLICHE REGUNGEN

»Na servus«, meint Hummel, als Mader und Dosi berichten, wie der Hausbesuch bei den Eltern von Veronika Saller verlaufen ist. Von der Wohnblocknachbarschaft in Milbertshofen kann Hummel nicht viel berichten: »In den Kästen lebt man so anonym, als wäre man allein auf der Welt.«

»Wem sagen Sie das?«, meint Mader nachdenklich.

Die Kollegen sehen ihn erstaunt an. Hey, was ist das denn? Eine menschliche Regung?

Mader kratzt sich am Kopf. »In der Wohnung ist was faul. Kein Festnetztelefon, kein Handy, kein PC, keine Adressen oder Nummern von Freunden. Freund gibt’s nicht, sagt ihre Mutter. Aber zumindest eine beste Freundin: Andrea Meyer, ebenfalls Model. Haben Sie das schon überprüft, Doris?«

»Logisch. Wohnt in der Plettstraße, Neuperlach. Bei Ihnen ums Eck. Ich hab mit der Agentur telefoniert.«

»Wir müssen sie sprechen. Sie weiß vermutlich, mit wem ihre Freundin Umgang hatte.«

»Frau Meyer ist bis Donnerstag in New York. Ich hab ihr auf die Mailbox gesprochen.«

»Und was?«, fragt Zankl. »Hallo, Ihre beste Freundin ist tot. Haben Sie eine Idee, wie das passiert sein könnte?«

Dosi sieht ihn genervt an.

»Vielleicht ist sie ebenfalls in Gefahr?!«, meint Hummel. »Vielleicht ist das der Auftakt zu einer Mordserie an schönen Frauen und …« – »Hummel, stopp!«, unterbricht Mader ihn. »Doris, haben wir eine Adresse, ein Hotel?«

Dosi schüttelt den Kopf.

»Wissen die Eltern von Frau Meyer, wo sie ist?«

»Gibt’s keine. Also Eltern. Verstorben, haben die in der Agentur gesagt. Ich hab’s recherchiert. Autounfall auf der B 12 vor ein paar Jahren. Unschöne Sache.«

»Okay. Vielleicht ruft sie ja zurück. Sonst sehen wir am Donnerstag weiter. Jetzt die Standards: Zankl, Sie überprüfen bitte Sallers Finanzen, Arbeit, privates Umfeld. Doris und Hummel, Sie gucken sich mal bei der Modelagentur um. Um 14 Uhr sehen wir uns bei Dr. Fleischer.«

SUPER GEMACHT

Mit großen Augen betrachten die Kriminaler die Leiche auf Gesines Tisch.

»Holla, die Waldfee«, murmelt Zankl. »Die ist echt schön!«

Gesine schüttelt den Kopf. »Echt ist da fast gar nichts. Hier, seht ihr die kleinen Narben?« Sie deutet unter die Achseln der Frau.

In Zankls Gesicht Enttäuschung, in Dosis Befriedigung. Hätte sie auch sehr gewundert.

Hummel ist ganz versunken in den Anblick der jungen Frau.

»Und, Dr. Fleischer, was Näheres zur Todesart?«, fragt Mader.

»Der Stoff ist hochrein, sagt das Labor. Da hätten die Reste auf dem Couchtisch gereicht, um einen Elefanten fliegen zu lassen. Einen kleinen zumindest.«

»Dumbo«, sagt Zankl und sieht zu Dosi. Ihr Blick ist tödlich.

Gesine fährt fort: »Hämatome im Nackenbereich. Am Hinterkopf fehlt ein ganzes Büschel Haare. Sie hat das Zeug kaum freiwillig zu sich genommen.«

Mader nickt. »Die Spurensicherung hat bisher nichts gefunden: keine Fingerabdrücke, Hautpartikel, Haare einer weiteren Person. Sonst noch was?«

Gesine schaut in die Runde. In Augen, die eigentlich nichts mehr erwarten. Das liebt sie an ihrem Beruf – die Überraschungen. Sie sieht Dinge, die andere nicht sehen, nicht sehen können. Sie sieht in die Menschen hinein. »Die Nase … ist nicht echt. Aber anders, als man meinen könnte.«

»Etwas konkreter, Dr. Fleischer«, mahnt Mader. »Dass die Dame überall operiert ist, wissen wir ja bereits. Was gibt’s an der Nase Besonderes?«

»Ich hab heute Morgen eine Gewebeprobe ins Labor gegeben. Die Kollegen hatten gerade Muße. Das Ergebnis ist schon da: Die Nase hat eine andere DNA als der Rest der Dame!«

Jetzt starren alle abwechselnd auf die Nase und zu Gesine.

»Wie sind Sie denn auf die Idee gekommen?!«, fragt Mader.

»Immunsuppressiva. In ihrem Badezimmerschrank. Die braucht man nach Transplantationen. Also, ich hab mir die Dame noch mal genau angesehen und bin an der Nase hängen geblieben. Auch weil sie auf dem Zeitungsfoto so anders aussah. Die Narben sind so fein, dass sie mit bloßem Auge nicht zu erkennen sind. Super gemacht! Und dann hab ich eine Gewebeprobe entnommen. Resultat: eine andere DNA! Faszinierend, oder? Also, aus medizinischer Sicht. So was hatte ich noch nicht auf dem Tisch. Ich hab mir mal die Fachliteratur angesehen. Also, nach Transplantationen befindet sich im Körper des Empfängers oder der Empfängerin des Organs tatsächlich auch das Erbgut des Spenders. Und damit das Immunsystem nicht durchdreht, braucht man Medikamente, die mögliche Abwehrreaktionen unterdrücken – lebenslang. Na ja, das hat sich bei der Dame ja jetzt erübrigt. Ich denke, bei einer Nase, das bisschen Haut und Knorpel, da spielen die Medikamente sicher keine allzu große Rolle. Also hinsichtlich der Dosierung. Und wenn man jetzt in Betracht zieht …« – »Versteh ich Sie richtig?«, unterbricht Mader sie, »die Nase gehörte ursprünglich einer anderen Person?«

»Genauso ist es.«

»Eine Nasenspende? Bekommt man so was für Geld?«

»Geld hatte sie jedenfalls«, sagt Zankl. »Das Appartement in der Schleißheimer Straße gehört ihr, und ihr Girokonto hat beachtliche Ausschläge. Mehrfach hohe Bareinzahlungen. Sie lebte auf ziemlich großem Fuß.«

Hummel grübelt. »Getauschte Nasen … Da gab’s doch mal einen Film. Mit John Travolta.«

»Saturday Night Fever«, sagt Zankl.

»Depp. Ich mein den Film, wo er sein Gesicht mit einem Gangster tauscht. Im Kopf … Nein, Im Körper des Feindes. Ja, so heißt der Film, in dem er, also, wie heißt der noch mal? Ja, Nicolas Cage, also, der …« – »Sehr schön, Hummel«, unterbricht Mader Hummels cineastische Gedanken, »aber das bringt uns im Moment nicht weiter.«

»Von wegen Schöne Münchnerin«, schaltet sich jetzt Dosi ein, »die Dame ist eher Frankensteins Mausi. Was ich mich frage: Hat jetzt eine Frau da draußen die Ex-Nase unserer Leiche im Gesicht? Oder gibt es irgendwo eine Leiche ohne Nase?«

Mader nickt nachdenklich: »Mit Blick auf ein Mordmotiv – vielleicht geht es um Organhandel? Wir sollten uns mal bei den Schönheitschirurgen der Stadt umhören. Boh, ich kann mir nichts Schöneres vorstellen.«

Sie erstellen eine Adressliste der Schönheitschirurgen in München. Was gar nicht so einfach ist, denn mal nennen sie sich ästhetische, mal plastische Chirurgen, mal Anti-Aging-Ärzte, manchmal verbergen sie sich in Kliniken mit Beauty-, Lifestyle- oder Personal-Medicine-Präfixen. Vogelwild. Aber offensichtlich gibt es rege Nachfrage für optische Optimierungen. Schließlich haben sie eine Shortlist mit 15 Ärzten, die sich vor allem mit Gesichtschirurgie befassen.

LETZTE KURVE

Ledererstraße. Gleich ums Eck beim Hofbräuhaus. Auf Dr. Grassers Schreibtisch klingelt das Telefon. Gedankenverloren sieht Grasser in die Schwebteile seiner sonnenbeschienenen Wasserkaraffe. Er lässt es noch ein paarmal klingeln, dann hebt er ab. »Ja, bitte?«

»Hi, Grassi, ich bin’s Harry. Warum erreich ich dich erst jetzt?«

»Viel zu tun, Prof. Ich war unterwegs. Aber ich hab die Box abgehört. Wann entsorgst du ihn?«

»Heute Abend.«

»Findet man bei Weiß noch Sachen, die für uns ungünstig wären?«

»Glaub ich nicht, die Jungs haben mir die Liste gegeben und checken seine Bude.«

»Gut. In ein, zwei Tagen meldest du Weiß als vermisst. Sieht ja sonst komisch aus, wenn sich an der Klinik niemand für sein Fernbleiben interessiert.«

»Alles klar. Du, noch eine Frage, ich erreich Hanke nicht. Wo steckt er denn, unser Sonnyboy?«

»Im Reich der Schatten brauchst du keinen Sonnenschirm.«

»Du sprichst in Rätseln, Grassi.«

»Na ja, Hanke hat seinen neuen Maserati ausprobiert und sich ein bisschen überschätzt. Ein tragischer Unfall.«

»Du machst Spaß?«

»Kein Spaß, Funky Hanky ist nicht mehr. Hat die letzte Kurve genommen.«

»Woher weißt du das?«

»Ich hab ihn beschatten lassen. Von unseren beiden Gangster-Boys. Ich wollte sichergehen, dass er keine Extradinger dreht.«

»Du hast doch nicht …« – »Nein, ich hab damit nichts zu tun. Die Jungs auch nicht. Ein Unfall, sonst nichts. Hanke ist abgetaucht, also sein Wagen. In einem Moorsee. Sehen wir’s mal ganz pragmatisch. Dann hat sich unser Verdacht ja erledigt.«

»Hat Hanke mit noch irgendjemand Kontakt wegen der Sache?«

»Er hat mal ’ne Andeutung gemacht. Dass ihn Sammer deswegen angesprochen hat.«

»Kenn ich nicht. Wer ist das?«

»So ein Schwätzer mit einer kleinen Praxis in Prien. Aber vergiss es. Der weiß von nix.«

»Das Geschäft läuft also weiter?«

»Logisch, Prodi. Nur ein kleines Problem: Ich war heute Vormittag in Hankes Villa. Wollte sehen, ob man da was verschwinden lassen muss. Aber die Villa war leer geräumt. Komplett. Ich mein, mir persönlich ist das scheißegal.«

»Ich schätze mal, das waren unsere Rumanows. Immer ein kleines Zusatzgeschäft.«

»Gut möglich. Ich weiß allerdings nicht, was Hanke für Dateien auf dem Rechner hat, was für Unterlagen in seinem Schreibtischcontainer sind.«

»Was machen wir?«, fragt Prodonsky.

»Nichts, ich denke, wenn da was Interessantes dabei ist, melden sich die Jungs. Dann gibt’s halt ’nen kleinen Zuschuss. Du, ich muss jetzt Schluss machen, die Polizei tanzt gleich bei mir an.«

»Was?!«

»Kein Stress. Die kommen wegen was anderem.«

»Aha?«

»Irgendeine tote Frau.«

»Na dann ist ja alles gut.«

CHARAKTERKOPF

Mader und Hummel sitzen in cremefarbenen Klubsesseln. Auf einem futuristischen Glastisch zwischen ihnen: eine Orchidee in Rosé und zwei Tassen Grüner Tee. Sehr feines Porzellan. Fast durchsichtig. Hummel betrachtet das abstrakte Bild an der Wand. »Sieht aus wie ein Rothko«, sagt er. Mader verzieht keine Miene. Hummel kratzt sich am Kinn. Das Ambiente hier ist zu edel für einen Kunstdruck. Es gibt so vieles in München, wovon er keine Ahnung hat. Wie heute Vormittag, als er mit Dosi bei Winter Models in der Leopoldstraße war. In der Agentur der Schönen Münchnerin. Ein todschickes Loft an der Münchner Freiheit. Sichtbeton, Stahl, Glas. Überall Kleider in grellen Farben, Unterwäsche, Bademode, Schuhe, dazwischen Schminkkoffer, Scheinwerfer, Kabeltrommeln. Kreatives Chaos.

Christiane Winter, die Agenturchefin, hatte die schlechte Nachricht schon am Telefon erfahren und war dementsprechend gefasst. Hummels erster Gedanke: »So eine schöne Frau!« Und nach ein paar Fragen, die sie kühl und sachlich beantwortet hatte, war sein zweiter Gedanke: »Wow, beinharte Geschäftsfrau.« Muss man wohl sein in einem so großen Laden. Viel Hilfreiches zu Veronika Saller haben sie in der Agentur allerdings nicht erfahren.

Nun also ein weiterer Ort weit jenseits ihres täglichen Erfahrungshorizonts: die Praxis eines renommierten Beauty- und Anti-Aging-Arztes. »Meine Herren, Dr. Grasser kann Sie jetzt empfangen«, teilt ihnen die Sprechstundenhilfe endlich mit. Die mittelalterliche Dame mit unverbindlichem Betonlächeln und strengem Kostüm in Dunkelgrün sieht nicht wie eine Arzthelferin aus, eher wie eine Societylady, die ausschließlich in der Maximilianstraße einkauft. Miss Gucci führt sie in Dr. Grassers Büro. Büro? Kirchenschiff! Der weitläufige Raum hat eine sakrale Atmosphäre, die späte Nachmittagssonne fällt in einem scharfen Block auf das glänzende Fischgrätparkett, den Mittelgang zum Altar, einem ausladenden Schreibtisch aus dunklem Wurzelholz. Dahinter: Dr. Jochen Grasser, dessen Haarkranz an gebräunter Glatze in der Sonne leuchtet wie ein Heiligenschein. Er ist bereit, mit ihnen die Kommunion zu feiern, und gießt sich gerade ein Glas Wasser ein.

Er stellt die Karaffe ab und lächelt gütigst: »Guten Tag, die Herren, darf ich Ihnen einen Schluck anbieten?«

»Danke, wir sind versorgt«, sagt Mader und hebt die Teetasse.

Grasser hält sein Wasserglas gegen das Sonnenlicht. »Isar Aqua. Grandioser Name, nicht wahr? Ein Bekannter von mir hat sich das ausgedacht. Fantastische Marketingidee. Alster Aqua in Hamburg, Düssel Aqua in … Na ja, das kann man sich ja denken. Ich bin ja fürs Regionale. Die Quelle für das Wässerchen hier ist bei Wolfratshausen. Bessere Werte als dieses französische Zeug. Ja, was bringt uns vulkansteingefiltertes Wasser, wenn es dann in Plastikflaschen abgefüllt wird? Die Weichmacher verkleben unsere Zellen, machen uns dumm, impotent, alt. Alles Dinge, die wir nicht wollen. Wasser ist das Geheimnis unseres Lebens, unserer Jugend. Aber jetzt setzen Sie sich doch! Sie wollen mit mir sicher nicht übers Wasser gehen, äh, sprechen.« Er lächelt gütig. »Obwohl das eine gute Idee wäre. In aqua veritas. Frau Raçak sagt, dass es um eine tote Frau geht?«

»So ist es«, sagt Mader. »Sie machen Schönheitsoperationen?«

»Sie sagen das mit so einem leicht inadäquaten Unterton. Ja, ich mache auch plastische Chirurgie. Ab und zu. Aber viel öfter mache ich es nicht. Ich helfe den Menschen vor allem, von innen jung zu bleiben – oder es wieder zu werden. Gesunde Ernährung, positive Lebenseinstellung, Sport, viel Wasser.« Er hebt das Glas und trinkt einen großen Schluck.

»Was ist denn Ihr häufigster Eingriff?«, fragt Hummel.

»Falten, Gesichtshaut straffen, Ohren anlegen, bei Frauen natürlich oft die Brüste.«

»Nase nicht?«

»Früher einmal. Jetzt fast gar nicht mehr.«

»Warum?«

»Weil ich reifer bin.« Dr. Grasser lächelt breit und legt den rechten Zeigefinger an seine Nasenspitze. »Was sehen Sie?«

»Eine Nase?«, rät Hummel.

»Ja, eine Nase. Und keine kleine. Einen Zinken, wie man in Bayern sagt. Und wegen dieses Zinkens kommen die Frauen zu mir. Weil sie sehen: Das ist ein Charakterkopf! Dem geht es nicht um oberflächliche Schönheit, sondern um innere Schönheit, um Charakter.«

»Na ja, Sie sind ein Mann …«

»Charakter ist keine Frage des Geschlechts!«, erklärt Grasser apodiktisch. »Es geht um die Aura. Wenn Ihr Inneres strahlt, dann sieht man das. Das Innere, der Charakter überstrahlt das Äußere. Da ist eine Nase schnell nebensächlich. Oder sie ist gerade der Anker, das Ausrufezeichen, das auf das Innere verweist! Das dann wieder nach außen strahlt – ein ewiger Kreislauf, ein ästhetisches Referenzsystem. Ausstrahlung und reine Attraktivität – AURA. Das ist ein erheblich komplexeres Betätigungsfeld als eine Nase. Vom kreativen Standpunkt aus betrachtet.«

»Wir kommen wegen eines Todesfalls zu Ihnen«, erinnert ihn Mader. »Haben Sie diese Frau schon mal gesehen?« Er legt das Foto der Leiche aus Milbertshofen auf die Wurzelholzplatte des Schreibtischs. Grasser nimmt es und studiert es eingehend. »Hübsches Mädchen. Als ob sie schläft. Wie Schneewittchen. Nein, ich kenn sie nicht.«

Mader zieht ein zweites Foto heraus. Schneewittchen als Schöne Münchnerin, vor dem Nasenumbau. Er reicht Grasser auch dieses Foto. Grasser seziert das Foto mit echtem Interesse. »Nein, die kenn ich auch nicht. Aber eine wunderbare Nase, lang, elegant, griechisch. Sehr apart.«

»Es ist dieselbe Frau«, erklärt Mader.

»So?!«, sagt Grasser erstaunt und legt die beiden Fotos nebeneinander. »Also, wenn Sie mich fragen, in welchem Bild ich mehr Schönheit sehe …«

»Wo könnte sie wegen der Nase hingegangen sein, zu welchem Kollegen?«

»Das weiß ich nicht. Darf ich fragen, woran sie gestorben ist?«

»Drogen«, erklärt Mader.

Grassers Miene verdüstert sich. »Drogen! Lenken die Menschen vom echten Leben ab. Und sie verlieren jedes Mal, wenn sie sich die Nasen pudern, Jahre ihres Lebens. Oder schlimmer noch: das ganze Leben. Eine absolute Fehlinvestition. Aber was hat ihr Tod mit der Nase zu tun?«

»Nichts. Wir versuchen rauszubekommen, mit wem die Dame in letzter Zeit in Kontakt stand. Bei welchen Ärzten sie war.«

»Da kann ich Ihnen leider gar nicht weiterhelfen. War’s das?«, fragt er, nun erstaunlich kühl. Welch Temperaturunterschied zu seinem Haarkranz! Der steht jetzt in lodernden Flammen. Im letzten Abendlicht.

Mader und Hummel sind froh, dass sie draußen auf der Straße stehen.

»So ein Zipfel!«, entfährt es Mader.

Vom Hofbräuhaus tönt die Blasmusik herüber.

Hummel runzelt die Stirn. »Wenn die Musik nicht wär.«

»Des is a scho wurscht«, sagt Mader. »Kommen Sie, ich geb a Maß aus.«

ROH

Zankl hat ein schlechtes Gewissen. Bei dem Beauty-Doc in Schwabing hat er zugelassen, dass sich der Typ über Dosis Kartoffelnäschen und ihre Körperfülle lustig macht. Und er, Zankl, hat gekichert. Dosi ist prompt zum nächsten Arzttermin allein gegangen. Kann er ihr nicht verdenken. Aber zumindest zu seiner Frau will Zankl heute Abend nett sein. So ist der Plan. Gewesen. Er hat sie zum Abendessen überrascht mit sündteurem Parmaschinken und einem wunderbaren Büffelmozzarella. Voller Erfolg: Ob er denn nicht wisse, dass sie das nicht essen dürfe?! Keine rohen Wurstwaren, keine Rohmilchprodukte! Mit einem gefriergetrockneten Lächeln hat er den Vorwurf weggesteckt und sie nichtsdestotrotz angeflötet. Doch Jasmin ist im Moment hypersensibel, sie roch das Billige seiner Charmeoffensive, mit der er nur sein Gewissen beruhigen wollte. Sie ließ seine Fürsorglichkeit eiskalt abblitzen und verzog sich nach dem schwangerschaftsgerechten Abendessen (Vollkorn, probiotischer Joghurt, Rohkost – haha) mit einem Buch ins Schlafzimmer. Jetzt sitzt Zankl in der Küche und fühlt sich allein. Der Abend ist ihm gehörig versalzen. Und das liegt nicht an seinem etwas übermäßigen Konsum von würzigem Parmaschinken. »Ein bisschen Ablenkung wäre jetzt nicht schlecht«, denkt er und probiert es bei Hummel. Doch der geht nicht ans Handy.

SCHÄRFER ALS BARBIE

Dosi ist aufs Äußerste gereizt. »Wie findest du meine Nase?!«, schleudert sie Fränki-Boy entgegen, als er in ihrer Wohnungstür steht. »Wun… Wun… Wunderbar, da-das weißt du doch, Dododosi-Mausi!«, stammelt Fränki.

»Gib’s zu, du hättest auch lieber so ’n Bohnenstangerl mit Riesenglocken und einem Bonsaistupsnaserl.«

»Ich bin nicht Ken, ich steh nicht auf Barbie«, entgegnet Fränki.

Dosi ist verdutzt. So schlagfertig kennt sie Fränki gar nicht. Eigentlich ist das ihr Job, das mit dem Reden. Sie muss grinsen. Jetzt zeigt sie auf den großen Topf, den er die ganze Zeit in Händen hält. »Und was ist das?!«

»Fränki-Boy’s-damn-hot-Chili – schärfer, als die Polizei erlaubt.«

Dosi strahlt. Sie liebt sein Chili. Ein weiterer Pluspunkt für Fränkis kontinuierlich steigenden Aktienkurs. Sie gibt ihm endlich einen Kuss, lässt ihn herein und schiebt ihn in ihre kleine Küche.

GUTE REISE

Professor Prodonsky ist erst verblüfft, dann verärgert, als er kurz nach 22 Uhr das Kühlfach aufzieht, dessen Nummer ihm Helmut und Loki genannt haben. Es ist leer. Verdammt, wo ist die Leiche?! Sein Plan war eigentlich, Dr. Weiß unauffällig in der Krankenhausmüllanlage verschwinden zu lassen. Und jetzt? Er fährt mit dem Lift zurück in sein Büro und ruft die beiden Jungs an. Die schwören Stein und Bein, dass sie den sedierten Herrn Doktor in besagtem Kühlfach final geparkt hätten. Vielleicht hat man ihn versehentlich schon entsorgt? Prodonsky ist verwirrt. Er probiert es bei Grasser und erreicht nur die Mailbox. Um sich abzulenken, bis Grasser zurückruft, widmet er sich seinem Vortrag, den er an der Uni im Rahmen der Ringvorlesung zu Ästhetik halten soll.

Schon bald ist Prodonsky ganz von seiner geistigen Tätigkeit absorbiert und vergisst die Welt um sich herum. Er will den Studenten ein Verständnis von Ästhetik als Lehre von der sinnlichen Wahrnehmung vermitteln, die sich eben nicht auf eine Ästhetik des schönen Scheins reduzieren lässt. Letztere will er entlarven als Ausdruck materieller und kommerzieller Bedürfnisse und Projektionen, die auch die plastische Chirurgie in Verruf gebracht haben. Sein Ziel als Wissenschaftler, Chirurg und Pathologe und auch als Mensch ist es, die Patienten und Studenten an die grundsätzlichen Möglichkeiten und die potenzielle Tiefe sinnlichen Erlebens heranzuführen. Macht das Sinn? Nein. Aber es klingt gut. Und darum geht es. Er liebt es, im Audimax der Uni zu sprechen.

Prodonsky wird leichenblass, als plötzlich Dr. Weiß in seinem Büro steht und leise singt: »Ich möchte ein Eisbär sein, im kalten Polar …« Weiß lächelt. »Kennst du das noch, ein Hit aus den 80er-Jahren?«

»Was willst du, Hans?«

»Mitmachen, Harry. Bei deinem kleinen Nebenerwerb.«

Prodonsky mustert ihn. »Du siehst blass aus. Ist dir kalt?«

»Gestern war mir kalt. Heute bin ich heiß – auf das Geld! Keine Spielchen mehr. Sag deinen Gorillas, dass ich jetzt dabei bin. Ich hab eine Kopie der Liste. Ein schönes Geschäft betreibt ihr da. Interessiert mich sehr. Und ich will nichts umsonst. Du hättest mich doch einfach fragen können!«

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