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Die Sammlung

hier erhältlich:

Jahrelang war er untergetaucht, doch jetzt ist er zurück und entführt und tötet erneut, auf der Jagd nach seinen grausigen Souvenirs: der Sammler. FBI-Agent Eric MacFarlane ist ihm schon seit Jahren auf der Spur. Als die Journalistin Mia Hale eines Nachts blutend und verwirrt am Strand gefunden wird, hat Eric das Gefühl, dass sie den Schlüssel zu dem Fall in Händen hält. Sie kann sich an nichts erinnern, doch ihre Wunden entsprechen den Markenzeichen des sadistischen Serienmörders. Gemeinsam versuchen Eric und Mia alles, um ihre verschütteten Erinnerungen freizulegen. Aber der Sammler hat schon sein eigenes makaberes "Happy End" für Mia geplant, und das will er sich von niemandem nehmen lassen …


  • Erscheinungstag: 12.05.2014
  • Seitenanzahl: 400
  • ISBN/Artikelnummer: 9783956493201
  • E-Book Format: ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Leslie Tentler

Die Sammlung

Thriller

Aus dem Amerikanischen von
Katrin Hahn

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MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

GeschäftsfÜhrer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Edge of Midnight

Copyright © 2012 by Leslie Tentler

erschienen bei: MIRA Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Thorben Buttke

Titelabbildung: Thinkstock; pecher und soiron, Köln

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-95649-320-1

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

 

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder

auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich

der gesetzlichen Mehrwertsteuer.

Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

PROLOG

Atlantic Beach

Östlich von Jacksonville, Florida

Officer John Penotti nahm einen Schluck von seinem rasch kalt werdenden Kaffee und kämpfte gegen die Müdigkeit an, die sich immer in den letzten verbleibenden Stunden vor Tagesanbruch einstellte. Er lauschte dem Rauschen des Funkgeräts und spähte durch die Windschutzscheibe, während der Streifenwagen einen abgelegenen Abschnitt der Küstenstraße A1A entlangfuhr. Sein Partner, Tommy Haggard, saß hinter dem Steuer und summte ein Lied. Es war in dem Diner gespielt worden, von dem sie soeben weggefahren waren. Mittlerweile hatte der Regen aufgehört, und die endlose Weite des Atlantiks neben ihnen schien fast eins zu sein mit dem geschwärzten Himmel. Nur die Schaumkronen der Meereswellen durchbrachen die Dunkelheit.

„Machst du diesen Sommer Urlaub?“, fragte Tommy.

„Du klingst wie meine Frau. Ich sage ihr jedes Mal, wir leben doch schon am Strand.“

Tommy ließ den linken Arm lässig auf die Fensterkante gestützt liegen, während er mit der rechten Hand den Streifenwagen steuerte. Er war zehn Jahre jünger als John und besaß noch die Energie, mehr aus seinen freien Tagen zu machen, als mit einem kühlen Bier vor dem Fernseher zu sitzen. „Dann mach mal etwas Außergewöhnliches. Geh zum Wandern in die Berge oder nimm die Kinder mit nach Disney World.“

„Sie sind langsam zu alt dafür.“

Tommy warf ihm einen Blick zu. „Zu alt? Ich habe meine Flitterwochen bei Disney verbracht, Mann.“

Eine abfällige Bemerkung lag John auf der Zunge, aber er behielt sie für sich. Er steckte seinen Styroporbecher in die Halterung und nickte zu der Straße vor ihnen. „Schau dorthin.“

„Super“, murmelte Tommy verärgert. Er verlangsamte den Streifenwagen und schaltete die Scheinwerfer auf dem Wagendach an, als sie sich näherten.

Der silberne Acura hatte eine Lücke von gut drei Metern in den Holzzaun gerissen, der die unter Naturschutz stehenden Sanddünen vom Highway abtrennte. Das Auto war von der noch nassen Straße abgekommen und hatte sich in einen der Hügel gegraben. Die eingedrückte Kühlerhaube des Wagens steckte tief im weißen Sand. Die Tür auf der Fahrerseite hing offen. Bis jetzt hatten wir eine ruhige Nacht, dachte John. Nur einen kleinen Verkehrsverstoß und ein paar Teenager, die versucht hatten, mit einem gefälschten Ausweis Bier an der örtlichen Tankstelle zu kaufen.

„Allem Anschein nach Trunkenheit am Steuer“, vermutete er. „Der Idiot ist wahrscheinlich am Strand umgekippt und hat das Bewusstsein verloren.“

Tommy stellte den Motor ab, ließ aber die Scheinwerfer an, die den Acura mit gleichmäßigen blauen Strahlen einfärbten. John stieg aus. Er zog seine Taschenlampe aus dem Koppel und richtete den Lichtstrahl ins dunkle Wageninnere.

„Leer“, bestätigte er, während er sich auf die offene Tür zubewegte. Der Airbag hatte sich bei dem Unfall geöffnet und hing wie ein schlaffer Ballon vom Lenkrad herab. „Kennzeichen aus Tennessee. Willst du das Nummernschild abfragen?“

Tommy ging zurück zum Streifenwagen, während John sich in das Auto beugte, um es genauer in Augenschein zu nehmen. Bluttropfen waren auf dem Airbag zu sehen. Sie waren noch feucht. John runzelte die Stirn und hob die Taschenlampe höher, damit sie mehr vom Wageninneren beleuchtete. Sicher war es denkbar, dass der Airbag beim Öffnen dem Fahrer die Nase gebrochen hatte, aber es gab sehr viel Blut auf den Sitzen – trocknende braune Schmierspuren, die aussahen, als ob rostbefleckte Finger an dem Leder abgewischt worden wären.

„Der Wagen ist gestohlen.“ Tommy kehrte an Johns Seite zurück. „Der Besitzer macht hier gerade Urlaub und hat ihn vor zwei Tagen als vermisst gemeldet.“

„Da ist Blut.“

Tommy spähte hinein. „Irgendwelche Flaschen oder Dosen?“

„Nein.“ John richtete sich auf und ging zur Wagenfront. Er legte die Hand auf die Kühlerhaube. Sie war noch warm. Mit zusammengekniffenen Augen blickte er über den dunklen Strand und atmete tief die salzige Seeluft ein. Dann seufzte er niedergeschlagen. „Los, lass uns nach dem Fahrer suchen.“

Als sie eine der Dünenbrücken überquerten – Brücken aus Holzbohlen, die einen Zugang zum Strand ermöglichten und zugleich die Dünen vor dem Fußgängerverkehr schützten –, öffnete John sein Holster. Er bemerkte, dass Tommy – immer auf der Suche nach Aufregung – bereits seine Schusswaffe gezogen hatte und sie vor sich in Anschlag hielt, als ob er zu einem SWAT-Team gehörte, das eine Razzia durchführte. Normalerweise machte John seinem Partner die Hölle heiß wegen seiner draufgängerischen Art, aber dieses Mal war es anders. Der Umstand, dass das Auto gestohlen war, deutete mit hoher Wahrscheinlichkeit auf einen bewaffneten Täter hin.

„Fußspuren“, bemerkte Tommy, als Johns Taschenlampe über den festen Sand am Fuße der Holztreppe schwenkte, die auf den Strand hinausführte. Die Spuren waren schmal und drückten sich nur schwach in den Boden, was darauf hinwies, dass, wer immer das Unfallfahrzeug zurückgelassen hatte, nicht sonderlich groß und außerdem barfuß gewesen war.

Die beiden Polizisten folgten der Spur für ungefähr dreißig Meter, bis sie in eine weitere Dünenansammlung schwenkte, die von dichtem Strandhafer und anderer Vegetation befestigt wurde. John hob die Taschenlampe und ließ den Lichtstrahl über das Gelände schweifen. Eine Schattengestalt kroch hinter einer windschiefen Eichengruppe entlang, kaum sichtbar und so leise wie ein Hase, der versuchte, nicht als Jagdbeute zu enden.

„Hier ist die Atlantic Beach Police“, verkündete John in autoritärem Ton und nahm die Waffe aus dem Holster. Tommy stand neben ihm, bereits in Schusshaltung. Der Lauf seiner Waffe zeigte auf die Baumgruppe. „Kommen Sie langsam heraus, mit den Armen über dem Kopf!“

Die Gestalt regte sich nicht.

„Kommen Sie jetzt heraus!“ John schritt vorsichtig näher und richtete den Schein der Taschenlampe geradewegs auf die Person.

„Glaubst du, wir würden nicht schießen, du Arschloch?“, schrie Tommy. „Wir sind zu zweit und du bist bloß …“

John legte seinem Partner eine Hand auf den Arm und schob die Waffenmündung nach unten. „Herrgott. Nimm das Ding weg.“

Die zusammengekauerte Gestalt war eine Frau. Sie hockte auf dem Boden, ihre schlanken Arme hatte sie in einer beschützenden Geste um sich geschlungen. Dichtes dunkles Haar verbarg ihr Gesicht, aber die Taschenlampe beleuchtete ihre Haut und das getrocknete Blut an ihren Händen, Armen und Beinen. Zuerst dachte John, sie würde einen Badeanzug tragen, doch dann wurde ihm schlagartig klar, dass sie nur ein knappes Höschen und einen Spitzen-BH anhatte. Sie zitterte in dem feinen Dunst des Lichtstrahls.

„Ma’am? Sind Sie in Ordnung?“ Er kam ein paar Schritte näher und streckte eine Hand nach ihr aus. Zu Tommy sagte er: „Geh zurück zum Auto, hol eine Decke und ruf einen Krankenwagen.“

Sobald Tommy sich davongemacht hatte, hockte sich John neben die Frau. Sie ließ sich nicht anmerken, ob sie seine Anwesenheit wahrnahm.

„Ma’am?“, fragte er wieder. Leicht berührte er sie mit den Fingern an der Schulter, was die Trance, in der sie sich befand, zu durchbrechen schien. Sie schrie auf und krabbelte rückwärts, ihre Brust hob und senkte sich schnell. Mühsam rang sie nach Luft.

„Es kommt alles ins Lot. Ich bin Polizist. Wir holen Hilfe.“

Sie schaute ihn an. Ihre braunen Augen waren, entweder vor Angst oder Verwirrung, weit aufgerissen. Die Pupillen wirkten vergrößert, ein Hinweis auf eine wahrscheinliche Kopfverletzung oder vielleicht auch auf Drogen. Die Nase blutete ein wenig, schien aber nicht gebrochen zu sein, und John überlegte, wie schwer die Frau verletzt war. Sie war über und über mit Blut bedeckt, aber er konnte dessen Quelle nicht feststellen. Ihre Handgelenke waren allerdings rot und arg verschrammt.

Wo auch immer sie hergekommen war, sie war gefesselt gewesen.

„Wie heißen Sie?“

Die Frau blinzelte ihn misstrauisch an.

„M… Mia“, brachte sie nach einem langen Augenblick heraus. Sie klang unsicher, ihre Stimme war über die tosenden Ozeanwellen hinter ihnen hinweg kaum zu hören. Selbst in ihrer augenblicklichen Notlage wirkte sie hübsch und ein wenig exotisch mit dem ovalen Gesicht und den feinen Zügen. Sie war vielleicht Ende zwanzig oder Anfang dreißig. John bemerkte die frische Wunde, die ihre Kieferpartie bedeckte.

„Können Sie mir sagen, was mit Ihnen passiert ist, Mia?“

Erneut überfiel ein Zittern ihren Körper, als sie die Augen schloss. „I… Ich weiß es nicht.“

„Sie erinnern sich nicht?“

Sie schüttelte den Kopf, biss sich auf die Lippen. Ihr langes, dunkles Haar hob sich im Seewind. John bemerkte, dass ein großer Teil davon einige Zentimeter kürzer war als der Rest, so als ob eine Handvoll Haare achtlos abgeschnitten worden wäre.

Kaum dass sie hörte, wie Tommy über die Dünenbrücke zurück zu ihnen sprang, fuhr sie auf.

„Ist schon gut“, versicherte ihr John. „Das ist mein Partner. Officer Haggard. Ich bin Officer Penotti. Sie sind jetzt in Sicherheit, okay?“

Tommy tauchte neben John auf, er war ganz außer Atem von seinem schnellen Abstecher zum Streifenwagen. „Ein Krankenwagen ist auf dem Weg.“

Die Frau schreckte zurück, als er sich auf sie zubewegte, um sie in die Decke zu hüllen, die er mitgebracht hatte.

„Entschuldigen Sie … Ich werde sie Ihnen geben.“ Tommy hielt ihr die Decke hin. Die linke Hand der Frau zitterte, als sie sich langsam vorwärtsschob und zögernd nach der Decke griff.

Zwei ihrer Fingernägel fehlten vollständig, die freiliegenden Nagelbetten waren nur noch rohes Fleisch, und Blut quoll daraus hervor. Waren sie ihr etwa bei einer Art Kampf oder Streit herausgerissen worden? John schluckte schwer. Ein Zeichen, das aussah wie die Zahl Acht – oder vielleicht das Symbol für Unendlichkeit –, war in die blasse Haut an ihrem Bauch geritzt worden. Wütend und rot stach ihm die Wunde ins Auge. Er sah zu, wie sie mühsam die grobe Decke um sich herumschlang. Ihre zierliche Gestalt verschwand fast darin. Sie zitterte und schwankte weiter.

„Glaubst du, sie wurde vergewaltigt?“, fragte Tommy kurze Zeit später leise. Sie waren einige Meter von den Dünen weggegangen und hatten die zwischenzeitlich eingetroffenen Sanitäter übernehmen lassen.

„Ich weiß es nicht. Vielleicht.“ Vermutlich. Eine Sanitäterin hatte die Frau dazu gebracht, sich auf eine Trage zu legen, und John konnte durch die Schar der Rettungskräfte nur hin und wieder einen flüchtigen Blick auf sie erhaschen. Über ihm zuckten blau-rote Blinklichter von der Straße durch den noch dunklen Himmel.

„Hey, Carl“, rief John einem Rettungssanitäter zu, als er auf dem Weg zurück zum Krankenwagen an ihm vorbeiging. „Was ist los mit ihr?“

„Das werden wir erst wissen, wenn wir sie zur toxikologischen Untersuchung in die Notaufnahme bringen, aber ich vermute, dass sie unter Drogen steht. Sie ist ziemlich neben der Spur. Erinnert sich nicht einmal daran, dass sie hierhergefahren ist.“

„Was ist mit dem ganzen Blut an ihrem Körper?“

„Abgesehen von ihren Fingern und dem Bauch gibt es keine weiteren Wunden – zumindest keine, die schwerwiegend genug sind, um das ganze Blut zu erklären. Ich muss etwas aus dem Krankenwagen holen, okay?“ Carl eilte davon.

Was bedeutete das? Dass etwas von dem Blut jemand anderem gehörte? John nahm seine Dienstmütze ab und fuhr sich mit der Hand durchs Haar.

Im nahe gelegenen Jacksonville kannte man Gewalt nur allzu gut. Wie in jeder großen Stadt gab es auch hier Überfälle, Morde, schiefgelaufene Drogendeals. Aber in den umgebenden Küstendörfern war es meist ruhig. Gelegentlich randalierende Teenager und betrunkene Touristen waren die typischsten Probleme.

Er dachte an die beiden Frauen, die in den vergangenen zwei Wochen in Jacksonville verschwunden waren. Ob es da einen Zusammenhang gab? Keine von ihnen war gefunden worden, aber soweit er sich erinnerte, hieß auch keine von ihnen Mia. John hatte gehört, wie die junge Frau der Sanitäterin erzählte, ihr Nachname wäre Hale. Irgendetwas klingelte da bei ihm, aber er konnte sich an nichts Genaueres erinnern.

Trotzdem gefiel ihm nicht, was hier vor sich ging.

1. KAPITEL

FBI Special Agent Eric Macfarlane wandte sich zu der Baumgruppe um, sein Jackett hatte er in den warmen blassen Sand geworfen. Mit geschlossenen Augen stand er da, der starke Seewind zerzauste sein dunkelblondes Haar, und die Sonne brannte heiß durch die Rückseite seines blauen Hemdes. Über ihm schrien Möwen in der Luft.

Er versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlte, auf einer einsamen Küstenstraße zu verunglücken. In einem fremden Auto. Stunden verloren zu haben, die sich nicht erklären ließen.

Eric hatte den Unfallbericht der Atlantic Beach Police mehrmals gelesen – gestern in seinem Büro bei der Violent Crimes Unit, der Abteilung für Gewaltverbrechen des FBI in Washington, D. C., und dann wieder im Flugzeug auf dem Weg Richtung Jacksonville International Airport, früh an diesem Morgen. Trotz des warmen Klimas in Florida ließen ihn die Parallelen, die er in dem Bericht gefunden hatte, schon jetzt frösteln.

Wenn er es war, wenn er schließlich wieder aufgetaucht war …

Bei dem Gedanken jagten seine Gefühle dahin, wie Steine, die über das Wasser sprangen.

„Eric.“

Er drehte sich um und sah, wie Cameron Vartran, Agent vom Florida Bureau of Investigations, auf ihn zuging. In Anzughosen, Krawatte und Hemd wirkte er genauso fehl am Platz wie Eric selbst.

„Ich dachte, ich würde dich hier vielleicht finden“, sagte Cameron. Er war dunkelhaarig und hatte ein Grinsen im Gesicht. Herzlich schüttelte er Eric die Hand. Dann gab er ihm einen freundlichen Klaps auf den Rücken, der die Vertrautheit zwischen den beiden Männern ausdrückte.

„Deine Fähigkeiten als Ermittler sind tatsächlich so gut?“, fragte Eric.

„Ja, und meine Dienststelle hat mir mitgeteilt, dass du dich angemeldet und nach dem Unfallort gefragt hast.“

Eric und Cameron kannten einander seit Jahren. Sie hatten die Ausbildung an der FBI-Akademie in Quantico zusammen durchlaufen, dann eine Zeit lang als Agenten im Team miteinander gearbeitet, bis sich Cameron zurück in seine Heimat Florida hatte versetzen lassen und Eric der VCU beigetreten war.

„Wie geht’s Lanie?“, fragte Eric.

„Schwanger.“

Er zog die Augenbrauen hoch. „Wirklich? Glückwunsch!“

„Sie kann es kaum erwarten, dich zu sehen. Es ist viel zu lange her, dass wir uns getroffen haben.“

Cameron stand tief im Sand und stemmte die Hände knapp über dem Waffenholster in die Hüften. Als er Eric in die Augen sah, verblasste sein Lächeln, und seine Miene wurde ernst. „Als der Treffer in der ViCAP-Datenbank auftauchte, dachte ich, du würdest das wissen wollen.“

Eric nickte und starrte kurz in die Ferne. „Also, wie ist der Unfall hier bei euch gelandet?“

„Einige der Küstendörfer hier in der Gegend haben ihre eigenen Polizeikräfte, aber die Teams sind klein und nicht auf Schwerverbrechen eingerichtet. So wurde der Bericht an das Jacksonville Sheriff’s Office weitergeleitet, weil es möglicherweise einen Zusammenhang gibt mit zwei anderen Frauen, die in den letzten paar Wochen im Stadtgebiet verschwunden sind. Das Jacksonville Sheriff’s Office hat uns zur Unterstützung hinzugezogen. Und ich habe dich angerufen.“

„Ist eine der beiden Frauen aufgetaucht?“

Cameron schüttelte den Kopf. „Weder tot noch lebendig. Wir vermuten, dass Ms Hale das dritte Opfer werden sollte, es aber irgendwie geschafft hat, ihrem Entführer zu entkommen.“

„In einem gestohlenen Fahrzeug und ohne jede Erinnerung an ihr Martyrium.“

„Genau. Die Ergebnisse ihrer toxikologischen Untersuchung sind gerade angekommen. Sie haben eine Mischung aus Rohypnol und Gamma-Hydroxy-Buttersäure festgestellt – also eine Date-Rape-Droge und Liquid Ecstasy –, was den schweren Gedächtnisverlust erklärt. Der behandelnde Arzt hat gemeint, sie hätte eine vollständige anterograde Amnesie.“

Eric dachte an die Verletzungen des Opfers, die in dem Bericht ausführlich beschrieben worden waren – der zweite und dritte Fingernagel der linken Hand waren entfernt worden, ein Teil ihrer Haare war abgeschnitten, und eine Zahl war ihr in die Haut geritzt worden. Es wirkte zu bestimmt, um zufällig zu sein. Er spürte eine wachsende Unruhe. Der „Sammler“ war jetzt seit vierunddreißig Monaten vom Radar der VCU verschwunden, was in der Abteilung Spekulationen schürte, er wäre entweder tot oder irgendwo wegen eines ganz anderen Verbrechens eingesperrt.

Eric hatte sich nie mit diesem Gedanken anfreunden können.

„Verdammt, ist das heiß.“ Cameron blinzelte ins Licht, zog die Sonnenbrille heraus, die an seine Hemdtasche geklemmt war, und setzte sie auf. „Vielleicht können wir schnell einen Happen essen und ein paar Neuigkeiten austauschen vor der Besprechung mit den Detectives vom Jacksonville Sheriff’s Office um eins. Es gibt da ein großartiges Fischlokal ein Stück von hier entfernt die Straße hinunter. Das kennen nur die Einheimischen.“

Sie gingen über den Sand, und Eric beugte sich hinunter, um sein Jackett wieder aufzuheben. Er warf es sich über die Schulter. Während Cameron sprach, blickte er zurück zum Wasser. Obwohl der Strand hier nicht übermäßig touristisch erschlossen war, bemerkte er dennoch einige Spaziergänger am Ufer. Das Meer wirkte ruhig unter dem azurblauen Himmel, und weiter draußen am Horizont glitten die grauschwarzen Umrisse von Marineschiffen vorbei.

„Also, Mia Hale – sie ist Reporterin beim Jacksonville Courier?“, sagte Eric, als sie die Holzbohlentreppe herunterkamen, die zurück zur Straße führte. Die Information überraschte ihn nach wie vor.

Cameron nickte. „Polizeireporterin. Sie hat über die vermissten Frauen berichtet – in beiden Fällen geht es um mutmaßliche Entführung, denn die Familien der beiden Frauen beharren darauf, dass diese nicht der Typ dafür sind, einfach zu verschwinden. Ms Hales letzte Story wurde am Montagmorgen gebracht, und sie ist in derselben Nacht aus der Parkgarage der Zeitung verschwunden. Die Strandpolizei hat sie ungefähr acht Stunden später gefunden. Sie hatte sich hier versteckt, trug nichts außer Unterwäsche und war in einem ziemlich schlechten Zustand. Ich vermute, dass ihre Artikel die Aufmerksamkeit von irgendjemandem geweckt haben.“

„Was ist mit dem Fahrzeug? Irgendwelche Hinweise?“

„Das Sheriff’s Office hat das bearbeitet. Die Ergebnisse der Spurensicherung sollen heute Nachmittag da sein. Ms Hale erinnert sich nicht, wie sie in den Besitz des Autos gekommen ist, und auch nicht, von wo aus sie es hergefahren hat. Das Fahrzeug wurde vor ein paar Tagen vor einem Outlet-Einkaufszentrum, das bei Touristen recht beliebt ist, als gestohlen gemeldet. Das Einkaufszentrum ist auf der anderen Seite der Stadt.“

Ein paar Meter entfernt fehlte ein breiter Abschnitt des Zauns, der die Dünen abtrennte. Die Holzpfähle lagen wie zerbrochene Streichhölzer verstreut zwischen braunen Plattährengras-Büscheln. Das war alles, was vom Unfallort übrig geblieben war. Eric untersuchte das Areal.

„Ich möchte mit Ms Hale sprechen.“

„Sie wurde gestern aus dem Krankenhaus entlassen. Wir können demnächst einen Termin mit ihr ausmachen.“

Camerons Dienstfahrzeug war hinter Erics Mietwagen auf dem sandigen Seitenstreifen der A1A geparkt. Er erklärte Eric den Weg zum nahe gelegenen Restaurant, dann setzte er die Sonnenbrille wieder ab. Besorgnis lag in seinem Blick. „Die Wahrheit ist, ich war mir nicht sicher, ob die VCU damit einverstanden wäre, dass du dich in Anbetracht der Umstände an den Ermittlungen beteiligst.“

Rebecca. Ihr Bild, ihre Stimme waren in seiner Erinnerung ein wenig verblasst. Als ihm das klar wurde, spannte sich sein Kiefer an. Das letzte Mal, dass Eric seinen alten Partner und dessen Frau Lanie gesehen hatte, war bei Rebeccas Beerdigung gewesen. Vor fast drei Jahren.

„Ich habe meine Beziehungen spielen lassen“, gab er zu.

„Darauf wette ich. Und du bist ohne Partner hier heruntergekommen?“

„Die Ressourcen sind knapp. Ich habe ihnen gesagt, es wäre effektiver, wenn ich hier unten mit meinem alten Partner zusammenarbeiten würde.“

„Das nenne ich Timing. Mein Partner hat sich das vordere Kreuzband gerissen. Er ist krankgeschrieben.“ Cameron schien seine nächsten Worte sorgfältig zu wählen. „Wenn es wirklich der Kerl ist … wirst du damit klarkommen?“

Eric war bei der VCU auf Serienmörder spezialisiert. Er wusste nur allzu gut, dass Verdächtige oder gesuchte Personen auch früher schon umgezogen und untergetaucht waren, um einer Gefangennahme zu entgehen. Aber letztendlich trieben ihre angeborenen Begierden sie dazu, wieder zu jagen.

„Ich will den Fall abschließen“, sagte er schlicht.

Cameron seufzte, während er einem vorbeifahrenden Auto auf dem Highway nachblickte. „Ich weiß, dass du das willst.“

„Ich will nicht, dass du in die Redaktion kommst, Mia“, sagte Grayson Miller am Telefon. „Das ist mein letztes Wort.“

„Ich könnte nur an den Konferenzen teilnehmen …“

„Gib dir ein wenig Zeit, dich zu erholen, okay? Du wohnst nicht ohne Grund an der Küste – geh raus, Sonne tanken oder so etwas.“ Er hielt inne, um mit jemandem in seinem Büro zu sprechen, und Mia stellte sich Grayson vor, an seinem Schreibtisch beim Jacksonville Courier, die Zweistärkenbrille auf der Nase, während er wie verrückt den Artikel von jemandem korrigierte. Als er zu ihrem Gespräch zurückkehrte, senkte er die Stimme. „Schau, ich werde nach der Arbeit vorbeikommen und nach dir sehen.“

„Das musst du nicht. Will und Justin sind unten …“

„Hab Verständnis. Ich muss selbst sehen, dass es dir gut geht.“ Als sie die Besorgnis in seinen Worten hörte, tat Mia die Kehle weh.

„Als ich heute Morgen zur Arbeit kam und dein Auto hier stehen sah, mit geöffneter Tür und deiner Handtasche darin, hat es mir einen Schrecken eingejagt. Ich bin hier seit dreizehn Jahren Chefredakteur, und niemals ist so etwas passiert. Eine meiner Reporterinnen, entführt, direkt aus dem Parkhaus. Du bedeutest mir sehr viel, Mia. Es ist ein Wunder, dass du am Leben bist.“

Sie schloss die Augen und schluckte das Gefühl herunter, das bei ihr in letzter Zeit immer wieder an die Oberfläche zu kommen schien. „Grayson …“

„Ich bringe Abendessen mit. Pizza von Mario’s oder was Thailändisches von dem Lokal um die Ecke. Ich erwarte bis sechs eine E-Mail, die mir mitteilt, was ich holen soll.“

„Thailändisch“, flüsterte sie und beendete das Telefonat.

Mia blieb auf dem Balkon ihres Apartments stehen. Sie hasste es, dass sie trotz der warmen Sonne zitterte. Sie legte das Telefon auf die Glasplatte des Verandatisches, zog den Stoffgürtel ihres kurzen Morgenmantels enger um sich und starrte mit leerem Blick über die dichten Baumkronen des üppigen Parks in San Marco, dem historischen Viertel von Jacksonville. Grayson hat recht, räumte sie ein – sie war noch nicht so weit, wieder zur Arbeit zu gehen. Die Wahrheit, die sie niemandem außer sich selbst eingestehen würde, war: Sie wollte einfach nicht allein sein. Das rege Treiben in der Redaktion, ein Auftrag für eine neue Story, selbst eine kleine, würde ihr helfen können, auf andere Gedanken zu kommen.

Ihr großes Problem war, sie war jetzt Teil der Story. Oder zumindest der einen, über die alle sprachen. Mia spürte, wie wieder ein Zittern durch sie hindurchlief.

Sosehr sie sich auch bemühte, und sie bemühte sich wirklich sehr, sie konnte sich an nichts erinnern. Die Detectives vom Jacksonville Sheriff’s Office und auch ein Agent von der hiesigen FBI-Dienststelle hatten sie befragt, aber nicht einmal ein Bruchstück dieser verlorenen Stunden war zurückgekehrt. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, wie sie das Büro verließ, spät, nachdem sie eine Eilmeldung eingereicht hatte. Sie hatte Ronnie, einem der Nachtpförtner, Gute Nacht gesagt und war in den milden Abend hinaus zu ihrem Auto gegangen. Dann hatte sie auf den Schlüsselanhänger geklickt, womit die Alarmanlage ihres alten Volvos ausgeschaltet wurde, und anschließend ihre Handtasche auf den Vordersitz geworfen.

Das Nächste, woran sie sich erinnerte, war, dass sie in einem zerschmetterten Auto aufwachte, das nicht ihr gehörte, auf einem unbekannten Abschnitt einer dunklen Küstenstraße. Sie war mit Blut bedeckt gewesen, hatte gezittert und war verwirrt. Ihre innere Stimme hatte sie angeschrien, sie solle fortrennen. Sich verstecken.

Die Strandpolizei, die sie gefunden hatte, die Rettungskräfte am Unfallort und dann später die Ärzte und Krankenschwestern in der Notaufnahme des Krankenhauses – all das war wie hinter einem Schleier, ein undeutliches Bild von Menschen in ihrem Kopf, die sich an ihr zu schaffen machten, ihr Blut abnahmen und ihre Vitalfunktionen überprüften. Ihr unzählige Fragen stellten, die sie nicht beantworten konnte. Sie rang nach Luft, als sie sich an die aufdringliche, entwürdigende Untersuchung auf Vergewaltigungsspuren erinnerte, und an ihre heftige Erleichterung, als sich herausstellte, dass es für einen Missbrauch keine Anhaltspunkte gab. Mia hatte eine der Krankenschwestern gebeten, Grayson anzurufen, denn sie wusste, er traf normalerweise weit vor Tagesanbruch in der Redaktion ein. Es stellte sich heraus, dass er sie bereits als vermisst gemeldet hatte.

Ein Rest der dumpfen Kopfschmerzen, die sich wie ein Kater anfühlten, plagte sie immer noch – die Folge der Drogen in ihrem Körper, hatte man ihr gesagt.

Was war mit ihr geschehen? Vor wem war sie geflüchtet und wie?

Sie kannte die Vermutungen der Polizei. Wer auch immer die zwei Frauen entführt hatte, über die Mia geschrieben hatte, sollte auch sie ins Visier genommen haben. Und diese Frauen blieben nach wie vor vermisst. Als Reporterin versuchte sie stets, eine gewisse Objektivität beizubehalten. Das war jetzt alles dahin. Sie fühlte sich diesen Frauen verbunden. Ob sie immer noch irgendwo festgehalten wurden? Oder waren sie schon tot?

Die warme Brise spielte mit ihrem Haar. Mia drückte eine Hand auf ihren Bauch, wobei ihr Blick an der hässlichen Abschürfung um ihr Handgelenk herum hängen blieb. Durch den Seidenstoff des Morgenmantels konnte sie die erhabenen Ränder der seltsamen verschorften Einkerbung in ihrer Haut fühlen. Bikinis sind in absehbarer Zeit tabu, dachte sie und versuchte, ein wenig Humor in eine ansonsten entsetzliche Situation zu bringen. Die Spitzen ihres zweiten und dritten Fingers der linken Hand waren bandagiert und schmerzten.

Du bist zäh, Mia. Du hast schon vorher Schlimmes erlebt und wirst auch dies hier durchstehen.

Sie ging zurück in ihr Apartment. Es war groß und luftig, mit hohen Decken und einem alten Kiefernkernholz-Boden. Vom Flur her konnte sie den Scanner hören, den sie in ihrem Arbeitszimmer aufbewahrte. Sie hörte damit den Polizeifunk ab. Das leise Plappern des Geräts klang seltsam, aber vertraut. Sie ging zu dem Tresen mit der Granitplatte hinüber, der die Küche vom Wohnbereich abtrennte, und betrachtete die Ausgabe vom Jacksonville Courier. Mia hatte sie vor einigen Stunden von ihrer Türstufe genommen, war aber bislang nicht in der Lage gewesen, sie zu lesen. Die Schlagzeile unter dem Zeitungsnamen war harmlos politisch – es ging um die verfahrene Situation zwischen County und Staat wegen der Flächennutzungsrechte an der Küste.

Sie nahm ihren Mut zusammen und faltete die Zeitung auseinander. Zuerst durchsuchte sie die Nachrichten auf der Titelseite, öffnete das Blatt dann auf der zweiten Seite und legte es flach auf die Arbeitsplatte. Grayson hatte sie bereits gewarnt, dass Walt Rudner, ein erfahrener Reporter, der doppelt so alt war wie Mia, die Story über die hiesigen Entführungsfälle übernommen hatte.

Eine Story, die sie jetzt mit einschloss, zumindest anonymerweise. Als sie Walts Folgeartikel las, der sich auf den größeren Bericht vom Anfang der Woche bezog, spürte sie, wie es in ihrem Magen von Neuem zu flattern begann.

Einer einunddreißig Jahre alten Frau, die das dritte Entführungsopfer gewesen sein soll, gelang es, in den frühen Stunden des Dienstagmorgens zu entkommen. Nach Aussage eines Sprechers des Jacksonville Sheriff’s Office konnte das Opfer aufgrund der erlittenen Verletzungen bislang keinerlei Angaben machen, die für die Ermittlungen nützlich sein könnten …

Der letzte Absatz vermeldete, dass das Violent Crimes Unit des FBI aus D. C. zu dem Fall hinzugezogen worden war.

Auf ein Klopfen an der Tür hin sprang sie auf. Sie ging in die Diele und spähte durch den Türspion. Erleichtert ließ sie die Schultern sinken, als sie Will Dvorak sah, der im Erdgeschoss wohnte und außerdem Miteigentümer des Hauses war. Es ärgerte sie, dass ein einfaches Klopfen ihren Puls auf Hochtouren gebracht hatte. Trotz alledem schwor sich Mia, sich nicht verängstigt in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen, wo sie nur noch ein Abglanz der Frau wäre, die sie einmal gewesen war.

„Zieh dir was an. Wir kommen zu spät“, verkündete Will, als er das Apartment betrat und Mia auf die Wange küsste. Will war mittelgroß, hatte rostrotes Haar und blaue Augen. Wie üblich war er makellos gekleidet, trug Khakihosen und ein gebügeltes kurzärmeliges Hemd. Seine Designer-Sonnenbrille hing an einer Schnur um seinen Nacken.

„Was anziehen? Wo gehen wir hin?“

„Justin hat vom Élan aus angerufen. Einem seiner Hairstylisten wurde ein Termin abgesagt, und du bist die Glückliche.“ Justin Cho war Will’s Lebensgefährte und ein erfolgreicher Unternehmer. Er betrieb eine Anzahl Firmen in der Stadt, darunter eines von Jacksonvilles besten Day Spas, wo exklusive Wellness und Kosmetik angeboten wurden. „Ich habe ihm gesagt, ich würde dich hinbringen.“

Mia schüttelte den Kopf. „Das ist süß. Aber ich fühle mich dazu wirklich nicht imstande.“

Will lächelte sie verständnisvoll an, überhörte aber ihre Bemerkung. „Danach werden wir in dem Lokal am Riverwalk, das du so gerne magst, zu Mittag essen. Die frische Luft wird dir guttun.“

Sie musste nicht sehr überzeugt gewirkt haben, denn er legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie sanft herum, dann führte er sie durch den Flur ins Badezimmer. Will war ein guter Freund. Genau genommen war er in vielerlei Hinsicht ein Familienersatz, der engste Vertraute, den sie hatte.

„Will …“

„Dies ist zu deinem eigenen Besten.“ Er schaltete das Licht an und stellte Mia vor den Spiegel mit den geschliffenen Kanten, der über dem marmornen Waschtisch hing. Sie zuckte zusammen, als sie ihr blasses, gequält wirkendes Spiegelbild sah.

Ihr dunkles Haar war ein einziges Durcheinander. Und es war nicht nur die Tatsache, dass es vor Kurzem nicht regelmäßig gebürstet worden war. Die breite Schneise, die während dieser verschwundenen Stunden hineingeschnitten worden war, ließ ihre Frisur schief aussehen – als ob sie ein Kind wäre, das versucht hatte, sich selbst die Haare zu schneiden.

„Es sieht einfach nicht gut aus, Darling“, sagte Will sanft.

Mia runzelte die Stirn und berührte mit ihren bandagierten Fingern den blassen Bluterguss am Kinn. Ihre kakaobraunen Augen glänzten und waren voller Fragen. Sie versuchte wieder, sich an irgendetwas von dem zu erinnern, was mit ihr geschehen war, aber es war, als ob sie versuchte, durch einen schwarzen Nebel zu blicken. Sie schaute Will im Spiegel an, obwohl er hinter ihr stand. In seinen Augen lag Besorgnis.

Sie würde sich davon nicht zugrunde richten lassen.

Angespannt holte Mia Luft und verließ das Bad, um sich anzuziehen. „Okay. Sag Justin, wir kommen.“

2. KAPITEL

Das Jacksonville Sheriff’s Office war eine gemeinsame Dienststelle von Stadt und County, die für die Strafverfolgung sowohl in Jacksonville als auch im Großraum von Duval County zuständig war. Eric saß im Konferenzraum des JSO in der East Bay Street, zusammen mit Cameron und den zwei Detectives, denen die Vermisstenfälle anfangs zugeteilt worden waren. Detective Boyet war stämmig und hatte schütteres Haar, seine Partnerin hingegen, Detective Scofield, war eine blonde, athletisch aussehende Frau von Mitte vierzig.

„Es gab mehr als eine Blutgruppe in dem Acura“, stellte Eric fest, während er den kriminaltechnischen Bericht über die Untersuchung des Autos, mit dem Mia Hale verunglückt war, durchsah.

Boyet nickte. Sein Stuhl quietschte, als er das Gewicht verlagerte. „Die Blutgruppe auf dem Lenkrad und dem Airbag passen zu Ms Hale, ebenso die Fingerabdrücke, die im Fahrzeug gefunden wurden. Aber die größeren Schmierspuren auf dem Vordersitz gehören zu derselben Blutgruppe wie Cissy Cox, unsere zweite Vermisste. Obwohl die DNA-Tests noch nicht abgeschlossen sind, wissen wir bereits, Ms Cox’ Blutgruppe ist 0 negativ. Das ist eine seltene Blutgruppe – nur ungefähr fünf Prozent der Bevölkerung haben sie. Dass sie gefunden wurde, bedeutet, dass auch Ms Cox wahrscheinlich irgendwann einmal in dem Auto gesessen hat.“

„Oder die Schmierspuren sind von Ms Hales Händen übertragen worden.“ Als er die verdutzte Miene des Detective sah, erklärte Eric weiter: „Sie könnte an dem Ort, wo sie festgehalten wurde, mit dem zweiten Entführungsopfer in Kontakt gekommen sein. Vielleicht hatte sie das Blut am Körper, als sie entkam, und hat sich die Hände an dem Sitz abgewischt, bevor sie wegfuhr.“

Cameron stand vom Tisch auf und lehnte seine hochgewachsene, athletische Gestalt gegen die Wand neben einem großen Fenster. Von dort aus sah man auf eine Reihe von Palmen hinaus. „Da wir gerade davon sprechen, wie ist sie überhaupt weggefahren? Das Auto war gestohlen – lagen die Schlüssel drinnen?“

„Der Wagen wurde kurzgeschlossen“, setzte Boyet hinzu. „Egal ob sie das selbst getan hat oder der Täter, Ms Hale wusste zumindest genug, um die Drähte richtig zusammenzubinden und die Zündung anzulassen. Ich würde sagen, das ist eine interessante Fähigkeit für eine Journalistin. Besonders für eine, die mit Rohypnol zugedröhnt war.“

„Irgendwelche anderen Fingerabdrücke im Auto?“, fragte Eric.

„Nur ihre.“

Detective Scofield meldete sich zu Wort. „Wir haben ein paar Mal mit Ms Hale als Reporterin zu tun gehabt, dazu zählen auch die Interviews wegen der jüngsten Vermisstenfälle. Sie ist jung, aber sie ist klug. Sie war ziemlich mitgenommen, als wir mit ihr im Krankenhaus gesprochen haben, was zu erwarten war. Es wird interessant sein zu sehen, wie sie mit all dem umgeht.“

Fotos der ersten beiden vermissten Frauen lagen auf dem Tisch, ebenso mehrere Polaroidaufnahmen von Mia Hale, die während der Untersuchung in der Notaufnahme gemacht wurden. Eric betrachtete das Bild, das ihm am nächsten lag. Es zeigte nur ihr Gesicht und enthüllte einen schwachen Bluterguss auf der rechten Seite des Kiefers. Sie war hübsch, bemerkte er. Ein blasser, olivfarbener Teint, dunkles Haar und braune Augen wie ein Reh. Sie wirkten glasig auf dem Schnappschuss von den Drogen, darin mischten sich Angst und Verwirrung. Es zerriss ihm fast das Herz vor Mitleid. Sein Blick wanderte zu den anderen beiden Fotos aus der Notaufnahme, die die Verletzungen auf ihrem Bauch und an der Hand abbildeten. Die Verbindungsschleifen der Zahl Acht waren auf ihrem flachen gebräunten Bauch gut sichtbar.

„Was für ein kranker Scheißkerl macht so etwas?“ Boyet wies auf das dritte Polaroid. Offene Wunden, nur rohes Fleisch, waren dort, wo zwei ihrer Fingernägel hätten sein sollen. „Der Arzt in der Notaufnahme sagte, ihre Fingernägel wurden wahrscheinlich mit einer Zange oder einem anderen Werkzeug herausgezogen.“

„Ihre Verletzungen stimmen mit dem Modus Operandi überein“, sagte Eric.

Scofield schauderte vor Abscheu. „Wahrscheinlich ist sie froh, dass sie keine Erinnerungen daran hat, was mit ihr geschehen ist. Ich wäre es, das weiß ich.“

Eric versuchte, nicht an Rebecca zu denken, daran, was sie durchgemacht hatte. „Gibt es irgendwelche Ähnlichkeiten oder Verbindungen zwischen den entführten Frauen? Derselbe gesellschaftliche Status, oder vielleicht hatten sie ähnliche Berufe, haben denselben Yoga-Kurs besucht oder im selben Lebensmittelladen eingekauft?“

Cameron stieß sich von der Wand ab und fing an, im Raum auf und ab zu gehen. „Vom Standpunkt der Viktimologie aus gesehen, haben wir bis jetzt nichts finden können. Cissy Cox arbeitet in einem Geschäft im River City Marketplace, einem großen Einkaufszentrum. Pauline Berger ist Hausfrau und Mutter und wohnt in einem protzigen Neubau-Klotz in Ponte Vedra Beach. Sie ist Mitglied in einem Country Club. Mia Hale lebt im szenigen San Marco, und wie du weißt, arbeitet sie für den Courier. Das sind ziemlich unterschiedliche Orte und Lebensstile.“

„Ganz zu schweigen davon, dass die Opfer körperlich stark voneinander abweichen.“ Scofield deutete auf die Fotos von allen drei Frauen und tippte mit der Spitze ihres Kugelschreibers auf jedes davon. „Eine kurvenreiche Rothaarige, eine hochgewachsene, nordisch aussehende Blondine und eine zierliche Brünette mit womöglich lateinamerikanischen Wurzeln. Wenn Sie wirklich glauben, hier wäre ein Serienkiller am Werk, bevorzugen die nicht ein und denselben Typ?“

„Einige schon“, räumte Eric ein. „Aber wenn es sich hier um die Wiederkehr eines früheren Täters handelt, wie ich vermute, ist sein Geschmack auch mit Absicht vielfältig.“

Sie neigte den Kopf. „Ich bin nicht sicher, ob ich dem folgen kann.“

„Er hat selbst darauf hingewiesen, dass er gerne verschiedenartige Frauen entführt. Er bezeichnet sie als seine ‚Sammlung‘.“

Scofield blickte erstaunt drein. „Sie haben mit ihm gesprochen?“

„Er hat während der früheren Ermittlungen digitale Tonaufzeichnungen an die VCU geschickt, obwohl seine Stimme wahrscheinlich verändert war.“ Eric erinnerte sich an die Aufnahmen, die ihm nacheinander zugestellt worden waren, nach jeder Frau, die verschwunden war. Auch wenn er Cameron nicht ansah, spürte er, wie der Blick seines Partners auf ihm ruhte. „Es waren Aufnahmen von seinen Opfern, man konnte hören, wie sie gefoltert und getötet wurden.“

„Die VCU befasst sich mit ziemlich krankem Scheiß.“ Boyet nahm ein anderes Foto zur Hand. „Was hat es mit dieser Schnitzerei auf sich?“

„Er hat seine Opfer nummeriert. In Maryland wurden fünf Frauen entführt und getötet, bevor er vor drei Jahren verschwand. Wenn dies hier derselbe Kerl ist, könnten Ihre zwei vermissten Frauen Nummer sechs und sieben sein …“

„Was Mia Hale zu Opfer Nummer acht macht“, stieß Scofield aus, der plötzlich etwas klar geworden war. „Oder das war der Plan, bevor sie geflüchtet ist.“

„Technisch gesehen ist das immer noch ein Vermisstenfall, solange keine Leiche auftaucht.“ Boyet zog ein grimmiges Gesicht. „Aber wenn Sie recht haben mit der Identität des Entführers, Agent Macfarlane, dann ist das nicht gut. Wir steuern auf die Hauptsaison zu, viele Badeurlauber werden hier sein – Jacksonville braucht keinen frei herumlaufenden Serienkiller.“

„Worauf wolltest du hinaus, als du meintest, die zweite Blutgruppe wäre vielleicht durch Übertragung ins Auto gelangt?“, fragte Cameron, als Eric und er durch die belebte Eingangshalle des Jacksonville Sheriff’s Office liefen. Es war zwar noch April, aber die Hitze traf sie in einer schwülen Welle, sobald sie sich durch die Glastüren schoben, die auf den Vorplatz des Gebäudes führten, und dann nach Westen gingen, zu dem mehrstöckigen Parkhaus, wo sie ihre Wagen abgestellt hatten.

„Während der Ermittlungen in Maryland konnten wir auf den Aufnahmen die Laute von zwei Frauen gleichzeitig ausmachen.“ Eric lockerte im Gehen seine Krawatte. „Die erste Frau – um die es in der Aufnahme ging – war im Vordergrund zu hören. Aber die AV-Techniker isolierten auf jeder Tonaufnahme auch den Laut einer zweiten Frau im Hintergrund, obwohl die Stimme gedämpft klang, vermutlich wegen eines Knebels.“

Cameron blieb stehen und hielt Eric am Arm fest. „Was bedeutet das genau?“

Eric schaute hinaus über das Wasser. Jacksonville war bekannt als The River City, und von dort, wo sie standen, war ein großer Teil des St. Johns River zu sehen, der durch das Herz der Innenstadt floss. Eric bemühte sich, seine Theorie so gelassen wie möglich zu formulieren. „Man nimmt an, dass der Täter zwei Frauen gleichzeitig gefangen hält. Wahrscheinlich hat er die später Entführte gezwungen zuzusehen, wie er die Frau tötete, die er zuvor verschleppt hatte, als Machtdemonstration. Wenn er dann eine weitere Frau dazuholte, war diese Entführte vermutlich an der Reihe, zu sterben.“

„Wie eine Drehtür. Die eine kommt, die andere geht“, sagte Cameron tonlos. „Du meinst also, dass beide Frauen bereits tot sind – dass Cissy Cox beobachtet hat, wie Pauline Berger starb, und Mia Hale wiederum Zeugin von Cissy Cox’ Hinrichtung wurde, bevor sie entkam? Und sie deshalb Ms Cox’ Blut an sich hatte?“

Eric dachte an die Familien, die sich immer noch Hoffnungen machten, ihre Lieben würden vielleicht nach Hause zurückkehren. „Ja, das meine ich.“

Camerons Augen verdunkelten sich. Er schien etwas sagen zu wollen, aber das Summen seines Handys unterbrach ihn. Er schaute auf den Apparat. „Das ist Lanie. Ich muss rangehen.“

Er ging ein paar Meter fort und sprach mit seiner Frau über einen Termin zur Geburtsvorsorge. Als er das Telefon eine Minute später zuklappte, sagte er: „Lanie lässt dich grüßen. Und dass sie dich morgen Abend zum Essen erwartet. Wir würden das auch heute Abend machen, aber ihr Dad feiert seinen sechzigsten Geburtstag.“

Eric nickte verständnisvoll. „Ihr habt einen Termin beim Arzt?“

„Es ist ein Routine-Ultraschall. Die Praxis hat angerufen und gefragt, ob wir frühzeitig kommen können. Um vier.“

„Geh“, sagte Eric und blickte auf seine Armbanduhr. Es war schon fast drei. „Lanie braucht dich. Ich kann einiges allein erledigen. Erst einmal fahre ich nach San Marco, um zu sehen, ob ich heute noch mit Ms Hale sprechen kann.“

„Wir können morgen eine offizielle Befragung mit ihr ansetzen, nach unserem Treffen mit dem Rest des Teams. Warum richtest du dich nicht erst mal in dem Ferienhaus ein?“

„Ich möchte nicht warten.“

Cameron zog eine seiner Visitenkarten von der Dienststelle Florida heraus, auf der Mia Hales Adresse und Telefonnummer geschrieben war. Er reichte sie Eric.

„Die Aufnahmen …“ Er klang unschlüssig, so als ob er nicht wirklich sicher war, ob er die Antwort wissen wollte. „Hast du eine von Rebecca bekommen?“

Eric suchte in seiner Tasche nach den Autoschlüsseln. Er dachte an die Tage und Wochen, in denen er gewartet hatte und sich fürchtete und sich zugleich danach sehnte, ihre Stimme ein letztes Mal zu hören. Er schaute Cameron nicht an, als er antwortete.

„Das war die einzige, die nie gekommen ist.“

Allan Levi betrat das peinlich saubere, einstöckige Farmhaus.

„Mutter? Ich bin zu Hause“, rief er und schloss die Eingangstür hinter sich. Es war viel zu warm im Haus, bemerkte er. Aber das war nicht überraschend, denn Gladys behauptete ständig, sie würde frieren, und hantierte dann mit dem Thermostat herum. Immerhin hielt ihre Genügsamkeit die Rechnungen für die Klimaanlage niedrig. Mitsamt der weißen Papiertüte in der Hand, auf deren Seite Walker’s Pharmacy aufgedruckt war, folgte er dem Fernseherlärm, bis er Gladys in der Küche fand. Sie saß am Küchentisch. Ihre hagere Gestalt war in einen geblümten Hausmantel gehüllt. Wie gebannt sah sie zu dem kleinen Apparat auf der Küchentheke hinüber, den sie lieber zu nutzen schien als den größeren im Wohnzimmer.

„Da bist du.“ Allan beugte sich hinab, um ihr einen Kuss auf den grauen Schopf zu drücken, und fing dabei eine Wolke aus Babypuderduft und White-Shoulders-Parfüm auf. Er überhörte das leise, warnende Knurren von Puddles, dem arthritischen Chihuahua seiner Mutter, der sich in einem Hundebett auf dem Fußboden in der Nähe zusammengerollt hatte.

„Ich dachte, du würdest nicht zurückkommen“, warf sie ihm vor. Ihr Blick klebte weiterhin an der religiösen Talkshow im Fernsehen. „Du hast mich den ganzen Tag allein gelassen.“

„Du warst drei Stunden allein“, berichtigte er. „Ich hatte einige Besorgungen zu machen. Das habe ich dir gesagt, erinnerst du dich?“

„Hast du meine Medikamente bekommen?“

Er schüttelte die Tüte, sodass die Plastik-Pillenfläschchen darin klapperten.

„Hm. Hast lange genug gebraucht.“

„Ich bin in die Stadt gefahren, um einen Fernseher zur Reparatur zu bringen. Sie zahlen fünfzig extra für Abholung und Lieferung.“

Allan ging zur Spüle und wusch sich die Hände. Dabei vergaß er nicht, mit einer kleinen, steifborstigen Bürste unter den Fingernägeln zu schrubben, bevor er sich die Hände mit einem Papierhandtuch trocknete. Dann setzte er sich auf den Stuhl gegenüber von Gladys. Er stellte den Inhalt der Tüte auf den Tisch und fing an, die Pillen und Kapseln in den mit einem Klappdeckel versehenen Plastikkasten zu legen, der ihm half, Schritt zu halten, welche Medikamente sie wann nehmen musste. Es gab Fächer für morgens, mittags und abends, für jeden Tag der Woche. Es war langweilig, aber die Aufgabe machte ihm nichts aus. Im Grunde genoss er die Ordnung, die sie mit sich brachte.

Eine rote, eine blaue, eine pinkfarbene.

Während er arbeitete, bemerkte er, dass Gladys ihr fahrbares Sauerstoffgerät in die Küche gerollt hatte. Der Schlauch und die Kanüle hingen jedoch unbenutzt wie eine Kette um ihren schlaffen Hals. Sein Blick glitt zur Küchentheke. Ein Aschenbecher stand neben der Spüle. „Hast du wieder geraucht, Mutter?“

„Pst“, sagte sie gereizt und machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich kann meine Sendung nicht hören.“

„Ich bin nicht den ganzen Weg hierher zurückgezogen, um zuzusehen, wie du dich selbst in die Luft sprengst.“ Allan runzelte die Stirn. Er würde mit der Putzfrau sprechen müssen – er wusste, es war diese dreckige mexikanische Hure, die ihr heimlich Zigaretten zusteckte, und das vermutlich mit einem ziemlichen Profit. Normalerweise würde das ausreichen, um ihn richtig wütend zu machen, aber dann ermahnte er sich. Er hatte sehr vieles, wofür er dankbar sein musste.

Zunächst einmal, die Polizei könnte gerade jetzt in diesem Augenblick hier sein und im ganzen Haus herumkriechen.

Er legte die letzte Kapsel ins richtige Fach.

„Ich gehe jetzt in meine Werkstatt“, verkündete er und meinte damit den Schuppen, der im hinteren Teil des Grundstücks lag und sich dort zwischen die hohen Kiefern schmiegte.

„Du verbringst viel zu viel Zeit da draußen“, kritisierte Gladys, als er vom Tisch aufstand. Schließlich sah sie ihn an, und ihre wässrigen blauen Augen verengten sich misstrauisch in ihrem faltigen Gesicht. Von seinem Blickwinkel aus war deutlich zu sehen, dass ihr Mund nach rechts hing, eine Folge des Schlaganfalls, den sie vor drei Jahren erlitten hatte.

„Ich muss mit dem Fernseher anfangen …“

„Ein Junge wie du, mit teurem College-Abschluss, den ich bezahlt habe.“ Sie schüttelte verdrossen den Kopf. „Und da haben wir’s. Keine Frau oder Kinder und keinen richtigen Job, wenn du mich fragst. Müßiggang ist aller Laster Anfang.“

Er spürte, wie sein Gesicht heiß wurde. „Ich arbeite doch, Mutter. Ich bin selbstständig. Und jetzt kümmere ich mich auch um dich. Das ist ein Job für sich. Ich werde um fünf zurück sein, um dir Abendessen zu machen. Wir essen Spaghetti mit Hackfleischsauce – wie klingt das?“

Gladys schwieg mürrisch. Der Chihuahua knurrte wieder, als Allan durch die Fliegengittertür der Küche verschwand. Er schlich durch den Garten hinter dem Haus und auf dem ausgetretenen Pfad durch das Wäldchen. Das ausgeschlachtete Autochassis zu seiner Linken beachtete er nicht weiter. Er musste über so vieles nachdenken.

Es waren zwei Tage voller Ungewissheit gewesen, aber schließlich hatte er angefangen, sich zu entspannen. Niemand kam. Laut ihrer eigenen Zeitung erinnerte sie sich an gar nichts. Die starken Drogen, die sie gefügig gemacht hatten, hatten den sehr günstigen Nebeneffekt, ihr Gedächtnis zu löschen. Allan ging im Kopf alle Punkte und Einzelheiten durch, versuchte zu ergründen, wo er nachlässig gewesen war. Welchen groben Fehler er begangen hatte, der ihr die Flucht ermöglichte.

Sie hatte ihm doch so viel bedeutet.

Er erreichte das kleine Gebäude aus Beton, schloss die Tür mit seinem Schlüssel auf und schaltete beim Hineingehen das Deckenlicht ein. Leer. Die Rothaarige war rechtmäßig verschwunden, aber sie sollte immer noch hier sein.

Er hatte ihren Namen zuerst in der Zeile unter den Artikeln über die vermissten Frauen bemerkt. Seine Mädchen. Dann hatten sie eine Kolumne gebracht, die ihr Foto enthielt. Er nahm ein aus der Zeitung ausgeschnittenes Exemplar aus einer Schublade seiner Werkbank und betrachtete es. Die kleine, unter dem Fenster installierte Klimaanlage hinter ihm summte. Hier hielt er alles so kühl, wie er es mochte.

Sie war jetzt natürlich älter. Aber selbst nach all diesen Jahren hatte er sie noch wiedererkannt. Wie wahrscheinlich war das wohl, dass er sie gefunden hatte? Und dass sie Reporterin war und über seine … Arbeit berichtete. Er glaubte nicht an Zufall. Es war fast, als ob es hätte sein sollen.

Allans innere Stimme – die Stimme der Vernunft – meldete sich.

Sie ist entkommen, und du hast Glück gehabt. Es ist zu gefährlich. Du musst sie jetzt vergessen.

Such dir eine andere aus.

Er war aus der Übung, das war alles. Er hatte zu viel Zeit mit dem Versuch verbracht, sich unauffällig zu verhalten, bis seine dunkleren Triebe schließlich über ihn gesiegt hatten. Schluss mit der Schlamperei, ermahnte er sich selbst.

In der Morgenzeitung hatte heute gestanden, die Violent Crimes Unit des FBI wäre hinzugezogen worden. Daran war jetzt nichts zu ändern, und ehrlich gesagt fühlte sich Allan dadurch wichtig.

Seine Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln, als er an Special Agent Eric Macfarlane dachte und an das, was sie miteinander verband.

3. KAPITEL

Zum ersten Mal seit Tagen fühlte sich Mia wohl. Will hatte recht gehabt. Der Ausflug hatte ihr richtig gutgetan. Als sie nach Hause zurückkehrten, saß sie auf dem Beifahrersitz seines Porsche Cabrio und spürte, wie die warme Brise durch ihr Haar fuhr. Es war stumpf geschnitten, endete knapp oberhalb der Schulter und war jetzt ungefähr zwanzig Zentimeter kürzer, als sie es normalerweise trug.

„Ein guter Haarschnitt ist besser als Beruhigungstabletten“, verkündete Will und betrachtete sie kurz durch die dunklen Gläser seiner Sonnenbrille, während er fuhr.

„Danke für das Mittagessen … und für alles andere.“

Er zuckte mit den Schultern. „Ich benutze dich nur, damit du mir beim Aufschieben und Hinauszögern hilfst.“

„Das neue Buch?“

„Ich habe meinen Abgabetermin versäumt.“ Er lächelte, und seine Grübchen wurden dabei noch tiefer. Er und Justin hatten Mia die ganze Zeit mit ihren lustigen und manchmal anzüglichen Geschichten unterhalten, und danach waren die drei am malerischen Riverwalk entlangspaziert, zwischen all den Touristen und Joggern, bis Justin sich auf den Weg zu einer Besprechung machen musste. Es war ein Ablenkungsmanöver gewesen, das wusste sie, aber sie war den beiden dennoch zutiefst dankbar.

„Was diese Woche mit dir passiert ist, Mia … viele Menschen würden das nicht überwinden können.“ Zum ersten Mal, seit sie losgefahren waren, klang er ernst.

Sie seufzte. „Alles, was ich brauche, ist, dass die Dinge wieder normal werden.“

„Was du brauchst, ist eine Pause von dem, was du für normal hältst – über Leute schreiben, die einander Gewalt antun.“ Er schüttelte den Kopf und umfasste das Lenkrad locker mit den Fingern. „Warum nimmst du dir nicht ein wenig frei von alledem? Und ich meine mehr als ein paar Tage – ein richtiges Sabbatical, eine längere Auszeit. Grayson Miller hast du doch schon um den Finger gewickelt. Er würde alles tun, damit du die Pause bekommst, und das vermutlich mit einem Gehaltsscheck. Mir ist es egal, in welcher Verfassung die Zeitungsbranche ist.“

Als Mia ihn ansah, fügte er hinzu: „Du weißt, dass er in dich verliebt ist, oder?“

Sie sah zu, wie die Gegend an ihr vorbeizog. Sie wollte nicht so über Grayson denken.

Sie bogen auf den San Marco Square ein, mit seinem grenzenlosen Angebot an Kunstgalerien und Cafés. Überall auf den schmalen, von Bäumen überschatteten Bürgersteigen liefen Menschen umher. Sie fuhren an der berühmten, imposanten Statue der drei Löwen an der Hauptkreuzung des Platzes vorbei, bogen nach rechts ab und steuerten in eine der Seitenstraßen. San Marco war ein vielfältiges Viertel. Mehrfamilienhäuser und malerische Drei-Zimmer-Bungalows waren hier zu finden, dazwischen die riesigen Herrenhäuser am Flussufer. Will und Justin hatten eine große Villa im toskanischen Stil an der Alhambra Avenue renoviert, die durch ein Dach aus runden Tonziegeln und elegante Stucktreppen an der Außenseite gekennzeichnet war. Das ehemalige Ein-Familien-Wohnhaus bestand nun aus drei separaten Wohnungen im Erdgeschoss, im ersten und im zweiten Stock. Mia hatte die mittlere Wohnung gemietet, und ganz oben gab es noch eine weitere Mieterin.

Sie parkten vor dem Gebäude und waren gerade aus dem Cabrio geklettert, als ein dunkler Wagen hinter ihnen auf die kreisförmige Auffahrt fuhr. Ein Mann in Anzughosen, Hemd und Krawatte stieg aus. Er war hochgewachsen, hatte gleichmäßige Gesichtszüge und wirkte sehr gepflegt. Er war vielleicht Mitte dreißig, und Mia wusste sofort, dass er Polizist war. Ihr Eindruck wurde bestätigt, als sie die Waffe im Holster an seiner Taille sah.

Der Mann ging auf sie zu und zeigte seine Dienstmarke vor. „Ms Hale?“

Mia spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete. „Ja?“

„Ich bin Special Agent Eric Macfarlane. Ich bin vom FBI.“

Verlegen glättete sie ihr vom Wind zerzaustes Haar. Plötzlich meldete sich ihre innere Stimme. „Sie sind vom VCU, das heute Morgen in der Zeitung erwähnt wurde.“

„Ja, Ma’am.“ Als er sich weiter näherte, nahm er die Sonnenbrille ab. Seine Augen besaßen eine ungewöhnliche moosgrüne Farbe und zeugten von Intelligenz. „Könnten wir uns vielleicht unterhalten?“

Die Ungezwungenheit, die sie während des Nachmittags empfunden hatte, begann zu schwinden. Sie nickte schwach und stellte die Männer notgedrungen einander vor. „Agent Macfarlane, dies ist Will Dvorak, mein Nachbar und Vermieter.“

„Und Freund“, betonte Will. Ein gewisser Schutzinstinkt klang aus seiner Stimme. Die Männer schüttelten einander die Hand.

„Will Dvorak? Der Schriftsteller?“

„Sie überraschen mich, Agent.“ Will wurde oft wiedererkannt, wegen seiner humorvollen und manchmal ergreifenden Essays über seine schwierige Kindheit und Jugend. Sein letztes Buch war auf den Bestsellerlisten gewesen. „Ich hätte Sie nicht für den Typ gehalten, der mich liest. Sie sind dafür ein wenig zu maskulin.“

Agent Macfarlane enthüllte seine geraden weißen Zähne und ein perfektes Lächeln. „Meine Leseliste ist ziemlich abwechslungsreich.“

Nachdem sie noch einige Augenblicke mit Small Talk verbracht hatten, schien Will überzeugt, dass Mia in guten Händen war. „Nun, ich habe es lange genug hinausgeschoben. Ich werde nach drinnen gehen, um mich den letzten zwanzig Seiten meines Entwurfs zu stellen. Mia, Liebes, wenn du irgendetwas brauchst …“

„Danke, Will.“ Sie wartete, während er sich durch den Hof in sein Apartment im Erdgeschoss zurückzog. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Agent Macfarlane zu. „Ich habe bereits mit einem der hiesigen Agents gesprochen, ebenso mit den Detectives vom Jacksonville Sheriff’s Office. Ich fürchte, es gibt nicht mehr viel, was ich Ihnen erzählen kann.“

„Ich bin über die Situation unterrichtet. Und ich weiß von Ihrem Gedächtnisverlust.“ Sein Blick fiel kurz auf ihre bandagierten Finger.

„Wie geht es Ihnen, Ms Hale?“

„Mir … geht es gut.“ Er sah sie prüfend an.

„Sie haben eine Menge Glück gehabt.“

„Verglichen mit den anderen zwei Frauen, die entführt wurden, ja, da würde ich zustimmen“, antwortete sie düster. Sie spürte einen Schweißtropfen in ihrem Nacken. Es war ein heißer Nachmittag, zumal für diese Jahreszeit. „Wir können hinauf in mein Apartment gehen und uns unter der Klimaanlage weiter unterhalten, wenn Sie möchten.“

Er folgte ihr die Treppe hinauf. Mia trug kurze Cargohosen und ein knappes Tanktop, eine überaus lässige Aufmachung im Vergleich zu seinem seriösen Anzug. Sie schloss die Tür zu ihrem Apartment auf, schaltete die Alarmanlage aus und ließ ihre Schlüssel und die Handtasche auf einen Tisch in der Diele fallen. Währenddessen schloss Agent Macfarlane die Tür hinter ihnen. „Darf ich Ihnen etwas zu trinken holen?“

„Ein Wasser wäre schön. Danke.“

Von der Küche aus konnte Mia ihn im Wohnzimmer sehen. Er stand da, die Hände auf den schlanken Hüften, schaute sich um und betrachtete ihre Möbel und den weitläufigen grünen Park, der vom Balkon aus zu sehen war.

„Sie haben ein hübsches Zuhause, Ms Hale“, sagte er, sobald sie näher kam und ihm das Glas reichte. Die Eiswürfel darin klimperten.

„Bitte nennen Sie mich Mia. Und das hübsche Zuhause ist ein Zusatzvorteil, wenn man mit dem Hauseigentümer zusammen auf dem College war. Will und sein Partner Justin vermieten es mir zu einem Schnäppchenpreis.“

„Sie und Mr Dvorak verdienen beide ihren Lebensunterhalt mit dem Schreiben – das ist interessant.“

„Wir haben uns an der University of Florida kennengelernt, aber Will hat letztendlich den kreativeren Weg eingeschlagen.“ Im Haus wirkten Agent Macfarlanes Augen noch auffallender, als sie bei ihrer ersten Begrüßung bemerkt hatte. Die moosgrünen Pupillen waren schwarz umrandet und wurden von dichten schwarzen Wimpern betont. Seine Haut besaß einen goldenen Ton, und das kurze braune Haar war beinahe hell genug, um für dunkelblond gehalten zu werden. Sie wies zur Couch.

„Bitte nehmen Sie Platz.“ Sobald er es sich bequem gemacht hatte, setzte sie sich auf einen Stuhl in der Nähe.

Er trank einen Schluck aus dem Glas, dann stellte er es auf einen Untersetzer auf dem Beistelltisch vor ihm. „Ich habe gehört, dass Sie über die jüngsten Entführungen berichtet hatten.“

Die Ironie der Tatsache überwältigte sie von Neuem. Mia bemühte sich, ihre Stimme emotionsfrei klingen zu lassen.

„Ich habe zwei Artikel geschrieben. Einer wurde nach Pauline Bergers Verschwinden vor einer Woche gebracht. Der zweite erschien, direkt nachdem Cissy Cox verschwand. Es war derselbe Tag, an dem ich …“ Sie hielt inne, verschränkte die Hände ineinander und legte sie in den Schoß, bevor sie ihre Antwort beendete: „An dem auch ich verschwunden bin.“

„Und in Ihrem zweiten Artikel haben Sie über einen Zusammenhang zwischen den Vermisstenfällen spekuliert?“

Als sie nickte, fragte er: „Worauf hat sich Ihr Verdacht gegründet?“

„Nun, erst einmal, beide Frauen hatten Familie und Freunde, sie führten ein normales Leben. Sie haben sich nicht auf irgendein riskantes Verhalten eingelassen wie Prostitution oder Drogenkonsum, und in ihrer Vorgeschichte gab es weder Geisteskrankheiten, noch sind sie früher bereits aus ungeklärten Gründen verschwunden.“ Mia schaute kurz auf ihre bandagierten Finger. „Detective Scofield vom Jacksonville Sheriff’s Office hat ebenfalls darauf hingewiesen, dass die Partner der Frauen nicht für verdächtig gehalten wurden. Zwei solche Frauen, im selben Stadtgebiet … die verschwinden nicht einfach, noch dazu in zwei Einzelfällen, so kurz nacheinander.“

Sein abwägender Blick ruhte weiter auf ihr. „Und Sie haben keine Ahnung, wie Sie in einem gestohlenen Fahrzeug gelandet sind?“

Sie schüttelte den Kopf und wünschte, sie hätte darauf eine Antwort. „Nein. Ich bin im Auto aufgewacht, neben dem Strand. Das ist alles, was ich weiß.“

„Das Auto wurde kurzgeschlossen. Glauben Sie, Sie könnten das getan haben?“

Ihre Lippen öffneten sich etwas, die unerwartete Frage überraschte sie. Sie entschied sich, nicht zu antworten. Stattdessen stand sie auf und ging langsam durch das Zimmer, bevor sie sich wieder zu ihm umdrehte.

„Sie haben mich gefragt, wie es mir geht, Agent Macfarlane. Die Wahrheit ist … Ich mache gerade eine schwere Zeit durch. Ich bin es nicht gewohnt, auf der anderen Seite von all dem zu stehen. Diejenige zu sein, der die Fragen gestellt werden.“ Sie schluckte. „Ich verstehe auch nicht, warum ich es bin, die hier steht und mit Ihnen redet, während diese zwei anderen Frauen … Sie sind immer noch …“

Mia schloss kurz die Augen, ihre Worte verloren sich. Sie war sich vage bewusst, dass er von der Couch aufgestanden war und zu ihr herüberkam.

„Ms Hale“, sagte er leise.

„Mia“, berichtigte sie ihn sanft flüsternd. Als sie in sein Gesicht hinaufschaute, spürte sie, wie ihr Herz schneller schlug. „Wer hat das getan?“

Er seufzte und zögerte kurz. „Sie müssen verstehen, dass Sie nicht nur Opfer sind. Sie sind auch Reporterin. Ich darf das nicht außen vor lassen.“

„Nur unter uns“, sagte sie nachdrücklich. „Sie haben mein Wort, dass ich nichts schreiben werde, was Ihre Ermittlungen gefährdet. Ich arbeite im Moment noch nicht einmal. Und als Opfer habe ich ein Recht auf Informationen, nicht wahr? Agent Vartran, die Detectives – sie würden mir nichts erzählen.“

Er schaute sie für einen langen Augenblick an, bevor er wieder sprach. „Vor drei Jahren habe ich eine Ermittlung in Maryland geleitet. Fünf Frauen wurden entführt. Ihre Leichen tauchten später auf, mit ähnlichen Verletzungen wie bei Ihnen.“

Ihre Leichen. Das hieß, die Frauen waren alle ermordet worden. „Und haben Sie den Verantwortlichen gefasst?“

Sein Kiefer spannte sich an. „Nein.“

„Aber Sie glauben, er wäre nach all dieser Zeit hier in Jacksonville wieder aktiv geworden?“

„Es scheint mir denkbar, wegen Ihrer eigentümlichen Verletzungen.“ Er hob ihre Hand und hielt sie schützend in seiner, während er die bandagierten Nagelbetten und die abgeschürften Handgelenke genauer betrachtete. Die Geste überraschte sie. Schließlich ließ er ihre Finger aus seiner Hand gleiten und sah sie wieder an.

„Ich habe Ihre Artikel über die Entführungen noch nicht gelesen. Ist Ihr Foto eigentlich zusammen mit dem Verfassernamen veröffentlicht worden?“

Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich schreibe freitags eine Kolumne. Es ist eine Zusammenfassung der polizeilichen Vorkommnisse der Woche. Da ist mein Foto mit abgedruckt. Was hat das …“

„Wenn es derselbe Täter ist, handelt es sich um einen Soziopathen und extremen Narzissten. Sie sind eine attraktive Frau – vermutlich war er geschmeichelt, dass jemand wie Sie auf seine Arbeit aufmerksam geworden ist. Das könnte erklären, warum er Sie entführt hat.“

Mia stellte sich irgendeinen gesichtslosen Verbrecher vor, der ihr Foto in der Zeitung mit einem roten Stift einkreiste und es dann an seine Pinnwand heftete, wo er seiner Opfer gedachte. Es widerte sie an. „Die Wunden an meiner Hand und an meinem Bauch – er hat auch meine Haare abgeschnitten. Warum?“

Sein Blick wanderte zu einem impressionistischen Gemälde über ihrer Couch. Seine Miene machte deutlich, dass er immer noch damit kämpfte, wie viel er ihr erzählen sollte.

„Ich schreibe über Verbrechen und Kriminalfälle“, erinnerte sie ihn. „Ich kann damit umgehen.“

„Er hat Ihnen die Fingernägel herausgezogen und die Haare abgeschnitten, um sie als Andenken zu bewahren“, sagte er endlich. „Der Typ versteht sich als Sammler, aber er kann die Leichen seiner Opfer nicht behalten, weil sie verwesen. Also nimmt er sich Souvenirs, die länger überdauern. Fingernägel, Haare, manchmal Zähne, unter anderem.“

Eiswasser lief durch Mias Adern. Gedankenverloren berührte sie durch das Top hindurch ihren Bauch. Er musste die Geste bemerkt haben, denn er fügte leise hinzu: „Außerdem nummeriert er seine Opfer. Auf diese Weise entmenschlicht er sie. Bei allem, was Ordnung und Organisation verlangt, blüht er auf, ebenso in Situationen, die er kontrollieren kann.“

Mia überzeugte sich selbst und rechnete sich und die zwei vermissten Frauen aus Jacksonville zu den fünf Opfern hinzu, die zuvor in einem anderen Staat ermordet worden waren. Die Markierung auf ihrer Haut ergab einen Sinn.

„Pauline Berger und Cissy Cox sind bereits tot, nicht wahr?“

„Wir haben dafür noch keinen Beweis. Es gibt keine Leichen. Und einstweilen ist das, was ich Ihnen erzählt habe, eine Spekulation, die sich ausschließlich auf Ihre Wunden gründet. Drei Jahre sind eine lange Zeit für einen Killer, um aufzuhören und dann wieder anzufangen“, räumte er ein. „Wir wollen nicht, dass irgendetwas davon unnötigerweise oder zu früh herauskommt. Ich habe Ihnen bereits mehr gesagt, als ich sollte. Ich habe mit Journalisten nicht immer gute Erfahrungen gemacht.“

Mia kannte den heiklen Tanz zwischen Medien und Polizei, und sie versuchte immer, sich auf eine moralisch vertretbare Weise zu verhalten. Sie berührte seinen Arm durch den Hemdärmel. Ihre Stimme zitterte, obwohl sie ihr Bestes gab, es zu verhindern. „Ich will, dass dieser Mann gefasst wird, Agent Macfarlane. Und ich will … ich muss … diesen zwei Frauen helfen. Ich muss ihnen helfen, zurück nach Hause zu kommen, wenn sie noch am Leben sind, oder zumindest ihren Familien ein wenig Frieden bringen, wenn sie … es nicht mehr sind. Das ist für mich im Augenblick das Allerwichtigste.“

Seine Schultern waren breit, und Mia stellte fest, dass sich unter seinem Hemd eine trainierte, zähe Statur verbarg. Er betrachtete sie für einige lange Augenblicke, bevor er sprach.

„Was, wenn Sie ein wenig von Ihrem Gedächtnis zurückgewinnen könnten?“, fragte er.

Sie schaute verständnislos drein. „Ich bin nicht sicher, ob ich das verstehe.“

„Es gibt da eine bestimmte experimentelle, äußerst geheime Forschungsarbeit, auf die ich vor Kurzem hingewiesen wurde.“ Was er sagte, klang spekulativ, und er schien sich seine Worte sorgfältig überlegt zu haben. „Das Verfahren ist eine Mischung aus Drogentherapie und Hypnose, aber es hat beim Wiedererlangen verlorener Erinnerungen einigen Nutzen gezeigt.“

Ein kleiner Stein nistete sich in Mias Brust ein. „Wie experimentell ist das Verfahren genau?“

„Das Militär hat es bei schwer verwundeten Kriegsgefangenen eingesetzt. Man wollte ihnen helfen, sich an bestimmte entscheidende Umstände ihrer Gefangenschaft zu erinnern, selbst wenn sie für den größten Teil ihres Martyriums kaum bei Bewusstsein waren. Die Theorie sagt, dass das Gedächtnis Ereignisse speichern kann – Gesichter, Stimmen, die Umgebung –, sogar in einem bewusstlosen oder bewusstseinsveränderten Zustand.“

„Funktioniert es?“

„Die Ergebnisse sind bislang unterschiedlich“, gab er zu. „Und meines Wissens wurde die Methode noch nicht bei einem durch Drogen ausgelösten Gedächtnisverlust angewendet. Aber einer der Pioniere auf diesem Gebiet ist praktizierender Psychiater auf der Jacksonville Naval Air Station, einem Stützpunkt der Marineflieger. Ich habe Zugang zu ihm.“

Sie versuchte zu verarbeiten, was sie gerade erfahren hatte. Es klang wie aus einem Science-Fiction-Film. „Gibt es Risiken?“

„Wenn Dr. Wilhelm der Meinung ist, dass Sie eine mögliche Kandidatin sind, kann er die Risiken mit Ihnen besprechen. Mit uns beiden.“ Er trat einen Schritt näher. Obwohl sie allein im Apartment waren, senkte er die Stimme. „Wenn Sie sich dafür entscheiden, würde ich Sie begleiten, Mia. Ich möchte dann alle Einzelheiten, an die Sie sich womöglich erinnern, aus erster Hand hören. Meiner Auffassung nach können die Erinnerungen sehr lebhaft sein, wenn die Therapie funktioniert.“

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