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Die Melodie der Lagune

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Es ist an der Zeit, die Frau kennenzulernen, über die wir in den letzten 300 Jahren hätten sprechen sollen: Dies ist die Geschichte von Anna Maria della Pietà.

Venedig, 18. Jahrhundert: Die junge Anna Maria wächst in einem Waisenhaus auf, und als sie zum ersten Mal eine Geige in der Hand hält, verändert sich ihr Leben – denn für Anna ist die Musik mit allen Sinnen erlebbar, sie übertrifft alle Mitschülerinnen an Talent, Ehrgeiz und Willensstärke. Antonio Vivaldi nimmt sie schnell als Schülerin an, und gemeinsam spielen sie nicht nur Musik, sondern beginnen, zu komponieren. Schon bald geht es Anna nicht mehr nur um das bloße Wiedergeben von vorgegebenen Noten– sie will selbst etwas Großes erschaffen und im Rampenlicht stehen, endlich Anerkennung bekommen für ihre Leistungen. Doch diese Art von Ehrgeiz steht ihr als Frau nicht zu, und Vivaldi wird alles tun, um den Ruhm für sich zu behalten ...


  • Erscheinungstag: 25.02.2025
  • Seitenanzahl: 384
  • ISBN/Artikelnummer: 9783365009888

Leseprobe

Harriet Constable

Die Melodie der Lagune

Roman

Aus dem Englischen
von Edith Beleites

HarperCollins

Für Mama und Papa,

die mich liebevoll aufgezogen haben und

meinen Mut und meine Neugier duldeten.

Historische Vorbemerkung

1696 wurde in einer Mauernische des Ospedale della Pietà – eines venezianischen Waisenhauses – ein neugeborenes Mädchen gefunden. Man gab ihr den Namen Anna Maria della Pietà, und sie wurde eine virtuose Violinistin des 18. Jahrhunderts. Ihr Lehrer war Antonio Vivaldi.

1

Venedig 1695

Abenddämmerung, die Domglocke beschallt den Markusplatz. Die Klänge lösen sich vom bronzenen Glockensaum, gleiten über die Domkuppeln, lecken an den Muscheln am Ufer des verschlammten Kanals und kriechen in eine Lücke zwischen den Pflastersteinen und einer Holztür. Eine junge Frau steht in einem schmalen, schwach beleuchteten Hauseingang und schaut auf.

Für manche gibt die Glocke die Zeit an. Für andere markiert sie Feiertage, Ratsversammlungen, öffentliche Hinrichtungen. Für die junge Frau jedoch bedeutet das Läuten, dass sie und ihre Kolleginnen auf die Straße müssen. Ihre Arbeitszeit beginnt.

Sie legt sich einen leichten Wollschal um den Hals – einen gelben, der anzeigt, was ihr Gewerbe ist – und geht hinaus. Sie wohnt in einem Bordell im Bezirk San Polo hinter der Ruga dei Oresi, einer Durchgangsstraße, die von Reisenden wie Einheimischen benutzt wird, wenn sie die Brücke nach San Marco überqueren wollen, morgens und abends. Ein strategischer Standort: Hier gibt es die meiste Kundschaft.

Ihre Absätze klackern auf dem Kopfsteinpflaster, als sie um die Ecken biegt. Links aus der Bordelltür, wieder links an der Ecke, wo ein Metzger Innereien verkauft, dann geradeaus bis zu ihrem gewohnten Platz an der Einmündung der Rialtobrücke. Sie nickt einer anderen jungen Frau zu, die gerade angekommen ist und zu posieren beginnt. Dann legt sie Umhang und Schal zusammen und legt beides auf die Pflastersteine unter der Brücke. Eine stille Übereinkunft besagt: Auch bei der Arbeit legen wir Wert darauf, dass alles seine Ordnung hat.

Sie trägt ein grünes Leinenkleid mit hoch angesetzter Taille. Ein Band ist durch den tiefen, eckigen Rand des Halsausschnitts geflochten. Sie fährt mit den Fingern an dieses Dekolleté und zieht das Kleid herunter, bis ihre nackten Schultern und der Ansatz ihrer Brüste zu sehen sind. Dann setzt sie sich auf ein Mäuerchen unter einer Laterne und wartet auf ihren nächsten Kunden. Der ist meist männlich, unbegleitet und riecht nach Wein.

Ihr Herz beginnt zu hämmern, aber nicht so stark wie noch vor wenigen Monaten. Sie ist siebzehn und glaubt, mit beinahe allem fertigwerden zu können. Im Schnitt drei Freier pro Tag. Sechs Monate, macht fast sechshundert Freier. Im Takt einer Melodie, die ihr durch den Kopf geht, wippt sie mit dem Fuß. Ein ganz gewöhnlicher Arbeitstag.

Da kommt ein merkwürdiger Freier. Männlich, ja. Unbegleitet, ja. Aber sie hat ihn nie zuvor gesehen. Er kommt schnell zur Sache, was ihr nur recht ist, aber er muss vierzig Jahre älter sein als sie, und seine Augen sind so schwarz wie die des Teufels.

»Lass uns gehen«, sagt er und schaut über seine Schulter, als fürchte er, erwischt zu werden. Er riecht nach Holzfeuer und Tabak. Seine Stimme ist tief und kehlig.

Sie führt ihn zum Bordell zurück und die Holztreppe hinauf, die unter seinem Gewicht knarrt. Als sie ihr Zimmer betreten, duckt er sich ächzend, um nicht an den Türsturz zu stoßen. Seiner roten Kappe und den Blechknöpfen nach zu urteilen, arbeitet er auf der Werft. Sie hat mal gehört, dass die Arbeiter nur einen Tag brauchen, um ein Kriegsschiff zu bauen.

Ein großes Bett mit dunklen Holzpfosten, ein paar fast schon abgebrannte Kerzen, deren Schatten an den Wänden flackern. Sie holt tief Luft und schließt die Tür hinter sich.

Neun Monate später ist ihr Bauch rund und prall. Noch vor Tagesanbruch wacht sie von einem stechenden, pulsierenden und ganz ungewohnten Schmerz auf. Sie weiß, was zu tun ist, bindet sich den inzwischen verfilzten gelben Schal um und steckt die Tücher, die sie in letzter Zeit bestickt hat, in die Tasche.

Die erste Hürde ist die Treppe. Der Schmerz ist jetzt scharlachrot und heiß. Etwas tief unten in ihrem Leib scheint zu reißen, und ihre Beine drohen einzuknicken, sodass sie sich am rauen Treppengeländer festklammern muss. Sie schafft es bis auf die Straße, doch dann sinkt sie auf die Knie, geht auf alle viere und hält sich den Bauch. Kann sie es noch rechtzeitig schaffen? Es ist nicht weit, aber in diesem Zustand …

Du musst weiter, sagt sie sich. Du schaffst das!

Mühsam richtet sie sich auf und geht die Straße hinunter, muss sich aber an den Hauswänden abstützen. Wenn sie in eine Pfütze tritt, zersplittert ihr Spiegelbild. Sie muss nur zwei Straßen weiter, aber der Weg kommt ihr endlos vor. Der Schmerz raubt ihr den Atem, er ist jetzt viel schlimmer als noch vor einer Viertelstunde.

Dreimal klopfen. Schritte sind zu hören, dann öffnet eine runzlige, grauhaarige Hebamme die Tür, aber nur einen Spaltbreit. Sie schaut auf den dicken Bauch und die daran gepresste Hand der jungen Frau. Ihr zunächst mürrischer Blick ist jetzt besorgt. Sie macht die Tür weit auf.

»Zwischen die Zähne«, sagt sie, entwindet ihrem kleinen schwarz-weißen Hund einen Knochen und reicht ihn der jungen Frau.

Der Hund knurrt. Die junge Frau knurrt zurück. Dann beißt sie auf den Knochen und fühlt sich selbst wie ein Tier. Der Schmerz wird noch stärker, ist jetzt blutrot und droht sie zu zerreißen. Ein spektakulärer Anblick.

Das ist ihr letzter Gedanke, bevor sie ohnmächtig wird: spektakulär!

Zwei Tage sind in dem kleinen dunklen Zimmer der Hebamme vergangen. Die junge Frau hat sich noch nicht annähernd erholt, aber das Bett wird gebraucht. Sie hört eine andere Frau schreien.

»Es ist Zeit«, sagt die Hebamme.

»Wo soll ich denn hin?«, fragt die junge Frau. Sie hat nicht damit gerechnet, dass sie die Geburt überleben würde.

Die Hebamme gibt ihr den gelben Schal, und die junge Frau ist überrascht, ein zappelndes Wesen darin eingewickelt zu sehen. Beinahe hat sie es vergessen. Es ist ganz fleckig und runzlig, seine Adern sind blau. Die Hebamme führt ihm einen letzten Löffel voll Zuckerwasser an den Mund. Die junge Frau kann das zappelnde Bündel kaum halten, weiß nicht, was sie tun oder denken soll. Dann verdreht sie die Augen, und ein furchtbarer Schmerz fährt ihr in die Schenkel. Ihre Tränen benetzen das Gesicht des kleinen Wesens, das wütend aufschreit.

Die junge Frau geht ein Stück durch ein Labyrinth von Seitenstraßen und Brücken, ohne bestimmtes Ziel. Sie ist so müde, blutet noch immer, alles tut ihr weh. Die ganze Nacht musste sie ohrenbetäubendes Geschrei ertragen, aber jetzt ist es still.

Der Morgen dämmert, dichter Nebel wabert über dem Kanal. Sie muss weitergehen, immer weiter, dann ist das kleine Ding in ihren Armen ruhig. Sie erreicht einen Platz mit reich verzierten Gebäuden und gewölbten Fenstern, gleich neben dem jadegrünen Kanal. Vier Stufen führen zum Wasser hinunter, das verlockend über die unterste Stufe schwappt.

Komm herein, ruft es. Komm schon!

Es ist kühl, aber schon in den ersten Stunden dieses Frühlingstags erfrischend. Die junge Frau drückt ihr Bündel an sich und geht hinein, tiefer und tiefer.

Genau! Das ist die Lösung. Alles ist ruhig und friedlich. Die junge Frau beugt sich nach hinten, lässt sich und das kleine Wesen mit der größten Selbstverständlichkeit unter Wasser sinken.

Das kleine Wesen aber, erschrocken von Nässe und Kälte und darüber, keine Luft mehr zu bekommen, wehrt sich. Wütend und entschlossen versucht es, sich aus der Umklammerung der jungen Frau zu befreien.

Hör auf, sei still, fleht die junge Frau. Es dauert nicht mehr lange. Gleich haben wir es geschafft.

Aber das kleine Wesen wütet mit aller Macht, und die junge Frau kann es nicht länger festhalten. Beide Köpfe schnellen an die Wasseroberfläche, und beide schreien um Atem ringend um ihr Leben.

Das kleine Wesen greift nach der jungen Frau. Es schreit nicht mehr, sondern braucht ihre Hilfe. Aus der Ferne durchdringt ein Ton, schön und nicht enden wollend, die Luft. Die junge Frau hebt das kleine Wesen aus dem Wasser, hüllt es in ihren triefenden Umhang und läuft los.

Die großen, mit Schnitzereien verzieren Türen von Santa Maria della Fava stehen offen und erwarten die ersten Besucher der Morgenmesse. Die junge Frau ist tropfnass und klappert mit den Zähnen, während sie in die Kirche stolpert und das kleine Wesen ganz ruhig in ihren Armen liegt. Mit schnellen Schritten kommt ihr der Priester durch den steinernen Mittelgang entgegen – klick-klack, klick-klack.

»Huren sind hier nicht willkommen«, sagt er und schiebt die junge Frau zur Tür zurück. Sein seidenes, reich besticktes Gewand bläht sich in der kühlen Brise.

»Bitte … Bruder«, fleht sie und öffnet ihren Umhang, um das kleine Wesen in ihren Armen zu zeigen.

Der Gesichtsausdruck des Priesters wechselt von Ablehnung zu Ekel. Unsanft schiebt er sie zur Tür hinaus. Die junge Frau spürt den Luftzug, als die Tür vor ihrer Nase zuschlägt. Sie sinkt zu Boden und streckt die Beine aus. Sie atmet ein und aus, ein und aus. Wieder fährt ihr der Schmerz durch die Schenkel.

Die Luft, merkt sie plötzlich, riecht süß. Der Duft von Butter, Zucker und Mehl weht von einer nahen Bäckerei herüber.

Ihr tun die Brüste weh, das kleine Wesen fängt wieder an zu schreien. Die Lösung ist einfach. Ganz animalisch. Die junge Frau weiß, was zu tun ist. Lustlos streift sie den Ausschnitt ihres Kleides herunter und entblößt eine Brust. Das kleine Wesen nimmt sie in den Mund und beginnt zu saugen.

Die Frau, von der sie gefunden wird, war früher selbst eine cortigna lume, eine Straßenhure, die ihr gutes Aussehen verloren, sich ihren Kampfgeist aber bewahrt hat. In dem bescheidenen Haus der Alten wacht die junge Frau auf; sie liegt auf dem Fußboden, aber man hat ihr Kissen und eine Decke gegeben. An der Wand steht ein schmaler Tisch, darauf eine Schachtel mit Spielkarten. Die Alte reicht ihr eine dampfend heiße Tasse Kaffee. Die junge Frau führt sie an die Lippen, pustet vorsichtig, dann trinkt sie schluckweise. Die Wärme, die sich daraufhin in ihrem Körper ausbreitet, bringt sie fast zum Weinen.

Die Alte beugt sich über sie. Mit einer Hand massiert sie ihr den unteren Rücken, mit der anderen hebt sie einen leeren Teller und die Tasse vom Boden auf. Ohne die junge Frau anzusehen, sagt sie: »Du kannst hierbleiben, bis du dich erholt hast, danach zahlst du mir alles zurück. Ich kann dir einen Platz in meinem alten Bordell verschaffen. Du siehst gut aus und wirst ihnen gefallen, wenn alles verheilt ist.«

Teller und Tasse stoßen klirrend aneinander, als sich die Alte aufrichtet. Dann zeigt sie mit der Tasse aus dem Fenster.

»Bring sie zur Pietà. In zwei Wochen, wenn du zu Kräften gekommen bist. Nicht später. Wenn sie länger wächst und zunimmt, passt sie nicht mehr ins Loch.«

»Welche Pietà?«, fragt die junge Frau.

»Dort wird man sie aufziehen, und sie wird es gut haben. Sie bekommt eine Ausbildung, alle Wege werden ihr offenstehen. Die Kinder lernen dort sogar ein Instrument zu spielen.« Die Alte wartet keine Antwort ab, sondern dreht sich um und geht aus dem Zimmer.

Irritiert schaut die junge Frau ihr nach. Dann hört sie ein leises Gurren, spürt eine Bewegung. Instinktiv macht sie sich auf den nächsten Schmerz gefasst. Aber der bleibt aus. Stattdessen bekommt sie etwas Stärkeres zu spüren, etwas Bleibendes, Gutes. Sie schaut hinab zu der Stelle, von der das Geräusch und die Bewegung gekommen sind. Und zum ersten Mal wird ihr bewusst, dass sie ihren Säugling in den Armen hält, ihre kleine Tochter.

Die nächsten Tage sind die schönsten ihres Lebens. Sie beobachtet, wie der Säugling den Blick auf Dinge zu richten beginnt, wie er ihr in die Augen schaut und begreift, dass sie seine Mutter ist. Sie füttert ihn, hält ihn in den Armen, streichelt seine Wangen und wischt ihm den Sabber vom Mund. Und obwohl sie körperlich nicht mehr eins sind, ist beiden klar, dass sie Teil voneinander sind und immer sein werden.

Sie atmet den warmen, milchigen Duft der Kleinen ein und überlegt, was sie ihr eines Tages sagen will. Dinge, von denen sie sich wünscht, jemand hätte sie einst zu ihr selbst gesagt. Sie will ihr sagen, dass sie sich trauen soll, wegzulaufen. Zu träumen. Herauszulassen, was in ihr steckt. Und sollte ihre Tochter eines Tages fragen, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, wird sie sagen: was du willst. Alles, was deiner Welt Farbe gibt.

Drei Tage vor der Zeit nimmt sie ihre Tochter und die paar Münzen, die sie besitzt, und geht mit ihr durch die Stadt. Sie will Papier kaufen, jenes wunderbare venezianische Papier, das Königinnen benutzen. Ihre Ersparnisse sollten dafür reichen.

Der Ladenbesitzer rümpft die Nase bei ihrem Anblick, doch sie wählt das schönste Papier, das sie sich leisten kann – einen dicken, marmorierten Bogen, cremefarben und mit hellgrünen Einsprengseln hier und da. Der kostet mehr, als sie sonst in drei Tagen für Essen ausgibt, aber das macht ihr nichts aus.

Auf dem Ladenschild nebenan steht Scriba, Schreiber. Draußen an der Tür hängt eine Glocke mit einem Seil am Schwengel. Sie greift danach, läutet dreimal, und ein gut aussehender Mann mit Tintenflecken an den Händen öffnet die Tür.

»Schreib das«, sagt sie, nachdem sie den Laden betreten hat, und er überträgt ihre Worte mit schwungvollen Schnörkeln auf das Papier. Sorgsam faltet sie es und steckt es unter ihren Umhang.

Zurück im Haus der Alten, nimmt sie eine Karte von dem Kartenstapel, der auf dem niedrigen Tischchen liegt, und reißt die Karte sauber diagonal entzwei. Eine Hälfte steckt sie zwischen die Falten ihres Mieders.

Wieder dämmert ein Morgen – eine Tageszeit, die ihr von nun an immer Schmerzen bereiten wird.

»Heute muss es passieren«, sagt die Alte.

Die junge Frau wickelt den Säugling in ihren gelben Schal und geht aus dem Haus. Ihre Füße wirbeln den dichten Nebel auf, und ihre Rocksäume legen sich feucht um ihre Waden. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, als sie durch das Gassengewirr eilt. Goldene Masken in den Schaufenstern scheinen sie grinsend zu verhöhnen. Ein animalischer Instinkt lässt sie wachsam sein. Sie horcht auf das Rascheln oder den Pfiff eines möglichen Angreifers und hält das Kind unter ihrem Umhang ganz fest.

Beeil dich, trödel nicht herum, pass auf! Links herum, rechts, rechts, links, rechts. Sobald du etwas hörst, musst du rennen, sagt sie sich. Rennen!

Aber alles bleibt still.

Als sie in eine Gasse neben der Pietà einbiegt, verlangsamt sie ihre Schritte. Die letzten Meter kommen ihr endlos vor.

Sie starrt auf das Gitter, auf das Loch im Gemäuer, in das sie ihren Säugling legen wird. Diesen Teil von ihr, dieses kleine Energiebündel, das sie so stolz macht. Ein Kind, das ihr sein Überleben abgetrotzt hat.

Sie bringt es nicht übers Herz, geht ein paar Schritte zurück, drückt ihre Tochter noch fester an sich. Da hört sie ein Wimmern.

Unter dem Mauerloch stehen Schachteln voller Stofffetzen,Essensreste und Müll, wie es aussieht. Aber aus einer dieser Schachteln kommt ein Geräusch, und sie beugt sich darüber. Sie faltet den Deckel auf und unterdrückt einen Schrei.

Ein blau gefrorener Säugling mit Kratzspuren irgendeines Tiers scheint seine letzten Atemzüge zu machen. Es ist ein großer Säugling, zu groß, um in das Mauerloch zu passen.

Sie holt tief Luft und legt dem Kind eine Hand an den Hals, kann aber keinen Puls mehr spüren. Behutsam schließt sie seine Lider und bedeckt sein Gesicht mit den Stofffetzen.

Jetzt weiß sie wieder, was sie tun muss.

Sie richtet sich auf, schaut ihre Tochter ein letztes Mal an und legt sie vorsichtig in das Mauerloch. Den gefalteten Papierbogen und die halbe Spielkarte steckt sie in das Wickeltuch. Dann küsst sie die Kleine auf die Stirn, tritt zurück und läutet die Glocke neben dem Mauerloch. Schnell dreht sie sich um, wagt nicht, noch einmal zurückzuschauen, und verschwindet für immer.

»Geh, süßes Kind«, steht auf dem Papier. »Du sollst wissen, dass du geliebt wurdest.«

Hinter den Klostermauern geht es lebhafter zu.

»Das Erste für heute«, ruft Schwester Clara, als die Glocke ertönt. Schnell geht sie durch den Innenhof und holt einen zappelnden Säugling aus dem Loch. Ein Mädchen.

»15. April 1696«, diktiert sie Schwester Madalena, die alles in ein dickes Buch mit Fadenheftung und Kolumnen voller Namen einträgt.

Chiara della Pietà, abgegeben am 20. Februar 1687, zusammen mit einer Münze und einer Notiz der Mutter. Paulina della Pietà, abgegeben am 29. April 1695, zusammen mit einem bestickten Tuch. Agata della Pietà, abgegeben am 4. Mai 1695, zusammen mit einem Gedicht; Kopfwunde von der Transportschachtel.

Der neue Säugling wird ausgezogen und in einem kleinen Becken gewaschen. Seine Haut wird auf Entzündungen untersucht, seine wenigen Haare auf Läuse. Eine Eisenstange wird im Feuer erhitzt. Dann zischt es und riecht nach verbranntem Fleisch. Der Säugling stößt einen empörten Schrei aus. Wo die Eisenstange seinen linken Oberarm berührt hat, prangt jetzt ein wundes »P«. Die Wunde wird bandagiert. Ein Priester nimmt die Taufe vor. Dann wendet man sich wieder dem Buch zu.

Vor Schreck und Schmerz kann der Säugling nur stoßweise atmen. In seinem Blick jedoch liegt wilde Entschlossenheit.

»Welchen Namen soll ich eintragen?«, fragt Schwester Madalena.

Nachdenklich betrachtet Schwester Clara das Kind, das nach ihrem Finger greift.

»Anna Maria della Pietà«, sagt sie schließlich, und der Säugling hält ihren Finger ganz fest. »Ich glaube, sie ist etwas Besonderes.«

2

Anna Maria steht auf der Bühne und hält einen Moment lang inne. Es ist der wichtigste Augenblick ihres Lebens, denn gleich wird sie ihre Urkunde als maestro entgegennehmen. Dann ist sie offiziell eine Meisterin der Musik.

Es kommt ihr vor, als habe jeder einzelne Atemzug ihres Lebens zu diesem Punkt geführt. Als hinge alles mit allem zusammen. Kerzenlicht blendet sie, das Publikum erhitzt den Saal. Ihr ist, als seien Tausende bewundernde Blicke auf sie gerichtet. Sie kann den Respekt, der ihr entgegenschlägt, körperlich spüren. Er hängt in der Luft, schwer, lebendig, ganz und gar wunderbar. Sie saugt ihn tief in sich ein.

Dann kichert jemand.

Sie verzieht das Gesicht und wird aus ihrer Fantasie in den Schlafsaal katapultiert, wo sich die Bühne als ein Holzbett und die Urkunde als ein Taschentuch entpuppt.

»Es ist mir eine Pflicht und eine Ehre«, sagt Paulina, ein dünnes Mädchen mit spitzem Kinn, feierlich, »zur … zur …« Sie weiß nicht weiter, und ihr ganzer Auftritt ist beinahe ruiniert.

»Zur Verleihung«, flüstert Anna Maria ihr zu.

Paulina verkneift sich das Lachen.

Anderen mag es wie ein albernes Spiel vorkommen, aber für Anna Maria ist es das ganz und gar nicht. Denn es gibt Dinge, die Mädchen einfach wissen. Manche wissen, dass sie wie ein Feuer wüten können. Andere wissen, dass sie Macht erlangen können, wenn sie nur danach greifen. Wieder andere wissen, dass der Tod sie früh und grausam ereilen wird. Und dann gibt es Mädchen, die wissen, dass sie etwas Großes erreichen werden.

Anna Maria della Pietà wird etwas Großes erreichen.

Mit acht Jahren weiß sie das genauso sicher, wie eine Schnur weiß, was ein Knoten ist, genauso sicher, wie der Blitz weiß, was Sturm ist, genauso sicher, wie der Regen weiß, was der Himmel ist. Sie weiß es einfach. Genau wie sie weiß, dass einer ihrer Zehen schief ist, dass das Fleisch, das es mittwochs gibt, nach Fisch schmeckt und dass die Note C grün ist. Das und noch viel mehr weiß sie genau. Auf dieser Bühne zu stehen, die Hände in die Hüften gestemmt, und ihre Auszeichnung zu erhalten, ist für sie genauso selbstverständlich wie das Träumen.

Sie hüstelt, um ihrer Freundin zu signalisieren, dass sie weitermachen soll.

Paulina wird wieder ernst und nickt. »Zur Verleihung dieses Titels zu schreiten. Er gehört der einzigartigen Anna Maria della Pietà«, ruft sie in den Schlafsaal.

Anna Maria lächelt, streckt dem Publikum die Hände entgegen und nimmt gerührt ihre Urkunde in Empfang.

Das Publikum gerät außer sich. Es springt von dem Stuhl in der Ecke des Saals, grinst breit und applaudiert. Heute – wie jeden Tag – ist Agata, Anna Marias andere beste Freundin, das Publikum. Ihre Haare sind so dunkel wie Anna Marias, aber sie ist kleiner und bescheidener. Wieder und wieder verbeugt sich Anna Maria vor dem begeisterten Publikum, wobei ihr die kurzen Locken über die Augen fallen. Sie steigt von der Bühne und nimmt die Hand ihres größten Fans.

»Mein Leben lang habe ich auf diese Auszeichnung hingearbeitet. Grazie, grazie, grazie«, sagt sie.

Paulina kichert, ihre Wangen werden ganz rot. Ein stahlblaues Auge blickt Anna Maria entgegen. Wo das andere Auge sein sollte, ist nur eine Vertiefung, das Lid unschön darüber genäht, wulstig und rotnarbig. »Ich bin dran, ich bin dran!«, bettelt sie.

»Nur noch einmal«, sagt Anna Maria, steigt wieder auf ihre Bühne und denkt darüber nach, wie sie ihre Dankesrede verbessern könnte. »Dann kannst du.«

Bei Tagesanbruch läuten die Glocken über den Markusplatz. Vom imposanten Gebäude des Ospedale della Pietà am Canal Grande, mit freiem Blick auf die Lagune, sind es keine fünf Minuten Fußweg bis dort. Hinter den grünen Fensterläden sind dreihundert Waisenmädchen schon wach und bei der Arbeit. Alle sind weiß gekleidet und bewegen sich in einem endlosen Strom durch die Flure.

Im fünften und damit obersten Stockwerk wechselt Anna Maria ihr Bettlaken, während die dunkelvioletten Glockenschläge ihre Sinne beflügeln.

b-Moll, denkt sie.

Sie steckt die Hand durch das Gitter vor dem kleinen Fenster des Schlafsaals und öffnet es. Kühle Morgenluft strömt herein. Anna Maria atmet sie tief ein und schaut über die Terrakottaziegel, während sie auf die Geräusche des neuen Tages horcht. Tief unter ihr rennt jemand über das Kopfsteinpflaster. Ein Karren rumpelt vorbei, irgendwo schreit ein Säugling, und ein Hund bellt. Bis zum Crescendo, wenn alle Welt auf Straßen und Kanäle hinausströmt und Venedig wieder zum Leben erwacht, wird es noch eine Stunde dauern.

Vorher geht Anna Maria zur heiligen Messe in die Kapelle, wo die Mädchen im Wechselgesang mit den Schwestern ihre Demut bezeugen, danach zum Morgenbrei ins Refektorium. Aus Protest gegen die klumpige Getreidepampe schlägt Anna Maria mit dem Löffel gegen ihre Schüssel.

Als Nächstes die morgendlichen Aufgaben: waschen, schrubben, nähen, bügeln, Gemüse putzen, Wasser kochen, scheuern, sauber machen. Erst nach dem Mittagsgebet haben die Mädchen frei.

Wenn die Schwestern Hymnen und Psalmen üben, schleicht sich Anna Maria davon, eilt die geschwungene Steintreppe zwei Stufen auf einmal nehmend hinauf, bis sie den Schlafsaal unter dem Dach erreicht.

Das Bett kratzt über den Fußboden, als Anna Maria es zur Seite schiebt. Dann steigt sie hinauf und tastet nach dem Riegel der Holztür dahinter. Es knirscht, und die Tür gibt nach, dann kriecht Anna Maria in eine kleine Dachkammer. Früher wurde dort Wäsche zum Trocknen aufgehängt, doch nachdem ein Sturm die Holzbalken beschädigte, benutzt man zum Wäschetrocknen eine größere auf der anderen Seite des Gebäudes, und Anna Maria hat die kleine für sich allein.

Sonnenstrahlen überfluten ihr Gesicht, und die Holzbohlen knarren unter ihren Füßen. Sie rafft ihren fleckigen Baumwollrock und lässt sich im Schneidersitz auf dem heißen Holzfußboden nieder. Zufrieden blickt sie sich in ihrem Königreich um.

In ihrer Stadt bestehen die Straßen aus Wasser. Überall herrscht Leben, alles ist voller Energie, farbenfroh und laut.

Sie blickt in dieses Orchester und hebt die Hände, bereit fürs Dirigat. Zuerst gibt sie den Gondolieren ihren Einsatz, die flotte Lieder singen, während sie durch die engen Straßen gleiten. Als Nächstes bekommen die Obstverkäufer auf dem Markusplatz ihren Einsatz. »Datteln für ein denari, Zitronen für eine lira!« Die Kammmacher bekommen ihren Einsatz, dann die Scherenschleifer, die Tischler und alle anderen. Alle singen das Lied ihres jeweiligen Gewerbes. Auch die Passanten bekommen ihren Einsatz, damit sie den Straßenclowns applaudieren. Die Möwen, damit sie zu kreischen beginnen, während sie durch die Lüfte segeln. Die Weber bekommen ihren Einsatz und wippen mit den Füßen zum Rattern ihres Webstuhls. Die Schuhputzer entlang der Lagune. Die Milchlieferanten, die ihre Flaschen klirren lassen. Auch Anna Marias Freundinnen bekommen ihren Einsatz, sie lachen und schreien, als sie unten im Innenhof um den großen Baum tanzen. Der Mann unter einer Brücke links von Anna Maria bekommt seinen Einsatz und singt eine Opernarie. Die Glocken in einem Turm rechts von ihr bekommen ihren Einsatz und läuten Mittag, Mittag!

Dann sind die Farben an der Reihe. Die Blau-, Gelb-, Grün- und Rottöne, die Lila-, Orange-, Weiß- und Brauntöne. Ein Kaleidoskop voller Welt explodiert vor Anna Marias Augen, als Farben in allen Schattierungen sich über die Stadt erheben und dort hängen bleiben wie Notenlinien, in denen alle Töne von weiter unten ihren Platz haben. Dann vermischen sie sich und wirbeln umher wie ein Fischschwarm. Und Anna Maria sitzt da und lächelt.

Schon als kleines Mädchen hatte sie, noch bevor sie Wörter verstand, Musik im Kopf, und diese Musik war immer farbig.

Hinter ihr kommen Paulina und Agata in die Dachkammer gekrochen und laufen auf sie zu.

»Tut mir leid, dass wir spät dran sind«, sagt Paulina. »Wir mussten ein Dankgebet wieder und wieder sprechen.«

Agata verdreht die Augen und nickt.

»Willkommen in meiner Republik der Musik«, sagt sie.

Im Jahr 1704 ist das Leben in der Pietà voller Kontraste. Einen Fisch ausnehmen, Harfe spielen. Sich einen Zeh brechen, eine Sinfonie üben. Wo es Schmerz und Brutalität gibt, gibt es auch Musik und Gesang. Und es gibt Anna Maria, Paulina und Agata.

Ihre Freundschaft geht auf keinen besonderen Anlass, kein bestimmtes Ereignis zurück. Es war wie mit Geschwistern: Sie sind einfach da, anwesend, die ganze Zeit.

Anna Maria schmiegt den Kopf in Paulinas Halsbeuge und hakt Agata unter. Als Agata sich zu ihr umschaut, wird eine faustgroße Delle sichtbar. Rechts, gleich über dem Hals. Ein paar Haarsträhnen verdecken sie fast, aber die Stelle selbst ist haarlos.

»Eines Tages werden wir hier das Sagen haben«, sagt Anna Maria und schaut über ihre Stadt. »Alles bestimmen, alles entscheiden, und zwar wirklich. Nicht wie jetzt, wo wir nur so tun, als ob. Wir werden Venedig musikalisch beherrschen. Die Menschen werden uns zu Füßen liegen.«

»Wir behängen uns von oben bis unten mit Schmuck«, schwärmt Paulina.

»Wir reisen nach Paris und Rom«, sagt Anna Maria.

»Wir essen den ganzen Tag frittelle mit Sahne.«

»Und keiner darf sagen, was wir tun sollen. Wir machen nur das, was wir wollen.«

Agata stöhnt leise auf.

Anna Maria stößt sie sanft in die Seite. »Ist es wegen der frittelle?«

Agata lächelt schief und nickt.

Bisher durften sie die frittierten Teigbällchen nur ein einziges Mal essen, als irgendjemand sie der Pietà während des Karnevals gespendet hatte. Sie waren in einem Korb mit bunten Schleifen geliefert worden, und der Duft von Zitronenschale und süßem Teig war durch das Korbgeflecht gedrungen. Die anderen Mädchen hatten wie unerzogene Welpen darum gekämpft, während Anna Maria still und heimlich drei Stück ergattern konnte. Zusammen mit Paulina und Agata hatte sie die Köstlichkeiten hier auf dem Dachboden verschlungen, grinsend und mit zuckrig verklebten Lippen.

Anna Maria denkt an den Geschmack und seufzt. Sie legt sich auf den Rücken, Paulina und Agata mit ihr, und zusammen schauen sie in die am Himmel vorüberziehenden Wolken.

Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne und beschattet Anna Marias verunstaltetes Gesicht. Pockennarben von der Epidemie vor zwei Jahren. »Die verschwinden mit der Zeit, und dann wirst du wieder ganz du selbst«, sagt Schwester Clara. Aber Anna Maria fühlt sich schon ganz wie sie selbst. Das hat sie immer getan. Außerdem ist es ihr egal, wie jemand aussieht. Alle hier haben irgendeinen Makel.

Paulina streicht ein paar Knitterfalten aus ihrem Kittel, während Agata Anna Maria erwartungsvoll anschaut. Eine Möwe flattert über sie hinweg, und Anna Maria ruft hinter ihr her, bis Agata lacht und Paulina mitlachen muss.

Paulina rollt auf die Seite und greift nach Anna Marias Hand. »Zwillinge«, sagt sie, als sich ihre Hände berühren.

Sie ist so dünn, dass Anna Maria sich manchmal fragt, ob der Wind von der Lagune sie eines Tages forttragen könnte. Dünne blonde Haare umwehen ihr Gesicht. Agata beugt sich über Anna Maria und bufft Paulina vorwurfsvoll an.

»Na gut. Drillinge natürlich«, sagt Paulina lachend.

Die Glocken schlagen ein Uhr, und Anna Maria springt auf. Endlich Nachmittag. Die Musikstunden beginnen.

»Was ist das?«, fragt Anna Maria, als sie in das Zimmer stürmt, in dem Signor Conti an einem großen Instrument mit aufgestelltem Deckel und dünnen Beinen lehnt. Es ist aus Holz und mit schwungvollen Mustern verziert. Die schwarzen und weißen Tasten gefallen ihr. Aber es ist kein Cembalo, darauf hat sie schon gespielt. Dieses Instrument hier ist größer.

»Auch dir einen guten Tag, Anna Maria«, sagt Signor Conti und streicht sich die langen goldenen Locken aus dem Gesicht. Er ist groß und schlank, sein Kinn kantig, in einer Wange hat er ein Grübchen. Es heißt, er sei elegant, und einige der älteren Mädchen wollen ihn haben. Anna Maria weiß nicht, was das bedeuten soll, und es interessiert sie auch nicht.

»Ein fortepiano, die neueste Erfindung von Signor Cristofori. Statt eines Zupfmechanismus im Inneren des Instruments werden die Saiten hier mit Hämmern angeschlagen. Auf diese Weise kann der Musiker die Lautstärke der Töne selbst bestimmen. Verstehst du?«

Anna Maria geht auf die Zehenspitzen, hält sich am hölzernen Rahmen fest und betrachtet das Innenleben des Instruments. Sie sieht kleine Holzklötzchen über den Saiten schweben, bereit, zuzuschlagen.

»Signor Cristofori war so gut, uns dieses Instrument zu schenken. Dafür müssen wir sehr dankbar sein.«

»Ich möchte es ausprobieren«, sagt Anna Maria, die Hände in die Hüften gestemmt, den Bauch vorgereckt.

Signor Conti überlegt einen Moment. »Wenn wir mit dem Flötenunterricht fertig sind und du brav bist. Erst einmal setzt du dich an deinen Platz.«

Nach der Stunde verlässt sie das Musikzimmer nicht, sondern bettelt Signor Conti an, bis er nachgibt und sie ans fortepiano lässt. Sie fährt mit den Fingern über die glatten Tasten, und er bringt ihr eine kurze Melodie bei, die sie wieder und wieder spielt.

Ganz nett, denkt sie. Aber irgendwas stimmt nicht.

Wie bei Flöte und Oboe, die sie im Laufe des letzten Jahres zu spielen gelernt hat, kommen ihr auch bei diesem Instrument Farben vor Augen, aber sie sind matt und verschwommen. Damit kommt sie ihrem Ziel nicht näher.

Anna Maria hat sich vorgenommen, das jüngste Mitglied in der Geschichte der Pietà zu werden, das je den figlie di coro beigetreten ist, dem weltberühmten Orchester des Waisenhauses. Und mit achtzehn will sie ein anerkannter maestro sein, eine Virtuosin. Die ganze Welt wird sie kennen. Sie wird als die größte Musikerin gelten, die je gelebt hat.

Es ist ganz still in den Fluren, als sie Signor Contis Unterrichtsraum schließlich verlässt. Er hat gesagt, sie soll schnell zum Abendessen gehen, und versprochen, den Schwestern zu erklären, warum sie schon wieder zu spät kommt.

Sie eilt den dritten Stock entlang, sodass die Absätze ihrer abgewetzten Stiefel auf dem Kachelboden klackern. Die Wände unter der niedrigen Decke sind grau und rissig. Am Ende des Flurs gibt es ein vergittertes Fenster, vor dem es schnell dunkel wird. Sie schlittert in die Kurve vor einer Wendeltreppe, als sie plötzlich schrille, durchdringende Geräusche hört und abrupt stehen bleibt.

Sie geht auf die Geräusche zu, bis zu einer Tür, die nur angelehnt ist. Sie späht durch den Spalt und sieht einen jungen Mann, etwas über zwanzig Jahre alt vielleicht, mit schulterlangen roten Locken.

Er steht vor einem Kamin und trägt einen schlichten braunen Rock mit kurzen Schößen und eine cremefarbene Kniehose, die im Feuerschein leuchtet.

In einer Hand hat er eine Violine, in der anderen einen Bogen. Er jagt den Bogen über die Saiten, dreht und stößt ihn, aggressiv und fordernd. Er muss besessen sein, denkt Anna Maria und überlegt, ob sie den medico holen soll. Oder braucht dieser Mann einen Priester? Aber ihre Beine sind wie gelähmt. Die Musik hält sie vollkommen gefangen.

Statt etwas zu unternehmen, beobachtet sie genau, was er mit den Fingern tut, wie er die Hände bewegt. Der Bogen fliegt hin und her, und ein Strom von Farben kommt ihr vor die Augen. Bernstein, Gold und Zitrustöne, Weiß, Silber, Ocker und Rotbraun. Die Farben jagen vor ihren Augen dahin. Sie muss sich am Türrahmen festhalten. Noch nie hat sie so etwas von einer Violine gehört. Oder von ihr eine Stimme vernommen, die so klar und hell war, als könne sie ihren Namen singen. Ein neues Element, denkt sie. Es gibt Erde, Luft, Feuer und Wasser. Und nun auch das hier.

Doch die Wendungen, die Sprünge! Es ist einfach zu viel. Beängstigend. Anna Maria will weglaufen, will sich in Sicherheit bringen. Aber irgendwo tief in ihr löst sich gleichzeitig die Spannung. Die Töne kommen ihr vertraut vor, diese Musik kennt sie. Die Farben vor ihren Augen fügen sich zu einem Muster, das eine Landschaft ergibt – grüne Hügel, purpurne Blumen, orangefarbener Sonnenschein, üppige weiße Blüten an Büschen. Alles ist in Bewegung. Ohne zu wissen, warum sie weint, muss sie sich Tränen von den Wangen wischen.

Aber eines weiß sie genau: Sie muss dieses Instrument in die Hände bekommen.

Versteckt in einer kleinen Wandnische gegenüber dem Zimmer mit der angelehnten Tür drückt sie den Rücken an ein Regal mit verkrusteten Tintenfässern und steckt einen Fuß in den Türspalt, damit die Tür nicht zufällt. Staubige Luft dringt in ihre Lunge, aber sie wartet ab, bis der Mann aufhört zu spielen. Sie hört, wie er seinen Geigenkasten zuklickt, wie seine Tür knarrt und sich schließt, wie sich seine Schritte entfernen. Dann wagt sie sich aus ihrem Versteck. Inzwischen ist es fast ganz dunkel geworden.

Die Violine ist noch da, der Mann nicht mehr.

Zielstrebig tastet sie sich voran. Öffnet den Geigenkasten und legt das fantastische Instrument frei. Ein glänzender Korpus, ein langer geschmeidiger Bogen, alles auf Samt gebettet. Ihr Atem wird ruhiger, ein warmes Gefühl durchflutet sie, süß wie geschmolzener Zucker.

Sie greift in den Kasten und fährt mit kindlichen Fingern über das Instrument. Das Holz so glatt und kühl wie ein Flusskiesel. Sie beugt sich darüber, atmet den Lack ein und muss an alte Bücher denken. Das Wasser läuft ihr im Mund zusammen.

Sie schließt die Hand um den Geigenhals und nimmt das Instrument vorsichtig heraus. Dann imitiert sie die stolze Pose des Mannes und legt sich das Instrument ans Kinn, versucht, die Geige so zu halten, wie er es getan hat. Ihre Finger berühren die Saiten, und mit übertriebener Gestik bewegt sie den Bogen hin und her.

Ein grauenvolles Kreischen durchdringt das Zimmer, gefolgt von kürzeren Kratzgeräuschen, während der Bogen über die Saiten holpert.

Nicht gut, das weiß sie. Aber sie versucht es wieder.

Sie positioniert sich noch einmal neu, als …

»Was erdreistest du dich?« Eine scharfe Stimme hinter ihr.

Ihr Magen zieht sich zusammen. Langsam schaut sie über die Schulter nach hinten.

Er steht in der offenen Tür, die Haare feuerrot.

»Leg sie wieder hin, Kind«, sagt er ruhig. »Und verschwinde, bevor ich dir Beine mache.«

Abendessen. Sie sitzen im Refektorium, einer gewölbten Halle im Erdgeschoss der Pietà mit drei langen Holztischen. Unter den Sitzbänken Hunderte Paare Füße in schwarzen, geflickten Stiefeln, auf die weiße Baumwollröcke hinabfallen. Geschirr klappert, man unterhält sich leise. (»Gut, ich nehme eine andere Schleife. Aber mehr verändere ich nicht. – Iss langsam, sonst verschluckst du dich noch.«)

Paulina stochert in etwas Braunem, Schwammähnlichem auf ihrem Teller herum, bevor sie es argwöhnisch zum Mund führt und daran leckt.

»Was soll das sein?«, fragt sie, führt den Löffel vor die Augen und inspiziert das, was darauf liegt, etwas näher.

Anna Maria hört sie nicht. Sie denkt an den Mann, der ganz ruhig dastand, als sie seine Geige schnell wieder in den Kasten legte. Ihr Knie zittert unter dem Tisch.

»Anna Maria?«

Sie schließt kurz die Augen und legt sich eine Hand aufs Knie, um es ruhig zu halten. Dann dreht sie sich zur Seite, schnuppert an Paulinas Löffel und verzieht das Gesicht.

»Gekochtes Hirn?«, rät sie.

Agata stößt sie an und schüttelt warnend den Kopf. Aber zu spät. Paulina heult auf, und das ganze Refektorium, hundert Schülerinnen oder mehr, schauen sich zu ihr um.

»Ruhe, du dummes Ding!«, schimpft Schwester Madalena und kommt von ihrem Holzschemel in einer Ecke der Halle herüber. Eine große, dicke Frau mit gebeugtem Rücken und schwieligen Händen. Abfällig schaut sie auf die Mädchen herab.

Paulina hätte still sein sollen, aber sie kann sich nicht beherrschen. Sie beginnt zu würgen, springt von der Bank und läuft durch den steinernen Bogengang in die Küche. Sie schafft es gerade eben bis zu der großen Holzkiste, in der Abfälle aufbewahrt werden, bevor sie sich übergibt. Der Abfall, braun und stinkend, wird am Abend von einer Müllbarke abgeholt und als Dünger zu einem der Bauernhöfe außerhalb der Stadt gebracht. Anna Maria wird in ihrem Bett das Tuten der Barke hören, die Farbe des Tons sehen und wissen, wie er notiert wird.

Jetzt müssen sie und Agata aber erst einmal lachen und hören erst auf, als Schwester Madalena ihnen einen warnenden Blick zuwirft.

Paulina kehrt blasser denn je zurück. Auf ihrem Teller liegt jetzt eine doppelte Portion Hirn. Sie presst eine Hand an den Mund.

»Du wirst das essen«, sagt Schwester Madalena, drohend über sie gebeugt. Tränen schießen Paulina in die Augen. »Sonst gibt es die Peitsche. Ich werde deinen Teller nachher inspizieren.«

Kaum ist Schwester Madalena gegangen, beugt Agata sich vor und zieht Paulinas Teller zu ihrem eigenen Platz. Dann sieht sie Anna Maria mit ihren großen braunen Augen an und formt mit den Lippen: Bitte!

Anna Maria verzieht den Mund und schaut auf das schwammige Etwas auf dem Teller. Etwas darin scheint sich zu bewegen. Dann sieht sie Paulina an, die mit tränennassem Gesicht und zitterndem Atem dasitzt.

»Wir teilen«, sagt Anna Maria leise.

Agata nickt, holt tief Luft und greift nach ihrem Löffel. Paulina steht auf, geht um den Tisch und küsst beide Freundinnen auf die Wange.

Anna Maria kaut langsam und zieht eine Grimasse, als sie etwas Knorplig-Fasriges auf der Zunge bemerkt. Dann hört sie plötzlich, worüber die beiden Mädchen hinter ihr sprechen.

»Schon wieder?«, flüstert das eine.

»Gestern«, erwidert ihre Freundin. »Das macht drei in einem Jahr.«

»Glaubst du, es hat etwas mit … dem Raben zu tun?«

Anna Maria legt den Löffel hin und sieht Paulina an. »Worum geht es bei den beiden?«

Paulina schaut sie vielsagend an. »Es gibt da so eine Geschichte …« Sie unterbricht sich und schaut den Tisch hinauf und hinunter, um sich zu vergewissern, dass sie nicht belauscht werden. »Da ist so ein Mann. Eine Kreatur. Nachts schleicht sie sich zu den Mädchen in der Pietà.«

»Eine Kreatur?«, sagt Anna Maria tonlos.

Agata kaut mit Todesverachtung und schüttelt den Kopf. Sie schluckt den Bissen herunter, bevor sie mit den Lippen formt: Ist nicht wahr!

»Ich sag doch, dass es bloß eine Geschichte ist«, verteidigt sich Paulina. »Ein paar Mädchen haben im Schlafsaal darüber gesprochen. Wahrscheinlich wollen sie uns nur Angst machen.« Wieder schaut sie den Tisch hinauf und hinunter.

»Was macht er denn, wenn er kommt?«, fragt Anna Maria.

Paulinas Augen bekommen einen seltsamen Glanz. Sie rutscht auf ihrem Platz herum. Anna Maria beugt sich zu ihr.

»Zuerst kommt der Nebel. Er wabert vom Kanal herein und verschluckt alles, was sich ihm in den Weg stellt. Dann gibt es ein merkwürdiges Geräusch. Schmatz – schmatz – schmatz. Nur die älteren Mädchen können es hören. Sie sagen, es fährt ihnen durch Mark und Bein.«

Anna Marias Gesicht verrät, dass sie Angst bekommt. Paulinas Augen weiten sich.

»Sie wachen auf und gehen barfuß und im Halbschlaf auf das Geräusch zu. Wenn sie das Tor zum Kanal erreichen, bleiben sie stehen und starren so lange aufs Wasser, bis er kommt. Er steht in einer Gondel. Eine Lampe schaukelt am Bug. Er hat den Körper eines Menschen, aber sein Kopf …« Sie atmet durch und scheint vor ihrer eigenen Geschichte Angst zu bekommen. »Er hat einen Rabenkopf: schwarze Knopfaugen, langer dunkler Schnabel.«

Anna Maria umklammert die Bank, auf der sie sitzt.

»Er kommt näher, ganz leise. Nur das Schmatzen seines Ruders, wenn es ins Wasser taucht, ist zu hören. Das lockt die Mädchen an. Sie nehmen die Hand der Kreatur, setzen einen Fuß auf die Gondel, und dann …«

Neben ihnen lacht ein Mädchen über etwas, das seine Freundin gesagt hat.

»Was denn?«, hakt Anna Maria nach. »Was passiert dann?«

»Dann holt er sie. Der Nebel hüllt sie ein, und wenn er sich verzieht, ist niemand mehr zu sehen. Das Letzte, was man hört, ist der Schrei des Mädchens.«

Anna Maria atmet scharf aus, nachdem sie so lange die Luft angehalten hat.

Agata tippt Anna Marias Arm an. »Ist doch nur eine Geschichte«, flüstert sie.

Nur eine Geschichte, wiederholt Anna Maria in Gedanken und versucht zu lächeln. Aber ihr Knie zittert wieder unter dem Tisch. Normalerweise ist sie von solchen Geschichten nicht sonderlich beeindruckt. Wahrscheinlich ist sie nach dem Vorfall mit der Violine immer noch durcheinander. Sie will lachen, bekommt aber nur eine Art Gebell heraus. Im selben Moment richtet sie den Blick auf das Fenster, das zum Kanal hinausgeht. Sie muss sich beherrschen, um sich nicht die Ohren zuzuhalten. Nie wieder will sie die Geräusche hören, die eine Gondel im Nebel macht.

3

Mondschein senkt sich von der quadratischen Dachöffnung über den Fachwerkbalken auf Anna Maria. Sie horcht auf die Geräusche und spielt an ihren dunklen Locken, die ihre Ohren kitzeln. Wie alle anderen Waisenmädchen unter vierzehn hat sie die Haare schulterlang getragen, bis sie krank wurde und die Schwestern es raspelkurz schnitten, weil es so stark verfilzte, dass sie mit der Bürste nicht mehr hindurchkamen. Schwester Clara beklagt jeden Tag, dass es so struppig ist wie eine Krähenfeder.

Drei in diesem Jahr, denkt Anna Maria, als ihr das Gespräch beim Abendessen einfällt. Es läuft ihr kalt den Rücken herunter, und sie zieht die Bettdecke fester um sich.

Schwester Madalena patrouilliert den Schlafsaal und überzeugt sich davon, dass die Mädchen wirklich schlafen. Dabei knackt sie mit den Fingerknöcheln, um den Schwellungen entgegenzuwirken. Anna Maria hasst dieses Geräusch, am liebsten würde sie sich die Ohren zuhalten, aber dann hätte sie verraten, dass sie noch wach ist. Das Knacken kommt näher, und sie schließt die Augen.

Sie spürt, dass große Hände das hölzerne Bettgestell packen. Jemand beugt sich vor. Es wird an der Bettdecke gezupft. Anna Maria macht sich ganz steif.

Doch dann ziehen sich die Hände zurück, die Schritte entfernen sich. Anna Maria atmet aus und wagt es, die Augen wieder aufzuschlagen.

Schwester Madalena und Schwester Clara sitzen jetzt in einer Ecke des Schlafsaals – Erstere so groß, Letztere so klein. Mit kratzenden Geräuschen notieren sie wie jeden Abend in einem dicken Heft, wer Ärger gemacht hat, wer krank ist, wer am nächsten Tag welche Aufgaben bekommt.

Nicht die Wäsche, denkt Anna Maria. Bloß nicht die Wäsche!

Neben ihr kommen pfeifende Geräusche aus Paulinas Nase. Sie liegt rücklings da, wie eine Mumie, die Arme angelegt. Das Weiße ihres heilen Auges ist zu sehen – unheimlich! Aber Anna Maria betrachtet sie lächelnd. Paulina Kaninchen. Der Spitzname wurde ihr gegeben, weil sie die Hände an die Brust drückt, wenn sie spricht, und mehr knabbert als kaut, wenn sie isst.

Schwester Clara hat Anna Maria erzählt, dass es nahe der Paläste im Landesinneren Orte gibt, an denen es von Kaninchen nur so wimmelt. Hunderte der samtenen Kreaturen leben in grünen Nischen in den Schlossgräben. So stellte Anna Maria sich den Himmel vor; sie wollte diese Orte unbedingt besuchen und hoffte, die Kaninchen würden ihr auf den Schoß hüpfen. Doch dann erfuhr sie, dass die Kaninchen dort nur gehalten wurden, um sie zu essen. Einmal hat sie gesehen, wie die Köchin der Pietà eine Kiste voller Kaninchen auspackte und sie brutal auf dem Holztisch fixierte. Sie sah, wie die Tiere strampelten, bevor der tödliche Schlag kam.

Agata liegt in dem Bett auf Anna Marias anderer Seite. Ihre Arme und Beine ragen über die Matratze. Anna Maria dreht sich der Magen um, als ihr Blick auf Agatas Hinterkopf fällt. Schwester Madalena sagt, dass sie für die Mauernische zu groß war. Man muss sie hineingequetscht haben. Das sei auch der Grund, warum sie nicht spricht.

Noch hundert andere Mädchen liegen in Anna Marias Schlafsaal, drehen sich hin und her, schnarchen, schniefen.

Anna Maria holt tief Luft und fröstelt. Sie will nicht an die Gondel denken, an den Mann mit dem Rabenkopf. Sie verscheucht den Gedanken und zwingt sich, stattdessen den Tag Revue passieren zu lassen.

Beim Gesangsunterricht hat sie manche Töne nicht sauber getroffen; daran muss sie arbeiten. Auch die Flöte konnte sie nicht so zum Klingen bringen, wie sie wollte. So leise sie kann, macht sie die Atemübungen, die Signor Conti ihr gezeigt hat. Einatmen, bis drei zählen, ausatmen, bis fünf zählen, einatmen, bis drei zählen, ausatmen … Ihr fallen die Augen zu.

Sie schmiegt sich ins Kissen, aber plötzlich landet sie in eiskaltem Wasser. Der Schock erfasst ihren ganzen Körper. Obwohl sie sich wehrt, reißt es sie weiter in die Tiefe. Sie reißt die Augen auf. Farbenprächtige Gebäude flirren über der Wasseroberfläche, dazu ertönt Musik, die unter Wasser gedämpft und verzerrt klingt. Sie streckt sich nach der Wasseroberfläche, sinkt aber immer weiter in die Tiefe. Sie schreit, Luftblasen steigen aus ihrem Mund auf. Sie schreit und schreit und schreit und schreit und …

Sie umklammert ihren Hals, ringt um Atem und setzt sich auf.

»Ganz ruhig! Atme!« Paulina sitzt neben ihr und streichelt ihren Arm. »Es ist nur ein Albtraum. Schon der fünfte diese Woche.«

Paulina führt sie zu ihrem Bett, lüftet die kratzigen, von Motten zerfressenen Decken. Anna Maria spürt, wie Paulina ihren dünnen Körper an ihren schmiegt.

Die Dunkelheit des Schlafsaals hat etwas Eisiges, Bösartiges, so als lauere irgendwo Gefahr. Anna Maria muss wieder an die Gondel denken, sie sieht die Laterne am Bug schwanken.

»Holt er uns auch?«, flüstert sie und umklammert die Decken.

»Hmm?«, fragt Paulina.

»Der Rabenmann. Holt er alle Mädchen?«

»Es heißt, er will nur ein paar. Außerdem soll Musik …« Sie verstummt und horcht, ob Schwester Madalena wieder patrouilliert. »Musik soll wie ein Schutzschild sein.«

»Wie kann das sein?«

»Weiß ich nicht. Vielleicht sind Mädchen mit musikalischem Talent vor ihm sicher.«

Anna Maria hält sich an diesem Gedanken fest. Die talentiertesten Mädchen werden Orchestermitglieder. Sie muss eins werden, genau wie sie es sich vorgenommen hat. Dann ist sie vor diesem Monster sicher.

Die Talentierten werden verschont, sagt sie sich wieder und wieder.

Sie nimmt Paulinas Hand, und ihr Herz hört auf zu rasen. So ist es auch in dieser Nacht Paulinas Bett, in dem sie in einen unruhigen Schlaf fällt.

Eine warme Brise zieht durchs Fenster des kleinsten Musikzimmers im dritten Stock. Es ist gerade groß genug für ein Pult, einen kleinen Abstelltisch, einen Instrumentenschrank, eine Reihe Polsterstühle und einige Musikständer. Anna Maria sitzt in der Mitte, die Beine unter dem Stuhl gekreuzt. Wie immer ist sie die Erste. Rechts von ihr ein Kamin, hinter ihr das Fenster, das einen Spaltbreit offen steht, davor ein schmiedeeisernes Gitter.

Ein Schatten fällt von der Tür her auf den Fußboden. Das müssen Paulina und Agata sein. Anna Maria will ihnen erzählen, wie sie auf dem Weg hierher gestolpert ist und …

Sie erstarrt. In der Tür steht der Mann mit den roten Haaren und dem braunen Rock.

»Wo ist Signor Conti?«, fragt sie und bereut es sogleich. Es ist Mittwochnachmittag. Sie haben jetzt Flötenunterricht.

Mit schnellen, steifen Bewegungen betritt der Mann das Zimmer. Er wischt die Rockschöße hinter sich, legt seinen Geigenkasten auf den kleinen Tisch und öffnet die Schlösser. Er dreht sich nicht um, sieht Anna Maria nicht an und antwortet auch nicht. Ihre Hände werden feucht. Bestimmt bestraft er sie gleich dafür, dass sie sich in sein Zimmer geschlichen und etwas angefasst hat, das ihr nicht gehört. Aber welche Strafe wird es sein? Und wie lange will er sie noch im Ungewissen lassen?

Die anderen Mädchen kommen herein. Als Paulina sieht, dass der Lehrer schon da ist, stößt sie einen leisen Schrei aus und setzt sich schnell neben Anna Maria. Kurz darauf kommt auch Agata, wischt sich die Hände an den Röcken ab und hinterlässt Flecken auf der Baumwolle. Nach ihr kommen Candida und Cecilia herein, Zwillinge, die wenige Stunden nach ihrer Geburt in der Pietà abgegeben worden sind. Wie immer halten sie sich an den Händen. Alle setzen sich, jedes Mädchen im gleichen weißen Kittel, knöchellang und alles bedeckend. Alle starren auf den Eindringling.

»Ich bin euer neuer Lehrer«, sagt er und geht an die Wandtafel vor ihnen. Er hat eine merkwürdige Stimme; er scheint zu versuchen, sie tiefer klingen zu lassen, aber das gelingt ihm nicht immer. »Wir beschäftigen uns mit der Violine.«

Agata und Paulina schauen Anna Maria an. Nur die über Zwölfjährigen haben schon einmal Violine gespielt. Sie selbst noch nicht.

Der Lehrer schreibt seinen Namen an die Tafel, und als er ihn zweimal unterstreicht, fällt Kreidestaub zu Boden.

Anna Maria stockt der Atem. Natürlich hat sie schon von ihm gehört. Er ist ein maestro, in der ganzen Republik für sein virtuoses Spiel bekannt. Der Mann, den ganz Venedig sehen und hören will. Ein Teufelsgeiger und arrogant, raunen die anderen Lehrer einander zu. Anna Maria hält sich an der Stuhlkante fest. Sie hat also einen der ganz Großen verärgert!

Aber heute wirkt er ganz anders. Sie hatte ihn größer und ansehnlicher in Erinnerung. Stattdessen lässt er die Schultern hängen, als habe er Schmerzen, und ohne seine Violine wirken seine Hände kraftlos. Er scheint nicht zu wissen, was er damit tun soll.

Anna Maria schaut auf ihre eigenen Hände, dann wieder auf den Lehrer. Dann legt sie eine Hand an die pockennarbige Wange.

»Heute werden wir …« Er unterbricht sich, ringt geräuschvoll um Atem und hustet mehrfach in ein Taschentuch. Dann fährt er fort: »Heute geht es um die Grundlagen. Wie man die Violine hält, wie ihr stehen müsst, das Spiel auf leeren Saiten.«

Aha, er ist also ein bisschen komisch. Aber das macht nichts. Anna Maria hat ihn spielen hören. Erlebt, mit welcher Schnelligkeit er die erstaunlichsten Farben heraufbeschwört. Dieser Mann verdient Respekt. Und den empfindet Anna Maria mit jedem Tropfen Blut, der durch ihre Adern rinnt.

Kerzengerade und gespannt sitzt sie da. Als er sagt, wie sie stehen müssen, drückt sie den Rücken durch, spannt die Schultern und zieht den Bauch ein. Währenddessen schaut sie auf das elegante Instrument, das gut geschützt in seinem offenen Geigenkasten liegt und nur darauf wartet, zum Klingen gebracht zu werden.

Stiefel schaben über den Holzfußboden, als alle zum Instrumentenschrank eilen. Etwa zwanzig Geigenkästen liegen in den Regalen, verschrammt und beschädigt, gespendet von wohlhabenden Venezianern, die einmal auf den darin befindlichen Geigen gespielt haben und sie dann nicht mehr brauchten. Anna Maria greift nach dem am wenigsten beschädigten Instrument, aber jemand schnappt es ihr weg, bevor sie richtig zupacken kann.

»Eine zurzeit. Kein Gedrängel!«

Anna Maria nimmt ein Instrument vom mittleren Regal, bevor auch dort zugegriffen wird. Ihr Instrument ist heller als das des Lehrers, und ein paar Rosshaare haben sich aus dem Bogen gelöst, aber es ist ein schönes Gefühl, als sich ihre Finger um den Geigenhals schließen.

Als alle wieder in einer Reihe stehen, schreitet der Lehrer vor ihnen auf und ab. Anna Maria atmet tief ein und stellt fest, dass er nach Kiefernholz und Weihrauch riecht. Wie ein Priester. Anna Maria kennt diesen Geruch aus der Kapelle.

Vor ihr bleibt er stehen. Ihr Herz schlägt schneller.

Er beugt sich leicht zu ihr vor, und ohne sie anzusehen, sagt er: »Leg die Violine weg.«

Paulina, die neben Anna Maria steht, will ihre Geige hinlegen. Der Lehrer klatscht laut in die Hände, und Paulina hält inne. »Nicht du«, sagt er.

Anna Maria sieht ihn an. »Signore?«

»Weglegen! Sofort!«

Ihr Hals wird ganz trocken. Sie dreht sich um und legt die Violine auf ihren Stuhl. Es wird ganz still im Zimmer.

»Hände«, sagt er und gibt ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie sich hinter den Stuhl stellen und die Hände auf die Lehne legen soll.

Jetzt kommt die Peitsche, da ist sie sich sicher. Sie spürt schon, wie es zischt, wenn der Lederriemen die Luft durchschneidet, spürt den grauenvollen Schmerz an den Knöcheln.

Er sieht sie an – kalte Augen, grau wie Frost. »Dieses Mädchen glaubt, dass Regeln für sie nicht gelten. Dass sie anfassen und sich nehmen kann, was ihr nicht gehört.« 

Sie beißt die Zähne zusammen. Die anderen Mädchen sehen sie an. Kein Atemzug durchbricht die Stille.

»Du bleibst da stehen«, sagt er, »und lernst, was dir zusteht.«

Sie sagt nichts, wendet aber auch nicht den Blick von ihm ab. Sie wird nicht diejenige sein, die als Erste wegschaut.

Er wendet sich jetzt an die anderen Mädchen und ignoriert Anna Maria. Hier und da stimmt er eine Violine nach, bis er zufrieden ist.

»Und jetzt«, sagt er zu den anderen Mädchen, »legt eure Instrumente ans Kinn. Spannt eure Bauchmuskeln an und haltet die Hände wie ich.«

Er hebt seine Violine und streicht mit dem Bogen über die tiefste Saite. Anna Maria hört einen so satten grünen Ton, dass sich die Haare an ihren Armen aufstellen.

Die Mädchen sind beeindruckt, Nervosität macht sich breit. Einige werfen Anna Maria einen kurzen Blick zu, bevor sie dem Beispiel des Lehrers folgen. Die Töne ihrer Violinen vermischen sich zu einem unklaren, zittrigen Klang.

»La...

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